Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 85: Das Lernen auf die harte Tour ----------------------------------------- Als Carina die Treppe herunterkam, erblickte sie als allererstes Grell und Ronald. Während ihr bester Freund und Mentor mittig im Raum stand, hatte Ronald es sich auf einem der Särge bequem gemacht und schaute sich interessiert um. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Als sie Grell darum gebeten hatte ihren ehemaligen Klassenkameraden zu fragen, ob er ebenfalls herkommen konnte, hätte sie nicht erwartet, dass der junge Frauenaufreißer tatsächlich kommen würde. „Hallo ihr beiden“, sagte sie und spürte gleich darauf zwei Augenpaare auf sich. „Hey Carina“, grinste Ronald und sprang mit reichlich Schwung von seiner Sitzgelegenheit herunter. „Jetzt siehst du fast wieder so aus, wie ich dich kenne.“ „Ja, stimmt“, lachte sie und sah den jungen Mann jetzt direkt an. „Vielen Dank, dass du gekommen bist, Ronald. Das bedeutet mir wirklich viel.“ „Genug, um mit mir endlich auszugehen?“, zwinkerte er kess und kassierte dafür sofort einen Klaps auf den Hinterkopf seitens Grell. „Lass das bloß Undy nicht hören, sonst ergeht es dir nochmal so wie auf der Campania.“ „Ich hab viel trainiert“, protestierte Ronald, was die 19-Jährige mit dem Kopf schütteln ließ. „Vergiss es, gegen ihn kommst du nicht an.“ Sie grinste erneut. „Wenn du ja noch nicht einmal gegen mich gewinnen kannst.“ „War das eine Herausforderung, Mylady?“, fragte Angesprochener und wackelte spielerisch mit den Augenbrauen. Das Grinsen auf dem Gesicht der jungen Frau wurde breiter. Irgendwie hatte sie es doch vermisst mit Gleichaltrigen zu sprechen. Und Ronald verhielt sich auch noch wie ein Junge aus dem 21. Jahrhundert, was es ihr noch leichter machte Gespräche mit ihm zu führen. „Kannst du gerne haben. Aber nicht heute. Heute habe ich schon einen Gegner, den ich schlagen muss.“ „Ich wollte Grell zuerst nicht glauben, als er es mir erzählt hat“, gab der junge Mann zu. „Ich meine… Ernsthaft? Hast du schon vergessen, was auf der Campania passiert ist? Der Typ hat uns fertig gemacht und da haben Grell, dieser Sebastian und ich gleichzeitig gegen ihn gekämpft. Und jetzt kämpfst du freiwillig ganz allein gegen ihn? Keine gute Idee, wenn du mich fragst.“ „Lass das mal meine Sorge sein, ich komm schon klar.“ „Wenn du meinst. Aber“, begann er und zwinkerte ihr ein weiteres Mal zu, „darf ich dann wenigstens deine Wunden versorgen, wenn du wieder kommst?“ „Du solltest solche Sprüche sein lassen, wenn du auf Dauer deinen Kopf behalten willst“, erklang hinter ihnen eine genervte Stimme und alle Köpfe drehten sich zu Cedric um, der mit verschränkten Armen am Empfangstresen lehnte. Carina spürte, wie Ronald neben ihr zusammenzuckte und abwehrend beide Hände hob, um den Bestatter zu beschwichtigen. „Nur ein Scherz, nur ein Scherz“, beeilte er sich zu sagen, was Carina aufschnauben ließ. So viel zu seiner sonst immer so großen Klappe… Die junge Frau schritt auf den Totengräber zu, bis sie genau vor ihm stand. Ein leicht provozierendes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und als er daraufhin fragend eine Augenbraue hob, flüsterte sie so leise, dass nur er es hören konnte: „Eifersüchtig?“ Sofort verdunkelte sich die gelbgrüne Färbung seiner Augen um eine Nuance und Carina wusste, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. „Auf den Frischling? Mach dich nicht lächerlich“, murmelte er eben so leise zurück und schaute gleich darauf zu den beiden Todesgöttern auf, um der Mutter seiner Tochter keine Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Die er mit ziemlicher Sicherheit ohnehin nicht hören wollte. „Ich muss euch ja wohl nicht sagen, dass ihr meine Tochter notfalls mit eurem Leben verteidigen werdet?“ Grell grinste breit, während Ronald erbleichte. Er schien wirklich eine ganze Menge Respekt vor dem desertierten Shinigami zu haben. „Natürlich, Undy. Du kannst dich auf uns verlassen. Lily wird nicht ein Haar gekrümmt, solange ich hier bin.“ Er zwinkerte einmal und Carina spürte, dass sich der Mann an ihrer Seite deutlich entspannte. Unbemerkt schenkte sie ihm einen liebevollen Blick. Es war doch einfach zu süß, wie er sich um sein kleines Mädchen sorgte. Mit Sicherheit würde das in ein paar Jahren noch zu reichlich Diskussionen führen. Ganz zu schweigen von Lilys Pubertät… „Gut“, antwortete der Bestatter und wandte sich nun wieder mit seinem altbekannten Grinsen Carina zu. „Wollen wir dann?“ Die 19-Jährige nickte und ergriff seine ausgestreckte Hand. Über Cedrics Schulter hinweg tauschte sie einen bedeutungsschweren Blick mit Grell, der ihr bestimmt zunickte und wieder einmal unter Beweis stellte, dass sie sich auch ohne Worte bestens verstanden. Zeig es ihm. Denk an unser Training und daran, was wir besprochen haben. Du schaffst das! Sie nickte ebenso bestimmt zurück und spürte gleich darauf das unangenehm prickelnde Gefühl in ihrem Magen, das mit dem Vorgang der Teleportation einherging und sie immer ein wenig an den Druck erinnerte, den man in einem herabfahrenden Fahrstuhl verspürte. Die Umgebung löste sich vor ihren Augen auf, um im nächsten Moment kontinuierlich wieder Gestalt anzunehmen, was sie automatisch dazu zwang zu blinzeln. Kurz drückte sie Cedrics Hand eine Spur fester, um sich zu vergewissern, dass er noch immer an ihrer Seite war. Er übte leichten Gegendruck aus und bereits im nächsten Augenblick spürte sie wieder festen Boden unter ihren Füßen und eine klare Umgebung erstreckte sich vor ihren Augen. Sie standen direkt vor dem kleinen Häuschen, das einmal Grells Eltern gehört hatte. Der Anblick war ihr inzwischen so vertraut, dass sofort ein warmes Gefühl in ihrer Brust aufstieg. Cedric ließ ihre Hand los und schaute sie, grinsend wie eh und je, an. „Wir sollten in das Waldstück gehen. Nicht, dass hier noch irgendetwas beschädigt wird.“ „Sehe ich auch so“, bestätigte sie ihm und marschierte noch im gleichen Augenblick los. Die Schnitterin war froh, dass sie genau hier die letzten Tage mit Grell trainiert hatte. Es mochte nur ein kleiner Vorteil ihm gegenüber sein, aber zumindest kannte sie dieses Gelände mittlerweile wie ihre Westentasche. Und jeder noch so kleine Vorteil würde sich am heutigen Tag bezahlt machen, so viel stand fest. Die junge Frau atmete tief ein und ignorierte das aufgeregte Flattern in ihrem Magen, während sie zusammen tiefer in den Wald gingen. Längst konnten sie weit und breit nur noch Bäume um sich herum sehen. „Behalt einen klaren Kopf“, dachte sie und dieser Gedanke half ihr tatsächlich dabei sich zu konzentrieren. Was ihr Glück war. Wäre sie auch nur eine Sekunde lang unaufmerksam gewesen, wäre ihr mit Sicherheit das zischende Geräusch entgangen, das mit einem Mal direkt hinter ihr ertönte. Sofort übernahmen ihre geübten Reflexe die Kontrolle über ihren Körper. Im allerletzten Moment und ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, duckte sie sich nach unten hin weg, spürte sogleich einen kalten Lufthauch über sich hinweg gleiten, als das lange Schneideblatt einer bekannten Sense sie nur um Haaresbreite verfehlte. Mit einem Sprung brachte sie Abstand zwischen sie und starrte ihn anschließend fassungslos an. „Sag mal, spinnst du?“, fragte sie und eine Zornesfalte bildete sich auf ihrer Stirn. Der Silberhaarige grinste sie an, doch sie konnte ein gefährliches Funkeln in seinen Augen sehen, das ihr ganz und gar nicht gefiel. „Der gefallene Engel wird dich auch nicht vorwarnen, bevor er dich angreift“, gab er nonchalant zurück und hielt seine Death Scythe locker vor sich; bereit, jederzeit wieder zuzuschlagen. Carinas Mund verzog sich zu einer schmalen Linie. Wortlos zog sie ihre eigene Death Scythe aus der Scheide und hielt die Klinge in Verteidigungshaltung vor ihren Körper. „Dann komm, wenn du dich traust“, meinte sie ernst und spannte bereits jetzt jeden einzelnen Muskel an, um für den kommenden Angriff gewappnet zu sein. Der Undertaker lachte leise und strich sich ein paar seiner langen Haarsträhnen aus der Stirn. „Erinnerst du dich noch daran, als ich auf der Campania sagte, dass ich mich frage wer bei dieser Hasenjagd hier der Hase ist?“ Carina rührte sich nicht, obwohl er sie jetzt mit einem Ausdruck im Gesicht ansah, der einen zum Weglaufen bewegen konnte. Und es wurde bei seinen nächsten Worten nicht besser. „Jetzt“, fuhr er nämlich fort, „ist die Situation eine andere.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Jetzt weiß ich ganz genau, wer hier der Hase ist.“ Es war wie eine Art Startschuss. Kaum hatte die letzte Silbe seine Lippen verlassen, stürzte er sich in ihre Richtung. Doch Carina war bereit, hatte ihn erwartet und musste sich dementsprechend lediglich erneut unter seiner todbringenden Waffe wegducken. Dass das auf Dauer keine Lösung war, war ihr bewusst. Dennoch, Beobachtungen anstellen konnte nicht schaden. In den nächsten zwei Minuten gab sie ihrem Körper und ihrem Gehirn die Zeit sich an seine Bewegungen zu gewöhnen, bestimmte Muster in seinen Angriffen zu erkennen. Das war jedoch schwerer, als sie es sich zu Anfang vorgestellt hatte. Cedric war clever, benutzte nie den gleichen Trick zweimal und obwohl er nicht einmal eine Brille trug, konnte er mit Leichtigkeit ihre eigenen Aktionen vorausahnen. Sie stand hier einem Mann gegenüber, der jahrhundertelange Erfahrung im Kämpfen hatte und das zeigte sich jetzt sehr deutlich. Nach einem erneuten Schlag seiner Sense, dem sie erfolgreich ausgewichen war, blieb der Bestatter stehen und besah sich kurz ein paar der Bäume, die seiner Todessense zum Opfer gefallen waren und nun entzwei geschnitten am Boden lagen. „Wie lange willst du noch vor mir davonlaufen, Carina?“, fragte er und die Überlegenheit, die er in genau diesem Moment ausstrahlte, gefiel der Angesprochenen gar nicht. „Ich laufe nicht davon“, erwiderte sie ruhig, doch in ihrem Inneren kochte es. Was der Shinigami sicherlich auch mit seiner Frage beabsichtigt hatte. „So? Wie würdest du denn dieses Tänzchen nennen, was du bisher aufgeführt hast?“ Er kicherte über seinen eigenen Witz und es trieb die 19-Jährige nur noch mehr zur Weißglut. „Warte es nur ab“, dachte sie und verstärkte den Griff um das dunkelrote Band ihres japanischen Schwertes. Seine Sense war um ein vielfaches größer, als ihre eigene Death Scythe und in jeder Hinsicht stärker, aber sie hatte auch einen ganz entscheidenden Schwachpunkt. Ihre enorm große Reichweite. Ja, Sebastian hatte es damals auf der Campania ganz treffend erkannt. Die große Klinge mochte viel Schaden anrichten, aber dafür brauchte der Totengräber auch viel Platz. Wenn sie nah genug an ihn heran kam, irgendwie in den Kreis zwischen ihn und seiner Klinge gelangte, dann sollten zumindest die Grundvoraussetzungen für einen erfolgreichen Angriffsversuch gesetzt sein. Sie bemerkte, dass er sein Gewicht auf seinen rechten Fuß verlagerte und reagierte sofort. Die Sense befand sich erst halb in der Luft, als die Deutsche hinter den dichten Bäumen abtauchte. Ein Krachen ertönte, als die Stämme unmittelbar hinter ihr zerteilt wurden und das Holz schwer auf die Erde fiel. Carina bewegte sich fließend zwischen den fallenden Hindernissen hin und her, während immer mehr der massiven Pflanzen zum Opfer der Death Scythe wurden. „Mach dir deine Umgebung zunutze“, hallten Grells Worte in ihrem Kopf wieder, weil es genau das war, was sie gerade tat. Allerdings musste sie sich beeilen. Wenn diese Situation noch länger so weiterging, würde Cedric vermutlich noch den ganzen Wald abholzen. Dem Bestatter blieb es nicht verborgen, dass die herabfallenden Baumstämme ihm die Sicht auf Carina deutlich erschwerten. Und er war sich ziemlich sicher, dass es genauso von ihr gewollt gewesen war. „Kleines Schlitzohr“, murmelte er und grinste amüsiert. Er wusste ganz genau, was sie damit bezweckte. Daher war es für ihn auch keine sonderlich große Überraschung, als sie plötzlich wie aus heiterem Himmel dicht hinter ihm auftauchte, ihre Todessense bereit zum Zuschlagen. Die 19-Jährige war zu nah an ihm dran, als das er ihren Schlag noch mit seiner Sense hätte parieren können, also entschied er sich für die andere Variante, die nicht das einfache Ausweichen beinhaltete. Er packte ihr rechtes Handgelenk und stoppte die gefährliche Waffe knapp vor seiner Brust. „Verflucht“, schoss es Carina unwillkürlich durch den Kopf, als sie zuerst auf seine linke Hand schaute – mit der er sie in einem festen Griff gepackt hielt – und dann auf seine rechte, in der er nun in aller Ruhe seine Sense so manövrierte, dass sie genau auf sie hinab zeigte. Ihre Augen weiteten sich, als die Waffe in einer Rekordgeschwindigkeit auf sie zuraste, ihr Herz setzte sogar eine Sekunde lang gänzlich aus. Adrenalin durchdrang ihren gesamten Körper in der pursten Form und sorgte dafür, dass ihr Gehirn den Verlauf der Klinge trotz der abnormen Geschwindigkeit beinahe wie in Zeitlupe sehen konnte. Ohne wirklich darüber nachzudenken hob sie ihren Fuß und trat ihm mit aller Kraft gegen das Schienbein. Carina konnte nicht wirklich sagen, ob es ihn großartig geschmerzt hatte, aber reflexartig zuckten seine Finger um ihr Handgelenk und das reichte bereits aus, dass sich sein Griff lockerte. Sie riss sich von ihm los und wich in wirklich allerletzter Sekunde nach hinten zurück. Es genügte, um zu verhindern, dass sie in zwei Teile gespalten wurde; jedoch nicht, um ganz unbeschadet aus der Sache herauszukommen. Die scharfe Spitze der Sense fuhr über ihr rechtes Schlüsselbein, zerteilte sowohl den Stoff als auch die Haut darunter. Die junge Frau sah beinahe verwundert dabei zu, wie Blut aus dem Schnitt spritzte und erst dann nahm sie den brennenden Schmerz wahr, der von der Wunde ausging. Sie wich weiter vor ihm zurück und konnte nicht ganz den geschockten Ausdruck verstecken, der sich nun in ihren Blick schlich. Noch vor wenigen Sekunden war sie der festen Überzeugung gewesen, dass er gegen sie einen anderen Kampf ausfechten würde, als gegen Sebastian. Jetzt war sie sich da allerdings nicht mehr so sicher. Sie schluckte, um ihren plötzlich furchtbar trockenen Hals zu befeuchten und versuchte gleichzeitig mit aller Macht das Blut zu ignorieren, das den Stoff ihrer weißen Bluse nach und nach rot verfärbte. Eine Mischung aus Angst und Aufregung pulsierte durch ihre Adern. Cedric meinte es todernst, das konnte sie deutlich an seinem Gesichtsausdruck erkennen. Kein Lächeln, kein Grinsen, nicht mal die Mundwinkel hatte er angehoben. Er starrte sie lediglich abwartend, gar berechnend an, als plante er bereits seine nächsten Schritte gegen sie. Und mit einem Mal stellte Carina sich die Frage, ob es hier überhaupt noch darum ging, dass sie ihn zu Boden bringen sollte. Vielleicht sollte sie sich viel eher Sorgen darum machen, ob sie lebend aus dieser Sache herauskam. Langsam und bewusst stieß sie ihren angehaltenen Atem aus. Sie konnte beinahe Grells Stimme in ihrem Kopf hören, dass sie gefälligst ein bisschen mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen sollte. Kühl erwiderte sie daher Cedrics Blick, gab ihm stumm zu verstehen, dass das Versteckspiel jetzt vorbei war. Von nun an würde sie ihn direkt angreifen und noch im gleichen Augenblick setzte sie ihren Gedanken auch in die Tat um. Ihre Wadenmuskulatur spannte sich leicht an, als sie nach vorne sprintete und ihm frontal entgegentrat, ihre Death Scythe bereits auf richtiger Höhe erhoben. Ein metallenes Knirschen ertönte, als die beiden Klingen aufeinander trafen und kurz ereilte Carina ein Déjà-vu. Auch auf der Campania waren sie sich mit ihren Todessensen so begegnet. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied. Nun konnte sie dem Druck seiner Waffe standhalten. Zwar nicht ganz mühelos, aber es ging und das zeigte ihr, dass sie sich seit damals weiterentwickelt hatte. Eine Tatsache, die ihr mehr Zuversicht gab, als es ihr irgendjemand mit Worten hätte einreden können. „Traust du dich also doch“, stellte der Undertaker fest und lächelte sie erneut auf eine Art und Weise an, die ihr durch Mark und Bein ging. Carina erwiderte seinen Blick und Cedrics Augen wurden minimal schmaler, als er die Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit in den blauen Tiefen ausmachte. Und da war sogar noch etwas anderes. Eine Art von Wildheit; etwas, dass ihm sagte, dass das hier kein Spaß mehr war, sondern bitterer Ernst. „Unterschätz mich nicht“, zischte sie ihm in diesem Moment gefährlich leise entgegen und gleich darauf spürte er, wie sie das Gewicht ihres Körpers auf ein Bein verlagerte, um das andere vom Boden anheben zu können. Ihr Fuß traf ihn hart gegen den linken Beckenknochen und schleuderte ihn ein Stück weit nach hinten, sodass sich ihre Klingen voneinander trennten. Die junge Frau stürmte erneut auf ihn los, nutzte es aus, dass er nach ihrem Tritt kurz strauchelte. Ihr Katana schoss hervor und sie zielte auf seine rechte Schulter, doch damit schien der Shinigami bereits gerechnet zu haben. Seine linke Hand langte unter seinen schwarzen Mantel und keine Sekunde später krachte eine Sotoba hart und schmerzhaft gegen die Innenseite ihres Ellbogens. Der Hieb riss ihren Arm – zusammen mit der Death Scythe – nach hinten und das einzig nicht Negative daran war, dass sie das Schwert nicht fallen ließ. Dennoch erkannte sie mit einem Mal den Fehler, den sie begangen hatte. Durch ihren vorherigen Tritt hatte sie wieder Abstand zwischen sie beide gebracht. Genügend Abstand, dass Cedric die volle Reichweite seiner Sense wieder nutzen konnte. Und genau den gleichen Gedanken schien der Silberhaarige ebenfalls gehabt zu haben, denn er nutzte seine Chance sofort. Die Augen der 19-Jährigen weiteten sich, als sie realisierte, dass er bereits halb mit der riesigen, gebogenen Klinge ausgeholt hatte. Nein, niemals wäre sie schnell genug, um aus diesem Kreis, den die Waffe beschreiben würde, noch rechtzeitig raus zu kommen. „Dann halt anders!“ Ihr Rücken protestierte, als sie sich nach hinten wegbog und ihre Hände den Boden berührten, sodass ihr Körper eine perfekte Brücke beschrieb. Gleich darauf spürte sie den heftigen Luftzug, als seine Sense knapp über ihrem Bauchnabel hinweg glitt. „Verdammt, er meint es wirklich ernst“, dachte sie erneut und spürte zum zweiten Mal diese unterschwellige Angst in sich aufsteigen. Sie wollte sich gar nicht vorstellen was passiert wäre, wenn sie nicht rechtzeitig hätte ausweichen können. Und Cedric hätte nicht mitten im Angriff aufgehört, so viel war ihnen beiden klar. Das Gewicht nun komplett auf ihre Handflächen und Arme verlagernd, stemmte die junge Frau sich nach hinten weg und versuchte dabei erneut ihn mit einem Tritt ihrer Beine zu treffen. Der Bestatter wich mit einer Eleganz aus, die Carina zornig machte. Dabei war es eigentlich keine sonderlich große Überraschung. Dieser Mann hatte ihr Jahrhunderte an Erfahrung voraus. „Aber das hat Grell auch und bei ihm fühle ich mich nicht so klein und schwach dabei“, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf und Carina musste sich eingestehen, dass das stimmte. Bei ihrem Mentor störte es sie tatsächlich nicht. Cedric hingegen… „War das etwa schon alles?“, fragte der Totengräber nun beinahe gelangweilt und beschaute sich seine schwarzen Fingernägel. „Ich hatte mehr von dir erwartet.“ Seine gelbgrünen Pupillen wanderten gerade noch rechtzeitig wieder nach oben, um den wütenden Ausdruck über Carinas Gesicht huschen zu sehen. Äußerlich ließ sie sich zwar kaum etwas anmerken, aber Cedric wusste, dass sie innerlich vor Wut beinahe platzte. Immerhin war genau das seine Absicht gewesen. Und ebenso hatte er vorausgesehen, dass sie nun wieder auf ihn losgehen würde. Ein schmales Lächeln kräuselte seine Lippen, als er seine Death Scythe erneut leicht anhob. Die nächsten 20 Minuten gingen beinahe wie im Fluge an ihnen vorbei. Jedes Mal, wenn Carina dachte - oder zumindest das Gefühl verspürte - sie könnte ihn gleich soweit haben, machte er ihr einen Strich durch die Rechnung. Jedes Mal, wenn sie glaubte ihn erfolgreich getäuscht zu haben, was ihre Bewegungen anging, belehrte er sie gleich darauf eines Besseren. Es war frustrierend und unglaublich, unglaublich nervtötend! Mittlerweile spürte sie durchaus auch die körperlichen Auswirkungen, die dieser Kampf auf sie hatte. Ihre Arme und Beine fühlten sich schwer an, ihre Lunge von den schnelleren Atemzügen ausgelaugt. Schweiß klebte ihr auf der Stirn und am Rücken, doch das war gerade noch ihre geringste Sorge. Die Wunde an ihrem Schlüsselbein pochte munter vor sich hin, während sich auf ihrer linken Wange ein kleiner Schnitt dazugesellt hatte, der wie Feuer brannte. Auch auf ihrem rechten Rippenbogen hatte seine Death Scythe einen Schnitt hinterlassen, doch dieser war tiefer und blutete auch dementsprechend. Ihre Bluse war mittlerweile mehr rot als weiß und obwohl sie wusste, dass das Grells Lieblingsfarbe war, bezweifelte sie doch stark, dass der Reaper erfreut sein würde, sie in solch einem Zustand zu Gesicht zu bekommen. Cedric hingegen sah noch aus wie zu Anfang des Kampfes, wenn man von seinen ebenfalls nun leicht beschleunigten Atemzügen mal absah. Er hatte zwar ein paar Tritte von ihr einstecken müssen, aber die blauen Flecken, die sich dadurch möglicherweise gebildet hatten, befanden sich unter seiner Kleidung und waren somit nicht sichtbar. Aber das alles interessierte Carina nicht. Viel schockierter war sie über die bloße Tatsache, dass seine Knie nicht einmal in die Nähe des Bodens gekommen waren, geschweige denn der Rest seines Körpers. Und so langsam gingen ihr wirklich die Ideen aus. Unwillkürlich musste sie daran zurückdenken, was Grell und sie in ihrem gemeinsamen Training besprochen hatten. Einen Plan, der ihr eigentlich ganz und gar nicht gefiel, weil er absolut nicht zu ihren Vorstellungen eines richtigen Kampfes passte… Keuchend ließ sich die Schnitterin in das weiche Gras fallen und lehnte ihren Rücken erschöpft gegen die raue Rinde eines Baumes. Die Grasflecken, die sich dadurch auf ihrer Hose bildeten, waren ihr in diesem Moment egal, immerhin hatte das Kleidungsstück durch das Training ohnehin schon gelitten. Grell hingegen blieb stehen und schaute grinsend auf seine Schülerin hinunter. „Du bist wirklich stark geworden, Carina“, sagte er und der Stolz in seiner Stimme trieb der Angesprochenen die Röte in die Wangen und ein verlegenes Lächeln auf die Lippen. „Danke, Grell“, antwortete sie und lehnte ihren Hinterkopf nun ebenfalls am Baum an, während sie die Augen schloss. „Aber ohne dich hätte ich das sicherlich nicht geschafft. Herrgott, ohne dich hätte ich wahrscheinlich nicht einmal die Abschlussprüfung geschafft. Ich meine… kannst du dich noch daran erinnern, was für eine Niete ich am Anfang der Ausbildung war?“ „Natürlich kann ich mich daran erinnern. Aber das lag nicht daran, dass du kein Talent gehabt hättest, denn das hast du zweifelsohne. Es fehlte dir lediglich an Selbstbewusstsein und ein bisschen Erfahrung. Und jetzt, wo du beides hast, ist ein kein Wunder, dass du dich stetig verbesserst.“ „Ja, schon“, begann sie zögerlich und seufzte einmal, bevor sie ihre Augen wieder öffnete, „aber glaubst du wirklich, dass es dafür reicht, um ihn zu Fall zu bringen? In diesem Fall sogar wortwörtlich?“ Der Todesgott strich sich einmal durch seine langen, roten Haare und überlegte kurz. „Nun ja, wenn wir ehrlich sind, wissen wir beide, dass keiner von uns Undy wirklich bezwingen kann. Aber darum geht es hier ja auch nicht. In diesem Kampf musst du nicht stärker sein als er. Du musst nur schlauer sein.“ Carina runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“, fragte sie und der Rothaarige zuckte mit den Schultern. „Nehmen wir doch deinen Kampf mit Crow als Beispiel. Er war stärker als du und trotzdem hast du es am Ende geschafft ihn zu töten. Und warum? Weil du den besseren Plan hattest.“ „Stimmt“, flüsterte die junge Frau leise und erinnerte sich an die unschöne Konfrontation zurück. „Und hier machst du es einfach ganz genau so.“ „Du vergisst da etwas, Grell“, widersprach sie ihm und schaute zu ihm auf. „Es lag nur ein schmaler Grat zwischen der Stärke von Crow und der meinen. Zwischen Cedric und mir hingegen liegt mindestens eine kilometerhohe Klippe. Noch dazu kennt er mich wesentlich besser und wird meine Bewegungen und Pläne viel eher erahnen können.“ Sie seufzte. „Und er ist so verdammt schlau. Eine Eigenschaft an ihm, die ich in jeder anderen Situation äußerst attraktiv finde, nur nicht in dieser.“ „Du magst mit allem, was du sagst, Recht haben. Aber gerade die Tatsache, dass er dich so gut einschätzen kann, ist auch ein Schwachpunkt.“ Carina runzelte irritiert die Stirn und Grell lieferte ihr sogleich eine Erklärung. „Du sagst, dass er dich gut kennt und deswegen deine Pläne vorausahnen wird. Gut, dann musst du einfach etwas tun, was so überhaupt nicht zu dir passt. Etwas, was du unter normalen Umständen niemals tun würdest, weil es deinem ganzen Wesen widerspricht.“ Die 19-Jährige starrte ihn an und Grell konnte beinahe hören, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten, während sie seine Worte verarbeitete. „Denk nach, Carina. Was würde er niemals von dir erwarten? Mit welcher Aktion kannst du ihn so überrumpeln, dass er den Kopf verliert, sei es auch nur für eine Sekunde?“ Ihre Antwort kam bereits eine Sekunde später und war rein instinktiv; dennoch wusste Carina sofort, dass sie stimmte. „Schwäche zeigen“, murmelte sie und richtete sich langsam auf, während sie Grells Blick hielt, erstaunt über ihre eigene Erkenntnis. „All die Zeit, die wir uns jetzt schon kennen, habe ich immer versucht stark zu sein. Und das war nicht nur bei ihm so. Auch bei meinen Mitschülern, Ronald, Ciel und Sebastian, selbst bei dir… ich wollte immer allen beweisen, dass ich nicht schwach bin. Sei es im Kampf oder auf emotionaler Ebene.“ Realisierend schüttelte sie langsam den Kopf. „Cedric würde niemals vermuten, dass ich etwas tue, was mich freiwillig schwach aussehen lässt.“ Grell grinste und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Dann schlage ich vor, dass du genau da ansetzt.“ Carina schluckte. Sie hatte bis zuletzt gehofft, dass es nicht so weit kommen würde. Dass sie nicht auf diesen Plan zurückgreifen musste. Jetzt schien es jedoch die einzige Möglichkeit zu sein, um doch noch ihren Willen zu bekommen. Aber sie wollte es nicht. Sie wollte es wirklich nicht. Denn auch sie kannte Cedric inzwischen sehr gut. Sie würde ihm damit wehtun. Nicht körperlich, sondern seelisch. Wenn sie ihn richtig einschätzte, würde sie ihn damit verletzen. Und jede Faser ihres Körpers sträubte sich gegen diese Vorstellung. „Gib auf, Carina“, erklang mit einem Mal seine Stimme und die Todesgöttin starrte ihn daraufhin mit geweiteten Augen an. „Wie bitte?“ „Gib auf. Wir wissen beide, dass du keine Chance gegen mich hast. Sieh es ein und gib auf, damit machst du es uns beiden leichter. Denn wenn nicht…“, warnte er sie und schaute sie plötzlich mit so einem kalten Gesichtsausdruck an, dass Carina dieses Mal tatsächlich zurückzuckte, „werde ich diesen Kampf auf die harte Tour beenden. Ich liebe dich, Carina, aber wenn ich nur auf diesem Wege bewirken kann, dass du in Zukunft nicht einfach machen kannst was du willst und dich dabei in Gefahr begibst, dann werde ich dich windelweich prügeln. Auch, wenn es mir nicht gefällt.“ Jetzt hatte er es geschafft. Jetzt hatte sie wirklich Angst vor ihm. Denn jedes einzelne Wort war ernst gemeint, daran zweifelte die Schnitterin nicht eine Sekunde. Sie ballte ihre Hände so fest zu Fäusten, dass es schmerzte. Innerlich brach ihr der Schweiß aus. „So eine verdammte Scheiße“, ging es ihr durch den Kopf und am liebsten hätte sie verzweifelt aufgelacht, als ihr klar wurde, dass es auf diese Warnung von ihm nur eine einzige Antwort von ihr geben konnte. Nur eine, mit der sie sich selbst identifizieren konnte. „Ich gebe nicht auf“, wisperte sie mit bebender Stimme und die Worte brannten wie Säure in ihrer Kehle. „Niemals.“ „Du Idiotin“, dachte sie sogleich, als sich seine Augen unheilvoll verengten. „Du unglaubliche Idiotin.“ Aber zumindest hatte er ihr bei der Entscheidung geholfen. Wie hatte er es noch ausgedrückt? Auch, wenn es ihm nicht gefallen würde? Nun, ihr gefiel ihr eigener Plan auch nicht. Aber nach dieser Ansprache von ihm würde sie es dennoch versuchen. „Gut, aber vergiss nicht. Ich habe dich gewarnt“, erwiderte er und beugte sich leicht nach vorne, ehe er mit voller Geschwindigkeit auf sie zu rannte. Carina stellte sich ihm entgegen, einen neuen entschlossen Ausdruck in den Augen. Ihre Klingen trafen erneut aufeinander, lieferten sich einen kurzen Schlagabtausch. Die Blondine duckte sich unter dem vierten Schlag hinweg, huschte unter seinem erhobenen rechten Arm hinweg und trat ihm sogleich von hinten ins Kreuz. Cedric riss es bedauerlicherweise nicht von den Füßen, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Er taumelte lediglich einen Schritt nach vorne und genau in diesem Moment fasste die Schnitterin den Entschluss, ihren Plan jetzt in die Tat umzusetzen. Sie sprang auf ihn zu und ließ mit voller Absicht eine Lücke in ihrem Angriff; in dem Wissen, dass der Silberhaarige sich in der nächsten Sekunde zu ihr zurückdrehen würde und ihre Waffe mit der seinen blocken würde. Und genau so kam es auch. Seine Sense schnitt ihrem Katana auf halber Strecke den Weg ab und Carina machte sich gedanklich bereits auf den kommenden Schmerz bereit. Cedric enttäuschte sie in dieser Hinsicht nicht. Seine geballte Faust flog geradewegs durch ihre Lücke hindurch und traf sie hart gegen die rechte Wange. Carina spürte, wie ihre Lippe aufplatzte und ihr ganzer Kiefer ordentlich durchgeschüttelt wurde. Die Wucht seines Angriffes riss sie nach hinten und es kam genau so, wie die Todesgöttin es geplant hatte. Ihr Rücken krachte wenige Sekunde später gegen einen der umliegenden Bäume, dicht gefolgt von ihrem Kopf. Schmerz explodierte mittig in ihrem Schädel und es benötigte all ihre Willenskraft, sich darauf zu konzentrieren, auf die gewünschte Weise auf dem Boden aufzuschlagen – mit dem Bauch voran, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Gleich darauf stand sie vor der nächsten Herausforderung. Zum einen musste sie mit aller Macht das Bedürfnis unterdrücken ein schmerzerfülltes Wimmern von sich zu geben und gleichzeitig die blutende Platzwunde zu ignorieren, die nun seitlich an ihrer Stirn prangte. Zum anderen zwang sie ihren gesamten Körper dazu sich zu entkrampfen und die Muskeln erschlaffen zu lassen. Wenn sie Cedric schon vorgaukeln musste, dass sie das Bewusstsein verloren hatte, dann musste es glaubhaft aussehen. Dass die Platzwunde eine größer werdende Blutlache unter ihrem Kopf hinterließ, die sich über den Boden ausbreitete, half dabei ganz erheblich. Eine gespenstische Stille legte sich mit einem Mal über die Lichtung und Carina war froh, dass sie das Gesicht des Undertakers nicht sehen musste. Sie konnte geradezu spüren, wie er sich anspannte und ihm eine Sekunde das Herz in der Brust stockte. „Carina?“ Seine Stimme klang auf einmal gar nicht mehr so selbstbewusst und bestimmend, wie noch wenige Augenblicke zuvor. Jetzt war sie eher fragend, verunsichert. Die 19-Jährige musste sich dazu zwingen still liegen zu bleiben, obwohl es ihr innerlich das Herz brach ihm Angst einzujagen und sei es auch nur für wenige Sekunden. Sie verwehrte ihm jegliches Lebenszeichen und es dauerte daher nicht einmal zwei Wimpernschläge, bis seine Schritte auf dem Waldboden ertönten. Er kam näher und das zügig. „Noch nicht“, sagte sie sich bei jedem einzelnen Schritt und selbst dann noch, als er genau vor ihr stehen blieb. „Noch nicht. Noch nicht.“ Erst, als sie spürte, wie er sich zu ihr herabbeugte, seine Hände nach ihr ausstreckte und vorsichtig ihren Kopf umfasste, witterte sie ihre Chance. Ihre einzige Chance. Ihre marineblauen Augen flogen auf und sie spannte sogleich alle Muskeln in ihrem Körper wieder bis zum Maximum an. Ihre rechte Hand schoss hervor, ehe Cedric überhaupt realisieren konnte, was gerade passierte, und schloss sich mit festem Griff um seinen Fußknöchel. Die gelbgrünen Augen des Bestatters weiteten sich eine Spur breit, Entsetzen und Überraschung flammten in seinem Blick auf. Doch dieses Mal war nicht einmal er schnell genug, um ihren Plan zu verhindern. Mit all ihrer verbliebenen Kraft riss sie ihre Hand ruckartig wieder nach vorne und zog sein komplettes Bein mit sich. Der Schwung ließ ihn den Boden unter den Füßen verlieren, aber Carina wusste, dass diese Aktion allein nicht ausreichte, um ihn gänzlich zu Fall zu bringen. Noch während sich sein Körper in der Luft befand und in Richtung Boden fiel, stemmte sie sich mit einem Knie nach oben und warf sich ihm entgegen, die geöffnete Hand halb nach seinem Brustkorb ausgestreckt, um ihn zu Boden zu drücken. „Jetzt habe ich dich“, dachte sie. Im Nachhinein fragte sich Carina, ob es nicht vielleicht genau dieser Gedanke gewesen war, der ihr schlussendlich das Genick gebrochen hatte. Aus den Augenwinkeln nahm sie verschwommen wahr, wie sich seine gelbgrünen Pupillen gefährlich verengten. Es benötigte nicht mehr, um ihr zu sagen, dass sie den Bogen nun weit überspannt hatte. Aber für einen Rückzieher war es längst zu spät und Carina würde auch keinen machen, wenn sie es noch könnte. Sie hatte sich dazu entschieden, sie würde das jetzt auch durchziehen. Gleich würden ihre Fingerspitzen ihr Ziel erreichen und dann brauchte es nur noch einen kleinen Stoß ihrerseits, dann hatte sie gewonnen. Nur noch wenige Millimeter… Fassungslosigkeit war nicht das passende Wort, um ihren Gesichtsausdruck zu beschreiben, als ihre ausgestreckte Hand ins Leere glitt. Pures Entsetzen breitete sich in ihrem tiefsten Inneren aus, als ihr Verstand eine gefühlte Ewigkeit nicht begreifen konnte, was gerade passiert war. Dabei handelte es sich in der Realität gerade einmal um eine verdammte Sekunde, die sich unaufhaltbar in die Länge zog. Ihr Blick huschte in seine Richtung und richtete sich schlagartig auf seine linke Hand, die den Boden berührte. Mit durchgedrücktem Arm stützte er sich auf der grasbedeckten Erde ab und es war allein dieser eine Arm, der seinen gesamten Körper in der Luft hielt. Die dazugehörige Schulter war leicht zur Seite geneigt. Scheinbar hatte er den Halt am Boden dazu genutzt, um sich im allerletzten Moment noch ein Stück weit zur Seite wegzuziehen. Es handelte sich nur um wenige Zentimeter, aber es hatte seinen Dienst getan. Carinas Hand glitt knapp an seinem Körper vorbei, verfehlte ihr Ziel. Ihre einzige Chance auf einen Sieg löste sich vom einen auf den anderen Moment komplett in Luft auf. Aber Cedric ließ es nicht dabei bewenden. Ehe Carina auch nur die Möglichkeit hatte zu blinzeln, verlagerte er sein gesamtes Gewicht weiter auf den stützenden Arm und ließ noch im gleichen Augenblick sein rechtes Bein nach vorne schnellen. Sein schwarzer, signifikanter Mantel bauschte sich leicht auf, als sein Knie sie hart und unerbittlich im Magen traf. Eine Mischung aus einem Ächzen und Keuchen entwich ihren Lippen, während die Schwerkraft ihren Körper wieder in die Richtung zurückriss, aus der sie gekommen war. Erneut schlug die 19-Jährige auf dem Boden auf, doch dieses Mal war keine von ihren nachfolgenden Reaktionen geschauspielert. Sie krümmte sich ganz automatisch zusammen, machte sich kleiner und versuchte verzweifelt, ihrer Sinne wieder Herr zu werden. Geschockt unternahm sie den Versuch wieder Sauerstoff in ihre Lunge zu bekommen, doch obwohl sie tief einatmete, kam nichts in besagtem Organ an. Am Rande registrierte sie, dass ihr Speichel den Mundwinkel hinabrann, aber es hätte ihr in dieser Situation nicht gleichgültiger sein können. Erst nach zweimaligem Luftschnappen strömte die lebensnotwendige Substanz endlich wieder zurück in ihren Körper und dann… ja, dann kam der Schmerz. Der Tritt war heftig gewesen und ohne Rücksicht – mit Sicherheit hatte er ihr mindestens eine Rippe gebrochen, denn jeder weitere Atemzug schmerzte wie die verdammte Hölle. Tränen schossen ihr in die Augenwinkel, blieben aber Gott sei Dank wo sie waren. Das hätte ihr gerade wirklich noch gefehlt, dass sie aufgrund von körperlichen Schmerzen anfing loszuheulen! Sie hatte mit allem gerechnet, wirklich mit allem – nur nicht damit, dass er es schaffen würde auszuweichen. Hatte sie ihm nicht vorhin noch selbst gesagt, dass er sie nicht unterschätzen sollte? Das hatte sie nicht nur so aus Wut gesagt. Carina war schon immer der Meinung gewesen, dass ein grundlegender Fehler war seinen Gegner vorschnell zu beurteilen. Und jetzt hatte sie genau diesen Fehler selbst gemacht. Nicht, dass sie ihn selbst unterschätzt hatte – nein, lediglich seine enorme Geschwindigkeit. Ganz klar, sie war schnell gewesen… aber er war schneller! Schwer atmend stemmte sie sich auf ihre Knie und Ellbogen hoch und zuckte zusammen, als sie seine näherkommenden Schritte hörte. Unter Schmerzen richtete sie ihren Oberkörper leicht auf, ließ ihren Blick aber stur zu Boden gerichtet. Sie wollte nicht zu ihm aufsehen wie einen Hund, den man getreten hatte. Denn genau so würde sie aussehen, da machte sie sich keine Illusionen. Doch Cedric ließ ihr diesbezüglich keine Wahl. Die Spitze seiner Sense glitt mit der flachen Seite unter ihr Kinn und mit leichtem Druck zwang er ihren Kopf nach oben. Die Kälte der Klinge sorgte dafür, dass sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete und das wurde auch nicht besser, als sie seinem unterkühlten, ernsten Blick begegnete. Sie schluckte und war sich der Death Scythe an ihrer Kehle plötzlich unangenehm bewusst, als das Schneideblatt durch die Bewegung ihres Kehlkopfes gegen die dortige empfindliche Haut kratzte. Kurz flackerte ihr Blick unsicher zur Seite, doch dann besann sie sich. „Nein, ich werde jetzt nicht kneifen“, bestärkte sie sich gedanklich selbst und ließ ihre glasigen Pupillen wieder in seine Richtung gleiten, einen nun schon beinahe trotzigen Ausdruck im Gesicht. Der Bestatter zog die angespannte Stille noch eine halbe Minute in die Länge, ganz offensichtlich um Carina weiter zu verunsichern – was funktionierte – und er endlich zu sprechen begann, war seine Stimme neutral und fest. „Ich muss ehrlich zugeben, damit hatte ich nicht gerechnet. Oder eher, das hätte ich dir nicht zugetraut. Solch schmutzige Tricks zu benutzen.“ Carina presste ihre Lippen zu einer weißen Linie zusammen und brachte keinen einzigen Ton hervor. Sie hatte gewusst, dass ihn diese Aktion verletzen und gleichzeitig verärgern würde. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen warum. Claudia war eines nicht natürlichen Todes gestorben und er hatte sich damals ihrer Leiche angenommen. Der Anblick musste grauenhaft für ihn gewesen sein. Und auch Carina hatte er schon zweimal in einem ziemlich übel zugerichteten Zustand sehen müssen. Er liebte sie und das implizierte nun einmal auch, dass er sich um sie sorgte. Dieser Anblick von gerade eben, wie sie regungslos am Boden gelegen hatte und sich unter ihrem Kopf eine Blutlache ansammelte… das musste schrecklich gewesen sein. Und dieses Mal hatte er selbst diesen Zustand hervorgerufen. Carina hatte absichtlich mit seiner Sorge um sie gespielt. Sie wusste das und er wusste es ebenso. Das schlechte Gewissen drohte die Schnitterin zu ersticken, doch dafür war jetzt gerade keine Zeit. Jetzt musste sie zuerst das ernten, was sie gesät hatte! „Ich habe dich gewarnt, Carina“, sagte er und blickte auf sie herab, als wäre sie tatsächlich seine Feindin. „Ich habe dich gewarnt, dass das hier passieren wird, wenn du nicht aufgibst. Wenn du dir das Offensichtliche nicht eingestehst.“ „Das Offensichtliche?“ Carina runzelte irritiert die Stirn. Was meinte er? Dass er stärker war als sie? Das war nichts, was sie sich erst eingestehen musste, das war ihr von Anfang an klar gewesen. Was also meinte er bitteschön? „Du hast keine Ahnung, was ich meine, oder?“, las er ihren Gesichtsausdruck richtig und fuhr sogleich mit seiner Ansprache fort. „Ich spreche davon, dass es immer jemanden gibt, der stärker oder schneller oder einfach besser als man selbst ist. Es ist eine gute Charaktereigenschaft mutig zu sein und sich einem solchen jemand dennoch entgegenzustellen. Aber es ist unglaublich dumm, wenn man dann nicht einsehen kann, wann die Zeit gekommen ist besser aufzuhören. So etwas kann dich dein Leben kosten, Carina. Und das ist etwas, was ich unter allen Umständen verhindern will. Genau deswegen wollte ich das hier. Das hier ist nicht nur ein Kampf, sondern auch eine Lektion.“ Er seufzte tief. „Ich gebe dir eine letzte Chance, Carina. Gib auf und ich lasse es gut sein. Erkenne, dass es in unserer momentanen Situation einfach besser ist, wenn ich dich nicht einfach machen lasse, was du willst.“ Seine phosphoreszierenden Augen bohrten sich tief in die ihren und die Todesgöttin wusste, dass er keine Spielchen mit ihr spielte. Das hier war bitterer Ernst. Ihr Kinn begann leicht zu beben und sie spürte bereits diese ekelhafte Hitze in ihrem Hals, die sie immer kurz vor einem richtigen Heulkrampf bekam. „Oder lass es sein. Aber dann, und das schwöre ich dir, werde ich meine vorherigen Worte wahr machen und dich wirklich grün und blau schlagen. Und das ist keine leere Drohung.“ Carina hätte niemals gedacht, dass es eine Situation geben könnte, in der sie ihren Stolz so schnell herunterschlucken würde, doch genau das tat sie jetzt. „Ich gebe auf“, hauchte, nein, krächzte sie eher und noch im gleichen Augenblick begannen die Tränen aus ihren Augen zu fallen. Der Ausdruck in Cedrics Gesicht wurde auf der Stelle weicher und ohne zu zögern nahm er seine Death Scythe unter ihrem Kinn weg, sodass sie wieder freier atmen konnte. Carina wusste nicht, was in diesem Moment schlimmer wehtat. Die Wunden an ihrem Körper oder die unterschiedlichsten Gefühle, die jetzt auf sie eindrangen. Wahrscheinlich letzteres, aber auch hier war sie sich nicht sicher, welches Gefühl schlussendlich überwiegte. Die Scham? Oder doch eher die Wut? Der Silberhaarige sank vor ihr auf die Knie legte sanft eine Hand an ihre linke Wange, doch die Schnitterin drehte den Kopf zur Seite weg. Sie wollte jetzt nicht von ihm getröstet werden. Er sollte sie allein lassen! Sie hörte, wie er erneut leise seufzte. „Bist du wütend auf mich?“, fragte er beinahe vorsichtig nach, woraufhin sie nur stumm den Kopf schüttelte. „Nein, auf mich“, flüsterte sie schließlich nach ein paar weiteren Sekunden des Schweigens, schaute ihn dabei aber immer noch nicht an. „Wieso? Die Einsicht, dass man einen Kampf nicht gewinnen kann, ist keine Schwäche, Carina.“ Das Wort Schwäche ließ irgendeinen dünnen Geduldsfaden in ihrem Inneren reißen. Sie wandte ihm das Gesicht wieder zu, während jetzt noch mehr Tränen über ihre Wangen kullerten. „Ich hab die Schnauze voll davon, mich immer und immer wieder hilflos zu fühlen, jedes Mal aufs Neue. Jedes verfluchte Mal, wenn ich denke, dass ich stärker geworden bin und nicht mehr beschützt werden muss, passieren Dinge, die mir wieder deutlich vor Augen führen wie schwach ich eigentlich bin. Mein Selbstmord, die Campania, Alice‘ Tod, jetzt die Sache mit Samael… Es läuft immer wieder auf das Gleiche hinaus. Und ich bin es leid! Ich will mich verdammt nochmal nicht mehr schwach und hilflos fühlen, verstehst du das denn nicht?“ Ihre Stimme brach und als sie das Gesicht erneut von ihm abwenden wollte, ergriff er mit beiden Händen ihre Wangen und zwang sie mit sanftem Druck ihn weiterhin anzusehen. Mit seinen Daumen strich er ihr zärtlich die Tränen weg und als er den Mund wieder öffnete, betonte er jedes einzelne Wort. „Du bist nicht schwach, Carina“, sagte er und machte hinter jedem Wort eine kleine Kunstpause, um ihr die Bedeutung dahinter ganz klar aufzuzeigen. „Ich habe in meinem langen Leben gegen viele Todesgötter gekämpft. Und bei nur ganz wenigen habe ich so viel Potenzial gesehen, wie bei dir. Und lass dir gesagt sein, dass diese Personen allesamt wesentlich älter waren als du. Du stehst quasi noch ganz am Anfang und hast dennoch schon so viel erreicht. Das magst du momentan noch nicht so empfinden, aber es ist so.“ Sie schniefte einmal leise und ein leichtes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Außerdem gibt es im Leben immer wieder Momente, in denen man sich unglaublich hilflos und schwach fühlt; ganz unabhängig davon, wie stark man ist. Das hört nie ganz auf, glaub es mir. Selbst mir passiert das noch und ich würde mich jetzt nicht als schwach bezeichnen.“ „Du? Wieso solltest du dich so fühlen?“, murmelte Carina überrascht und blinzelte die letzten Tränen aus ihren Augenwinkeln. Cedric? Schwach und hilflos? Das passte so überhaupt nicht zusammen. „Das letzte Mal warst du daran schuld“, lächelte er schief und streichelte mit seinen Fingern sanft über ihre Wangen. „Dein Kampf gegen Crow, du erinnerst dich? Als ich gezwungen war nur zuzusehen und nicht zu dir konnte?“ Sie nickte zaghaft. „In diesem Augenblick hab ich mich genauso gefühlt. Ich konnte dir nicht helfen und der Gedanke daran, dich vielleicht zu verlieren, hat mich komplett wahnsinnig gemacht. Das war im Übrigen auch der Moment, wo ich mir endlich selbst eingestehen konnte, dass ich dich liebe.“ Die Augen der Blondinen weiteten sich überrascht. Das hatte sie nicht gewusst. „Ängste gehören nun einmal zum Leben dazu, so funktioniert das ganze Spiel“, grinste er und Carina musste schwer an sich halten, um nicht mit den Augen zu rollen. Das Leben als eine Art Spiel zu bezeichnen war etwas, was so verrückt, unpassend und dennoch passend zugleich war, dass es auch nur vom Undertaker kommen konnte. Aber irgendwie hatte er mit allem, was er gesagt hatte, Recht und das war einfach etwas, was sie anerkennen musste. „Ich verstehe“, antwortete sie daher, denn das tat sie wirklich. Und diese Erkenntnis musste Cedric ihr angesehen haben, denn jetzt lächelte er sie zufrieden an. Aber da gab es noch etwas, was sie ihm unbedingt sagen musste. „Es tut mir leid, dass ich dir vorhin Angst gemacht habe“, sagte sie mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme und jetzt lachte der Bestatter kurz auf. Ein tiefes Lachen. Er beugte sich leicht vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Schon in Ordnung“, erwiderte er und ließ ihre Wangen langsam los. „Es hat funktioniert, oder etwa nicht? Du hast meinen Schwachpunkt erkannt und bist über deinen eigenen Schatten gesprungen, um das gegen mich zu verwenden. Zwei Dinge, die auch in allen anderen Kämpfen von Vorteil sein werden, die noch auf dich zukommen könnten.“ „Wenn du es so sagst, dann hört es sich nicht ganz so schrecklich an“, meinte sie und grinste schief. Obwohl sie den Kampf verloren hatte, fühlte sie sich seltsamerweise zufrieden. Der Todesgott wusste einfach, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste. „Lass uns das wiederholen“, sagte sie plötzlich und schaute Cedric direkt an, der fragend eine seiner schmalen Augenbrauen hob. „Lass uns von jetzt an öfter gegeneinander kämpfen. Ich möchte noch viel, viel stärker werden.“ „Bist du dir da sicher? Ich werde dich auch in Zukunft nicht mit Samthandschuhen anfassen, so viel muss dir klar sein.“ Das Grinsen auf ihren Lippen wurde eine Spur breiter, gewitzter. „Ich würde es auch gar nicht anders wollen.“ „Wow, die Kleine ist ja wirklich süß“, meinte Ronald und schaute fasziniert in die Wiege, in der Lily friedlich vor sich hin schlummerte. „Natürlich ist sie das, sie ist ja auch meine Patentochter.“ Zweifelnd sah der junge Mann den rothaarigen Reaper an. „Ich glaube kaum, dass das daran liegt“, antwortete er und wartete in weiser Voraussicht nicht einmal die Antwort seines Kollegen ab, bevor er das Kinderzimmer wieder verließ. Grell kam ihm allerdings schleunigst hinterher. „Du bist immer noch genauso frech, wie damals auf der Campania“, sagte er beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich kann verstehen, warum Carina nie so wirklich wusste, was sie von dir denken sollte.“ „Hey, das ist nicht fair“, brummte Ronald, setzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch im vorderen Teil des Ladens und legte seine Füße übereinandergeschlagen hoch. „In unserer Ausbildung musste ich mich mit Carina messen und ich bin immer noch der Meinung, dass das für uns beide eine Motivationshilfe war.“ „Ja, das ist wohl wahr“, stimmte Grell ihm zu. Wie oft hatte Carina sich bei ihrem gemeinsamen Training darüber ausgelassen, dass sie es Ronald mal so richtig zeigen wollte und wie stolz war sie auf sich selbst gewesen, als sie es dann endlich getan hatte? „Außerdem sagen Taten doch wohl mehr als Worte. Ich hab euch alle nicht verpfiffen und bin gerade hier, um auf ihre Tochter aufzupassen. Was sagt dir das?“, grinste er und jetzt musste auch der Rotschopf grinsen. „Nun gut, Grünschnabel, ich nehme alles zurück“, gab er sich geschlagen und hob verteidigend beide Hände. Jetzt verzog der junge Todesgott beleidigt das Gesicht. „Warum nennen mich eigentlich immer alle Grünschnabel?“, maulte er und verschränkte nun seinerseits die Arme vor der Brust. „Erst der Deserteur, jetzt du. Zu Carina habt ihr sowas bestimmt noch nie gesagt.“ „Weil Carina kein Grünschnabel ist“, zwinkerte der ältere Shinigami amüsiert und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, als Ronald genervt aufstöhnte. Ihre Rumalbereien wurden allerdings abrupt unterbrochen, als die Türklingel einen Besucher ankündigte. Ronald verstummte sofort und Grell seufzte leise. Was verstanden manche Menschen an einem „Geschlossen“ Schild eigentlich nicht? „Entschuldigung, aber wir haben ge-“, begann er und drehte sich halb rum, erstarrte aber noch im gleichen Moment zur Salzsäule. Während sein Magen hinab sackte, schnellte sein Puls in die Höhe und eine Kälte ergriff Besitz von seinem Herzen, als stünde er plötzlich am Nordpol. Für einen kurzen Moment wusste er nicht, was er sagen sollte, aber sein Mund wusste es scheinbar sehr genau. „W-William“, stotterte er und schaute seinen Vorgesetzten voller Entsetzen an, unfähig auch nur ein weiteres Wort zu sagen. „Mr. Spears“, hörte er Ronald hinter sich leise stammeln und das machte die momentane Situation für ihn nur noch realer. „Scheiße, das darf nicht wahr sein…“ William starrte seine beiden Untergebenen quasi nieder und war so zornig, dass seine rechte Hand gefährlich zitterte, als er sich damit die Brille zu Recht rückte. „Sutcliff! Knox!“, sagte er ruhig, aber das beruhigte die beiden Todesgötter kein Stück. Sie wussten beide, dass der Schwarzhaarige vor Wut kochte. Und das wurde bereits im nächsten Augenblick sehr deutlich, als der Ranghöhere zu toben begann. „Was zur Hölle machen Sie beide hier?“ Grell zuckte aufgrund der lauten und scharfen Stimme zusammen. So hatte er William noch nie erlebt. „Ähm, wir können das erklären“, kam von Ronald der wohl dümmste Satz, den man in solch einer Situation sagen konnte. „Nicht wahr, Kollege?“ Hilfesuchend sah er Grell an, doch dieser war immer noch viel zu schockiert über die plötzliche Entwicklung der Ereignisse. William ignorierte Ronald, denn sein Blick war allein auf Grell gerichtet. Dieser erwiderte seinen Blick, wenn auch unbehaglich. Früher war es der Traum seiner schlaflosen Nächte gewesen, dass er und William sich einmal so tief in die Augen sahen. Jetzt wünschte er sich einfach nur noch, dass William den Blick von ihm abwenden würde. „Oder dass er mich nicht umbringen wird, wenn das Ganze hier vorbei ist.“ „Sutcliff“, begann der Beamte ein weiteres Mal, nun mit einer klaren Drohung in der Stimme. „Wenn es jemals einen perfekten Zeitpunkt für Sie gäbe, um ausnahmsweise in meiner Nähe den Mund öffnen zu dürfen, dann ist dieser jetzt gekommen. Reden Sie und zwar auf der Stelle.“ „William, ich-“ „Auf der Stelle, hören Sie nicht?“, brüllte der Aufsichtsbeamte und dann passierte etwas, was alle drei Männer auf der Stelle innehalten ließ. Ein protestierendes, leises Weinen aus dem oberen Stockwerk drang an ihre Ohren. Grell hätte am liebsten mitgeweint. „Sutcliff“, grollte der Schwarzhaarige erneut und Angesprochener konnte gar nicht so schnell schauen, da war William bereits halb an ihm vorbei. Doch genau an dieser Stelle kam der Reaper wieder zur Besinnung. Sein Beschützerinstinkt setzte so plötzlich ein, dass er noch in der gleichen Sekunde herumwirbelte und seinem Vorgesetzten eilig die Treppe hinauffolgte. Auf keinen Fall würde er es zulassen, dass er Lily erreichte und wenn er sich dafür mit ihm prügeln musste! Nicht, dass er sich diesbezüglich großartige Sorgen zu machen brauchte. Grell war sich darüber im Klaren, dass er stärker war als William. Es stimmte, zumeist war er derjenige, der von dem strengen Shinigami eins übergebraten bekam, aber er hatte sich ja auch niemals ernsthaft dagegen gewehrt. Trotzdem würde er diese Art von Gewalt in Zusammenhang mit dem Mann, in den er verliebt war, dann doch lieber vermeiden. „William, bleib sofort stehen“, rief er, doch natürlich hörte sein Schwarm ihm nicht zu. Moment war dieser nämlich viel zu schockiert darüber, dass er gerade an der Türschwelle zu einem Kinderzimmer stand und von weitem in eine Wiege schaute, in der ein Baby lag und wegen der abrupten Lautstärke im Haus weinte. „Was zum Teufel…“, murmelte der Beamte fassungslos und setzte einen einzigen Schritt in den Raum hinein. Weiter sollte er jedoch niemals kommen. Ein Luftzug wehte vor ihm durch das Zimmer und im nächsten Augenblick lief ihm ein eiskalter Schauer die komplette Wirbelsäule hinunter, als er plötzlich eine ebenso kalte und vor allem scharfe Klinge direkt an seiner Kehle spürte. Ohne den Kopf auch nur um einen Millimeter zu senken, richtete William seinen Blick nach unten und konnte für einen Moment nicht fassen, was er da sah. Seine gelbgrünen Augen weiteten sich schockiert, als er die junge Frau erkannte, die wie aus heiterem Himmel plötzlich vor ihm hockte und ein Katana direkt an seinen Hals gepresst hielt. Sie starrte ihn ebenfalls an und ihr Blick war hart wie Stahl. Und als Carina endlich zu sprechen begann, durchschnitt ihre Stimme genauso hart die schwere Stille. „Einen weiteren Schritt in Richtung meiner Tochter und ich schneide Ihnen die Kehle durch!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)