Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 96: Die dritte Geschichte --------------------------------- „Danke sehr“, sagte Ronald höflich, als Carina eine dampfende Tasse Kaffee vor ihm abstellte. „Gerne“, erwiderte die Todesgöttin und setzte sich mit ihrer eigenen Tasse Tee ihm gegenüber auf einen Stuhl. „Und jetzt mal Hand aufs Herz“, fuhr Ronald fort und pustete einmal in die heiße Flüssigkeit, „du hast mich doch nicht einfach so auf eine Tasse Kaffee eingeladen, oder? Es gibt da irgendetwas, was du mit mir besprechen willst, hab ich recht?“ Angesprochene grinste. „Du müsstest mich doch inzwischen gut genug kennen, Ronald, um zu wissen, dass ich fast nie etwas ohne Hintergedanken mache.“ Der Shinigami besah sich ihr Grinsen und seufzte. „Dein Geliebter färbt auf dich ab, das ist dir schon klar, oder?“ „Nein, aber da du nicht der Erste bist, der mir das sagt, scheint es wohl zu stimmen. Was ich, wenn ich ehrlich bin, beinahe schon ein wenig beunruhigend finde.“ Er lachte. „Sobald es unerträglich wird, sage ich dir Bescheid.“ „Zu gütig“, murmelte sie und nahm einen kurzen Schluck ihres Früchtetees. „Also? Was möchtest du mit mir besprechen?“, fragte Ronald und hob nun ebenfalls die Tasse an seine Lippen. Carina zögerte. „Ich weiß, es ist ein delikates Thema und du bist mir definitiv keine Antwort schuldig, so viel sollte dir klar sein. Aber ich kam nicht umhin festzustellen, dass du in bestimmten Situationen merkwürdig reagierst.“ Der Todesgott runzelte die Stirn. „Inwiefern?“, fragte er. Carina zögerte erneut mehrere Sekunden lang, ehe sie vorsichtig antwortete: „Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass du von Anfang an sehr viel Verständnis für meine Situation gezeigt hast? Du bekommst manchmal diesen seltsamen Blick, wenn es um das Thema Liebe und Partnerschaft geht“, sagte sie und erinnerte sich an den Tag zurück, an dem Ronald die ganze Wahrheit über ihr plötzliches Verschwinden erfahren hatte. „Alles, was ich momentan will, ist hier in Frieden zu leben. Meine Tochter aufwachsen zu sehen und mit dem Mann zusammenzubleiben, den ich liebe. Kannst du das nicht verstehen?“ Die gelbgrünen Augen des jungen Mannes nahmen plötzlich einen seltsam bitteren Ausdruck an. „Doch“, sagte er und schaute zu Boden. „Das kann ich. Mehr, als du dir vielleicht vorstellen kannst.“ Ronald war anzusehen, dass er genau wusste, wovon sie sprach. Er wirkte ernster, als Carina ihn je zuvor gesehen hatte. „Bleib ruhig. Ich hatte nicht vor dich auszufragen“, sagte sie, nippte an ihrem Tee und stellte die Tasse wieder leise auf den Untersetzer. „Ich habe einmal den Fehler gemacht und einen Shinigami nach seinem menschlichen Leben gefragt, das passiert mir kein zweites Mal. Ich wollte dir nur sagen, dass du jederzeit mit mir reden kannst, wenn du etwas auf dem Herzen hast. Wir waren in unserer Ausbildungszeit nie die besten Freunde und ehrlich, manchmal benimmst du dich immer noch unmöglich, aber… du hast so viel für mich getan und inzwischen sehe ich dich als einen guten Freund, Ronald. Also, wenn irgendetwas ist oder du irgendetwas brauchst, dann zögere nicht mich zu fragen, ja?“ Der junge Mann starrte sie fassungslos an, während seine Kaffeetasse vergessen in der Luft schwebte. Sie lächelte zögerlich und diese Mimik riss ihn aus seiner Trance. Er räusperte sich und nahm nun doch einen weiteren Schluck. „Das … also, ich … danke“, murmelte er, besann sich einen Moment lang und sah sie dann wieder mit seinem altbekannten Grinsen an. „Ich wollte es dir ohnehin irgendwann erzählen“, sagte er locker und nun war es Carina, die ihn anstarrte. „Wie bitte?“, fragte sie verblüfft nach und Ronald lachte. „Ich kenne immerhin deine Geschichte. Da wäre es doch nur fair, wenn ich dir auch meine erzähle, oder nicht?“ „Wie gesagt“, stellte Carina noch einmal klar, „du bist mir nichts schuldig. Ich muss es nicht wissen, wenn du nicht-“ „Die meisten Shinigami machen immer so ein riesiges Fass auf, wenn es um ihre Vergangenheit geht. Dabei sitzen wir, was das angeht, doch nun wirklich alle im selben Boot, oder etwa nicht?“, unterbrach Ronald sie und zuckte einmal mit den Schultern. „Ich sollte dich allerdings vorwarnen. Meine Vergangenheit ist bestimmt bei weitem nicht so schlimm wie die von einigen anderen. Ehrlich gesagt ist sie eigentlich sogar recht unspektakulär.“ Carina hob eine Augenbraue. „Tatsächlich? Das kann ich mir bei deinem Charakter eigentlich kaum vorstellen, wenn ich ehrlich bin.“ Ronald grinste. „Glaub es oder glaub es nicht, aber ich war nicht immer so, wie ich jetzt bin. Ein Weiberheld, meine ich. Gutaussehend war ich tatsächlich schon immer.“ Die Schnitterin konnte nicht anders, sie verdrehte die Augen. Gott, selbst bei einem so ernsten Thema konnte Ronald seine lockere Art und Weise nicht ablegen. Aber vielleicht war das in diesem Fall auch nur reiner Selbstschutz, was wusste sie denn schon? „Hmm, wo fange ich denn am besten an?“, überlegte Ronald und runzelte nachdenklich die Stirn. „Von vorne?“, schlug Carina amüsiert vor und der junge Mann lachte. „Gute Idee. Lass mich mit der Tatsache anfangen, dass mein Vater Architekt war. Ja, ich glaube, dass das sozusagen der Anfang vom Ende für mich war.“ Er zuckte einmal mit den Schultern. „Meine Mutter brachte vier Söhne zur Welt und ich war der Erstgeborene. Wir waren nicht adelig, aber von dem Gehalt meines Vaters konnten wir wirklich gut leben und in meinen ersten paar Lebensjahren lief auch alles wunderbar.“ Er seufzte schwer. „Logischerweise blieb das nicht so, wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Jedenfalls nicht für mich.“ Seine Augen schweiften, ohne wirklich etwas zu sehen, über die Mitte des Küchentischs und Carina wusste instinktiv, dass er sich seine Vergangenheit bildlich vor Augen führte. „Mein Vater war wirklich gut in seinem Beruf, musst du wissen. Sein Ruf wurde von Jahr zu Jahr bekannter und irgendwann entwarf er kaum noch Häuser für die Bürgerlichen, sondern nur noch riesige Villen für Adelsfamilien.“ Ronald hob seinen Blick und schaute Carina an. „Jetzt im Nachhinein weiß ich, was das mit seinem Charakter gemacht hat. Ich wünschte, er wäre auf dem Boden der Tatsachen geblieben. Aber damals… damals war ich so beeindruckt von den riesigen Gebäuden, an denen er mitgewirkt hatte. Mein Vater ist der Größte, dachte ich damals. Tja, und dementsprechend hoch war der Preis, den ich schlussendlich dafür bezahlen musste.“ Carina mochte Ronalds Vater von Wort zu Wort weniger. „Was hat er getan?“, fragte sie mit einer Spur Schärfe in der Stimme. Ronald seufzte erneut. „Es war nicht wirklich etwas, was er getan hat. Sondern vielmehr, was er nicht getan hat.“ Auf ihren verwirrten Gesichtsausdruck hin fuhr er fort: „Weißt du, das alles ist ihm irgendwann zu Kopf gestiegen. Er verbrachte immer mehr Zeit mit Adeligen und aufgrund seines Erfolges und Talent behandelten sie ihn wie einen der ihren. Das ging so weit, dass ich irgendwann der Tochter eines wohlhabenden Geschäftspartners von ihm vorgestellt wurde.“ „Die du heiraten solltest?“ Er nickte. „Da war ich fünf Jahre alt“, murmelte er und die Schnitterin schluckte. Arrangierte Ehen waren ihrer Meinung nach ein ganz dunkles Kapitel der menschlichen Geschichte. Im 21. Jahrhundert wurde kaum mehr darüber gesprochen. Niemand wusste in ihrer eigenen Zeit wirklich, wie viele Menschenleben dadurch zerstört worden waren. Niemandem war wirklich bewusst, wie viel die Bestimmung über den eigenen Körper wirklich wert war. „Lass mich raten. Sie war grauenvoll?“ Ronald lachte und entblößte dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne. „Ich wünschte, sie wäre es gewesen, aber nein. Ganz im Gegenteil sogar. Sophia war… sie war wunderschön. Strahlend blondes Haar und ihren Augen erst… so hellblau wie ein wolkenloser Himmel im Hochsommer. Ich habe mich auf den ersten Blick in sie verliebt.“ Carina konnte nicht anders, sie hob eine Augenbraue. Verliebt? Ronald??? Das, befand sie, passte in ihrer eigenen Vorstellung so gar nicht zu ihrem Kollegen. Aber er hatte ja eben gesagt, dass er vor seinem Selbstmord kein Weiberheld gewesen war. „Ich war so glücklich, als mein Vater mir erklärte, dass ich Sophia einmal heiraten würde. Sie war so lieb und nett und so unglaublich verständnisvoll. Das änderte sich nicht einmal, als wir älter wurden. Sie war einfach perfekt für mich. Glaub mir, ich habe wirklich keine Sekunde lang an unserer Liebe gezweifelt.“ Carina lächelte sanft. „Das hört sich schön an“, sagte sie. Sie kannte dieses Gefühl ganz genau, was Ronald da beschrieb. „Ja, das war es auch. Ich hatte nur Augen für sie. Meine Brüder haben sich ständig darüber lustig gemacht. So Sprüche wie „Amüsier dich doch, so lange du noch nicht unter der Haube bist“ oder „Nur Frauen müssen jungfräulich in die Ehe gehen“ standen auf der Tagesordnung. Aber ich habe es ignoriert. Für mich gab es schlichtweg keine andere Frau. Während ich also der brave Mustersohn war, hatten meine drei jüngeren Brüder fast jeden Tag den Spaß ihres Lebens.“ Ein trauriger Ausdruck stahl sich in seine Augen. „Wie bereits gesagt, im Nachhinein gesehen hätte ich alles anders gemacht.“ Carina lachte trocken auf, woraufhin der Schnitter ihr einen fragenden Blick zuwarf. „Glaub mir, jeder würde in seinem Leben einige Dinge anders machen, wenn er im Vorhinein gewusst hätte, welche Auswirkungen seine Entscheidung hat. Das ist ganz normal. Menschen machen nun einmal Fehler. Aber ich denke, ohne jetzt philosophisch sein zu wollen, dass wir nur so aus ihnen lernen und es dann für die Zukunft besser machen können.“ Ronald verdrehte die Augen. „Ja ja, ich weiß, was du von Menschlichkeit und so weiter hältst, dieses Gespräch hatten wir schon auf der Campania. Aber trotzdem darf man sich doch wohl wünschen, dass man in der Vergangenheit klüger gehandelt hätte, oder etwa nicht?“ „Wem sagst du das?“, murmelte Carina. Bis zum heutigen Tage bereute sie ihre Entscheidung Cedric nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt zu haben. „Jedenfalls…“, fuhr Ronald fort, „war alles gut bis zu meinem 18. Geburtstag. Wir waren mitten in den Hochzeitsvorbereitungen, als wir die Mitteilung bekamen, dass mein Vater bei einem Ausflug zu einer Baustelle vom Pferd gefallen war. Keine Sorge“, rollte Ronald mit den Augen, als er Mitleid im Gesicht seiner Kollegin aufflackern sah. „Er hat’s überlebt. Aber seine Hand war kompliziert gebrochen und trotz einer ziemlich kostspieligen OP konnte er seine Finger danach nie wieder so bewegen wie vorher. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was das für seine Karriere als Architekt bedeutet hat.“ „Nichts Gutes, fürchte ich“, antwortete sie und er nickte. „Er konnte zwar noch arbeiten, aber seine Skizzen waren nie mehr das, was sie früher einmal waren. Natürlich hat sich das relativ schnell herumgesprochen. Es ist unglaublich, wie schnell man fallen gelassen wird, wenn man nicht mehr so funktioniert, wie die Gesellschaft das von einem erwartet.“ „Was glaubst du wohl, warum ich Adeligen nichts abgewinnen kann?“, entgegnete Carina trocken. „Gut, sie sind nicht alle so, aber der Großteil ist einfach unausstehlich. Ohne jegliche soziale Kompetenz.“ Ronald nickte. „Leider Gottes gehörte Sophias Familie zu besagtem Großteil“, seufzte er. Carina schluckte schwer und biss sich auf die Unterlippe. „Sie haben die Hochzeit abgesagt?“ „Und die Verlobung gelöst. Wo sie doch schon mal gerade dabei waren“, erwiderte er sarkastisch und stellte seine Tasse mit etwas mehr Wucht als nötig auf dem Unterteller ab. „Aber weißt du, was das Lustige an der ganzen Sache ist? Dass das nicht einmal das Schlimmste war.“ Er lachte spöttisch auf. „Ich dachte mir: Scheiß drauf. Sophia und ich lieben uns, uns kann doch egal sein, was ihre Eltern wollen.“ Seine gelbgrünen Augen verdunkelten sich. „Also habe ich sie gebeten sich mit mir zu treffen und sie hat zugestimmt. Als wir uns dann endlich wiedergesehen haben, habe ich ihr gesagt, dass mir all die Umstände nicht wichtig sind, sondern nur sie allein. Dass wir irgendwo hingehen sollen, wo uns niemand kennt und dann endlich heiraten können. So, wie es von Anfang an geplant war.“ „Aber das wollte sie nicht, oder?“, fragte Carina sanft und Ronald nickte, während er sich mit einer Hand durch die Haare fuhr. Er schwieg mehrere lange Sekunden, bis die Todesgöttin sich schließlich vorsichtig vortastete. „Hat sie dich nie geliebt?“ Der junge Mann lachte bitter auf. „Weißt du, Carina… ich glaube, das war tatsächlich der schlimmste Aspekt an der ganzen Sache. Sie hat mich geliebt. Ich habe es all in die Jahre in ihren Augen gesehen und auch an dem Tag, an dem ich sie darum bat mit mir durchzubrennen. Aber schlussendlich waren ihr das Geld und das Ansehen ihrer Familie dann doch wichtiger.“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Beantworte mir eine Frage. Wie weit würdest du für deinen silberhaarigen Bestatter gehen? Was würdest du tun, um bei ihm zu bleiben?“ „Alles“, antwortete Carina, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken. „Ich würde alles für ihn tun.“ Genau genommen hatte sie dies ja bereits. „Ganz genau“, nickte Ronald. „Scheinbar hat sie mich doch nie so sehr geliebt wie ich sie. Das wurde mir an diesem Tag schmerzhaft klar. Ich war mir bis zu diesem Zeitpunkt nie wirklich darüber bewusst, was das schlimmste Gefühl ist, das ein Mensch empfinden konnte. Aber dann wusste ich es. Nicht Hass oder Wut. Es ist die Enttäuschung.“ Er lachte erneut kurz auf, dieses Mal frustriert. „Aus Wut oder Hass kann man wenigstens noch etwas machen. Man kann sich an diesen Gefühlen festklammern. Aber wenn man von jemandem enttäuscht wird… dann ist dir plötzlich bewusst, dass das nur möglich war, weil du denjenigen einfach zu sehr in dein Herz gelassen hast. Denn jemand, der dir egal ist, kann dich nicht enttäuschen.“ Carina starrte ihn an, komplett sprachlos. Jedes einzelne Wort, das Ronald sagte, entsprach der Wahrheit. Der absoluten Wahrheit. Auch sie hatte in der Vergangenheit bereits Enttäuschungen erlebt. Und sie wusste auch, was Ronald unausgesprochen ließ. Nämlich, dass man bei besagten Enttäuschungen oft den Eindruck hatte, dass man es selbst schuld war. Sich selbst oft fragte: „Warum habe ich dieser Person so sehr vertraut?“ Wie Ronald es bereits gesagt hatte: Nur Menschen, die einem nicht gleichgültig waren, konnten einen wirklich richtig verletzen. Jedenfalls auf einer emotionalen Ebene. „Der Rest ist schnell erzählt“, sagte Ronald versucht beiläufig, aber die Deutsche spürte, dass es ihm immer noch schwer zusetzte. Und das würde es auch noch lange tun, keine Frage. „Ich kam mit meinem Leben nicht mehr klar. Ich konnte es schlicht und ergreifend nicht akzeptieren. Von meinen Brüdern konnte ich mir den lieben langen Tag anhören, was für ein Trottel ich all die Jahre war und meine Eltern waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als das sie sich großartig darum geschert hätten, wie es mir mit der ganzen Situation geht. Meine Kindheitsfreunde waren bereits alle verheiratet und hatten ihre eigenen Familien, um die sie sich kümmern mussten. Ich kam mir vor, als wäre ich… als wäre ich…“ „Der letzte Mensch auf Erden“, vollendete Carina seinen Satz, denn auch dieses Gefühl kannte sie nur allzu gut. Ronald nickte. „Ein Jahr lang habe ich so weiter gemacht. Gefangen zwischen „Ich akzeptiere es nicht“ und „Wie soll mein Leben überhaupt noch weitergehen?“ Tja und dann kam der Tag, an dem diese Frage mit einem ziemlich deutlichen „Gar nicht“ beantwortet wurde.“ „Was ist passiert?“, fragte Carina, obwohl sie die Antwort eigentlich kaum noch wissen wollte. Ronalds Schmerz setzte ihr mehr zu, als sie gedacht hatte. „Was passiert ist? Sophia hat geheiratet. Und zwar nicht mich“, zischte Ronald und in diesem Moment war es seltsamerweise erfrischend, eine andere Emotion als Schmerz in seinem Gesicht zu sehen. Nämlich blanke Wut. „Glaub mir, an dem Tag bekam das Sprichwort „Salz in eine offene Wunde streuen“ für mich eine vollständig neue Bedeutung.“ „Ich kann’s mir vorstellen“, murmelte Carina. Herrgott, sie selbst war eifersüchtig auf eine Frau, die bereits lange Zeit tot war. Gar nicht auszumalen, wie sie sich fühlen würde, wenn Claudia Phantomhive noch auf dieser Erde wandeln würde. „Ich bin mit meinen Brüdern in die nächstbeste Kneipe gegangen und habe das Einzige getan, dass mich in diesem Moment von dem alles umfassenden Schmerz ablenken konnte. Mich betrunken.“ Das, befand Carina, klang schon viel eher nach dem Ronald, den sie kannte. „Das ging so lange gut, bis meine ach so großartigen Geschwister mir wieder auf die Nerven gehen mussten. Also hab ich mir kurzerhand die noch halb volle Flasche Scotch geschnappt und bin gegangen. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass die Flasche nicht sehr lange halb voll blieb.“ Die Mundwinkel der Blondine zuckten. „Nein, ich denke nicht“, erwiderte sie, trotz aller Umstände amüsiert. Auch Ronald musste grinsen. „Ich bin also so gegen Mitternacht ein wenig durch die Straßen getorkelt und schließlich an der kleinen, steinernen Brücke vorbeigekommen, auf der Sophia und ich unsere erste Verabredung hatten.“ Er seufzte. „Ich weiß noch ganz genau, wie sie an dem Tag aussah. Sie war gerade 10 Jahre alt geworden und hatte eins dieser sommerlichen Kleidchen an, die überall mit Spitze verziert waren. Es war so hellblau wie ihre Augen und sie hatte diesen niedlichen Blumenkranz in ihr Haar eingeflochten.“ Er schüttelte sacht den Kopf, um sich aus der Erinnerung zu befreien. „Na ja, jedenfalls hab ich auf der Brücke Halt gemacht, die leere Flasche auf dem Boden gestellt und mich mit den Ellbogen auf dem Rand abgestützt, um in das dunkle Wasser des Flusses zu sehen. Und Carina, was soll ich sagen? Noch nie in meinem gesamten Leben sah Wasser so einladend aus, wie in diesem einen Augenblick.“ Carina schwieg. Bereits bei den Erzählungen von Grell und Alice war es ihr schwer gefallen, dieses Gefühl nachvollziehen zu können. Einfach aus dem Grund, weil ihr eigener Selbstmord unter so ganz anderen Umständen geschehen war. Und doch war da diese eine, kaum benennbare Sekunde vor ihrem Tod gewesen, in denen all ihre Sorgen, all der Schmerz und vor allem die Angst einfach aufgehört hatten. In dieser Millisekunde hatte sie tatsächlich verstehen können, warum manche Menschen den Tod dem Leben vorzogen. „Du hast dich also ertränkt?“, fragte sie und es klang wie eine ganz sachlich gemeinte Feststellung. Ronald nickte. „Zuerst in Alkohol und dann tatsächlich wortwörtlich.“ Er lachte kurz über seinen eigenen Witz, aber beiden Todesgöttern war bewusst, dass an diesem Gespräch nicht das Geringste zum Lachen war. „War das nicht schmerzhaft?“ Sie konnte sich noch sehr gut an den Untergang der Campania erinnern und wie sie danach – dank Cedric – unter Wasser das Bewusstsein verloren hatte. Kein Umstand, an den sie sich gerne zurück erinnerte. Nun ja… bis auf den Kuss vielleicht. „Nicht wirklich. Ich schätze mal, dass ich einfach schon so betrunken war, dass es mir nicht mehr so viel ausgemacht hat wie jemandem, der noch im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte ist. Selbst die Kälte des Flusses habe ich kaum gespürt. Stattdessen waren da nur noch die Schwerelosigkeit und diese angenehme Stille. Beinahe wie ein Moment des Friedens.“ Er dachte kurz über seine eigene Aussage nach und nickte dann selbstbestätigend. „Ja, ich glaube, ich habe mich noch nie in meinem Leben so friedlich gefühlt.“ Carina nickte. „Der Tod kann mit Sicherheit auch friedlich sein“, antwortete sie und musste dabei an das Gespräch mit Alice zurückdenken. Nach wie vor klammerte sie sich an die Worte Uriels, dass ihre beste Freundin nun an einem besseren Ort war. Und hoffentlich wieder mit ihrer Familie vereint. „Tja, jetzt weißt du es. Das war meine Geschichte. Nicht wirklich spektakulär, oder?“ „Du glaubst das wirklich, oder?“, stellte Carina ihm eine Gegenfrage und sah mit einem Mal verdammt ernst aus. „Ronald, jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Nur, weil es bei dir jetzt vielleicht keine Verschwörungen oder ungeklärte Mordfälle oder ein Kriegsdrama gegeben hat, heißt das doch noch lange nicht, dass es nichts wert ist. Es ist und bleibt deine Geschichte. Niemandem steht es zu darüber ein Urteil zu fällen. Aber wenn du unbedingt meine Meinung dazu hören willst, dann lass mich dir folgendes sagen: Deine Brüder sind Idioten. Sich für den einen Menschen aufzusparen, den man liebt, ist absolut nichts Verwerfliches. Und bezüglich Sophia gebe ich dir recht. Wenn sie dich so sehr geliebt hätte wie du sie, dann hätte sie alles getan; alles aufgegeben, um bei dir zu bleiben. Ihre Entscheidung sollte dir daher eine Sache klar machen. Sie war es nicht wert.“ Sie seufzte. „Ich weiß, es klingt leichter gesagt als getan. Aber auch ich hatte einige Dinge, mit denen ich erst lange nach meinem Selbstmord abschließen konnte. Und sobald du das getan hast, fällt eine Last von deinen Schultern, über die du dir jetzt noch nicht einmal im Klaren bist.“ Oh ja, da hatte es einige Sachen gegeben, die ihr lange schwer im Magen gelegen hatten. Der Mord an den Männern, die sie im übertragenen Sinne in den Selbstmord getrieben hatten. Ihr Selbstmord an sich. Die Frage, wer für ihre Zeitreise verantwortlich war. Die freie Entscheidung darüber, dass sie im 19. Jahrhundert verbleiben wollte. „Wenn du es so ausdrückst, klinge ich wie der letzte Vollidiot“, lachte Ronald, doch dieses Mal klang es nicht spöttisch. Es war ein warmes Lachen. Als würde er ihr stumm für ihre Worte danken. Auch Carina lachte. „Na ja, dass du ein Vollidiot bist, das war mir persönlich ja schon vom ersten Tag an klar. Als du dich in der Klasse neben mich gesetzt hast und deine ersten Worte „Wie wär’s mit einem Date?“ waren. Aber ehrlich gesagt wird mir jetzt einiges klar. Also… ich meine, warum du so ein Weiberheld geworden bist.“ Sie führte das Ganze nicht weiter aus, aber das musste sie auch nicht. Ronald wusste ebenso sehr wie sie, dass sein ganzes Verhalten gegenüber dem weiblichen Geschlecht ein reiner Schutzmechanismus war. Wenn er so viele Frauen in sein Leben ließ und immer nur für einen kurzen Zeitraum, dann bestand nicht die Gefahr, dass er noch einmal so verletzt werden konnte wie durch Sophia. „Klingt in der Theorie ja ganz schön“, dachte Carina. „Bis das dann doch die Eine kommt, die ihm vielleicht doch mehr bedeutete.“ Ob dieser Tag wirklich jemals kommen würde, konnte sie nicht sagen. Aber die Chancen dazu standen gut. „Will ich überhaupt wissen, was du gerade denkst?“, fragte Ronald mit hochgezogener Augenbraue, denn ihm war keineswegs der wissende Ausdruck auf Carinas Gesicht entgangen. „Nein, nein. Nicht weiter wichtig“, grinste seine Kollegin und zuckte mit den Schultern. „Aber eine Sache würde mich dann doch noch interessieren.“ Ronald zweite Augenbraue hob sich nun ebenfalls. „Ach ja? Was denn?“ „Dein Selbstmord ist nur ein paar Wochen länger her als meiner. Das heißt, dass all diejenigen, die du in deinem irdischen Leben kanntest, vermutlich noch am Leben sind. Nun ja, zumindest der Großteil. Hast du jemals geschaut, was aus ihnen geworden ist?“ Ronald schüttelte den Kopf. „Nein. Um ehrlich zu sein, habe ich mich das bisher nicht wirklich getraut“, gestand er. „Und im Übrigen ist uns das auch gar nicht erlaubt, wie du sicherlich bestens weißt.“ „Seit wann kümmern dich denn die Regeln?“ „Seit wann sind dir denn Regeln vollkommen egal?“, entgegnete Ronald amüsiert und jetzt war es an Carina eine Augenbraue zu heben. „Ich lebe mit einem, seit Ewigkeiten gesuchten, Deserteur zusammen und wir haben ein gemeinsames Kind, was glaubst du wohl?“ Er lachte. „Ich sagte es ja, dein silberhaariger Bestatter färbt auf dich ab.“ Sie verdrehte die Augen. „Um auf meine Frage von vorhin zurückzukommen“, sagte sie und er kicherte aufgrund ihres genervten Tonfalls, „vielleicht solltest du ja mal schauen, was aus deiner Familie und Sophia geworden ist. Vielleicht hilft dir das, um mit der Vergangenheit besser abschließen zu können.“ Ronald schnaubte. „Oder es macht die ganze Sache nur noch schlimmer“, meinte er und zum allerersten Mal konnte sie so etwas wie Unsicherheit in seinen Augen sehen. „Möglich“, gab sie ihm Recht. „Es ist deine Entscheidung, Ronald. Wenn du es nicht willst, dann tue es auch nicht. Und wenn du deine Meinung irgendwann änderst, dann tue es eben doch. Bedenke nur eines. Die Lebenszeit der Menschen ist begrenzt. Wenn du zu lange wartest, könntest du das womöglich irgendwann bereuen.“ Ronald nickte sehr langsam und wollte gerade den Mund zu einer Erwiderung öffnen, als eine Stimme die beiden jungen Schnitter unterbrach. „Wer könnte was irgendwann bereuen?“ Cedrics Kopf erschien im Türrahmen, während er sich zeitgleich mit einem Tuch die Hände abtrocknete. Zweifelsohne von den Überresten eines seiner Gäste. Weder Ronald, noch Carina störten sich großartig daran. Dazu hatten sie in ihrem Job einfach schon zu viel gesehen und erlebt. „Ich könnte irgendwann bereuen, dass ich mir so einen schrecklich neugierigen Bestatter ausgesucht habe“, entgegnete Carina gespielt theatralisch, woraufhin der Totengräber sogleich eine beleidigte Schnute zog. Allerdings begann er bereits im nächsten Moment zu kichern. „Wie gemein du immer zu mir bist“, meinte er und zeigte somit allen Anwesenden, dass er eigentlich nicht wirklich beleidigt war. Wenn sie genauer darüber nachdachte… wirklich beleidigt war er ja noch nie gewesen. Natürlich, er war mal traurig oder wütend und auch manchmal genervt, aber noch nie wirklich richtig beleidigt. Doch wenn sie bedachte, wie lange er bereits lebte… Vermutlich gab es in seinem Alter nur noch sehr wenig Dinge, die ihn beleidigen bzw. kränken konnten. Ronald räusperte sich plötzlich und stand auf. „Vielen Dank für den Kaffee und… das Gespräch“, meinte er und Carina konnte die versteckte Tiefe in seinen Worten deutlich hören. „Aber ich muss jetzt langsam los, sonst bekomme ich wieder Ärger mit Mr. Spears.“ „Eine nicht zu verleugnende Möglichkeit“, grinste der Bestatter. „Wie wahr“, stimmte Carina ihm zu und seufzte. „Gern geschehen, Ronald. Und das, was ich zu Anfang sagte, war ernst gemeint.“ Er lächelte. Wenn irgendetwas ist oder du irgendetwas brauchst, dann zögere nicht mich zu fragen. „Geht klar“, antwortete er und zwinkerte ihr einmal in alter Manier zu. Cedrics Augen huschten einmal zwischen ihm und seiner Partnerin hin und her, aber sagen tat er nichts. „Na dann. Wir sehen uns“, verabschiedete sich Ronald nun endgültig und demateralisierte sich bereits in der nächsten Sekunde. Der Mund des Silberhaarigen öffnete sich sogleich, aber Carina kam ihm zuvor. „Nein, ich werde dir nicht sagen, worüber wir gesprochen haben. Aber keine Sorge, es hatte nichts mit Samael oder irgendwelchen gefährlichen Aktionen zu tun. Nur eine Unterredung unter Freunden.“ Er hob eine Augenbraue. „Freunde, ja?“, entgegnete er und die Blondine konnte sich ein amüsiertes Auflachen nicht verkneifen. „Du wirst doch wohl jetzt nicht schon wieder eifersüchtig, oder etwa doch?“ „Hätte ich denn einen Grund dazu?“ Sie rollte mit den Augen. „Du kennst die Antwort auf diese Frage“, meinte sie genervt. Er grinste, jedoch mit etwas Besitzergreifendem im Ausdruck. „Allerdings“, sagte er selbstzufrieden und zeigte Carina damit, dass selbst jemand in seinem Alter und mit seiner Erfahrung noch genauso ein Ego hatte, wie alle anderen Männer auch. Sie erhob sich von ihrem Platz und bemerkte erst jetzt das unangenehme Ziehen in ihrer Arm- und Beinmuskulatur. Scheinbar hatte sie es beim heutigen Training doch wieder leicht übertrieben. „Ich brauche ein heißes Bad“, stöhnte sie und fügte gleich darauf ein „Allein“ hinzu, als sie das Aufblitzen in seinen Augen sah und sofort richtig deutete. Er grinste erneut. „Was denn, habe ich dich heute etwa so ausgepowert?“ Carina ließ sich nicht auf seine Provokation ein. Stattdessen grinste sie zurück und erwiderte: „Ja, vielleicht.“ „Hehe“, kicherte er sein altbekanntes Lachen und folgte ihr mit seinem Blick, als sie die beiden Tassen auf die Spüle stellte. „Tee?“, fragte sie ihn und er nickte bejahend, während er sich auf einen der Stühle setzte. „Weißt du, woran mich das erinnert?“, fragte er plötzlich, während sie ein paar Küchenschubladen öffnete. „Woran?“, erwiderte sie. „Als du dir vor ein paar Jahren in den Finger geschnitten hast und ich nach einem Pflaster gesucht habe.“ Carina lachte leise. „Um mich auf charmante Art und Weise zu verarzten“, fügte sie hinzu und dachte an den Augenblick zurück. „Ja, ich erinnere mich. An dem Tag habe ich Sebastian und Ciel kennengelernt.“ „Und fandest den Earl unheimlich“, gackerte Cedric amüsiert. Carina warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Ehrlich gesagt“, meinte sie und lächelte entschuldigend, „war das eine Lüge. Es war nicht Ciel, der mich so beunruhigt hat. Sondern Sebastian.“ „Weil du seine Stimme in deinem Traum gehört hast“, antwortete der Bestatter und erinnerte sich daran, wie Carina ihm damals im Weston College davon erzählt hatte. „Genau. Tja, mittlerweile wissen wir immerhin, was es damit auf sich hatte.“ Sie stellte ihm eine dampfende Tasse auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl neben ihm, während er ihr leise dankte und einen kurzen Schluck nahm. Gleich darauf ergriff er wieder das Wort. „Die Frage ist doch viel eher, warum Sebastian so handeln wird. Zum einen rettet er dir das Leben und dann, Jahre später, schickt er dich in die Vergangenheit. Uriel meinte, dass du ihn darum beten wirst. Aber warum reicht allein diese Tatsache aus?“ „Das gibt mir auch zu denken“, gab sie zu. „Teufel machen nie etwas aus reiner Nettigkeit. Vielleicht hat er im Gegenzug etwas dafür bekommen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht, dass ich mir zum jetzigen Zeitpunkt etwas vorstellen könnte, was für jemanden wie Sebastian von Interesse wäre. Aber es bringt nichts darüber zu rätseln. Wir werden es wohl einfach auf uns zukommen lassen müssen.“ Ein trockenes Lachen entfuhr ihr. „Wie so oft. Und jeden Mal gefällt es mir weniger.“ „Wie wahr“, murmelte der Todesgott. „Aber bisher ist es doch irgendwie immer gut ausgegangen.“ „Wenn man die ganzen Opfer mal außer Acht lässt“, entgegnete sie mit einem sarkastischen Unterton, „dann ja. Wir leben noch, das könnte man wohl als gut bezeichnen.“ „Du wirst schon sehen. In hundert Jahren schauen wir zurück und diese ganze vertrackte Situation ist nichts weiter als eine böse Erinnerung.“ Carinas Augen nahmen einen sanften Ausdruck an. „Ja, das wäre schön.“ Nähe suchend ergriff sie seine Hand und schmiegte sich an ihn. Er drückte ihr als Antwort einen Kuss auf den Schopf. Die Schnitterin lächelte. Wenn Cedric ihr so viel Geborgenheit gab, konnte sie einfach nicht anders, als seinen Worten Glauben zu schenken. Was kümmerte sie eine ungewisse Zukunft, wenn sie doch gerade im Hier und Jetzt mit ihm zusammen sein konnte? Hätte sie gewusst, dass genau in diesem Augenblick zwei rot glühende Augen von der gegenüberliegenden Straßenseite auf das Bestattungsinstitut starrten, wäre es ihr vielleicht anders gegangen. Hätte sie gewusst, dass ihre Aura gerade durch Wände hindurch beobachtet und aufs Schärfste analisiert wurde, wäre sie wohl kaum einfach so sitzen geblieben. Hätte sie gewusst, was für eine Gefahr außerhalb ihres schützenden Zuhauses lauerte und auf sie wartete, wäre sie womöglich einem anderen Glauben verfallen. Hätte sie Samaels kaltes Lächeln gesehen und das leise geflüsterte „Genießt die Zeit, die euch noch bleibt“ gehört, wäre sie mit ziemlicher Sicherheit nicht ein paar Minuten später hochgegangen, um sich ein Bad einzulassen. Aber all das wusste sie nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)