Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 97: Der Stein kommt ins Rollen -------------------------------------- „Du liegst ja immer noch im Bett.“ Carina stöhnte, als sie Cedrics Stimme erneut über sich vernahm. Bereits zweimal hatte er sie aufgeweckt und war anschließend wieder runter gegangen, aber die Schnitterin war einfach liegen geblieben. Und das nicht ohne Grund. Morgen Abend würde endlich der Ball stattfinden, vor dem sie sich die ganze Zeit so fürchtete. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, würden sie bereits heute im Laufe des Vormittags das Phantomhive Anwesen aufsuchen. Der Vorschlag war schlussendlich von Ciel gekommen und hatte den Hintergrund, dass die beiden Shinigami sich so schon einmal mit der Umgebung vertraut machen konnten. Zudem wäre es Samael so nicht möglich kurzfristig noch etwas zu unternehmen, was Carina allerdings für absolut schwachsinnig hielt. Hätte der Dämon sie in ihrem Zuhause ermorden wollen, hätte er es längst getan bzw. versucht. „Lass mich“, murmelte sie und zog sich die Decke über den Kopf. Solange sie hier im Bett war, konnte sie leugnen, dass heute vielleicht der letzte Tag sein würde, den sie in ihrem Zuhause verbringen würde. Solange sie liegen blieb, konnte sie so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Der Bestatter lachte leise und drückte an der Stelle einen Kuss auf die Bettdecke, wo sich ihr Kopf befand. „Ich weiß genau, was du hier versuchst, aber ich befürchte, dass das an der ganzen Lage leider nichts ändern wird. Außer vielleicht, dass wir viel zu spät kommen und der Earl dementsprechend genervt sein wird.“ Carina stöhnte erneut. „Und das will natürlich keiner“, antwortete sie und setzte sich nun doch im Bett auf. Ihre Miene allerdings sagte deutlich aus, dass sie sich am liebsten weiterhin unter den Laken verkrochen hätte. Der Undertaker schaute sie mit weicher werdendem Gesichtsausdruck an. „Es ist in Ordnung Angst zu haben“, sagte er und ergriff ihre Hand; drückte sie leicht. „Ich spüre sie auch.“ Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. „Das beunruhigt mich eher, als das es mich beruhigt. Tue mir einen Gefallen und wirke wenigstens so, als hätten wir alles im Griff.“ Er grinste und legte sich Daumen und Zeigefinger ans Kinn. „Ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir mal alles im Griff hatten.“ Sie schnaubte und begann sich gemächlich anzukleiden. „Ach komm. Du hattest eigentlich immer alles recht gut im Griff. Die Campania, das Weston College, deine Reise nach Deutschland…“ „Bis auf die immer wieder auftauchenden, nicht eingeplanten Zwischenfälle, meinst du?“, fragte er und als Carina eine Augenbraue hob, begann er es an den Fingern abzuzählen. „Der Eisberg? Das Auftauchen vom Earl und seinem Butler im College? Unser Treffen in Deutschland?“ Sie verdrehte die Augen. „Kleinere Zwischenfälle, die dich aber nie wirklich groß gestört haben, oder? Du bist trotzdem immer davongekommen.“ „Du wärst überrascht zu hören, wie oft ich in der Vergangenheit nicht einfach so davongekommen bin“, erwiderte er grinsend. „Zum Beispiel, als ich vor 70 Jahren das erste Mal versucht habe den Dispatch zu verlassen.“ Carina runzelte die Stirn. „Das erste Mal?“, fragte sie perplex nach und der Silberhaarige nickte. „Lass es mich so ausdrücken: Ich hatte eine kleine Kurzschlussreaktion. Das Ergebnis war ein schlecht durchdachter Fluchtplan und daraus resultierend ein halb zerstörter Dispatch.“ Die Schnitterin blinzelte. „Du… du hast den halben Dispatch zerstört?“, fragte sie und wusste nicht so recht, ob sie beeindruckt oder doch eher verschreckt sein sollte. Der Undertaker lachte dunkel, ein Geräusch tief aus seiner Kehle. „Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre es nicht bei einer halben Sache geblieben, aber ich wurde bedauerlicherweise frühzeitig gestoppt.“ Sein rechter Zeigefinger glitt über die Narbe in seinem Gesicht und Carina erschauderte. Okay, vielleicht sollte sie doch eher verschreckt sein. Und das war sie auch, das konnte sie spüren. Aber… sie war mindestens genau so sehr fasziniert. „Ich schätze mal, du hast nach diesem gescheiterten Versuch sehr lange kein Tageslicht mehr gesehen?“ Sie sagte es ganz sachlich, aber innerlich zerriss es ihr das Herz, als er nickte. „Ja, aber es hat mir geholfen meine Gedanken zu sortieren. Um es beim nächsten Versuch gescheiter anzustellen. Was mir auch gelungen ist.“ „Und das war dann vor 50 Jahren, richtig?“ Er hob eine Augenbraue. „Das ist korrekt. Und das weißt du woher?“ „Damals auf der Campania hast du – nachdem Grell dich als Shinigami identifiziert hat – gesagt, dass dich schon seit einem halben Jahrhundert keiner mehr so genannt hat. Ich dachte mir also, dass das ungefähr der Zeitpunkt war, an dem du den Dispatch verlassen hast. Und da lag ich ja anscheinend auch richtig.“ Er lächelte anerkennend. „Du hast ein Händchen dafür dir beiläufige Bemerkungen wieder in Erinnerung zu rufen.“ „Es ist zuweilen ganz nützlich“, gab sie zu. Cedric lachte kurz. „Ja, es stimmt. Kaum zu glauben, dass das jetzt schon 50 Jahre her ist. Obwohl ich mich doch noch daran erinnere, als wäre es erst gestern gewesen. Du weißt das jetzt vielleicht noch nicht, aber irgendwann erlebt man den Zeitfluss einfach anders als ein normaler Mensch.“ „Ich glaube es dir“, antwortete die Deutsche, denn auch sie hatte bereits unterschwellig gespürt, dass sich die vergangenen Jahre wesentlich kürzer angefühlt hatten, als es bei ihr normalerweise der Fall gewesen war. „Jedenfalls habe ich es geschafft, wenn auch erst beim zweiten Versuch. Ich lerne aus meinen Fehlern. Und weil das so ist, werden wir das Ganze hier überstehen. Denn du bist mir in dieser Hinsicht äußerst ähnlich.“ Carinas Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Nett, dass du das sagst. Nur hatten weder du, noch ich es jemals mit einem Erzengel zu tun, der zum Teufel geworden ist.“ „Es gibt immer ein erstes Mal. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Entweder reicht es oder nicht. Aber damit werden wir uns erst auseinandersetzen, wenn es soweit ist.“ Die Schnitterin nickte, aber wirklich anfreunden konnte sie sich mit dem Gedanken trotzdem nicht. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, die es hassten zu improvisieren. Natürlich, auch in ganz normalen Alltagssituationen kam es schon einmal vor, dass man kurzfristig einfach ganz ohne Plan agieren musste. Aber grundsätzlich waren ihr gut durchgeplante Aktionen einfach lieber. „Also? Können wir dann?“, fragte der Bestatter. „Ja, ich hab alles. Unsere Kleidung für morgen Abend hat Nina bereits zum Anwesen liefern lassen und die restlichen Sachen haben wir ja schon vor 2 Tagen rüber gebracht. Falls dir also nicht noch etwas auf die Schnelle einfällt, können wir los.“ Sie seufzte. „Auch, wenn ich gar keine Lust darauf habe.“ „Hehe, mir fällt nichts mehr ein, aber ich weiß natürlich nicht, ob unser Töchterchen das auch so sieht. Ich war gerade eben noch bei ihr und da war sie hellwach.“ Carina stöhnte, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Wie kommt es eigentlich, dass Babys immer genau dann wach sind, wenn es besser wäre zu schlafen und im Gegensatz schlafen, wenn sie wach sein sollen? Das kann doch wieder nur eine schlechte Laune der Natur sein.“ Und tatsächlich bestätigten sich Cedrics Worte. Als Carina sich wenige Minuten später über Lilys Wiege beugte, wurde sie von zwei kreisrunden blauen Augen angestarrt, deren Auffassungsgabe von Tag zu Tag intensiver wurde. „So Kleines, wir müssen los. Irgendwelche Einwände?“, fragte Carina amüsiert nach und nahm das Baby hoch. Lily jedoch schien das Ganze nicht wirklich zu kümmern und sie beschwerte sich auch nicht durch missbilligende Laute. Als die junge Mutter ihr jedoch einen Finger an den Mund hielt, begann sie sofort zu saugen. „Geh schon mal runter“, sagte die Deutsche an Cedric gewandt. „Ich füttere sie noch schnell und komme dann nach.“ Der Silberhaarige nickte kurz zum Zeichen, dass er sie gehört hatte und ging anschließend mit fast lautlosen Schritten die Treppe hinab. Er verschloss alle Türen, Fenster und schaute noch einmal in seinen Kalender, ob er auch ja keinen seiner „Gäste“ vergessen hatte. Wenn er als Bestatter eine Beerdigung vergaß… Bei dem bloßen Gedanken gluckste er. Herrje, die Familie wäre wohl nicht sehr begeistert. Kurze Zeit später erschien Carina im Erdgeschoss, mit Lily in der Tragetasche und einer weiteren Tasche in der anderen Hand, die Cedric ihr aber sogleich abnahm. „Los geht’s“, seufzte Carina und fand es selbst schrecklich, dass sie diese Worte nur mit so wenig Enthusiasmus hervorbrachte. Seite an Seite traten sie aus dem Bestattungsinstitut hinaus ins Freie und als Cedric die Tür hinter ihnen abschloss, fragte Carina sich erneut, ob das vielleicht das letzte Mal gewesen war, dass sie innerhalb dieser vier Wände gestanden hatte. Gleich darauf entfuhr ihr ein trockenes Lachen. Der Undertaker schaute sie fragend an, während sie nun nebeneinander hergingen. „Ich dachte nur gerade daran, dass ich damals nicht sehr von deinem Zuhause angetan war, als ich Hals über Kopf hineingestolpert bin.“ Sie lachte erneut, doch jetzt war es nicht mehr trocken, sondern eher verbittert. „Und jetzt würde ich fast alles dafür tun, um umdrehen zu können und es nie wieder zu verlassen.“ „Weil es jetzt nicht mehr mein Zuhause ist“, sagte Cedric und ging jetzt so dicht neben ihr, dass sich ihre Schultern bei jedem neuen Schritt berührten. „Sondern unseres.“ Sie lächelte. „Ja“, bestätigte sie seine Aussage und richtete ihre Augen auf Lily, die durch das leichte Hin- und Herschaukeln langsam wieder einschlief. „Außerdem kannst du es nicht mit damals vergleichen“, fuhr der Silberhaarige fort. „Es hat sich einiges verändert, seit du wieder hier bist. Jetzt ist es-“ „Sauber?“, unterbrach Carina ihn und gluckste leiste. Cedric grinste. „Ich wollte gemütlicher sagen, aber das von mir aus auch.“ „Es ist anders, ja“, gab sie zu. „Aber ich glaube nicht, dass es an den optischeren Veränderungen liegt. Ich sehe die Dinge jetzt einfach anders, als noch vor 3 Jahren. Ich habe mich verändert. Zum Guten, möchte ich betonen.“ „Ich weiß, dass du dich mit deinem 16-jährigen Ich nicht mehr wirklich identifizieren kannst. Aber wenn du meine Wenigkeit fragst, dann kann ich dir versichern, dass ich dich auch damals schon mochte. Du warst vielleicht unerfahren und auch naiv, aber deine Ahnungslosigkeit hatte etwas unglaublich Erfrischendes“, sagte er und kicherte kurz während des letzten Satzes. Carina runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt geschmeichelt fühlen soll oder nicht“, antwortete sie, ehrlich irritiert, und Cedric lachte erneut. „Natürlich ersteres. Es gibt immerhin nur wenig Menschen, die mein Interesse ernsthaft wecken können. Nun ja… wenig Lebende jedenfalls“, brachte er gerade noch so hervor und verfiel jetzt in einen seiner heftigeren Lachanfälle, sodass sich manche Leute auf der Straße empört zu ihnen umdrehten. Nicht, dass Carina so etwas noch großartig störte. Wenn man sich auf Dauer auf jemanden wie den Undertaker einließ, musste man zwangsläufig mit den Blicken anderer Menschen klar kommen. Es dauerte jedoch nicht sehr lange bis sie die Hauptstraßen Londons hinter sich zurückließen und nun auf ungepflasterten Wegen zum Anwesen der Phantomhive Familie liefen. Cedric hatte zuerst vorgeschlagen den Leichenwagen zu nehmen, aber Carina war kein besonders großer Fan von Kutschen. Dazu hatte sie in ihrer Zeit als Schnitterin einfach schon zu viele Unfälle gesehen. Falls Samael also auf die glorreiche Idee kam und sie auf dem Weg überfallen wollte, dann hatte Carina keine Lust es ihm auch noch extra leicht zu machen. Außerdem konnte so ein Spaziergang auch dazu beitragen, dass sie sich noch ein wenig entspannte, bevor in einem Tag die Hölle über sie alle hereinbrechen würde. Und das vermutlich im wahrsten Sinne des Wortes! „Das wird ein anstrengender Tag heute. Das Anwesen ist riesig. Sich dort einen Überblick zu verschaffen wird nicht leicht.“ Cedric nickte. „Ja, selbst ich kann mir nicht mehr alles ins Gedächtnis rufen. Ich war aufgrund der Versammlungen der Aristokraten des Bösen zwar schon oft dort, aber in den letzten Jahren hat sich dort einiges verändert.“ „Habt ihr eure Treffen immer dort abgehalten?“ „Zumeist schon. Das ein oder andere Mal waren wir auch bei Diederich in Deutschland, aber da die meisten Mitglieder in England beheimatet sind, war das Anwesen der Phantomhives immer die erste Anlaufstelle.“ Er kicherte einmal kurz. „Hoffentlich wird Diederich morgen auch dabei sein. Es ist immer wieder amüsant, wenn wir beide aufeinandertreffen.“ „Aber nur für dich. Weil du dich auf seine Kosten amüsierst“, merkte Carina an, denn sie konnte sich noch recht gut an das Gespräch erinnern, das sie damals belauscht hatte. Sie seufzte und warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Es ist nicht lustig, sich über das Gewicht von anderen lustig zu machen“, meinte sie ernst, da sie es leider aus eigener Erfahrung heraus wusste. „Diederich weiß, dass ich mich nicht wirklich über ihn lustig mache. Ich ziehe ihn nur ein klein wenig auf. Wenn du wüsstest, wie er früher als junger Mann ausgesehen hat, dann wäre dir klar, warum ich mich darüber so herrlich amüsieren kann.“ Er kicherte kurz. „Vielleicht finden wir ja im Anwesen ein altes Foto.“ „Als ich euch damals belauscht habe, habe ich doch ein altes Foto von ihm gesehen. Du hast es ihm praktisch vor die Nase gehalten“, erinnerte sie ihn und dachte selbst kurz an den Moment zurück. Oh ja, der Deutsche war in seiner Jugend attraktiv gewesen, das konnte sie nach wie vor nicht bestreiten. „Aber nur, weil jemand früher mal attraktiv war, heißt das ja wohl nicht, dass man ihn wegen seines neuen Aussehens beleidigen darf.“ „So, so. Attraktiv, ja?“, fragte er mit einem leicht provokanten Unterton und kicherte ein weiteres Mal. „Jetzt sag mir nicht, dass du auf so einen Typ Mann stehst.“ Carina verdrehte die Augen. Dann konterte sie. „Du solltest eigentlich am allerbesten wissen, auf welchen Typ Mann ich stehe“, antwortete sie und warf ihm einen eindeutigen Blick zu. „Und ja, er hatte ein attraktives Äußeres. Aber nein, er wäre sicherlich nicht mein Typ gewesen. So, wie ich ihn einschätze, gehört er zu der Sorte Mensch, der jedem erst einmal die kalte Schulter zeigt und selbst dann noch nicht auftaut, wenn man ihn näher kennenlernt. Ich hätte keine Lust gehabt, mich neben meinen eigenen Problemen auch noch mit so etwas herumzuschlagen.“ Cedric grinste immer noch. „Dafür hast du dich aber immer und immer wieder mit meinen Problemen rumgeschlagen.“ Carina schaute leicht zur Seite und spürte, wie sich eine schwache Röte auf ihre Wangen legte. „Das kann man nicht vergleichen. Du bist eben einfach… anders.“ „Jetzt bin ich wohl derjenige, der nicht weiß, ob er sich geschmeichelt fühlen soll oder nicht“, lachte er. Die Schnitterin schmunzelte. „Natürlich ersteres. Es gibt immerhin nur wenig Menschen, die mein Interesse ernsthaft wecken können“, ahmte sie seinen Tonfall vortrefflich nach und die beiden Shinigami grinsten vergnügt, als nun endlich das Anwesen der Phantomhives in Sichtweite kam. Innerhalb weniger Minuten hatten sie den Eingangsbereich erreicht, doch bevor sie die geschwungenen Treppen hinaufsteigen konnten, öffnete sich über ihnen bereits die große Tür und derselbe ältere Butler, der Carina bereits bei ihrem letzten Besuch im Empfang genommen hatte, trat ins Freie. Cedrics Lippen verzogen sich zu diesem einen zahnlosen Lächeln, das der 19-Jährigen sagte, dass er sich freute. „Aah, Tanaka. Lange nicht mehr gesehen“, sagte er nostalgisch und der Butler, der scheinbar Tanaka hieß, verneigte sich leicht. „In der Tat, Mister Undertaker“, erwiderte er und auch auf seinen Lippen zeigte sich ein angedeutetes Schmunzeln. Carina wunderte es nicht, dass die beiden sich kannten. Vermutlich war Tanaka bereits zu Zeiten Vincent Phantomhives Butler der Familie gewesen, wenn nicht sogar schon zu Zeiten Claudias, bedachte man sein fortgeschrittenes Alter. Die Deutsche dachte unwillkürlich an die anderen Angestellten, die Ciel neben Sebastian für sich arbeiten ließ. Jeder von ihnen war kampferfahren. Sie schaute den älteren Mann an und versuchte ihre Neugierde zu verbergen. „Was für Talente er wohl hat?“ Sie wurden hereingebeten und in dem Moment, als die schwere Tür hinter ihnen wieder ins Schloss fiel, ergriff der Dienstälteste erneut das Wort. „Lord Phantomhive bat mich Ihnen zuerst Ihre Räumlichkeiten zuzuweisen, um anschließend eine Ortsbegehung vorzunehmen.“ „Na, dann mal los“, murmelte Carina. Sie folgten ihm eine große Treppe hinauf, über mehrere lange Gänge und Abzweigungen entlang, ehe sie schließlich vor einer der vielen Türen stehen blieben. „Wenn es Ihnen recht ist, komme ich Sie in 20 Minuten wieder abholen.“ Die beiden Todesgötter nickten dankend und Cedric öffnete die Tür. „Darf ich bitten?“, grinste er Carina entgegen und machte eine hereinbetende Geste. Die Schnitterin konnte sich ein kurzes Augenrollen nicht verkneifen, kam seiner Aufforderung aber umgehend nach. Gleich darauf blieb sie jedoch wie vom Donner gerührt stehen. „Wow“, entfuhr es ihr gegen ihren Willen, während sie sich das Zimmer ansah. Wobei… Zimmer traf es wohl nicht ganz. Eher eine Suite. Nicht, dass sie etwas großartig Anderes erwartet hatte. Das ganze Anwesen strahlte puren Luxus aus, von vorne bis hinten, aber dennoch war es ein überwältigender Anblick. Es gab ein riesiges Bett, einen ganzen kompletten Wohnbereich, große Schränke und bis zum Boden hinabreichende Spiegel, einen abgetrennten Ankleidebereich und sogar noch eine weitere Tür, die mit Sicherheit in ein Badezimmer führte. Carina wusste nicht, ob sie wirklich wissen wollte, wie groß dieses denn sein würde. Hinter ihr kicherte der Undertaker. „Man kann über den Earl ja sagen, was man will, aber was Inneneinrichtungen angeht, hat er echt Stil.“ „Wohl wahr“, gab Carina zu und legte Lily in der Mitte des riesigen Bettes ab. Und obwohl ihre Tochter noch nicht dazu imstande war sich selbstständig zu drehen, platzierte sie links und rechts von ihr noch zwei der unzähligen Kissen. Das Baby ließ sich davon jedoch nicht stören und schlief seelenruhig weiter. „Ich werde mich noch um eine Wiege bemühen“, verabschiedete sich Tanaka und schloss leise die Tür hinter sich. „Was für ein Service“, murmelte Carina und meinte es in diesem Moment nicht einmal sarkastisch. Innerhalb weniger Minuten packten sie das wichtigste aus den Taschen aus und als sie damit fertig waren, kam Carina einfach nicht umhin doch einen kurzen Blick in das Badezimmer zu werfen. Natürlich blieb es nicht bei einem kurzen Blick. Dafür war der Anblick einfach viel zu überwältigend. Alles war aus Marmor. Von den zwei Waschbecken auf der einen Seite, über die Badewanne mittig im Raum, bis hin zu der Toilette auf der anderen Seite. Goldene Ornamente waren im ganzen Zimmer zu finden. An den Rändern der Spiegel, auf den Wänden und dem Wasserhahn der Badewanne, sowie in kompliziert geformten Mustern am Boden. Weiße, sehr weich aussende, Badetücher lagen auf einem kleinen Stapel bereit und auf einmal hatte Carina den unwiderstehlichen Drang sich ein Bad einzulassen und einfach in das warme Wasser zu hüpfen. „Vielleicht später“, dachte sie und schloss die Tür. „Wir sollten unsere Death Scythe von nun an ständig bei uns tragen“, sagte Cedric und Carina konnte einige seiner Sotoba aufblitzen sehen, als er sich den Mantel zurecht rückte. „Ja“, stimmte Carina zu und befestigte ihr Katana seitlich an der schwarzen, engen Hose, die sie derzeit trug. Morgen während des Balls würde sie es vor den Augen der Menschen verbergen müssen, aber das fiel ihr nach all der Zeit nicht mehr wirklich schwer. Viel schwerer würde es hingegen sein, am morgigen Tag schnell aus dem Ballkleid herauszukommen, wenn Samael sich zeigte. Aber auch hierfür hatte sie schon einen Plan… Pünktlich 20 Minuten später klopfte es erneut an der Tür und Tanaka betrat den Raum, sowie eine junge Frau mit langem, braunen Haar. Sie konnte noch keine 20 Jahre alt sein, wirkte aber bereits sehr erwachsen, als sich ihre dunkelbraunen Augen auf Carina richteten. Sie knickste einmal. „Lady Elizabeth schickt mich“, begann sie und plötzlich dämmerte Carina, wer da vor ihr stand. Sie lächelte. „Du musst Paula sein“, sagte sie und die Zofe ergriff – ein wenig verwundert – die Hand, die die Schnitterin ihr nun entgegen streckte. „Vielen Dank, dass du dich um meine Tochter gekümmert hast, als ich es nicht konnte. Und danke, dass du es auch morgen übernimmst, das ist uns allen eine große Hilfe.“ „Das war doch selbstverständlich“, erwiderte die junge Frau und lächelte nun ebenfalls. „Nach allem, was Ihr für Lady Elizabeth getan habt, ist das das Mindeste, was ich tun kann.“ Carina war es beinahe ein wenig unangenehm, wie sehr sie immer von Elizabeth in den Himmel gelobt wurde. Sie sah sich nicht als ihre Retterin. Es waren viele glückliche bzw. eigentlich eher unglückliche Zufälle nötig gewesen, damit ihre Flucht aus dem Bunker so verlaufen konnte, wie sie schlussendlich verlaufen war. Wären sie nicht in ein und demselben Raum gewesen, hätte Elizabeth nicht so meisterhaft kämpfen können, wären Cedric und Grell und Sebastian und Ciel nicht rechtzeitig aufgetaucht… Wer wusste schon, wie die ganze Sache ansonsten ausgegangen wäre. „Ist Lizzy bereits hier?“, fragte sie und die Zofe nickte, wobei sie ihre Überraschung über den Spitznamen nicht ganz verbergen konnte. „Wir sind bereits gestern angereist. Momentan befindet sie sich auf einem Reitausflug mit Lord Phantomhive.“ Cedric begann neben ihr amüsiert zu kichern. Während den beiden Bediensteten deutlich im Gesicht abzulesen war, dass sie die Intention dahinter nicht verstanden, war Carina das zumindest sofort klar. Zweifelsohne stellte er sich gerade einen jammernden Ciel auf einem viel zu großen Pferd vor, der jetzt viel lieber seiner Arbeit nachgehen würde, anstatt mit seiner Verlobten einen friedlichen Ausritt zu veranstalten. Der bloße Gedanke ließ auch die 19-Jährige schmunzeln. „Wollen wir dann?“, meinte Tanaka in diesem Moment und die beiden übernatürlichen Wesen im Raum nickten synchron. Carina zeigte Paula, wo sich die Babysachen befanden und versicherte ihr, dass Lily mit Sicherheit noch mindestens eine Stunde schlafen würde. Dann erwähnte sie noch ein paar Kleinigkeiten, die ihrer Meinung nach wichtig waren. Nur, dass es nicht wirklich bei „ein paar“ Kleinigkeiten blieb. Erst, als Cedric sie mit sanfter Gewalt an der Schulter packte und sie auf den Gang hinausführte, wurde Carina klar, dass sie es vermutlich ein wenig übertrieben hatte. „Wehe, du sagst jetzt was“, murmelte sie aus dem Mundwinkel heraus in Cedrics Richtung. Dieser grinste nur kurz und zuckte mit den Schultern. „Ich mag deinen Mutterinstinkt“, antwortete er lediglich darauf und die Schnitterin spürte, wie ihre Wangen daraufhin heiß wurden. Sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut heraus. Seit sie Lily – unabsichtlich, aber das spielte in ihrem Hinterkopf keine große Rolle – mehrere Tage allein gelassen hatte, machte ihr der Gedanke das noch einmal zu tun zu schaffen. Sie hatte nichts für ihre Entführung gekonnt, das war ihr selbst auch klar, aber für Lily hatte das schlussendlich keinen Unterschied gemacht. Carina wollte gar nicht daran denken, wie es erst sein würde, wenn Lily irgendwann laufen konnte. Gott, sie würde wahnsinnig werden vor Sorge… „Sie haben da ein sehr schönes Katana“, riss der Butler sie aus ihren Gedanken und Carina schaute ihn daraufhin überrascht an. Seine sanften Augen ruhten auf ihrer Death Scythe und es schien ihm schwer zu fallen den Blick abzuwenden. „Darf ich mal?“, fragte er plötzlich und perplex starrte die Schnitterin ihn an, ehe sie Cedric einen schnellen Blick zuwarf, der aber lediglich einmal kurz nickte und somit ihr die schlussendliche Entscheidung überließ. Carina gefiel der Gedanke eigentlich nicht ihre Todessense jemand anderem in die Hand zu geben, aber wenn der ältere Mann schon so nett fragte... Wortlos hielt sie es ihm entgegen und mit geübtem Griff zog er die Klinge aus der Scheide, balancierte sie anschließend wissend auf beiden Händen. „Faszinierend“, murmelte er nach bereits wenigen Sekunden und ließ seine Augen noch einmal über den Wellenschliff gleiten, ehe er es an die Deutsche zurückreichte. „Wirklich ein sehr schönes Stück.“ Carina blinzelte verblüfft und steckte es sich wieder an die Hüfte. „Sie kennen sich mit dieser Art von Schwertern aus?“, fragte sie neugierig und der Butler lächelte kurz, bevor er sich wieder nach vorne abwandte. „Ein wenig“, meinte er schließlich, doch Carina brauchte keine Expertin zu sein um zu wissen, dass „ein wenig“ mit Sicherheit untertrieben war. Doch sie hinterfragte es nicht weiter. Stattdessen ließ sie das Kompliment auf sich wirken und strich einmal liebevoll über den Griff ihrer Waffe. Sie hatte es bisher keinen einzigen Tag bereut, dass sie sich für diese Death Scythe entschieden hatte. Es war ganz einfach mehr als nur ein Schwert. Mittlerweile war es viel mehr ein Teil von ihr. Das hatte sie ganz besonders damals gemerkt, als sie sie mehrere Wochen lang nicht bei sich gehabt hatte. Das wollte sie nie wieder erleben! „Scheinbar habe ich das zu früh gedacht“, ging es Carina jedoch bereits wenig später durch den Kopf. Die Besichtigung war im vollen Gange und es dauerte nicht besonders lange, da wünschte die Schnitterin sich, sie wäre tatsächlich wieder im Weston College und würde nach ihrer Death Scythe suchen. Das Phantomhive Anwesen war zwar wesentlich kleiner, aber im College hatte sie zumindest ein klares Ziel vor Augen gehabt. Das hier hingegen war pure Folter. Carina konnte von sich behaupten, dass sie schon immer ein äußerst gutes Gedächtnis gehabt hatte. Was nicht immer von Vorteil war, so viel stand fest. Aber nicht einmal sie konnte sich jeden einzelnen Gang merken, der durch dieses riesige Haus führte. Was erschwerend hinzu kam war die Tatsache, dass sie – was räumliches Vorstellungsvermögen betraf – das typische Frauenklischee bediente. So konnte sie sich nicht einmal gedanklich einen groben Umriss des Hausinnenlebens vorstellen. Sie warf einen kurzen Seitenblick zu Cedric, während Tanaka ihnen gerade den Salon zeigte. Der Bestatter schien entspannt zu sein wie immer und die Schnitterin nahm sich fest vor, während des Balls an seiner Seite zu bleiben. Sollte er sich doch an jedes kleine Detail zurückerinnern! Nach weiteren 16 Räumen – unter anderem die Bibliothek, die in Carinas Augen ganz klar das Herzstück des Hauses war – führte der Butler sie nach draußen in den Garten. Dieser war ohne jeden Zweifel das Werk von Sebastian. Niemand konnte jeden einzelnen Baum, jede einzelne Blume und jeden einzelnen verdammten Grashalm so akkurat zurechtschneiden. Jedenfalls kein menschliches Wesen. Sie beugte sich in Cedrics Richtung und flüsterte so leise, dass der Hausangestellte sie nicht hören konnte: „Glaubst du, wir haben es bald hinter uns oder gibt es da noch weitere hundert Zimmer, die man von außen nicht vermuten würde?“ „Hehe, das Schlimmste haben wir hinter uns, denke ich. Da ich nicht glaube, dass wir noch unbedingt die Küche oder die Ställe sehen müssen, dürften wir eigentlich fertig sein.“ „Gott sei Dank“, stöhnte sie dankbar. „Denn ich werde dieses Haus noch mindestens zweimal abgehen müssen, um mir das alles einzuprägen.“ „Dann kannst du mich ja mitnehmen“, ertönte es direkt hinter ihr und obwohl sie die Stimme direkt als Grells erkannte, zuckte sie überrascht zusammen. „Himmel“, sagte sie und drehte sich nach Luft schnappend um. „Musst du denn direkt hinter mir auftauchen? Irgendwann bekomme ich noch einen Herzinfarkt.“ Der Rothaarige grinste. „Schätzchen, wir Shinigami sind gar nicht mehr in der Lage dazu einen Herzinfarkt zu erleiden. Und selbst wenn, würde es uns vermutlich nichts ausmachen.“ Carina verdrehte die Augen. „Du weißt genau, wie ich das gemeint habe. Und wolltest du nicht eigentlich schon viel früher hier sein?“ Jetzt war es an Grell genervt mit den Augen zu rollen. „Ich wäre ja auch pünktlich hier gewesen. Wenn ich nicht noch auf die dämliche Idee gekommen wäre William und Ronald zu fragen, ob sie mitkommen möchten.“ „Aufgrund deiner Mimik und der Tatsache, dass ich die beiden nirgendwo entdecke, gehe ich mal davon aus, dass sie kein Interesse hatten?“, frage die 19-Jährige und ihr Freund und Mentor zuckte mit den Schultern, immer noch deutlich gestresst. „William hielt es für Zeitverschwendung und hat mir mit seiner üblich charmanten Art mitgeteilt, dass er sich schon längst die Pläne des Anwesens besorgt hat. Frag nicht woher, ich habe keine Ahnung. Und Ronald? Der ist einfach faul wie immer und meinte, es würde auch ohne genauere Ortskenntnisse seinerseits wunderbar laufen.“ „Wieso verwundert mich das nicht?“, sagte Carina trocken und bezog sich dabei nicht nur auf Ronald, sondern auch auf William. „Sollen sie doch machen, was sie wollen“, schnaubte Grell und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe es ja nur gut gemeint.“ „Weiß ich doch“, antwortete Carina und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Und ich bin froh, dass du mir beim weiteren Ablaufen dieses schrecklich großen Hauses Gesellschaft leistest.“ Sie wandte sich an Cedric. „Kommst du auch mit?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich denke, ich werde mir noch ein wenig den Garten ansehen und dann zurück auf unser Zimmer gehen. Und wer weiß, vielleicht treffe ich ja zwischendurch noch den Earl und kann ihn von seinem hohen Ross herunterholen?“ Er kicherte über seinen eigenen Witz und wandte sich dann wieder Tanaka zu, um über einige Dinge mit ihm zu plaudern. „Na, dann komm“, sagte Carina und gemeinsam mit Grell betrat sie erneut das Anwesen, um die einzelnen Zimmer abzulaufen. „Gott, das nimmt ja gar kein Ende mehr“, meinte der Rotschopf irgendwann und Carina lachte freudlos auf. „Meine Worte“, bestätigte sie. „Das hier ist der reinste Irrgarten. Vielleicht hätten wir uns für den Abend eine andere Location suchen sollen. Eine, die einfacher zu überblicken ist.“ „Und wie hätte der kleine Bursche erklären sollen, wieso er nicht sein eigenes Haus dafür nimmt?“, schnaubte Grell und sah sich um. „Ehrlich mal Carina, diese riesige Villa ist praktisch für solche Anlässe errichtet worden. Keine Ausrede der Welt wäre glaubhaft genug gewesen, um einen solchen Ball woanders abhalten zu können.“ „Auch wieder wahr“, murmelte sie. „Trotzdem, ich bin ohnehin schon so nervös. Gefühlt klopft mein Herz seit mindestens einer Woche doppelt so schnell wie sonst. Und mir ist ständig übel, wenn ich auch nur an morgen denke.“ „Das ist der Stress.“ „Nein, die Angst vor dem Unbekannten. Das macht mich noch wahnsinnig!“, entgegnete sie und fuhr sich mit der Hand einmal über das Gesicht, als könne sie dadurch die Besorgnis wegwischen. „Müsstest du dich nicht langsam daran gewöhnt haben?“, fragte Grell, unüberhörbar amüsiert, nach und Carina warf ihm einen genervten Blick zu. „Sowas ähnliches hat Cedric heute Morgen auch schon gesagt. Nach dem Motto: Uns passiert doch ständig so ein Mist und bisher haben wir es immer irgendwie hingekriegt.“ „Womit er ja auch nicht ganz Unrecht hat“, lachte Grell und zeigte dabei seine spitzen Zähne. „Ja, mag sein“, antwortete sie und als sie so an das Gespräch zurückdachte, fiel ihr plötzlich noch etwas ein. „Sag mal, Grell“ sprach sie ihren Freund an und war jetzt schon gespannt auf seine Antwort: „Wusstest du, dass vor ca. 70 Jahren mal der halbe Dispatch zerstört wurde?“ Angesprochener hob eine Augenbraue. „Ja, natürlich. Jeder, der damals Shinigami war, kann sich an diese Geschichte erinnern. Bedauerlicherweise war ich zu der Zeit zusammen mit William auf einer Mission in Italien und wir waren daher nicht direkt vor Ort, aber als wir zurückkamen… Herrgott, der Anblick war wirklich übel. Ich dachte, William bekäme jeden Augenblick einen Schlaganfall.“ Er gluckste leise, als er sich an den mehr als nur entsetzten Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen zurückerinnerte. „Aber viel wichtiger ist doch die Frage, woher du davon weißt. Und wie du jetzt plötzlich darauf kommst.“ Carina räusperte sich einmal. „Cedric hat mir heute davon erzählt.“ „Ah“, machte Grell, „war er damals anwesend?“ Carina schluckte und nickte zögerlich. „Anwesend… verantwortlich…“, sagte sie betont beiläufig, aber Grell war gerade letzteres Wort nicht entgangen. Und man musste ihm zu Gute halten, dass er nicht lange brauchte, um zu begreifen worauf sie anspielt. Seine Augen wurden sofort groß wie Untertassen. „Was, er ist das gewesen?“, schrie er über den halben Flur und als Carina nur schwach mit den Schultern zuckte, stöhnte er fassungslos auf. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, sagte er und fasste sich an die Stirn. „Ich meine… jetzt, wo ich so darüber nachdenke, gibt es wohl wirklich nur einen, der so komplett irre sein konnte, um im Alleingang gegen den Dispatch zu kämpfen.“ „Ich würde ja jetzt gerne so etwas sagen wie „Hey, das ist mein Gefährte, von dem du da sprichst“, aber bedauerlicherweise hast du recht“, seufzte sie. Grell schüttelte den Kopf. „Weißt du eigentlich, dass er eine lebende Legende ist? Ehrlich mal, hätten wir Kinder vor Ort im Dispatch, dann wäre Undys Fluchtversuch eine der Gruselgeschichten, die man ihnen vorliest, damit sie abends pünktlich ins Bett gehen.“ „Jetzt übertreib mal nicht, Grell“, sagte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und störrischem Blick. Der Rothaarige brachte sie mit einem einzigen starren Blick seinerseits zum Verstummen. „Ich übertreibe ganz und gar nicht, Carina. Das ist mein voller Ernst. Ich habe damals Othello gefragt, was passiert ist. Du weißt schon, der irre Kerl aus der Forensik, von dem ich dir schon mal erzählt habe. Er war ein wenig gesprächiger als alle anderen und das nicht ohne Grund. Der Rat hat verboten, dass diejenigen, die den Vorfall miterlebt haben, je wieder darüber sprechen.“ Carina spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. Einerseits wollte sie mit jedem weiteren Wort weniger wissen, was damals genau passiert war. Andererseits jedoch… „Und? Was hat er gesagt?“ Grell nahm sich die Brille von der Nase und begann sie an seinem roten Mantel sauber zu wischen. „Nicht besonders viel. Er kannte Undy scheinbar, weil sie zur etwa gleichen Zeit zu Shinigami wurden. Nur ging er selbst zur Forensik, während Undy ein Schnitter wurde.“ Grell dachte kurz nach und setzte sich dabei die Brille wieder auf. „Wenn ich mich richtig erinnere, dann sagte er: „Während ich es in meiner Anfangszeit in der Forensik etwas lockerer anging, hatte er in seiner Branche immer die besten Noten und stand an der Spitze. Er sammelte jede einzelne Seele auf seiner Liste ein, ohne jemals Gnade zu zeigen oder auch nur zu zögern. Er war der Inbegriff eines Todesgottes.“ Das hat er mir genau so gesagt. Und ich muss sagen, dass sich das ziemlich genau nach Undy anhört. Jedenfalls nach seinem früheren Ich.“ Carina schwieg. Sie sehnte sich danach, diese Geschichte und noch so viel mehr aus Cedrics Mund zu hören, aber sie wollte ihn nicht drängen. Er würde es ihr vermutlich irgendwann erzählen, aber sie war dennoch neugierig. „Nun ja, schlussendlich nannte man diesen Vorfall im Allgemeinen einfach nur „Fluchtversuch Nummer 136649“ und damit wurde das ganze Thema fallengelassen.“ Carina hob eine Augenbraue. „Nummer 136649? Was soll das bedeuten?“ „Du weißt doch sicherlich, dass jeder Shinigami eine Registrationsnummer bekommt, oder?“ „Ja, kann mich dunkel daran erinnern“, meinte Carina. „Aber ist das nicht nur etwas für förmliche Dokumente in der Verwaltung?“ „Streng genommen schon. Es gibt ein paar Ausnahmen. Du weißt doch, dass laut den Richtlinien mit unserem Selbstmord auch unser menschliches Leben endet, richtig? Alles, was uns bis dahin ausgemacht hat, ist zumindest gesetzlich ab dann unwichtig. Es zählt nur noch der Dienst im Namen des Dispatchs.“ Carina schloss die Augen und kniff sich in den Nasenrücken. „Ja, das weiß ich. Und ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass es dann wohl besser gewesen wäre, wenn wir mit unserem Tod auch unser Gedächtnis verloren hätten. Ist nämlich schwer alles hinter sich zu lassen, wenn man noch genau weiß, wie das vorherige Leben ablief.“ Grell tätschelte ihr die Schulter. „Bin ganz deiner Meinung, Liebes. Und berücksichtigt man, dass beinahe alle Shinigami ihren menschlichen Namen behalten, dann spricht das ganz klar für deine Auffassung. Aber ganz offiziell, wenn man die Verwaltung und die Registratur fragt, dann sind unsere Registrationsnummern unsere neuen Namen.“ Carina klappte gegen ihren Willen leicht der Mund auf. „Wie bitte?“, fragte sie, eine Mischung aus Verblüffung und zornigem Unglauben in der Stimme. „Das ist ja wohl der größte Schwachsinn, den ich jemals-“ „Du bringst es auf den Punkt. Natürlich ist es Schwachsinn“, unterbrach Grell sie. „Aber wie ich schon sagte, es gibt Ausnahmen. Und Undy ist eine davon.“ „Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst“, erwiderte die Schnitterin verwirrt. „Ich will darauf hinaus, dass Undy seinen richtigen Namen abgelegt und während seiner gesamten Zeit im Dispatch immer nur unter dem Namen „Nummer 136649“ bekannt war.“ Carina starrte ihn an. Versuchte, seinen Worten einen Sinn zu geben. Aber alles, was sie gedanklich hörte, war ein schrilles Piepen, ähnlich einem Störgeräusch. Weil sie es nicht verstand. Egal, wie sehr sie auch darüber nachdachte, sie verstand es einfach nicht. Grell konnte an ihrer Miene ablesen, was sie dachte. „Ich weiß“, murmelte er sanft und war nun derjenige, der ihr eine Hand auf die Schulter legte und beruhigend zudrückte. „Das ist schwer zu verdauen.“ „Es ist nur…“, begann sie zögerlich und schluckte einmal, um ihre trockene Kehle zu befeuchten, „Jedes Mal, wenn ich solche Dinge über seine Vergangenheit höre, dann werde ich traurig. Einerseits, weil es immer noch so vieles gibt, was ich nicht über ihn weiß. Aber vor allem andererseits, weil ich genau weiß, dass ihm wehgetan worden ist. Ich meine… welcher Mensch, welches fühlende Wesen, würde sich gerne als Nummer betiteln lassen?“ Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. „Irgendetwas muss unmittelbar vor seinem Selbstmord passiert sein, dass er selbst nach seinem Tod seinen Namen nicht mehr wollte.“ „Du willst ihn nicht bedrängen, das ist mir klar. Aber vielleicht solltest du ihn endlich danach fragen, gerade in unserer jetzigen Situation. Ich meine… wir könnten morgen schon alle tot sein, wirklich tot diesmal, und dann hättest du nie die Wahrheit erfahren.“ „Ich will ihm nicht wehtun. Das habe ich in der Vergangenheit schon viel zu oft getan.“ Grell schnaubte. „Schätzchen, mach dir nichts vor, er hat dich auch schon so einige Male verletzt. Wenn das ein Wettkampf wäre, läge er meilenweit in Führung.“ Carina lachte und wischte sich flüchtig über die Augen. „Ja, das mag sein“, murmelte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich muss erst einmal darüber nachdenken.“ „Mach dir nicht so viel Stress deswegen. Denk dran, ihr seid im Hier und Jetzt. Und Tatsache ist, dass er jetzt ganz anders ist, als er es damals gewesen sein muss. Du hast die bessere Version von ihm abbekommen.“ „Hey“, sagte Carina ernst, weil ihr die Aussage nicht wirklich gefiel. Jedenfalls nicht so, wie Grell es ausgedrückt hatte. „Es gibt keine bessere oder schlechtere Version von ihm. Er ist, wer er ist und ich hätte ihn mit Sicherheit auch damals lieben gelernt. Vielleicht wäre es schwieriger geworden und noch tausend Mal komplizierter, als es jetzt ohnehin schon war, aber tief innen drin war er immer der Mann, den ich jetzt kenne.“ Grell quietschte einmal kurz auf. „Hach, junge Liebe kann einfach so poetisch sein“, seufzte er verzückt, woraufhin seine ehemalige Schülerin stark mit den Augen rollte. „Herrje, geht das wieder los…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)