Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 66: Folter ------------------ Deine Vorfahrin. Ein Traum. Das musste ein Traum sein. Denn all das konnte gerade nicht wirklich passieren! Das alles war einfach schier unmöglich! Deine Vorfahrin. Elizabeth Midford, die Verlobte von Ciel Phantomhive, konnte einfach nicht ihre… ja, was? Urururgroßmutter sein? Gut, von der zeitlichen Perspektive konnte es hinkommen, aber… Nein, sie und ihre Eltern kamen immerhin aus Deutschland. Und ihre Großeltern ebenfalls. Allerdings… wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nie in Erfahrung gebracht, ob sie nicht auch noch andere Wurzeln hatte. Ihre Urgroßeltern waren zum Zeitpunkt ihrer Geburt schon lange tot gewesen und sie hatte auch nie nach ihnen gefragt. Oder sich ihren Stammbaum angesehen. „Was, wenn es stimmt? Was, wenn es kein Zufall ist, dass meine Mutter Claudia heißt?“ Wenn die Eltern ihrer Mutter in den Stammbaum geschaut und ihnen der Name einer ihrer Ahninnen gut gefallen hatte, was dann? Ihr erster klarer Gedanke war: „Was, wenn ich mit Cedric verwandt bin?“ Doch dann fielen ihr schlagartig wieder Grells Worte ein. „Ist das zweite Kind von Claudia auch von ihm?“ „Nein. Francis Midford, geborene Phantomhive, ist die Tochter von Claudia Phantomhive und ihrem Ehemann Edward. Sie ist mit Alexis Leon Midford verheiratet und hat mit ihm zwei Kinder, Edward und Elizabeth Midford.“ Ein riesiger Stein fiel ihr vom Herzen. Außerdem hatte Mr. Crow gesagt, dass sie nicht in gerader Linie mit Ciel verwandt war. Bedeutete das etwa, dass Elizabeth keine Kinder mit ihm bekommen würde? Dass sie jemand anderen heiraten würde? „An ihrer Liebe wird es wohl kaum gelegen haben. Jeder, der Augen im Kopf hatte, merkt doch, dass sie Ciel mit Leib und Seele verfallen ist. Möglicherweise, weil Sebastian seine Seele genommen hat?“ Doch all diese Fragen waren gerade komplett unnötig, sie konnten eh nicht beantwortet werden. Allerdings wurde Carina bei ihrem zweiten klaren Gedanken erneut furchtbar schlecht. „Wenn Elizabeth meine Vorfahrin ist, dann ist sie es auch. Claudia Phantomhive.“ Streng genommen floss in ihren Adern also das Blut der Familie Phantomhive, wenn auch nicht vom Namen her. Allein bei dem bloßen Gedanken sträubten sich ihr alle Nackenhaare vor Abscheu. Sie wollte das nicht! Von Anfang an hatte sie keine Sympathie für diese Familie aufbringen können und das hatte sich in all den Jahren, die sie nun schon hier war, auch nicht geändert. „Wenn Cedric das jemals erfahren sollte…“ Ablehnung sammelte sich in ihrer Brust. Das dürfte niemals passieren. Wahrscheinlich würde er sich noch dazu verpflichtet fühlen sich um sie zu kümmern, weil sie die Nachfahrin seiner großen Liebe war. Wenn er sie nicht liebte, schön! Das war an und für sich schon schlimm genug. Aber dann sollte er auch komplett aus ihrem Leben verschwinden. Alles andere würde sie einfach nicht ertragen. „Ich habe mir die Freiheit genommen die Kleine mitzunehmen, um mit einer finalen Blutprobe das Ganze zu bestätigen. Und tatsächlich, es lässt sich nicht leugnen. Wer weiß, wofür das noch gut ist?“, begann Mr. Crow und ging an ihr vorbei, um die bewusstlose Adelige an die Wand zu lehnen und mit Hand- und Fußfesseln einzukleiden. „Deinen Untergang“, dachte Carina, als ihr klar wurde, dass der Todesgott hinter ihr keine Ahnung hatte, dass der Butler der Phantomhives ein Dämon war. Dass er keine Ahnung hatte, was er mit dieser Aktion entfesselt hatte. Wenn sie Glück hatte, dann würden Ciel und Sebastian sie noch vor Grell finden. Ihr war es ziemlich gleichgültig, wer dieses Mistkerl schlussendlich umbrachte, Hauptsache, es tat endlich jemand! „So“, sagte er hinter ihr und Carina zuckte zusammen, als etwas Kaltes langsam an ihrer Wange entlangfuhr und eine Gänsehaut auf ihrem ganzen Gesicht hinterließ. Die Spitze seiner Death Scythe. Die Schnitterin konnte ihn nicht sehen, aber sie hörte das Grinsen aus seiner Stimme heraus, als er weitersprach. „Wollen wir anfangen?“ Und dann war es nicht länger nur eine Gänsehaut, die ihre Haut hinablief. „Also, was machen wir jetzt?“, fragte Grell und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen an den Wohnzimmertisch. Alice tat es ihm gleich, während der Bestatter in der Mitte des Raumes stehen blieb. Immer noch schwirrten ihm abertausende Gedanken durch den Kopf, doch dafür war später noch Zeit. Jetzt musste er sich darauf konzentrieren die Mutter seiner Tochter zu finden. „Gibt es außer der Energiesignatur noch andere Hinweise, die der Entführer zurückgelassen hat?“ „Nein, leider nicht“, seufzte Grell. „Ich habe bereits versucht die Spur wieder aufzunehmen, aber dieser Mistkerl hat sich scheinbar noch an Ort und Stelle teleportiert. Du gehörst nicht zufällig zu den Shinigami, die auch solche Fährten verfolgen können?“ „Doch“, erwiderte Cedric. „Aber das ist nicht mein Spezialgebiet. Als ich damals Carina in Baden-Baden gefunden habe, war ihre Spur gerade erst entstanden. Diese hier ist bereits ein paar Stunden alt. Hätten wir einen Experten dabei, dann würde es vielleicht funktionieren, aber so ist es schwierig bis geradezu unmöglich seine Energiesignatur wiederzufinden.“ „Verfluchte Scheiße“, murmelte Grell und raufte sich unbewusst die Haare. „Fangen wir doch erst einmal mit dem an, was wir über den Täter wissen“, begann Alice und zählte die nachfolgenden Punkte an einer Hand ab. „Er ist ein Shinigami. Er besitzt als Death Scythe ein Rapier. Er ist oder war mal ein Seelensammler. Sonst noch etwas?“ „Aus irgendwelchen Gründen hat er damals Carina nicht an den Dispatch verraten, als er sie im Western College gefunden hatte“, sagte der Silberhaarige und schritt nachdenklich durch das Wohnzimmer. „Was bedeutet, dass er seine eigenen Ziele verfolgt.“ „Heißt, wir können den Dispatch von unserer Suchliste streichen“, bemerkte Grell und verdrehte die Augen. „Großartig, bleibt ja nur noch der ganze, restliche Planet übrig.“ „Ich glaube nicht, dass er sich bereits allzu weit entfernt hat“, erwiderte Cedric, dessen Augen gerade an einen Fotoalbum hängen geblieben waren, das zugeklappt auf einem kleinen Tischchen neben der Couch lag. „Es wäre selbst für einen Shinigami zu auffällig, mit einer bewusstlosen Person zu lange herumzulaufen. Außerdem wurde Carina doch gesucht, oder? Wenn ihn jemand zufällig mit einer vermissten Schnitterin sähe, würde das mit ziemlicher Sicherheit für Aufruhr sorgen und das kann sich jemand nicht leisten, der gegen den Dispatch handelt.“ „Na, du musst es ja wissen“, nuschelte Grell und schaute zu Alice, als sich diese wieder einmischte. „Gut, aber dann könnte es theoretisch immer noch jeder Ort in ganz England sein. Wie sollen wir sie jemals finden? Wie sollen wir sie jemals rechtzeitig finden?“ Mittlerweile hatte der ehemalige Schnitter das Buch aufgeklappt und konnte sich nur schwer ein erneutes Luftschnappen verkneifen. Direkt auf der ersten Seite befand sich ein Foto von Carina, die grinsend in die Kamera schaute. Sie hatte sich demjenigen, der das Bild gemacht hatte, nur halb zugewandt und doch konnte man eindeutig erkennen, dass sie schwanger war. Das musste aufgenommen worden sein, kurz nachdem sie in diese Hütte gekommen war. Emotionen fluteten seine Sinne und es wurde nicht besser, als er weiterblätterte. Die Fotos auf den nächsten Seiten zeigten die 19-Jährige in verschiedenen Alltagssituationen. Mit einem Korb Wäsche in der Hand, mit Alice in der Küche, auf der Couch mit einem Buch und einer Decke über den Beinen… Und von Bild zu Bild wurde ihr Bauch immer runder und runder. Auf den letzten Aufnahmen war sie bereits hochschwanger und schien gerade damit beschäftigt gewesen zu sein diese seltsamen Klamotten für das Baby zu stricken oder die letzten Änderungen am Kinderzimmer vorzunehmen. Und oft lag ihre Hand dabei auf der runden Kugel, eine beinahe schon schützende Geste. Erneut traf ihn der Gedanke, dass er nun mit Carina ein Kind hatte, wie ein Schlag ins Gesicht. Mit dieser jungen Frau, die Hals über Kopf in sein Leben getreten war, und die er jetzt einfach nicht mehr aus dem Kopf bekam. Das letzte Foto zeigte Carina liegend auf einem Bett. Das Neugeborene lag blutverschmiert auf ihrer Brust und die Blondine hatte schützend ihre Arme um es gelegt. Ihr Gesicht war gerötet, die Haare nass und verschwitzt, Tränen liefen ihr über die Wangen. Aber trotzdem war da ein Strahlen in ihrem Gesicht, das heller war als die Sonne. Das Lächeln auf ihrem Gesicht war so voller Glückseligkeit, Cedric konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so lächeln gesehen zu haben. Nicht einmal in den Zeiten, als sie bei ihm im Weston College gewesen war. Alice und Grell hatten ihn stillschweigend beobachtet und beschlossen ihm die Zeit zu geben, die er brauchte. Auch für einen Todesgott war das hier eine ganze Menge an Dingen, die es zu verarbeiten galt. Und insgeheim freute sich Grell, dass seine Idee mit dem Fotoalbum bereits jetzt zu einem gewissen Erfolg führte. Dennoch, Carina würde das nach ihrer Rückkehr sicherlich anders sehen… Plötzliche Schritte rissen die drei Shinigami abrupt aus ihren Gedanken. Bevor auch nur einer von ihnen die Möglichkeit hatte sich zu rühren, krachte die hölzerne Tür bereits mit einem donnernden Geräusch auf. Grell und Alice sprangen erschrocken auf, während der Bestatter herumgewirbelt war. Im ersten Moment traute er seinen Augen kaum. „Nicht auch das noch“, schoss es ihm durch den Kopf. Heute ging aber auch einfach alles schief. Man konnte nicht wirklich sagen, wer von den anwesenden Personen die heftigste Reaktion zeigte. Grell mit seinem aufgeklappten Mund? Alice mit ihren aufgerissenen Augen? Undertaker, der sich ungläubig die Haare aus dem Gesicht strich? Oder Ciel und Sebastian, die im Türrahmen standen und alle Todesgötter im Raum anstarrten, als verstünden sie die Welt nicht mehr? Erstaunlicherweise fasste sich Ciel als Erster wieder und trat einen Schritt vor, direkt in die Hütte hinein. „Undertaker“, rief er, blanker Zorn verzerrte seine aristokratischen Züge. „Wo ist Lizzy?“ „Wie bitte?“, antwortete Angesprochener verwirrt und vergaß ganz seine spielerische Tonlage und das langgezogene „Earl~“, das er sonst immer parat hatte. Sebastian trat schützend neben seinen Herrn und lächelte dieses tückische Lächeln, das Cedric nicht ausstehen konnte. „Lady Elizabeth wurde heute Morgen während eines Spaziergangs vor den Augen ihrer Zofe entführt. Ich konnte die Spur bis hierhin zurückverfolgen. Und was finden wir? Eine Hütte, voll mit Shinigami.“ Die Augen des Bestatters weiteten sich leicht. Elizabeth Midford war ebenfalls entführt worden? „Wir haben nichts mit der Entführung der Kleinen zu tun, Sebas-chan“, mischte sich Grell nun ein und wirkte zum ersten Mal halbwegs normal in der Gegenwart des Dämons. Wahrscheinlich, weil er gerade einfach andere Probleme und Sorgen hatte. „Ach?“, erwiderte dieser trocken und schaute Grell kalt an. „Ich habe mich ausführlich mit der Zofe unterhalten und sie konnte mir den Täter ziemlich genau beschreiben. Schwarze, kurze Haare und auffällige grüne Augen, die irgendwie komisch aussahen. Wie hatte sie es noch einmal ausgedrückt? Ach ja. Unmenschlich.“ Grell blinzelte baff. Er traute sich kaum die nächste Frage zu stellen. „Hatte dieser Jemand zufällig einen langen, schwarzen Mantel an und trug anthrazitfarbene Handschuhe?“ „Ihr wisst also doch, wer es war“, rief Ciel aus und sah in diesem Moment trotz seiner geringen Körpergröße bedrohlich aus. Grell und Alice stöhnten synchron auf, während der Undertaker nur stumm das Fotoalbum zuklappte. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, stöhnte Grell ein weiteres Mal. „Erst Carina und jetzt diese Kleine von der Campania? Entweder hat der Typ ein Faible für Blondinen oder da steckt etwas anderes dahinter. Zufall ist das garantiert nicht.“ „Wovon sprecht ihr?“, fragten Sebastian und Ciel gleichzeitig, während Letzterer noch schnell hinzufügte: „Und was machst du hier überhaupt, Undertaker? Ich dachte die Shinigami würden dich jagen und nicht mit dir zusammenarbeiten.“ „Das ist eine lange Geschichte, Earl“, grinste der Silberhaarige, obwohl ihm danach gar nicht zumute war. „Was Rotkäppchen zu sagen versucht hat, ist, dass heute Morgen außer Eurer Verlobten noch jemand entführt wurde. Die blonde Shinigami von der Campania, Ihr erinnert Euch vielleicht.“ Ciel sah seinen Butler an. „Das Mädchen, das wir auch im Bestattungsinstitut angetroffen haben? Diejenige, der ich die Medaillons gegeben habe?“ Sebastian nickte und sein Blick huschte automatisch zu der Hüfte des Undertakers, an der sich mittlerweile wieder die goldene Kette samt den Anhängern befand. „Die anscheinend den Weg zurück zu ihrem Besitzer gefunden haben“, sagte er misstrauisch und versuchte scheinbar sich selbst einen Reim auf die Sache zu machen. Der Totengräber hatte nicht das geringste Interesse ihm dabei zu helfen. Viel mehr war er gerade darüber verwundert, dass Carina noch einmal in seinem Bestattungsinstitut gewesen war. Sie hatte ihm zwar gesagt, dass sie zufällig auf Ciel Phantomhive getroffen war und er ihr die Medaillons gegeben hatte, aber den Ort hatte sie dabei mit keinem Wort erwähnt. „Wie so vieles andere auch nicht…“ Plötzlich grinste der Butler und zeigte dabei seine spitzen Eckzähne. „Sie müsste das Kind mittlerweile ausgetragen haben, nicht?“ Er wandte sich an Grell. „Und? Wie macht sich die Shinigamibrut?“ „Pass auf, was du sagst“, zischte Alice und sah aus, als würde sie jeden Moment auf den Dämon losgehen. Sebastians Blick wanderte durch den Raum und blieb an der geschlossenen Tür zum Kinderzimmer hängen. Mit Erschrecken fiel Grell ein, dass er als Dämon eine Seele – und mochte sie noch so klein sein – spüren konnte. Der Frackträger trat einen Schritt vor in Richtung der Tür. Grell öffnete den Mund, doch Cedric war schneller. Innerhalb eines Wimpernschlages stand er vor der Tür, seine Augen gefährlich verengt, die Hand unter seinem Umhang am Griff seiner Sense. Sebastian blieb sofort stehen und Ciel überlief eine Gänsehaut. So ernst hatte er den Undertaker noch nie gesehen. Der Teufel hingegen schien nun eins und eins zusammenzählen zu können. „Ach?“, begann er und lächelte spöttisch. „Ist es etwa deins?“ „Geh noch einen Schritt weiter und ich fange da an, wo ich auf der Campania aufgehört habe, Butler“, antwortete der Silberhaarige kühl. „Also ja“, sagte Sebastian und war kurz davor es darauf ankommen zu lassen. „Sebastian“, meinte Ciel scharf und mit einem unmissverständlichen Befehlston. Sofort zog sich der Butler wieder an die Seite seines Herren zurück. „Mich interessiert es nicht, was ihr verfluchten Shinigami hier treibt. Ich will nur wissen, wo Lizzy ist.“ „Und wir wollen nur Carina finden“, blaffte Grell den Jungen an. „Scheint also, als hätten wir das gleiche Ziel“, gab der Bestatter zu bedenken und für einen Moment herrschte ein unangenehmes Schweigen. Ciel dachte nach. Nach 2 Minuten Stille sagte er schließlich: „Nur so lange, und ich wiederhole, nur so lange bis wir die Beiden wiedergefunden haben, werde ich mit euch zusammenarbeiten. Und keine Sekunde länger.“ „Wunderbar“, erwiderte Cedric und klatschte in die Hände, während Sebastian im Gegenzug alles andere als begeistert aussah. „Und jetzt zu etwas, was ich schon die ganze Zeit fragen wollte.“ Er wandte sich an besagten Butler. „Was meintest du gerade eben damit, als du sagtest du konntest die Spur bis hierhin zurückverfolgen?“ Jeder Atemzug, der ihren Körper verließ, schmerzte wie die Hölle. Ihr Entführer hatte den Raum vor über einer Stunde verlassen – wahrscheinlich, um sich das Blut vom Hemd zu waschen oder auch, um sich direkt umzuziehen – und dennoch war ihr ganzer Körper derart verkrampft, als würde er sich immer noch im Raum befinden. Carina hatte befürchtet, dass er als allererstes versuchen würde sie physisch zu brechen. Und sie hatte Recht behalten. Der Shinigami hatte sie geschlagen, sie mit seiner Death Scythe geschnitten, ihr Knochen im Körper gebrochen, von denen sie noch nicht einmal wusste, wie leicht sie brechen konnten. Auf ihren Armen und Beinen konnte man überall schmale, blutende Schnitte sehen, die dunkelblauen Ärmel des Kleides hatten sich an besagten Stellen wegen ihres Blutes noch dunkler gefärbt. Ihre Lippe und auch die Haut an ihrem Wangenknochen waren aufgeplatzt, als er ihr ohne Rücksicht auf Verluste ins Gesicht geschlagen hatte. Sicherlich bildete sich bereits ein Veilchen unter ihrem rechten Auge. Anschließend hatte er sie an den Haaren gepackt, bis sich ihre Kopfhaut angefühlt hatte, als würde sie in Flammen stehen. Und dennoch… Trotz der Tränen, die ihr vor Schmerz in den Augen standen. Trotz ihrer rasselnden Atemzüge. Trotz ihres blutigen Körpers, der vor Angst leicht zitterte. Trotz alldem wusste Carina, dass er durch solche Aktionen niemals ihren Geist, geschweige denn ihren Willen brechen würde. Dafür hatte sie in den letzten 3 Jahren einfach schon zu viele körperliche Schmerzen durchgestanden. Und er wusste das auch. Ihre Hand- und Fußgelenke waren von ihren Versuchen sich davon zu befreien komplett wund gescheuert und brannten bei der kleinsten Bewegung. Aber sie konnte doch nicht einfach hier liegen bleiben und darauf warten, dass er wiederkam. Sie musste doch irgendetwas unternehmen. „Wenn ich doch wenigstens an meine Death Scythe herankäme“, dachte sie und starrte sehnsüchtig zu ihrem Katana hinüber, das nach wie vor außerhalb ihrer Reichweite stand. Plötzlich jedoch erweckte ein Geräusch hinter ihr ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie drehte ihren Kopf nach links und konnte sehen, wie sich das junge Mädchen langsam regte und das Bewusstsein wiedererlangte. Ihre jadegrünen Augen öffneten sich flatternd und stöhnend hielt sie sich den Kopf. Wut regte sich in Carina. Elizabeth war doch gerade einmal 15 Jahre alt, noch ein Kind. Wie konnte dieser Mistkerl es wagen sie einfach so zu entführen und ihr dabei auch noch wehzutun? Die Kleine war doch komplett unschuldig. Die Midford schien sich mittlerweile wieder daran erinnert zu haben was passiert war, denn ihre Augen weiteten sich panisch und aus reinem Reflex zerrte sie an den schweren Ketten. „Das bringt nichts“, sagte Carina und sah dabei zu, wie der Kopf der Adeligen erschrocken hochfuhr und sie ansah, wie sie da so schräg vor ihr auf einer Liege lag, ebenfalls gefesselt. Anscheinend erkannte sie sie wieder. „Du… du bist doch diese Frau von der Campania“, murmelte sie und drängte sich tiefer in die Zimmerecke. „Schlau erkannt, Verlobte des Wachhundes der Königin“, bedachte sie sie mit dem Spitznamen, den sie ihr auf der Campania gegeben hatte. „Und um deine unausgesprochene Frage zu beantworten: Nein, ich habe nichts mit deiner Entführung zu tun. Ich stecke in der gleichen Klemme wie du.“ Erst jetzt bemerkte Elizabeth die blutigen Wunden auf dem Körper der Frau. Sie zog scharf die Luft ein. „Wer hat Ihnen das angetan?“, flüsterte sie schockiert und voller Angst, dass ihr das Gleiche blühen könnte. „Jemand, der uns vermutlich umbringen wird, wenn wir nicht schleunigst einen Weg hier rausfinden. Und lass bitte das alberne Gesieze. Mein Name ist Carina.“ „Wo sind wir hier? Und vor allem warum sind wir hier?“ Die 19-Jährige zuckte mit den Schultern. „Ersteres weiß ich leider selbst nicht und die zweite Frage kann ich dir nicht beantworten. Das sollte dein Verlobter übernehmen.“ Dann musste sie selbst sich zumindest keine große Ausrede einfallen lassen. „Ciel“, fiel es der Fechtkünstlerin mit einem Mal ein und das Herz sprang ihr beinahe aus der Brust. „Er macht sich bestimmt bereits furchtbare Sorgen.“ „Gewiss. Und ich bin mir sicher, er wird uns früher oder später finden“, entgegnete Carina hoffnungsvoll, wobei es ihr natürlich noch lieber wäre, wenn dies Grell noch vorher gelang. Elizabeth wusste nicht genau wieso, aber irgendwie vertraute sie den Worten dieser Fremden. „Er wird kommen. Ganz bestimmt“, murmelte sie leise. Ihr Ciel würde sie niemals im Stich lassen. Beide Frauen zuckten am ganzen Körper zusammen, als im nächsten Moment die massive Tür aufschwang und ihr gemeinsamer Entführer wieder den Raum betrat. Ganz wie Carina es vermutet hatte, hatte er sich tatsächlich ein frisches Hemd angezogen und trug ausnahmsweise einmal keine Handschuhe. Sein Blick fiel sofort auf die Jüngere, die ängstlich in ihrer Ecke kauerte und ihn anstierte. „So, so. Ihr seid also endlich aufgewacht und beehrt uns mit Eurer Anwesenheit. Willkommen, Lady Midford. Leider kann ich Euch derzeit nichts Luxuriöseres anbieten, ich hoffe Ihr könnt mir dies verzeihen. Ich werde mich näher mit Euch befassen, sobald Carina mir das gegeben hat, was ich will.“ „Sie werden meinen Geist nicht brechen. Verprügeln Sie mich ruhig weiter, aber das wird Ihnen schlussendlich gar nichts bringen.“ „Stimmt“, antwortete er monoton. „Du gehörst scheinbar in die Kategorie, in der körperliche Schmerzen nicht zum Ziel führen. Eine kleine Kategorie, zugegeben, aber trotzdem vorhanden. Ich werde andere Saiten aufziehen müssen.“ Das war genau das, was Carina insgeheim befürchtet hatte. Was würde sich dieser kranke Bastard noch für Foltermethoden einfallen lassen, um an sein Ziel zu gelangen? Die Antwort sollte sie schneller bekommen, als ihr lieb war. Wie schon beim ersten Mal trat er näher an sie heran, was direkt zur Folge hatte, dass sich ihre Organe im Bauch vor Angst verkrampften. Hinter ihr hatte Elizabeth den Atem angehalten. „Kein Wunder“, dachte Carina. Das Mädchen würde wahrscheinlich gleich mit ansehen müssen, wie jemand gefoltert wurde. Was würde es dieses Mal sein? Gift? Feuer? Halluzinogene Drogen? Doch er holte nichts aus seinen Taschen und er griff auch nicht nach seiner Death Scythe. Stattdessen beugte er den Kopf weiter zu ihr herunter, sodass sein Schatten über sie fiel und sie gezwungen war ihn anzusehen. „Glaub mir, Carina“, hauchte er ihr ins Gesicht, „ich bin in den letzten Jahrhunderten wahrlich kreativ geworden, wenn es um das Brechen eines Geistes geht. Und dich bekomme ich auch geknackt, keine Frage.“ Und dann legte er seine Hand auf ihren Oberschenkel. Alles in Carina versteifte sich. Sie erstarrte vollkommen, ihre Organe krampften sich nicht länger zusammen, sondern schienen einfach gar nicht mehr vorhanden zu sein. Nur noch ihr Herz konnte sie spüren, weil es ihr überdeutlich bis in den Hals hinein schlug. Ihr wurde speiübel. Ihre Augen wanderten von seinem Gesicht langsam zu seiner Hand, die sich zwar noch um keinen Millimeter bewegt hatte, aber auf ihrer bloßen Haut brannte wie Feuer. Nein, das würde er nicht tun. So ein widerliches, abscheuliches Arschloch konnte nicht einmal er sein! Ein Schrei entfuhr ihr, als er fester zupackte und ihren Körper weiter nach unten zog, sodass ihre Knie jetzt leicht gebeugt waren. Gleichzeitig rutschte seine Hand ein ganzes Stück weiter nach oben, lag nun halb unter dem Saum ihres Kleides. Alle Farbe wich aus Carinas Gesicht. Automatisch kamen die Bilder wieder, die Erinnerungen an ihre Albträume, die sie so lange verfolgt hatten. Erneut war sie in dieser engen Gasse und die Männer drückten sie zu Boden, vergossen ihr Blut, weideten sich an ihren Schreien… „Nicht“, keuchte sie und gegen ihren Willen begann sie am ganzen Körper zu zittern. Das dürfte nicht passieren! Um diese Tat abzuwenden, hatte sie sich umgebracht, sich das Leben genommen. Das alles dürfte nicht umsonst gewesen sein! Erneut stemmte sie sich mit ihrer ganzen unsterblichen Kraft gegen die Fesseln. Ihr war es egal, wenn sie sich dabei die Arme brach, sie musste sich irgendwie gegen ihn zur Wehr setzen. Aber nach wie vor gaben die Ketten nicht nach. Blanke Panik breitete sich in ihr aus und sie konnte nur schwer ein Wimmern unterdrücken, als er provokant langsam den Saum ihres Kleides ergriff und den Stoff über ihre Oberschenkel hochschob. „Nein“, schrie Elizabeth, die mittlerweile ebenfalls begriffen hatte, was der fremde Mann vorhatte. „Lassen Sie sie in Ruhe.“ „Ich wusste doch, dass ich mit dieser Methode weiter komme“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Du bist zwar eigentlich nicht mein Typ, aber na ja, Opfer müssen gebracht werden.“ Carina schlug sich beinahe den Hinterkopf an ihrer Liege auf, als ihr Peiniger ihr im nächsten Moment zwischen die Beine griff. Seine Hand, seine Finger drängten sich gegen ihren Slip und nun schrie sie tatsächlich. Tränen schossen ihr unwillkürlich in die Augen und sie war ganz kurz davor nach Cedric zu rufen. Einzuknicken und den Mann über ihr anzuflehen sie nicht anzufassen. „Sei still“, zischte der Schwarzhaarige genervt und presste seine Lippen grob auf ihren Mund, während seine Hand fester zupackte. Sofort spürte die 19-Jährige den aufkommenden Brechreiz in ihrer Kehle. Doch neben der Angst und der Panik war da urplötzlich noch ein anderes Gefühl. Nämlich Wut. Dieses vermaledeite Arschloch wagte es doch tatsächlich sie zu küssen. Niemandem außer Cedric würde sie jemals erlauben das zu tun! Er wollte ihren Willen bezwingen? „Nein, das schaffst du nicht. Das lasse ich nicht zu“, dachte sie schäumend vor Wut und blinzelte gegen die Tränen an. „Ich gebe dir nicht das, was du willst, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“ Zornig fokussierte sie sich auf seinen Mund und biss mit aller Kraft, die sie noch zur Verfügung hatte, zu. Noch in derselben Sekunde schmeckte sie den metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund und mit einem schmerzhaften Aufschrei wich er von ihr zurück. Seine Unterlippe war aufgerissen und das Blut lief ihm bereits im nächsten Moment über das Kinn. Carina wusste, dass sie dafür büßen würde. Dennoch… Die Ohrfeige, die er ihr daraufhin verpasste, ließ ihren Kopf gegen die Liege krachen. Bunte Sternchen flackerten vor ihren geschlossenen Lidern und sie stöhnte benommen auf. Durch den dichten Nebel aus Schmerz bekam sie kaum mit, wie er einen Schlüssel hervorzog, ihre Ketten löste und sie an ihrem linken Oberarm von der Liege riss. Es dauerte keine drei Sekunden, da lag sie ebenfalls in der hinteren Ecke des Raumes an der Wand und wurde mit den gleichen Fesseln wie Elizabeth angekettet. „Was denn?“, ging es ihr benebelt durch den Kopf, „will er mich lieber hier auf dem Boden vögeln?“ Sie wagte es nicht die Frage laut zu stellen. In der anderen Ecke des Raumes konnte sie ihre Vorfahrin leise schluchzen hören, was ihr ein weiteres Mal ins Gedächtnis rief, dass die Person gegenüber von ihr zwar stark war, aber immer noch ein Kind. Carina schlug ihre Augen auf, diese funkelten ihrem Feind mutig entgegen. Wenn Elizabeth Midford, ein kleines Mädchen von 15 Jahren, es mit unzähligen der Bizarre Dolls aufnehmen konnte, dann sollte sie doch auch in der Lage sein ihre Angst hinten anzustellen. Er sollte verdammt noch mal die Entschlossenheit in ihrem Gesicht sehen. Sie konnte nicht sagen, ob es ihren Geist vollkommen brechen würde, wenn er sie vergewaltigte. Die Möglichkeit bestand. Aber das musste sie ihm nicht auf die Nase binden. Manchmal war der einzige Ausweg eben ein kleiner Bluff… „Miststück“, knurrte er und wischte sich das Blut vom Kinn. Er betrachtete ihr Gesicht und zu seinem eigenen Erstaunen sah er dort weder Furcht, noch Tränen. Nein, dieser Blick forderte ihn beinahe dazu heraus mit seiner Folter weiterzumachen, sie zu nehmen und anschließend festzustellen, dass es umsonst gewesen war. Der Shinigami musste ehrlich zugeben, dass sie es erneut geschafft hatte ihn zu überraschen. Damals, als sie gegen Ronald gewonnen hatte und jetzt schon wieder. Ein missbilligender Laut entfuhr seinen Lippen, es klang fast wie ein abfälliges Schnauben. Er wollte nicht noch länger warten, er wollte zurück in seine Zeit! Wenn er seine ehemalige Schülerin erst einmal gebrochen hatte und ihren Cinematic Record kopiert hatte, um diesen anschließend wie einen guten, alten Film zu entwickeln, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis er endlich die Antwort auf all seine Fragen in den Händen hielt. „Gut“, meinte er und in Carinas Ohren hörte es sich wie eine Drohung an. „Dann werde ich halt etwas anderes versuchen.“ Ihr ehemaliger Lehrer beugte sich tiefer zu ihr herunter. „Du wirst dir noch wünschen mich niemals so gereizt zu haben, Carina.“ Unendliche Erleichterung durchflutete sie, als er sich umdrehte und die Tür hinter sich mit einem lauten Krachen zufallen ließ. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr ganzer Körper bebte. Nur sehr langsam realisierte die Schnitterin, was ihr soeben beinahe passiert wäre. Und dann kamen sie endlich, die Tränen. Ein heiseres Schluchzen entfuhr ihrer Kehle und mit letzter Kraft zog sie ihren geschundenen Körper zu einer sitzenden Position an der Wand hoch, um anschließend ihre zitternden Arme um ihre Knie zu legen. „Keine Angst. Es wird alles gut“, flüsterte sie in Elizabeths Richtung und versuchte sich für die Kleine zusammenzureißen. Die grünen Augen des Mädchens weiteten sich, als sie das aufmunternde Lächeln auf den Lippen der Frau sah. Trotz ihrer Tränen und den blutigen Wunden sah sie in diesem Moment unglaublich schön aus. Und sie war stark, das spürte sie. Die Midford schluckte einmal und nickte dann. „Ciel… bitte hilf uns.“ „Wie bitte?“, erwiderte Grell verblüfft und starrte Sebastian mit großen Augen an. „Ihr Dämonen könnt die Spur eines übernatürlichen Wesens so lange und weit zurückverfolgen? Wieso weiß ich davon nichts?“ Der Teufel in Menschengestalt seufzte. „Weil dies eine Fähigkeit ist, die nur den höheren Dämonen vorbehalten ist.“ Er grinste arrogant. „Mir zum Beispiel.“ Der Undertaker verdrehte die Augen und selbst Ciel verzog verächtlich die Mundwinkel. Sein Butler war manchmal einfach viel zu sehr von sich selbst eingenommen. „Allerdings funktioniert das bei uns anders, als bei euch Todesgöttern. Ihr könnt lediglich die Energiesignatur zurückverfolgen. Wir Dämonen hingegen nutzen die Spur, die die Seele eines Wesens hinterlassen hat. Das klappt bei übernatürlichen Wesen wesentlich besser, da die Seelen einen stärkeren Eindruck hinterlassen. Daher konnte ich besser der Spur des Shinigami folgen, als der von Lady Elizabeth. Aber auch hier gibt es nun einmal Grenzen. Bei einer Teleportation verliert sich diese Spur nach ein paar Stunden.“ Er seufzte erneut. „Wenn ich früher hier gewesen wäre, hätte ich die Seele vielleicht noch ausfindig machen können, aber so ist es unmöglich noch sagen zu können, wo der Shinigami sich derzeit aufhält.“ „Wenn William das wüsste, würde er durchdrehen“, ging es Grell durch den Kopf, während die Schwarzhaarige neben ihm die Hände zu Fäusten ballte. Je länger Carina verschwunden war, desto mehr Sorgen machte sie sich um ihre beste Freundin. Was, wenn ihr wirklich bereits etwas Schlimmes passiert war? Etwas, das nicht wieder gut zu machen war? Daran wollte sie überhaupt nicht denken! „Verflucht“, murmelte Alice und erhob sich vom Stuhl. Sie war vor Aufregung ganz blass. „Ich gehe mal kurz an die frische Luft. Und schau noch mal unten am See vorbei, vielleicht haben wir ja etwas übersehen.“ Kommentarlos ließen die anderen Personen im Raum sie ziehen. „Gut, und was jetzt?“, fragte Grell und dachte angestrengt nach. „Können Sie nicht nachschauen, ob Lizzys Name auf ihrer komischen Liste steht?“, fragte Ciel zögerlich, schien es eigentlich gar nicht so genau wissen zu wollen. „Gute Idee“, entgegnete der Rothaarige und zog das kleine Buch hervor. Doch nach wenigen Minuten musste er die Frage des Earls verneinen. „Nein, sie steht nicht auf der Liste. Weder für heute, noch für die nächsten zwei Wochen.“ Der Junge atmete erleichtert auf und zum wiederholten Male fiel dem Bestatter auf, dass er doch ganz anders war als sein Vater. Vincent hätte seine Gefühle niemals so offen gezeigt. Er wäre niemals so kopflos an eine Sache herangegangen. Was ihm am Ende aber auch nicht viel gebracht hatte. Ciel mochte vielleicht ein naiver Junge sein, aber immerhin kämpfte er für das, was ihm wichtig war. Sebastian legte nachdenklich eine Hand ans Kinn. „Wenn wir in den Dispatch gehen würden und ihm dort über den Weg laufen, würde ich seine Seele sofort wiedererkennen.“ „Das ist viel zu riskant“, entgegnete der Totengräber. „Wir würden nicht allzu weit kommen, ohne dass sie uns entdecken. Und dann werden wir wesentlich größere Probleme haben, als nur unsere Zielperson ausfindig zu machen.“ „Sehe ich genauso“, seufzte Grell. Keine Frage, für Carina würde er sich vor dem kompletten Dispatch und sogar vor William als Lügner outen, aber eigentlich hatte er überhaupt keine Lust ein Leben auf der Flucht zu führen. Nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Der Butler wollte gerade erneut den Mund öffnen, als von draußen ein lauter Schrei ertönte. Grell gefror das Blut in den Adern. Verflucht, die Nervensäge… Sofort waren sie alle auf den Beinen, Sebastian und Cedric erreichten gleichzeitig die Tür und rissen sie mit so viel Schwung auf, das sie fast aus ihren Angeln flog. Grell und Ciel waren ihnen dicht auf den Fersen und als sie ebenfalls im Freien standen, schnappte der Rothaarige entsetzt nach Luft. Keine 10 Meter von ihnen entfernt stand Alice, mit dem Gesicht ihnen zugewandt, und hatte einen Arm fest um ihren Hals geschlungen. Dieser Arm gehörte einem Mann, der die typische Kleidung der Shinigami trug. Seine Augen hatten die übliche Farbe, seine Haare waren kohlrabenschwarz. Seine Lippe schien vor nicht allzu langer Zeit aufgeplatzt zu sein, denn trotz der Heilkräfte eines Shinigami konnte man immer noch eine Wunde sehen. Cedric erkannte ihn sofort an seiner Statur, aber auch alle anderen Anwesenden konnten sich denken, wer da vor ihnen stand. So war es für niemanden eine große Überraschung, als Sebastian sagte: „Das ist er, junger Herr. Das ist die Seele, die ich verfolgt habe.“ „Wo ist meine Verlobte?“, zischte Ciel so zornig, dass er die Worte kaum über die Lippen brachte. Der fremde Todesgott lächelte. „Ah, Earl Phantomhive, was für eine Überraschung. Macht Euch keine Sorgen, Eure Verlobte ist wohlauf. Um ehrlich zu sein“, fuhr er fort und zeigte sich gegenüber den zornigen Gesichter seiner Gegenspieler unbeeindruckt, „ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich gleich von so vielen Leuten empfangen werden würde. Dabei wollte ich doch nur die Kleine hier.“ Sein Blick fiel auf Alice, die vehement versuchte sich gegen seinen festen Griff zu wehren. „Ich hatte schon so eine Vermutung, dass Carina nicht alleine hier war. Na ja und du bist schließlich momentan außer Dienst, da lag es doch nahe, dass du dich hier aufhältst. Aber mit deiner Anwesenheit hätte ich tatsächlich nicht gerechnet, Grell Sutcliff.“ Grell knirschte mit den Zähnen. „Crow“, stieß er wutentbrannt hervor und Cedric horchte auf. „Du kennst ihn?“ Der Rothaarige nickte. „Er ist Lehrer auf der Akademie, Carina war seine Schülerin.“ Ungläubig starrte Ciel den Schwarzhaarigen an. So ein Sadist sollte Lehrer sein? Grell wandte sich wieder an den Schwarzhaarigen. „Wo ist sie?“ „Dort, wo sie hingehört“, grinste Mr. Crow. „In meiner Obhut.“ Der Undertaker verengte die Augen. „Ich wiederhole seine Frage noch einmal“, sagte er so ruhig, das Ciel eine Gänsehaut bekam. „Wo ist sie?“ Ihre Blicke trafen sich. „Ich wüsste nur zu gerne, was du mit Carina zu schaffen hast“, flüsterte der Lehrer. „Das habe ich mich schon damals gefragt, als ich sie am Weston College aufgespürt hatte.“ Er grinste träge. „Hast du sie gefickt, Deserteur?“ Innerhalb einer Millisekunde hielt der Silberhaarige seine Sense in den Händen, bereit seinen Gegenüber in kleine Stückchen zu hacken. „Ah ah ah, das würde ich an deiner Stelle lieber lassen“, entgegnete der Todesgott und verstärkte seinen Griff um den Hals der Rezeptionist, sodass diese würgend nach Luft schnappte. „Elendes Schwein“, zischte Grell hasserfüllt. „Ich schwöre dir, wenn du Carina auch nur ein Haar gekrümmt hast-“ „Keine Sorge, ihre Haare sind alle noch dran“, meinte er, nun einen diabolischen Unterton in der Stimme. „Nur mit dem Rest ihres Körpers sieht es eher weniger gut aus.“ Alice und Grell schnappten hörbar nach Luft, während Cedric von einer Wut gepackt wurde, die er kaum kontrollieren konnte. „Aber keine Sorge, sie lebt noch. Und kann sich sogar wehren.“ Er deutete auf seine Unterlippe und lächelte erneut. „Ich wusste, dass sie Biss hat, aber das war eigentlich nur metaphorisch gemeint.“ Sebastian, Ciel und Grell wichen instinktiv alle einen Schritt vor dem Bestatter zurück, als sie die negative Aura wahrnahmen, die plötzlich von seinem Körper ausging. Cedric hatte sofort gewusst, worauf der Schwarzhaarige mit seiner Bemerkung anspielte. Wenn das an seiner Lippe tatsächlich eine Bisswunde war, dann hatte er… „Es wird mir ein unglaubliches Vergnügen sein, dich Stück für Stück auseinanderzunehmen“, wisperte er und lächelte dabei so raubtierhaft, dass sogar der selbstsichere Entführer plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher aussah. „Tze“, sagte er und versuchte den kurzen Moment seiner Unsicherheit zu überspielen. „Dafür müsstest du mich erst einmal finden.“ Er festigte den Griff um Alice und bevor auch nur irgendjemand der Anwesenden reagieren konnte, dematerialisierte sich sein Körper mitsamt der Schwarzhaarigen. „Nein“, rief Ciel entsetzt und starrte fassungslos auf die Stelle, wo gerade eben noch der Mistkerl gestanden hatte, der seine Verlobte entführt hatte. Wütend drehte er sich zu seinem Butler um und brüllte los. „Warum hast du nichts unternommen, Sebastian? Antworte!“ „Keine Sorge, Earl“, antwortete der Undertaker stattdessen und zog damit alle Blicke auf sich. Er jedoch erwiderte nur Sebastians Blick. „Ich nehme an, dass diese Spur frisch genug ist, um ihr folgen zu können?“, fragte er kühl, woraufhin der Dämon ihm lächelnd seine spitzen Zähne präsentierte. „Ja, allerdings.“ „Mir ist so kalt“, flüsterte Elizabeth erschöpft. Ihr ganzer Körper schmerzte. Zuerst hatte dieser Wahnsinnige sie bewusstlos geschlagen und sie anscheinend nicht gerade sanft transportiert, und dann hatte er ihr diese schweren Ketten angelegt, wie bei einem Hund. Noch dazu kam, dass sie die ganze Zeit auf diesem kalten Boden sitzen musste. Das Kleid, das sie trug, war zwar pompös und hübsch anzusehen, hielt aber auf Dauer nicht warm. „Aber wer bin ich eigentlich, dass ich mich beschwere? Carina hat es viel schlimmer erwischt.“ Ihr Blick huschte in die andere Ecke des Raumes und mit Entsetzen stellte sie fest, dass sich die Augen der Blondine beinahe vollständig geschlossen hatten. „Hey, nicht einschlafen“, rief sie erschrocken und sofort klappten die leuchtend gelbgrünen Augen wieder auf. Carina lächelte müde. „Keine Angst, ich werde nicht sterben. Jedenfalls nicht an so etwas. Das kann ich dir versichern.“ Der letzte Satz klang seltsam bitter, aber vielleicht hatte Elizabeth sich das auch nur eingebildet, sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie die Frau vor sich bewunderte. „Ciel wird uns retten, ganz bestimmt“, sagte sie und Carina konnte nicht anders, sie lachte. „Dich vielleicht. Mit mir kam er auf der Campania nicht so gut zurecht, wie dir vielleicht aufgefallen ist.“ „Dann werde ich ihm sagen, dass er dich retten soll. Auf keinen Fall lasse ich dich bei diesem Grobian“, antwortete sie bestimmt und ein Funkeln trat in ihre Augen, das Carina auch schon auf der Campania gesehen hatte. Als sie sich nach und nach um die bizarren Puppen des Undertakers gekümmert hatte. Ein kleines Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie hasste zwar die Tatsache, dass sich das Blut der Phantomhives in ihren Adern befand, aber solch eine mutige Vorfahrin zu haben war doch eigentlich gar nicht so übel… Die beiden Frauen wussten nicht, wie lange sie noch dort saßen, bis sich die schwere Tür das nächste Mal öffnete. Eine Stunde? Zwei? Noch länger? Mit diesem künstlichen Licht war es schwer das genau einschätzen zu können. Doch all das zählte in dem Moment nicht mehr, als Mr. Crow die Tür öffnete und vor sich eine Gestalt herzerrte. Carinas Augen weiteten sich vor Schock. „Alice“, rief sie, zum ersten Mal in ihrem Leben entsetzt darüber die Schwarzhaarige zu sehen. Ihre beste Freundin sah ein wenig mitgenommen und verängstigt aus, aber rein körperlich schien es ihr gut zu gehen. „Carina. Gott sei Dank“, wisperte sie und tiefe Erleichterung erfüllte ihre Stimme. Carina verstand es nicht. Es war allein ihre Schuld, dass sich die 20-Jährige jetzt in dieser gefährlichen Situation befand. Und trotzdem schien Alice gerade einfach nur froh zu sein sie zu sehen. Carina konnte diese Freude nicht teilen. Ein eiskaltes Gefühl hatte ihr Herz ergriffen und ihre Augen huschten zu ihrem Peiniger, der dicht hinter ihrer Freundin stand und sie überlegen anlächelte. „Ich hatte dir gesagt, dass du es bereuen würdest mich so gereizt zu haben, Carina“, sagte er und zog im nächsten Moment seine Death Scythe. Elizabeth schrie erschrocken auf, als er seinen Griff um die – für sie fremde – Frau auf die Haare verlagerte und ihr stattdessen die dünne Klinge an den Hals hielt. Carina war zu erstarrt, um auch nur einen Ton von sich zu geben. Wenn er sie auf diese Art brechen wollte, dann funktionierte es. Seine Augen blitzten freudig auf, als er die nackte Angst in ihren Augen sah. „Halt sie da raus“, hauchte sie, fand ihre Stimme irgendwie wieder. „Ich bin diejenige, die du willst. Sie hat damit nichts zu tun.“ „Oh doch, das hat sie. In dem Moment, in dem du sie in alles eingeweiht hast, hast du sie in diese Sache mit reingezogen“, erwiderte er kalt. „Hör nicht auf ihn, Carina“, sagte Alice, wobei sie darauf achtete ihren Kehlkopf nicht allzu sehr zu bewegen. „Du hast an nichts von dem hier Schuld. Er allein ist der Verantwortliche. Er war es die ganze Zeit.“ „Ruhe“, schnauzte der Schwarzhaarige und drückte die Klinge ein wenig näher an ihre Kehle, sodass nun ein dünnes Rinnsal Blut über ihren Hals nach unten lief. „Nein“, schrie die 19-Jährige, während sie nun richtig anfing zu zittern. So stark, dass die Ketten um ihre Gelenke anfingen zu klirren. „Lass sie in Ruhe.“ „Bettel darum“, zischte er ihr entgegen und jeder im Raum konnte hören, was für ein abartiges Vergnügen ihm all das bereitete. Carina zögerte nicht eine Sekunde. Sie warf sich von ihrer sitzenden Position nach vorne auf ihre Knie, die Hände schlotternd auf dem Boden abgestützt. „Bitte“, flehte sie leise und Alice sah entsetzt dabei zu, wie ihre beste Freundin jeglichen Stolz über Bord warf. Ihretwegen. Den Stolz, den sie an ihr immer so bewundert hatte. „Ich flehe dich an, lass sie gehen. Ich tue alles, ich schwöre es. Ich lasse mich von dir brechen, mach mit mir, was du willst. Schlag mich, vergewaltige mich, ist mir egal. Aber bitte lass sie gehen. Sie ist unschuldig. Bitte. Bitte…“ Ihre Stimme wurde zum Ende hin immer leiser, bis es nur noch ein klägliches Wimmern war, das in dem winzigen Raum widerhallte. Elizabeth hatte wieder leise zu weinen begonnen und sich die Hände vor die Augen geschlagen, ansonsten war nichts zu hören. Carina behielt seine Augen die ganze Zeit über im Blick, doch in den phosphoreszierenden Seelenspiegeln gab es nicht die kleinste Regung, nicht das geringste Anzeichen woraus sie schließen konnte, was er dachte. „Bitte“, flüsterte sie ein weiteres Mal, doch noch im gleichen Moment erkannte sie, dass es ihn vollkommen kalt ließ. Dass er ihr Flehen nicht erhören würde. „Carina“, erklang plötzlich Alice’ Stimme und sofort wandte die Schnitterin ihr den Blick zu, erstarrte noch mehr vor Angst. Eine einzelne Träne lief ihrer Freundin über die Wange. Aber das, was Carina wirklich solche Angst machte, war, dass sie lächelte. Ein kleines, sanftes Lächeln. Ein Abschiedslächeln. Es war nicht so, dass Alice keine Angst hatte. Die hatte sie. Aber jetzt, wo sie Carina so vor sich sah, auf den Knien, um das Leben von ihr flehend, da befand sie, dass es genug war. Dass es gut war. Sie erinnerte sich an die letzten Jahre. Die aufgeweckte junge Frau hatte wieder Freude in ihr Leben gebracht. Sie hatte sie daran erinnert, wie es war eine beste Freundin zu haben. Einen Menschen, für den es sich zu leben lohnte. Die Schwarzhaarige erinnerte sich an die letzten Wochen. Nie hatte sie in ihrem Dasein als Shinigami mehr Spaß gehabt. Sie dachte an Lily und sogar an Grell. An ihre gemeinsamen Tage in dieser Hütte. An all die schönen Stunden. Und sie dachte an ihre Familie. An John und Jamie. Wie hatte Carina damals bei ihrem Gespräch noch gesagt, als sie geweint hatte, dass sie die Beiden nie wiedersehen würde? „Ich schätze das werden wir wohl erst herausfinden, wenn es soweit ist.“ Ihr Lächeln wurde ein ganz kleines bisschen breiter. Vielleicht war dieser Zeitpunkt nun gekommen. Sie sah Carina direkt in die Augen, versuchte all ihre Gefühle in die nächsten Worte zu legen. Ihre letzten Worte. „Danke. Für alles. Ich liebe dich, Carina.“ Angesprochene begann zu weinen. „Alice… Bitte nicht. Sag es nicht…“ Die Schwarzhaarige tat einen tiefen Atemzug. Und dann sagte sie das, wovor Carina sich am meisten fürchtete. „Lebewohl.“ Es passierte so schnell, dass Carina nicht einmal dazu fähig war zu schreien. Dennoch geschah es gleichzeitig wie in einer Art Zeitlupe. Blut, Unmengen von Blut spritzten vor ihr auf den Boden. Dicke, rote Tropfen flogen ihr auf die Wangen. Sie nahm gar nichts anderes mehr wahr. Nicht, wie Elizabeth in ihrer Ecke die Hände fester auf das Gesicht presste. Nicht, wie Mr. Crow genugtuend lachte. Nicht, wie der Körper ihrer besten Freundin mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel. Alles, was sie noch sah, war ihr Gesicht. Ihre Haare, die immer noch in dem festen Griff ihres Entführers hingen. Was Carina da sah, raubte ihr beinahe den Verstand. Kommentarlos zog Mr. Crow seinen Unterarm zurück und holte aus. Erneut ertönte ein dumpfer Aufprall und dann rollte Alice’ abgetrennter Kopf über den Boden, blieb kaum eine Armlänge entfernt von ihr liegen. Der Schock des grauenhaften Anblicks fiel von Carina ab, ganz plötzlich, als wäre er nie da gewesen. Und dann fühlte sie, wie ein Schalter in ihrem Gehirn umgelegt wurde. Als sie realisierte, was er getan hatte. Dass Alice – die gute, die liebe Alice – tot war. Endgültig und für immer. Carina krümmte sich keuchend vorne über und erbrach sich auf dem Boden. Erst dann kam der Schrei, und er war so laut, dass er die Luft zerriss. Sie schrie und brüllte und schrie immer weiter, bis sie das Gefühl hatte ihre Lungen würden bersten. Das konnte nicht sein! Das war nicht wahr! Das passierte nicht… Zitternd robbte sie, so weit die Fesseln es zuließen, vorwärts, bis sie den Kopf ihrer Freundin erreichte und ihn ergriff, ihn vorsichtig berührte und ihn dann schreiend an ihre Brust drückte. Carina war nicht mehr dazu fähig zu denken. Alles, was sie konnte, war schreien. Ihre Finger fuhren durch das weiche, schwarze Haar, immer und immer wieder. Als könnte sie Alice dadurch zurückbekommen, als könnte sie sie wieder zusammensetzen. Warum nur Alice? Warum, warum nicht sie selbst? Sie spürte, wie ihr Herz brach. Wie einfach alles egal wurde. Das hier war allein ihre Schuld… Der Todesgott lächelte, als er sehen konnte wie das Licht in den Augen der Schnitterin erlosch. Diesen Ausdruck hatte er schon so oft gesehen und er wusste ganz genau, was er bedeutete. Vorfreudig zückte er erneut seine Sense und ging auf die Blondine zu. Jetzt würde er sich endlich holen, was er schon so lange begehrte. Und niemand würde ihn aufhalten. Jetzt nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)