Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 91: Da, wo es wehtut ---------------------------- Als Carina am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich das erste Mal – ihren Selbstmord mal ausgenommen – mehr tot als lebendig. Bleierne Müdigkeit machte ihr die Augenlider schwer und sie hatte wirkliche Schwierigkeiten wach zu bleiben, während sie die Spiegeleier für das Frühstück in der Pfanne wendete. Noch schlimmer war allerdings das Ziehen in jedem Muskel ihres Körpers und das wunde Gefühl zwischen ihren Oberschenkeln. „Beides kein Wunder nach dem gestrigen Tag“, dachte sie und schlug ein neues Ei am Rand der Pfanne auf. „Ich habe es ja quasi drauf angelegt.“ Nach dem – doch recht heftigen – Sex auf dem harten Boden des Waldes, hätte sie eigentlich einen Schlussstrich ziehen müssen. Stattdessen hatten Cedric und sie ihr Liebesspiel in der Badewanne fortgesetzt und obwohl das warme Wasser dabei eine wahre Wohltat gewesen war, hatte sie doch bereits an dieser Stelle schon die ersten Anzeichen ermüdeter Muskeln verspürt. Aber selbst da hatte die 19-Jährige die eindeutigen Signale ignoriert, die ihr ihr Körper gesendet hatte. Wider besseren Wissens war auch nach dem warmen Bad noch nicht Schluss gewesen. Sie hatten sich gegenseitig abgetrocknet und was sollte Carina sagen? Es hatte seine Wirkung definitiv nicht verfehlt… „Aller guten Dinge sind eben doch nicht drei“, murmelte sie und erinnerte sich an die langsamen, zärtlichen Bewegungen zurück, mit der er sie gestern Abend in ihrem gemeinsamen Bett genommen hatte. Wenn jemand sie fragen würde, sie wüsste nicht, was sie lieber mochte. Den unbändigen und oft doch mehr harten Sex mit ihm? Oder doch eher, wenn er sich in Geduld übte und sich Zeit für jede einzelne Stelle ihres Körpers nahm? „Keine Ahnung, aber eins steht fest. Er treibt mich mit beiden Varianten in den Wahnsinn.“ Und das durchaus im positiven Sinne… „Wenn du dein Spiegelei nicht schwarz magst, dann solltest du es jetzt vielleicht wenden“, ertönte eine Stimme direkt hinter ihr und riss die Schnitterin abrupt aus ihrer erneuten Müdigkeitstrance heraus. Erschrocken schaute sie nach unten und bemerkte sogleich den krustigen, braunen Rand, der sich bereits rund um das Ei gebildet hatte. Schnell befolgte sie seinen Ratschlag und seufzte anschließend ein erschöpftes Danke. Er drückte einen Kuss auf ihren Scheitel und an ihrer Kopfhaut konnte sie sein Grinsen spüren. „Erschöpft?“, fragte er mehr als zufrieden nach und Carina drehte den Kopf, um ihm einen genervten Blick zuzuwerfen. „Dir auch einen guten Morgen“, murmelte sie anstelle einer Antwort und verfrachtete das Spiegelei ohne Hinzusehen auf ihren Teller, der direkt neben der Pfanne stand. „Willst du auch?“ Er nickte, woraufhin sie ein zweites Ei aufschlug. „Irgendetwas geplant für heute?“, fragte sie 5 Minuten später, als sie beide am Frühstückstisch saßen. „Nicht viel, bis auf eine Beerdigung heute Nachmittag“, antwortete er und nahm einen Schluck Tee. Er bedachte sie mit einem ernsten Blick. „Ich überlege, dich und Lily mitzunehmen. Mir gefällt der Gedanke nicht, euch beide hier allein zu lassen.“ Die Schnitterin verdrehte die Augen. „Jetzt übertreib mal nicht. Der Friedhof ist nicht weit von hier entfernt, du kannst jederzeit meine Energiesignatur spüren. Sollte etwas passieren, wärst du bei deiner Geschwindigkeit innerhalb von vielleicht 3 Minuten hier. Und solange würde ich auch allein überleben, keine Sorge.“ Er hielt den Blickkontakt noch weitere 10 Sekunden aufrecht, ehe er schließlich nachgab. „In Ordnung.“ Zufrieden nickte sie und schob sich den letzten Rest ihres Frühstücks in den Mund. Jetzt, wo sie genauer darüber nachdachte, beunruhigte es sie, dass sie seit dem Vorfall mit Charlie nichts mehr von dem ehemaligen Erzengel gehört hatten. Natürlich, sie war nicht scharf darauf, dass er wieder irgendetwas versuchte, aber diese Ungewissheit und dieser vorgetäuschte Zustand des Friedens waren viel schlimmer. Jede Sekunde konnte er erneut zuschlagen und sie konnten momentan nichts weiter tun außer darauf zu warten. Hoffentlich würden sie bald einen Weg finden ihn aufzuspüren. Oder vielleicht würde ja auch er das Versteckspiel endlich satt haben und zum offenen Kampf übergehen. Alles war jedenfalls besser, als dieser momentane Zustand der Untätigkeit… „Und du?“ Cedrics Frage riss sie kurzzeitig aus ihren Gedanken, doch dann schüttelte sie leicht den Kopf. „Bis auf ein paar Hausarbeiten eigentlich nichts.“ „Genieß es. Morgen wolltest du doch mit Grell besprechen, wie du wieder mit in die Arbeit einsteigst. Und sobald du einmal wieder damit angefangen hast, wird William sicherlich nicht sehr zugänglich sein, wenn es um Urlaub geht.“ Carina schnaubte. „Als hätte er eine großartige Wahl. Und als würde ich ihn vorher fragen. Aber natürlich würde dieser Idiot sowas direkt mitbekommen, im Gegensatz zu allen anderen Sachen außerhalb seiner Arbeit…“ Cedric runzelte die Stirn. „Wovon sprichst du?“ Die 19-Jährige zögerte einen Moment, dann seufzte sie schwer. „William hat zu mir gesagt, dass er Grell nicht versteht und ob ich ihm nicht dabei helfen könnte. Und irgendwie… ach, ich weiß auch nicht. Es hat mich einfach wütend gemacht und da-“ „-war dein Mund wieder schneller als dein Kopf“, vollendete der Bestatter ihren Satz und gluckste leise, als er ihre betroffene Miene sah. „Was kannst du schon so Schlimmes gesagt haben?“ „Ich hab ihm gesagt, dass Grell ihn liebt“, gab sie voller Schuldgefühle zu und biss sich auf die Unterlippe. Der Silberhaarige schaute sie an und Carina konnte sogleich sehen, dass er das Problem an der Sache nicht verstand. „Und? Es stimmt doch“, sagte er und bestätigte damit ihre Vermutung. „Natürlich stimmt das, aber darum geht es auch nicht. Wie glaubst du denn hätte ich reagiert, wenn ich erfahre, dass Grell zu dir gegangen wäre und dir von meinen Gefühlen für dich erzählt hätte, bevor ich es hätte selbst tun können?“ „Vermutlich nicht besonders gut“, antwortete er, jetzt scheinbar doch ein wenig verständnisvoller. Sie schnaubte. „Von wegen. Nicht besonders gut ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich wäre richtig sauer gewesen. Zu Recht.“ Sie warf die Arme in die Luft. „Und jetzt mal die Gegenfrage: Wie hättest du dich gefühlt, wenn du es von Grell und nicht von mir erfahren hättest?“ „Wahrscheinlich genauso, wie ich mich auch gefühlt habe, als du es mir entgegen geschrien hast. Wie der letzte Vollidiot.“ Er gluckste und selbst Carina konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Mach dir keine allzu großen Sorgen. Du hast es ja nur gut gemeint.“ Er ergriff ihre Hand und streichelte sanft über ihren Handrücken. Sie erwiderte den angenehmen Druck seiner Finger und seufzte. Erneut. „Ich bezweifele, dass Grell das genauso sehen würde. Warum kann ich auch nie meine Klappe halten?“ „Glaub mir, das frage ich mich schon länger“, grinste er und lachte, als er ihren gespielt beleidigten Blick sah. „Lass mich dir eine Weisheit mitteilen, die ich im Laufe meines langen Lebens gelernt habe. Rege dich nie über Sachen auf, die du nicht mehr ändern kannst.“ „Wie den Tod zum Beispiel?“, gab sie süffisant zurück, woraufhin jetzt der Bestatter derjenige war, der einen Seufzer ausstieß. „Das werde ich mir wohl in 100 Jahren auch noch anhören dürfen, was?“ „Worauf du dich verlassen kannst“, grinste sie und erhob sich vom Stuhl, um den Tisch abzuräumen. „Und du bist dir sicher, dass du nicht mitkommen willst?“ „Cedric, die Diskussion hatten wir heute Morgen schon. Ich komme klar“, erwiderte Carina genervt und schaute dem Silberhaarigen dabei zu, wie er die Schaufel schulterte. „Außerdem bin ich jetzt nicht so ein Fan von Beerdigungen. Ich bezweifele sogar, dass außer dir überhaupt irgendwer gerne zu Beerdigungen geht.“ „Hehe, da könnte was dran sein~“, amüsierte er sich und wollte gerade erneut zum Sprechen ansetzen, als die Türklingel ihn unterbrach. Beide Todesgötter wandten sich um und entdeckten eine junge Frau, die den Raum nur halb betreten hatte, scheinbar komplett verunsichert. Doch im Gegensatz zum Undertaker, erkannte Carina sie. „Emma“, stieß sie überrascht hervor und beobachtete Angesprochene dabei, wie sie nervös an ihren rotbraunen Haaren herumnästelte. Bei dem Namen schien auch Cedric zu begreifen wer die fremde Frau war. Er warf Carina einen kurzen Blick zu, den die Schnitterin jedoch nur am Rande bemerkte, denn ihr eigenes Augenmerk lag weiterhin fest auf der Schwangeren. „H-hallo“, stammelte sie und beäugte den silberhaarigen Bestatter, dessen Anblick sie scheinbar noch mehr verunsicherte. Kein Wunder, dachte Carina. Cedric wirkte auf Fremde meist einschüchternd. Und Emma wirkte auf sie jetzt auch nicht wie eine Frau, die vor Selbstbewusstsein nur so strotzte. „Komm doch rein“, meinte die Blondine freundlich und warf dem Mann neben sich einen eindeutigen Blick zu. Geh, ich regel das. Er nickte einmal und schob sich stillschweigend an der werdenden Mutter vorbei, die nun ein wenig weiter in das Institut eingetreten war. Emma zuckte kurz zusammen, als hinter ihr die Tür zuging, fand jetzt aber ihre Stimme wieder. „Was das dein Ehemann?“, fragte sie interessiert nach und Carina nickte. „Ja“, antwortete sie, weil die Wahrheit einfach viel zu kompliziert war. Und es ihr irgendwie gar nichts mehr ausmachte als seine Frau gesehen zu werden. „Und… du fühlst dich hier wirklich wohl?“, fragte Emma zweifelnd und schaute dabei ganz gezielt auf die Särge, die den Raum an allen Ecken und Enden zierten. Die 19-Jährige gluckste. „Es ist nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht, glaub mir.“ Sie sprach aus Erfahrung, denn als sie das allererste Mal einen Fuß hier reingesetzt hatte – oder eher rein gestolpert war – hatte sie sich auch äußerst unwohl gefühlt. „Aber ehrlich gesagt wundert es mich dich hier zu sehen. Nach unserer letzten Begegnung hatte ich nicht wirklich den Eindruck, dass du mich jemals wieder sehen wolltest. Und das zu Recht, so viel sei gesagt.“ Emmas graue Augen nahmen einen weichen Zug an. „Du hast Charlie das Leben gerettet, das habe ich nicht vergessen“, murmelte sie. „Und auch, wenn du der Grund gewesen bist, warum dieser… dieser Dämon ihn überhaupt besessen hat, dann ist es trotzdem nicht deine Schuld, weil du das alles niemals gewollt hast. Oder?“ „Nein“, erwiderte Carina und schluckte schwer. „Nein, das wollte ich alles nicht.“ „Dann… dann habe ich auch keinen Grund wütend auf dich zu sein.“ Ein Lächeln bildete sich auf den Lippen beider Frauen und der Todesgöttin fiel ein Stein vom Herzen. Die Schuldgefühle waren die ganze Zeit über da gewesen, auch, wenn sie versucht hatte sie in den letzten Winkel ihres Gedächtnisses zu schieben. Jetzt fühlte sie sich jedenfalls schlagartig besser. „Wollen wir uns in die Küche setzen? Ich kann Tee aufsetzen.“ „Gerne“, sagte Emma und folgte der Deutschen in den angrenzenden Raum, wo sie sich sogleich auf einem der Stühle niederließ. Hier fühlte sie doch bereits erheblich wohler als im Empfangsraum. Keiner der beiden sprach, bis zwei dampfende Teetassen auf dem Tisch standen und Carina sich nun selbst hinsetzte. Es war keine unangenehme Stille, aber eine gewisse Anspannung lag dennoch in der Luft. Die Shinigami war diejenige, die die Stille schließlich brach. „Wie geht es Charlie?“ Emma nahm einen Schluck des fruchtig schmeckenden Heißgetränks. „Besser“, sagte sie schließlich, nachdem sie die Tasse wieder abgesetzt hatte. „Er ist immer noch nicht ganz der Alte und… na ja… noch etwas verschlossen, aber es geht bergauf. Nächste Woche wollte er vielleicht schon wieder anfangen zu arbeiten.“ „Kein Wunder, solch eine Sache vergisst man nicht. Hat er denn wenigstens einen Beruf, der körperlich nicht ganz so fordernd ist? Sein Blut hat sich inzwischen zwar nachgebildet, aber er sollte es ja nicht gleich übertreiben, oder?“ Die Brünette nickte. „Er ist Arzt. Kinderarzt, um genau zu sein. Das ist zwar auch kein unanstrengender Beruf, aber er kann auch in seinem Büro arbeiten, falls es ihm am Anfang noch zu viel sein sollte.“ Carina lächelte unwillkürlich. „Ein Kinderarzt und eine Hebamme… na, da haben sich ja zwei gefunden. Und ihr kennt euch schon seit eurer Kindheit, sagtest du?“ Die junge Frau wurde leicht rot, nickte dann aber erneut. „Ja, unsere Eltern haben nebeneinander gewohnt.“ Carina hätte gerne noch weiter gefragt, aber sie spürte, dass Emma so weit noch nicht wahr. Sie hatten sich immerhin gerade erst kennengelernt. Wieder herrschte für einige Sekunden Stille. Die Schnitterin wollte gerade den Mund öffnen, um zu fragen, was denn jetzt der eigentliche Grund dieses unerwarteten Besuches gewesen war, da klang vom oberen Stockwerk ein leises Weinen nach unten. Sie erhob sich. „Entschuldige mich kurz, ich bin sofort wieder da.“ Eine Minute später war sie bereits wieder da, eine hellwache Lily auf dem Arm, die aber aufgrund der Aufmerksamkeit ihrer Mutter das Weinen sofort wieder eingestellt hatte. Emmas Gesicht erhellte sich sofort, als ihr Blick auf das Baby fiel. Selbst jeder, der ihren Beruf nicht kannte, konnte sofort sehen, dass das ein Gebiet war, indem sie sich bestens auskannte und auch wohl fühlte. „Du sagtest zwar, dass du ein Kind hast, aber dass es noch so klein ist…“ Carina lächelte. „Das ist Lily, meine Tochter. Morgen ist sie 4 Wochen alt.“ „Sie ist süß“, hauchte Emma verzückt und die Schnitterin sah dies durchaus als Kompliment, immerhin musste die Brünette in ihrem Job schon recht viele Babys gesehen haben. „Möchtest du sie halten?“ „Darf ich denn?“, fragte sie verwundert und Carina zuckte mit den Schultern. „Warum denn nicht? Du kennst dich doch aus.“ Vorsichtig legte sie den Säugling in die Arme der werdenden Mutter und wie sie es sich schon gedacht hatte, konnte man sofort sehen, dass es bei weitem nicht die erste Situation für Emma war, in der sie ein Baby hielt. Auch Lily schien der Wechsel nicht sonderlich viel auszumachen, denn sie blieb ruhig und schaute lediglich mit ihren blauen Augen fragend – jedenfalls sah es ein bisschen danach aus - in das bisher unbekannte Gesicht. „Ich hab deinen Mann zwar nur eine Sekunde gesehen“, begann Emma und wiegte das kleine Geschöpf sanft hin und her, „aber eure Tochter scheint sehr nach ihm zu kommen. Bis auf die Augen, die kommen von dir. Wobei…“ Fragend schaute sie Carina an. „Du hast doch eigentlich diese komisch leuchtenden Augen, oder etwa nicht?“ Die Schnitterin gluckste. „Das sind die Augen, die alle Shinigami haben. Die blauen Augen hatte ich, als ich noch ein Mensch war und sie sind deswegen noch in meiner DNS. Daher konnte Lily sie auch erben.“ Emma nickte, wirkte aber nach wie vor ein wenig verwirrt. „Diese Todesgott Geschichte scheint kompliziert zu sein.“ „Du hast ja keine Ahnung“, seufzte Carina zustimmend und nahm einen tiefen Schluck ihres Tees, der mittlerweile nicht mehr ganz so heiß war. „So, aber zurück zum Wesentlichen.“ Sie wurde wieder ein wenig ernster. „Was ist der eigentliche Grund deines Besuches? Du wirst ja wohl kaum hierhergekommen sein, nur, um mit mir aus Spaß an der Freude ein Tässchen Tee zu trinken.“ Die junge Frau errötete schwach, brachte sie die Offenheit der fast Gleichaltrigen doch immer mehr aus dem Konzept. „Entschuldige, aber ich spreche gerne aus, was ich denke“, grinste Carina, als sie den Grund für die Irritation auf Emmas Gesicht erkannte. Mittlerweile war sie das gewohnt, denn die Menschen in diesem Zeitalter tickten einfach anders. Sie passte sich so weit an, dass sie nicht allzu sehr auffiel, aber auch kein Stück mehr. „Nein, das bin ich tatsächlich nicht“, antwortete die Hebamme schließlich und gab Lily wieder an ihre Mutter zurück. „Eigentlich wollte ich, dass Charlie auch mitkommt, aber er… er war noch nicht bereit dazu.“ Sie schluckte schwer und auch Carina spürte Betroffenheit in sich aufsteigen. Was Samael dem jungen Mann angetan hatte, war unerträglich mitanzusehen. Sie selbst hatte in ihrem Leben bereits viel Leid erfahren müssen, aber das Meiste davon hatte auch mit ihr selbst zu tun gehabt. Charlie hingegen war rein zufällig in die Sache mit hineingezogen worden, weil ein Dämon ihn ausgesucht hatte wie einen Apfel im Supermarkt. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, was ein solches Wissen mit einem Menschen machte, der bisher ein ganz normales Leben geführt hatte. Ein glückliches Leben, in dem er alles hatte. Eine Frau, ein Haus und bald sogar noch ein Kind… „Bisher war ich im Glauben, dass es so etwas wie Todesgötter nicht gibt. Die Kirche lehrt uns zwar, dass es übernatürliche Wesen gibt, aber bisher… nun ja… war ich nicht sonderlich überzeugt davon“, gab sie zu. „Bis zu dem Zeitpunkt, als es mich selbst plötzlich betroffen hat, habe ich auch nicht daran geglaubt“, erwiderte Carina. Emma holte tief Luft, als müsse sie sich für die Worte wappnen, die gleich ihren Mund verlassen würden. „Ich frage mich einfach die ganze Zeit was passiert wäre, wenn Charlie tatsächlich gestorben wäre. Ich meine… ich weiß, dass er dann scheinbar zu einem Todesgott geworden wäre, aber was noch? Was wäre anschließend mit ihm passiert? Es ist total blöd, aber ich kann einfach nicht aufhören darüber nachzudenken, was die Konsequenzen gewesen wären, hätte der Plan des Dämons funktioniert.“ „Ich bin mir nicht mal sicher, ob das überhaupt sein Plan war. So hart es auch klingt, ich denke Charlies Leben war ihm relativ gleichgültig. Ob er nun lebt oder vielleicht gestorben wäre, kümmert dieses Monstrum nicht.“ Emmas Gesicht verlor sofort einen Großteil seiner Farbe. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. „Aber zu deiner anderen Frage“, begann Carina und schlug die Beine übereinander. „Nach seinem Selbstmord hätte ihn ein Shinigami abgeholt, der dann für den Zeitraum seiner Ausbildung sein Mentor geworden wäre. Auch in der Welt der Todesgötter gibt es verschiedene Berufswege, die man einschlagen kann. Nach der jeweiligen Ausbildung kann man dort bleiben oder auch in spezifischere Abteilungen wechseln. Charlie ist Arzt, vielleicht wäre die Forensik etwas für ihn gewesen.“ Die Blondine zuckte mit den Schultern. „Tja, und so geht das dann halt immer weiter.“ Die Brünette wirkte entsetzt. „Bis in alle Ewigkeit?“, fragte sie schockiert, was Carina erneut die Schultern zucken ließ. „Nun ja, laut Aussagen des Dispatchs eigentlich nur so lange, bis man die Schuld für seinen Selbstmord gesühnt hat. Aber mir ist kein lebender Fall bekannt, bei dem das passiert ist.“ Genauer gesagt war ihr nur ein einziger Fall bekannt und zwar Alice. Aber wie gesagt, das hatte sich auch erst bei ihrem Tod herausgestellt… „Und er wäre niemals… hierher zurückgekehrt?“ „Nur, wenn er ein Seelensammler geworden wäre. Diese Shinigami sammeln, wie der Name schon sagt, die Seelen der Verstorbenen ein. Aber selbst wenn er einer geworden wäre, hätte er dich oder das Kind niemals sehen dürfen. Todesgötter dürfen keine Familie haben oder irdische Bindungen.“ Emmas Augen wirkten glasig, als sie das nächste Mal aufsah und Carina anschaute, jetzt mit einer gewissen Neugier. Die 19-Jährige wusste, welche Frage nun kommen würde. „Ich… also… wie… warum hast du dich… ich meine…“ Die Schnitterin lächelte träge. „Warum ich mich umgebracht habe?“, fragte sie und die Angesprochene nickte zaghaft, scheinbar nicht sicher, ob es ihr erlaubt war solch eine Frage zu stellen. Scheinbar war sie also um eine ganze Ecke emphatischer als Carina selbst, die Grell diese Frage damals einfach so um die Ohren gehauen hatte. „Du wirkst einfach nicht wie jemand, der… ich weiß auch nicht“, gestand Emma und lächelte hilflos, während sie es nun der Todesgöttin nachmachte und mit den Schultern zuckte. „Ich war nicht depressiv, falls du das meinst“, lachte Carina leise. „Aber selbst wenn, hättest du es vermutlich nicht gemerkt. Grell zum Beispiel war es und das könnte man sich heutzutage kaum noch vorstellen, oder?“ „Nein, nicht wirklich“, stimmte Emma ihr zu. „Vor ein paar Jahren gab es eine Mordserie hier in London. Frauen wurden nachts überfallen, vergewaltigt und anschließend umgebracht, indem ihnen jemand die Kehle durchgeschnitten hat.“ „Daran erinnere ich mich“, murmelte die Brünette und erschauderte leicht. „Eines der Opfer war im gleichen Alter wie ich, sie war die Tochter von Bekannten meiner Eltern.“ „Ja, die besagten Frauen waren alle recht jung“, entgegnete Carina und seufzte. Sie erinnerte sich nur ungern an die besagte Nacht zurück. Egal, wie stark sie noch werden oder wie lange sie noch leben würde, diese Nacht würde sie niemals vergessen. Sie würde immer Angst vor diesen Bildern in ihrem Gedächtnis haben. „Ich wäre beinahe eines ihrer nächsten Opfer geworden“, machte sie die ganze Sache kurz und sogleich zog Emma scharf die Luft ein, während sie sich eine Hand vor den Mund schlug. Carina lächelte schwach. „Nun, ich war schon immer ein Sturkopf“, fuhr sie fort. „Ich dachte mir, wenn ich ohnehin schon sterben muss, dann gebe ich diesen Mistkerlen zumindest nicht noch das, was sie von mir wollten. Und was ich absolut nicht zu geben bereit war.“ Sie versuchte lässig zu klingen, aber selbst jemand wie Emma, die sie ja kaum kannte, konnte die unterschwellige Furcht in ihren Worten hören. „Das tut mir so leid“, flüsterte die junge Frau betroffen und senkte den Blick auf die Oberfläche des Tischs hinab. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was für eine Angst die Todesgöttin gehabt haben musste, als sie sich in besagter Situation befunden hatte. Sie persönlich befand, dass es mit die schlimmste Situation war, in die eine Frau überhaupt geraten konnte. Und dennoch wusste sie nicht, ob sie selbst den Mut hätte aufbringen können, um sich tatsächlich ein Messer in die Brust zu jagen. Der Anblick der Narbe, die Carina Charlie und ihr gezeigt hatte, hatte sie jedenfalls aufs Tiefste schockiert. „Hat es… hat es sehr wehgetan?“, fragte Emma zögerlich und schlug sich noch im gleichen Moment innerlich selbst. „Entschuldige, das war eine dumme Frage, ich hätte nicht-“ „Schon gut“, unterbrach Angesprochene sie, denn sie selbst fand die Frage überhaupt nicht dumm. Trotzdem dachte sie noch einen kurzen Moment über ihre Antwort nach, ehe sie sie der verunsicherten Hebamme gab. „Es gibt schlimmere Schmerzen, das habe ich inzwischen gelernt. Aber ja, es hat wehgetan. Wenn auch nicht so, wie man sich das vorstellt.“ Ihre Mundwinkel zuckten, als sie Emmas deutlich verwirrte Miene sah. Sie überlegte kurz, ob ihre Gegenüber die Wahrheit vertragen konnte, entschied sich dann aber relativ zügig dafür. Als Hebamme hatte man sicherlich auch schon einige Dinge gesehen oder miterlebt, die alles andere als schön waren. „Nun ja, am Anfang habe ich überhaupt keinen Schmerz gefühlt. Das ganze Adrenalin in meinem Körper hat mich in eine Art Rausch versetzt, ich stand unter Schock. Meine Gliedmaßen fühlten sich taub an, beinahe nicht mehr wie meine eigenen. Ich hab bis heute keine Ahnung, wie ich es geschafft habe anschließend noch das Messer aus der Wunde herauszuziehen, um die ganze Sache zu beschleunigen.“ Carina konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals auf diese Weise über ihren Selbstmord gesprochen hatte. Natürlich, sie hatte mit Grell und Cedric und auch Alice darüber gesprochen und vor wenigen Tagen erst mit Ronald und William. Aber sie hatte immer nur darüber geredet was eigentlich passiert war. Nicht, wie sich der Tod oder die Schmerzen an sich angefühlt hatten. Nicht einmal Cedric hatte sie danach gefragt, obwohl es bei ihm wahrscheinlich vielmehr daran lag, dass er es sich aufgrund seiner Erfahrungen in diesem Bereich selbst ganz gut vorstellen konnte. „Erst mit dem Entfernen der Klinge kam der Schmerz. Wie gesagt, es war bei weitem nicht der schlimmste Schmerz, den ich mir vorstellen kann, aber als sich meine Lunge mit Blut gefüllt hat… nun ja, ich schätze du kannst dir vorstellen, dass das nicht schön war.“ Emma nickte, mittlerweile eine Spur blasser als zuvor, aber dennoch gefasst wirkend. „Der Rest ging schneller, als ich dachte. Es wird kalt, man kann kaum noch etwas sehen und dann… dann ist es eigentlich fast wie Einschlafen.“ „Nur mit dem Unterschied, dass man nie wieder aufwacht“, murmelte Emma und lachte im darauffolgenden Moment recht trocken auf. „Na ja, im Normalfall jedenfalls.“ Carina konnte nicht anders, sie grinste. „Du sagst es. Das Wort „Normal“ kommt in meinem Wortschatz mittlerweile so gut wie gar nicht mehr vor.“ Auch Emmas Mundwinkel zuckten nun kurz in die Höhe, doch genauso schnell wurde sie auch wieder ernst. „Warum erzählst du mir das alles? Die Erinnerungen müssen doch schrecklich für dich sein.“ Carina schaute sie ganz offen an. „Ja, das sind sie. Aber wären meine Handlungen in der Vergangenheit nicht gewesen, dann wäre dir und deinem Mann einiges erspart geblieben. Wenn die Beantwortung deiner Fragen also dazu beiträgt, dass du mit dem was passiert ist besser leben kannst, dann werde ich genau das tun.“ Das ehrliche Lächeln, das sich daraufhin auf Emmas Lippen ausbreitete, sagte Carina, dass das letzte Gefühl des Unwohlseins nun überstanden war. Sie erwiderte die Geste. „Jetzt aber genug von mir. Ich bin neugierig. Was gibt es denn so über dich zu wissen?“ In der folgenden Stunde erfuhr Carina allerhand Sachen über das Leben der werdenden Mutter. Unter anderem, dass sie im August Geburtstag hatte, in diesem Jahr 21 werden würde und mit diesem Alter die Letzte in ihrem Jahrgang war, die Mutter wurde. Charlie und sie hatten bereits unter enormem Druck gestanden und wahrscheinlich war genau das der Grund gewesen, warum es so lange gedauert hatte, bis sie schwanger geworden war. Carina bekam kurzzeitig schon fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil es bei ihr so schnell geklappt hatte und dabei hatte sie das alles überhaupt nicht geplant bzw. es war ihr noch nicht einmal bewusst gewesen, dass die Möglichkeit überhaupt bestand. Emma erzählte zudem, dass bereits ihre Mutter Hebamme gewesen war und sie schon als kleines Kind immer in ihre Fußstapfen hatte treten wollen, was ihr ja schließlich auch gelungen war. Während Charlies Eltern inzwischen auf einem kleinen Bauerhof außerhalb von London lebten, war ihr eigener Vater auch nach dem Tod ihrer Mutter vor wenigen Jahren in dem Haus geblieben, in dem sie aufgewachsen war. „Und wie ist das Verhältnis zu deinen Eltern?“ Bei dieser Frage kam Carina dann doch leicht ins Schwitzen. „Wir haben ein gutes Verhältnis. Sie… ähm… leben einfach nur außerhalb meiner Reichweite.“ Das, befand Carina, war dann doch noch die netteste – und wenigstens ehrliche – Umschreibung ihrer derzeitigen Situation, die ihr gerade einfiel. Schnell fügte sie noch hinzu: „Ich komme ursprünglich aus Deutschland, musst du wissen. Außerdem habe ich sie seit meinem Selbstmord nicht mehr gesehen und… es ist einfach kompliziert.“ Emma nickte und verstand die unterschwellige Bitte der 19-Jährigen, nicht weiter nachzufragen. „Hmm… da gibt es noch eine Sache, die ich… also… gerne fragen würde“, begann sie zögerlich und Carina lächelte, weil sie diese Schüchternheit irgendwie an ihr altes Ich erinnerte. „Ja?“, fragte sie und war schon gespannt darauf, was Emma nun wissen wollte. „Dein Mann…“ Die Schnitterin musste die Lippen ein wenig mehr aufeinander pressen, um nicht laut loszulachen. Es war doch immer wieder das Gleiche. Jeder Mensch zögerte, wenn er etwas über Cedric erfahren wollte. Der Silberhaarige wirkte einfach zu einschüchternd, dabei war das eigentlich nicht mal seine wirkliche Intention. Emma schaffte es schließlich doch noch ihre Frage zu beenden. „Ist er auch ein… ein Todesgott?“ Carina nickte. „Ja, ist er. Aber seine Geschichte ist noch wesentlich verworrener als meine, also werde ich darüber Schweigen bewahren.“ „Das heißt, Lily ist auch-“ „Nein, Lily ist ein Mensch“, beeilte sich die Deutsche zu sagen. „Shinigami werden nicht geboren, sondern aus einem Menschen heraus erschaffen. Es hat etwas mit Sünde und Schuld zu tun, von daher ist Lily durch und durch menschlich. Nur mit einer etwas anderen Aura behaftet, die aber auch nur übernatürlichen Wesen auffallen dürfte.“ „Klingt ebenfalls ziemlich kompliziert“, meinte Emma lächelnd und nun konnte die Todesgöttin nicht mehr anders, sie lachte. „Ich sagte ja, dass das Wort „Normal“ in meinem Leben keinen großen Stellenwert mehr hat und das ist leider die traurige Wahrheit. Aber ich glaube, ich würde es trotzdem für nichts in der Welt eintauschen wollen.“ Es war vielleicht ein aufregendes und seltsames Leben, aber es war ihr Leben. Und das wollte sie in vollen Zügen auskosten. Das helle Klingeln der Türglocke riss beide Frauen aus der Unterhaltung und sie wandten sich zeitgleich der Küchentür zu, in der wenige Sekunden später der Bestatter erschien. Der silberhaarige Mann grinste und schaute seine Gefährtin direkt an. „Ich hatte es befürchtet. Sobald du mit anderen Frauen alleine bist, wirst du zu einer Tratschtante.“ Carina hob wortlos eine Augenbraue und jetzt wurde Cedrics Grinsen noch eine Spur breiter. „Bist eben doch mehr Frau, als ich dachte.“ Jetzt huschte ein offener Ausdruck des Missfallens über das Gesicht der 19-Jährigen, während Emma anscheinend überhaupt nicht wusste, was sie von dieser Art eines Gesprächs halten sollte. Doch im nächsten Moment errötete sie bereits, als sie Carinas Antwort vernahm. „So? Ich dachte eigentlich, dass ich dir gestern ausreichend gezeigt hätte, wie viel Frau ich bin.“ Ihr Ton war sarkastisch und neckend zugleich. Cedric begann zu lachen und Carina fiel erst jetzt Emmas knallrotes Gesicht auf. „Verdammt“, dachte sie und war nun ebenfalls irgendwie peinlich berührt. Sie hatte sich so daran gewöhnt vor Grell offen zu sprechen, dass sie manchmal einfach vergaß, dass die Menschen dieses Jahrhunderts – in diesem speziellen Fall Emma – einfach noch nicht so weit waren frei über Sex oder generell Intimitäten zu sprechen. „Entschuldige“, murmelte sie und kniff sich dabei in den Nasenrücken. „Ich sagte ja: Ich spreche gerne das aus, was ich denke. Und manchmal vergesse ich einfach mich zusammenzureißen.“ „Schon gut“, lächelte Emma schief, aber ihr Gesicht sah immer noch aus wie ein Feuerlöscher. „Ich… ich sollte auch jetzt langsam gehen, sonst macht Charlie sich noch Sorgen. Aber… vielleicht… also, wenn ich dürfte-“ „-kannst du jederzeit gerne wiederkommen“, vollendete Carina ihren Satz und stand auf, um die 20-Jährige nach draußen zu begleiten. Der Bestatter beobachtete die beiden Frauen stillschweigend und sprach erst wieder, als Carina eine Minute später allein mit Lily im Arm zurückkam. „Du scheinst sie zu mögen.“ Angesprochene zuckte einmal kurz mit den Schultern. „Sie ist nett. Und außerdem erfrischend normal, was ich von meinem restlichen Umfeld jetzt kaum behaupten kann.“ „Über was habt ihr denn gesprochen?“ Carinas Augen funkelten amüsiert auf. „Das verrät dir die Tratschtante nicht“, erwiderte sie grinsend und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf den Mund zu hauchen. „Gemein wie immer“, meinte er und zog einen Schmollmund, nachdem sich ihre Lippen wieder voneinander gelöst hatten. Sie verdrehte die Augen. „Sie wollte wissen was passiert, nachdem man ein Shinigami wird. Ich habe es ihr erzählt.“ Cedric seufzte und Carina wusste auch sofort wieso. „Sie wusste doch ohnehin schon von uns, also warum ihr nicht auch noch den Rest erzählen? Außerdem“, sie grinste ein weiteres Mal, „sind Regeln doch dazu da, um gebrochen zu werden.“ „Klingt es seltsam, wenn ich jetzt sage, dass du das wohl von mir gelernt hast?“, fragte der Undertaker, musste nun aber nun ebenfalls leicht grinsen, wobei seine weißen Zähne aufblitzten. „Nein, weil es stimmt“, antwortete sie trocken und schaute auf ihre Tochter hinab, die mittlerweile wieder tief und fest schlief. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie die Gesichtszüge ihres Babys studierte, die Cedrics eigenen immer ähnlicher wurden. Natürlich fand jede Mutter ihr eigenes Kind süß, aber es öfters auch von anderen zu hören wie beispielsweise Emma heute, machte sie noch zusätzlich stolz. Sie war schon so gespannt zu sehen, zu was für einem Menschen Lily heranwachsen würde. „Ich bringe die Kleine nach oben“, meinte sie leise und der Bestatter nickte, während er sich nun ebenfalls auf den Weg machte, um seine Arbeitsutensilien in den Keller zu bringen und anschließend zu reinigen. Als sie langsam die Stufen nach oben hinaufstieg, begann das Mädchen ein wenig unruhig im Schlaf zu werden, doch sobald Carina begann eine leise Melodie zu summen beruhigte sich Lily wieder. Als sie ein paar Sekunden später von ihrer Mutter wieder zurück in ihre Wiege gelegt wurde, war bereits der friedliche Ausdruck in ihr Gesicht zurückgekehrt und sie ließ sich ohne jegliche Regung zudecken. Die 19-Jährige seufzte zufrieden, blieb noch wenige Minuten an der Wiege stehen und betrachtete mit einer inneren Glückseligkeit, die sie vor der Geburt ihrer Tochter gar nicht gekannt hatte, die kleine schlafende Gestalt. „Ich werde dafür sorgen, dass du unbeschwert aufwachsen kannst“, flüstere sie kaum hörbar. Und dazu mussten sie Samael aufhalten, egal wie! Auf Zehenspitzen verließ sie das Zimmer, schloss die Tür kaum hörbar hinter sich und ging anschließend wieder nach unten, mit dem festen Vorhaben jetzt endlich mal etwas für den Haushalt zu tun. Doch so weit kam sie erst gar nicht. Sobald ihre Füße den Boden der Küche berührten, erklang Cedrics Stimme aus dem Empfangsraum und sagte ihren Namen. „Wollte er nicht in den Keller gehen?“, dachte sie kurzzeitig verwirrt, aber diese Frage klärte sich in dem Moment, als sie das nächstgelegene Zimmer betrat. Ihr Blick fiel zuerst auf Ciel, der auf einem Sarg saß, und Sebastian, der – wie immer ganz der treue Butler – direkt danebenstand. Sie sahen sie beide mit einer Miene an, die sie nicht genau zu deuten wusste. Erst anschließend schaute sie Cedric an und die ernste Miene, mit der der Bestatter sie ansah, ließ sie nichts Gutes vermuten. „Was ist passiert?“, fragte sie, jetzt genauso ernst, und als Cedric daraufhin zögerte, sackte ihr Magen eine Etage tiefer. Cedric zögerte nie. Jedenfalls nicht, wenn es darum ging ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. „Du solltest dich besser setzen“, erwiderte er schließlich, was die schlechte Vorahnung der jungen Frau nur noch verstärkte. „Was ist passiert?“, wiederholte sie, nun eindringlicher. „Carina-“ „Ich will mich nicht setzen, sag mir einfach nur was passiert ist, verdammt nochmal“, wurde sie eine Spur lauter und ballte die Hände zu Fäusten. Cedric presste die Lippen zusammen und die Schnitterin hielt die Ungewissheit nicht mehr länger aus. Sie wandte sich an Sebastian. „Da ihr beiden hier seid, schätze ich mal, dass es um deinen Vater geht?“ Der Teufel nickte. „Ja.“ „Sebastian hat am heutigen Morgen eine dämonische Spur in meinem Vorgarten wahrgenommen“, begann Ciel zu erklären und sah dabei alles andere als begeistert aus. „Scheinbar war Samael in der Nacht an meinem Anwesen und keiner von uns hat davon etwas mitbekommen.“ Sebastians Miene verzog sich und Carina konnte zum allerersten Mal sehen, dass er wirklich zornig war. Ihr war ja mittlerweile bekannt, dass er – aus was für Gründen auch immer – seinen Vater nicht leiden konnte, aber das dieser ihn jetzt auch noch vorführte, das war scheinbar der Höhepunkt des Ganzen. „Auf Befehl des jungen Herrn verfolgte ich seine Spur. Allerdings verlor sich diese in Yorkshire gänzlich, sodass ich meine Suche vorerst abbrechen musste.“ Carina zuckte kurz zusammen, während sich ihre Augen merklich weiteten. „… Sagtest du gerade Yorkshire?“, fragte sie nach, während ein eiskaltes Gefühl in ihren Bauch sickerte. Ihr wurde übel. Der Butler nickte und öffnete erneut den Mund, doch der Undertaker kam ihm zuvor. „Carina, vielleicht sollten wir das unter vier-“ „Nein, Cedric, ich muss das jetzt hören. Was hat er getan?“ Der Silberhaarige kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken, während Sebastian jetzt endlich das aussprach, was der Todesgott scheinbar nicht über die Lippen brachte. „Das Grab deiner Freundin ist…“ Er beendete den Satz nicht, aber das musste er auch nicht. Die Bedeutung lag klar auf der Hand und sie konnte den Satz gedanklich selbst zu Ende führen. …Zerstört. …Geschändet. Carina spürte, wie ihre Knie weich wurden und wünschte sich jetzt, sie hätte den vorherigen Worten des Bestatters Folge geleistet. Ihre drei Gegenüber beobachteten, wie mit einem Mal alle Farbe aus ihrem Gesicht wich, sie aber ansonsten keinerlei Regung zeigte. Cedric konnte sich nicht entscheiden, welches Gefühl bei ihm überwog. Die Sorge um Carina und ihre Reaktion auf das eben Gesagte oder die Wut auf Samael und das daraus resultierende Bedürfnis ihn in Stücke zu reißen. Die 19-Jährige schloss für einen Moment die Augen und atmete einmal tief durch, um die Mischung aus Übelkeit und Panik zu bekämpfen, die sich in ihrem Körper ausgebreitet hatte. Alice… Er hatte Alice‘ letzte Ruhestätte einfach so… Unbändige, hilflose Wut stieg in ihr hoch. Dieser Mistkerl… Dieses abscheuliche Etwas, für das sie nicht einmal mehr Worte der Beleidigung fand! Hatte sie nicht noch heute Morgen darüber nachgedacht, dass es beunruhigend war so lange nichts mehr von dem gefallenen Engel gehört zu haben? Dass er jede Sekunde erneut zuschlagen konnte? „Ja“, dachte sie, jetzt hatte er zugeschlagen. Und es war ein Schlag, der sie genau da traf, wo es richtig wehtat. Die Aktion mit Emma und Charlie war schon schlimm genug gewesen, aber das hier, das mit Alice… das übertraf alles. Ihre beste Freundin hatte doch indirekt durch ihn bereits ihr Leben verloren. Konnte er sie nicht einmal im Tod in Ruhe lassen? Als sie ihre Augen wieder öffnete, begann sie gleichzeitig zu sprechen. „Gibt es irgendeine Möglichkeit dieses Versteckspiel zu beenden? Ich hab die Schnauze voll davon zu warten, bis der vornehme Herr sich endlich mal dazu bequemt uns von sich aus aufzusuchen.“ Ihre Stimme war erschreckend ruhig und alle drei Herren brachte dieser Umstand kurzweilig aus dem Konzept. Sebastian war der Erste, der sich wieder fasste. „Ich habe bereits darüber nachgedacht. Mit seinen Taten versucht er uns zu provozieren-“ „Was ganz hervorragend funktioniert“, sagten Carina und Ciel wie aus einem Munde und schauten sich gleich darauf irritiert an, was für ein Kichern seitens des Bestatters sorgte. „Mein Vater kann viele Dinge nicht ausstehen“, fuhr Sebastian fort. „Die Engel, Ungehorsam, wenn man ihm zuwider handelt… Die Liste lässt sich noch endlos fortsetzen, aber es gibt zwei Sachen, die er mehr als alles andere hasst.“ Er machte eine Kunstpause und schaute abwechselnd in die Runde. „Wenn man ihn ignoriert und wenn man ihn nicht ernst nimmt.“ Carina verzog die Miene. „Wie ein kleines Kind also“, antwortete sie spöttisch und seufzte schwer. „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen“, erwiderte Cedric und grinste sie an. „Letzteres magst du ja wohl auch nicht sonderlich, oder?“ Die Schnitterin rollte mit den Augen und ließ Gesagtes unkommentiert. Aber auch Ciel wirkte nicht zufrieden. „Dieser Kerl erdreistet es sich uns vorzuführen. Das werde ich auf keinen Fall dulden, geschweige denn auf mir sitzen lassen. Was schlägst du also vor, Sebastian? Wir können ihn ja wohl kaum einfach ignorieren. Und ihn nicht ernst zu nehmen kommt einem Todesurteil gleich.“ Sebastian lächelte dieses eine Lächeln, das Carina immer ein ungutes Gefühl bescherte. Das Lächeln eines Heiligen und Raubtieres zugleich. „Wie wäre es mit folgendem Vorschlag, Mylord? Wir veranstalten einen Ball.“ „Bitte was?“, fragte Carina nach, in der Hoffnung sich verhört zu haben. Ciel runzelte ebenso wenig begeistert die Stirn. „Bist du dir sicher, dass das so eine gute Idee ist? Präsentieren wir uns damit nicht auf dem Silbertablett?“ „Vielleicht ist es genau das, was wir tun müssen“, brachte der Undertaker sich nun auch mit ins Gespräch ein und legte überlegend eine Hand ans Kinn. „Obwohl er versucht uns das Leben schwer zu machen, halten wir dennoch eine Festlichkeit ab und zeigen ihm somit, dass er uns nichts anhaben kann. Es ist genau das, was du eben meintest, Butler. So würden wir ihn gleichzeitig ignorieren und auch noch zu der Erwägung verleiten, dass wir ihn nicht ernst nehmen.“ Er kicherte. „Und wir laden ihn noch nicht einmal ein, hehe~“ „Ich glaube kaum, dass ihn die fehlende Einladung stören dürfte“, meinte Ciel trocken und Carina stimmte ihm zu. „Ja, er wird auch uneingeladen dort auftauchen“, murmelte sie und fasste sich an die Stirn. „So ungern ich es auch zugebe, aber dieser Plan könnte funktionieren.“ Sebastian lächelte selbstherrlich und deutete eine kurze Verbeugung an. „Ein Kompliment von Euch, Mylady? So etwas höre ich gern.“ Die 19-Jährige funkelte ihn zornig an. „Spar dir deinen Sch-“ „Na na“, verhinderte Cedric gerade noch das Schlimmste und packte seine Gefährtin am Arm, um sie wieder ein wenig ins Hier und Jetzt zurückzubefördern. „Wir wollen uns doch nicht streiten, immerhin sind wir jetzt Verbündete.“ Carina schnaubte. Mit diesem dämlichen Teufel würde sie sich erst wirklich verbünden, wenn die Hölle zufror. „Gut, dann werde ich sofort mit den Vorbereitungen beginnen“, sagte Ciel, wobei wahrscheinlich eher Sebastian die ganze Arbeit haben würde. „Für den Anlass werde ich mir schon etwas ausdenken, das dürfte nicht allzu schwer werden. Wichtig ist jedoch, dass wir tatsächlich alle Leute einladen, die mit uns in Verbindung stehen. So geben wir Samael keinen Freifahrtsschein jemanden in seine Finger zu bekommen, während wir uns auf dem Ball befinden.“ „Eine vortreffliche Idee, junger Herr“, antwortete Sebastian. „Es sähe meinem Vater nicht unähnlich seine Wut an jemand anderem auszulassen.“ „Schön, dann sollten Emma und Charlie auf jeden Fall kommen“, warf Carina ein, denn sie würde auf keinen Fall zulassen, dass dieser Mistkerl noch einmal versuchen würde die beiden anzugreifen, auf welche Art auch immer. „Und Grell, Ronald und William sage ich auch Bescheid. Es kann nicht schaden sie für den schlimmsten Fall dabei zu haben.“ Ciel nickte und erhob sich wieder von dem Sargdeckel. „Zeit und Ort werde ich euch zum frühestmöglichen Zeitpunkt mitteilen.“ „Dann bis bald, Earl~“, entgegnete der Bestatter, woraufhin Ciel augenverdrehend den Laden verließ, dicht gefolgt von Sebastian. Stille senkte sich sogleich auf die beiden verbliebenen Anwesenden nieder und jetzt war es Carina, die sich auf einen Sarg setzte und sich fest in den Nasenrücken kniff. Sogleich spürte sie Cedrics Präsenz, als er dicht vor sie trat. „Geht es dir gut?“, fragte er ernst und die Schnitterin schüttelte den Kopf. „Nein“, murmelte sie und spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Kraftlos lies sie ihre Stirn gegen seine Brust fallen und spürte gleich darauf, wie sich einer seiner Arme um sie schlang, während sich der andere hob und seine Hand sanft über ihren Kopf streichelte. „Dafür wird er bezahlen“, zischte sie, während heiße Tränen der Wut ihre Wangen hinabtropften und in seinem Mantel versickerten. „Das wird er“, hörte sie den Silberhaarigen über sich sagen und kurz darauf drückten sich seine Lippen auf ihren Haarschopf. „Schlussendlich ist es nur ihre fleischliche Hülle, vergiss das nicht. Ihre Seele ist jetzt an einem besseren Ort, wie Uriel schon sagte.“ Den meisten Menschen wären diese Worte wohl herzlos erschienen, aber irgendwie spendeten sie Carina doch ein wenig Trost. Einige Minuten lang verharrten sie noch in dieser Pose, gaben sich der Stille und gegenseitigen Nähe hin, während Carina versuchte ihre Trauer und Wut für den Moment beiseite zu schieben. Schließlich wischte sie sich über die Augen und sah wieder hoch zu dem Bestatter. „Ich kann nur hoffen, dass dieser Ball ein gutes Ende nehmen wird.“ Auf Cedrics Lippen bildete sich ein breites Grinsen und die Blondine wusste sofort, dass seine nächsten Worte sie auf die Palme bringen würden. „Nun ja, auf deinem letzten Ball hast du deine Jungfräulichkeit verloren. Ein recht gutes Ende, wenn du mich fragst.“ Sie schnaubte laut auf. „Na, dann ist es ja gut, dass mir das nicht noch einmal passieren kann“, sagte sie mit allem Sarkasmus, den sie in diesem Moment aufbringen konnte. „Abgesehen davon gefällt mir deine Formulierung nicht.“ Er hob eine Augenbraue. „Wie meinen?“ „Ich habe sie nicht verloren“, meinte sie und machte beim letzten Wort imaginäre Gänsefüßchen in die Luft. „Ich habe sie dir geschenkt. Und es auch seitdem zu keinem Zeitpunkt bereut.“ Es war ihr weder peinlich, noch unangenehm das zuzugeben und dennoch war es für sie selbst eine doch recht intime Aussage. Dafür aber die volle Wahrheit. Die phosphoreszierenden Augen ihres Gegenübers verdunkelten sich merklich, als die nachfolgenden Worte rau über seine Lippen kamen. „Du weißt schon, dass du mit solchen Aussagen primitive Instinkte in mir weckst, oder?“ „Nein“, meinte sie voller sarkastischem Unglauben und machte gespielt große Augen. „Du und das Wort „Primitiv“ in einem Satz? Das passt doch nicht zusammen.“ Letzteres meinte sie tatsächlich ernst, aber das musste er ja nicht unbedingt wissen. „Freches Ding“, lachte er leise und beugte sich ein wenig nach unten, um seine Lippen auf die ihren zu drücken. Carina ließ sich auf den Kuss ein, seufzte leise in seinen Mund hinein und lehnte sich weiter zu ihm vor. Die Szene hätte friedlich sein können, wäre nicht in genau diesem Moment die Tür mit einem lauten Krachen aufgeflogen. Beide Shinigami zuckten zusammen und fuhren gleichzeitig herum, beinahe schon in der Erwartung eines Angriffes. Dieser kam allerdings nie. Stattdessen stürmte Grell in den Laden, hektisch und vollkommen außer Atem. „Grell“, stieß die Schnitterin verblüfft hervor und wandte sich ihrem besten Freund zu, der sich nun auf seinen Knien abstütze, um besser Luft zu bekommen. „Ist was passiert? Du wolltest doch erst Morgen wieder-“ Sie verstummte abrupt, als der Rothaarige sich aufrichtete und sie mit einem Blick ansah, den er im Zusammenhang mit ihr noch nie benutzt hatte. Instinktiv wusste die junge Frau sofort, um was es ging. Zum zweiten Mal am heutigen Tage bekam sie Bauchschmerzen. „Grell, lass mich erklären-“ „WAS ZUR HÖLLE HAST DU WILLIAM ERZÄHLT?!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)