Deepest Dark von Flordelis (Miracle II) ================================================================================ Kapitel I – Ist er tot? ----------------------- Kieran spürte Aydeens interessierten Blick auf sich, während er vor dem Regal stand und sich eines der Bücher aussuchte. Er versuchte, seine Aufmerksamkeit ganz auf die Bücher zu konzentrieren, aber als Aydeen sich durch ihr langes, schwarzes Haar fuhr, kam er nicht umhin, sich ihr für einen kurzen Moment ganz zuzuwenden. Als sie das bemerkte, lächelte sie ihn sanft an, was ihre grünen Augen zum Glitzern brachte. Eilig wandte er sich wieder ab, als sein Gesicht sich erhitzte und versuchte erneut, sich auf seine Auswahl zu konzentrieren. Dabei ließ er sein schwarzes Haar endlich wieder über sein linkes Auge fallen, statt es beiseite zu wischen, damit ihn ihr Anblick nicht mehr ablenken könnte. „Hast du nicht genug Bücher zu Hause, um eines für diese Aufgabe auszuwählen?“, fragte sie. „Eigentlich schon. Aber ich dachte mir, ich könnte auch einfach ein neues nehmen.“ Auch wenn er das eigentlich nur als Ausrede gegenüber seinem Vater benutzte, um sich ein neues Buch kaufen zu können. Und gleichzeitig bot ihm das die Gelegenheit, ein wenig Zeit mit Aydeen während ihrer Arbeit zu verbringen – wenn auch nicht allein. Richard trat zu ihm, zwei Bücher in den Händen, zwischen denen er immer wieder hin und her sah. Wie üblich war seinem leicht grimmigen Gesicht nicht anzumerken, was er dachte, die braunen Augen blickten ernster als sie eigentlich sollten, sein braunes Haar war ein wenig zerzaust, was inzwischen üblich für ihn war, wann immer er sich mit Kieran und Aydeen traf. „Kannst du dich nicht entscheiden?“, fragte sie sofort. „Nicht wirklich. Ich habe aber auch nicht viel Ahnung davon.“ Kieran kannte Richard, als seinen einstmals besten Freund, gut genug, um zu wissen, dass er nicht sonderlich gern las. Er interessierte sich sehr für Bücher, hörte sich auch jederzeit an, was andere, vornehmlich Kieran, darüber sagten, aber sie selber lesen? Das war nicht unbedingt seine Stärke. Daran störte sich Kieran allerdings nicht im Mindesten, auch das war einer der Punkte gewesen, wegen denen er sich in Richard verliebt hatte. Aydeen nahm ihm beide Bücher ab, um sie genauer zu betrachten, dann lächelte sie. „Ah, L.C. Walker. Du hast zumindest ein gutes Händchen für Autoren.“ Richards Gesicht verfinsterte sich kaum merklich, Kieran war sogar überzeugt, dass nur er es sehen konnte, aber er mischte sich lieber nicht ein, solange der andere sich noch nicht beklagte. Schließlich reichte Aydeen ihm nur eines der Bücher wieder. „Ich würde dir auf jeden Fall Die Nebelhexe empfehlen. Es besitzt Spannung, Action und sogar das Magiesystem wird erklärt.“ Der letzte Halbsatz sorgte dafür, dass Richards Gesicht sich wieder ein wenig entspannte. Kieran wusste, dass sein Freund es bevorzugte, wenn Dinge für ihn logisch nachvollziehbar waren – was ein Grund dafür war, weswegen er einen wichtigen Teil seines Lebens vor ihm verheimlichte, auch wenn er das eigentlich nicht tun sollte. Er hoffte nur, dass, falls es einmal herauskommen sollte, Richard ihm die Gelegenheit gäbe, es auch zu erklären. Dieser warf gerade einen um Rat suchenden Blick zu Kieran, der sofort darauf reagierte: „Ich hab's gelesen, es ist gut, nimm es ruhig.“ Also gab er sofort nach und bat Aydeen, das andere Buch wieder zurückzubringen, was sie mit einem Lächeln auch sofort tat. „Warum hast du es nicht selbst zurückgebracht?“, fragte Kieran halblaut. „Ich weiß nicht mehr, wo genau ich es herhabe.“ In Wahrheit war der Grund ein anderer, das wusste er genau, aber statt Richard darauf hinzuweisen und ihn damit zu verärgern, nickte er einfach verstehend. „Welches Buch nimmst du?“, fragte Richard, um das Thema zu wechseln. Zielsicher griff Kieran nach dem Buch, das er schon eine Weile ins Auge gefasst hatte und zog es heraus. „Nemo von C.R. Garden.“ „Erzähl mir, wie es war, wenn ...“ Richard überlegte einen Augenblick, bis ihm die Aufgabe, für die sie diese Bücher überhaupt benötigten, wieder klar wurde. „Oh, ich erfahre ohnehin, wie du es fandest.“ Der einzige Teil, der Kieran an der Aufgabe gefiel, war das Lesen des Buches. Anschließend sollte es vor der gesamten Klasse vorgestellt werden und er redete nur ungern vor vielen Leuten – in solchen Momenten überlegte er, dass es eine schlechte Idee gewesen war, wieder zur Schule zu gehen. Aber er war Richard gefolgt, also bereute er es nicht im Mindesten. Aydeen kehrte wieder zurück, immer noch ein Lächeln auf ihren Lippen. „Habt ihr euch beide entschieden? Dann wird es wohl langsam Zeit, dass ihr bezahlt.“ Dabei deutete sie kaum merklich zu einer Frau, die in einiger Entfernung neben einem Regal stand und sie misstrauisch beobachtete. „Meine Chefin meint, ihr lenkt mich zu sehr ab.“ Kieran kannte diese Frau mit ihrem stets verkniffenen Gesichtsausdruck inzwischen und er glaubte, dass es an der Dreiecksbeziehung des Trios lag. Nicht jeder sah so etwas gern, sein eigener Vater betrachtete das noch ein wenig stirnrunzelnd. Also bezahlten er und Richard ihre Bücher, verabschiedeten sich und machten sich dann auf den Weg zur Bahn, um nach Hause zu kommen. Dabei liefen sie im einträchtigen Schweigen nebeneinander her. Zwischen ihnen brauchte es nicht viele Worte, sie verstanden einander auch schweigend und das war ebenfalls einer der Gründe, weswegen er sich einst in Richard verliebt hatte. Doch schließlich durchbrach Kieran dennoch das Schweigen: „Wenn du ein Problem mit Aydeen hast, sollten wir über diese Sache vielleicht noch einmal nachdenken.“ Das war das einzige Thema, das sie nicht wortlos miteinander besprechen konnten, sehr zu seinem Leidwesen. „Ich habe kein Problem mit ihr“, erwiderte Richard tonlos, immer noch stur geradeaus sehend. „Bist du sicher?“ „Ganz sicher. Ich habe absolut kein Problem mit ihr – ich teile dich nur nicht gern. Und das muss ich immerhin fast immer.“ Wenn Kieran so darüber nachdachte, entsprach das der Wahrheit. In der Schule waren sie immer von Mitschülern umgeben, in der Bahn gab es andere Fahrgäste und sie hatten in ihrer Freizeit kaum Gelegenheit, sich zu treffen. Die Schule ging nicht selten bis nachmittags, dann gab es Hausaufgaben und Klausuren, für die man lernen musste – und nachts war Kieran auf den Straßen unterwegs, um Dämonen zu jagen. In letzter Zeit waren sie zwar friedlich, aber er hatte sich geschworen, seine Pflicht nie wieder zu vernachlässigen. Es genügte, dass ein Dämon, den er hatte entkommen lassen, Menschen gefressen hatte, noch öfter wollte er das nicht erleben. Also blieb ihnen kaum Gelegenheit, sich allein zu treffen und eigentlich empfand Kieran es auch als unfair, so viel mehr Zeit mit Richard zu verbringen, wenn sie immerhin in einer Dreiecksbeziehung waren, die es erfordern sollte, dass sie alle drei zusammen waren. Statt einer Erwiderung gab er ein verstehendes Geräusch von sich, damit er keinen Streit mit Richard begann. Außerdem hatten sie diese Unterhaltung im letzten Monat bereits mehrmals geführt und sie war immer auf dieselbe Weise geendet: Richard bekundete, dass er gern mehr Zeit mit Kieran verbringen würde, aber durchaus verstand, dass die Zeit dafür nicht immer ausreichte, weswegen er sich auf die Ferien vertrösten ließ, die bald begannen. Kurz vor der Bahnstation erklang ein leises Piepsen, das dafür sorgte, dass Richard sein Handy, ein Smartphone, hervorholte und mit gerunzelter Stirn die neu angekommene Nachricht durchlas. Schließlich seufzte er leise. „Ich muss meine Schwester abholen, anscheinend hat sie es geschafft, sich beim Schlittschuhlaufen zu verletzen.“ „Geht das allein?“, fragte Kieran besorgt. „Klar, ich kriege das schon hin. Komm gut nach Hause, ja?“ „Sag Kathreen gute Besserung.“ Damit verabschiedeten sie sich voneinander und dann trennten sich ihre Wege. Während Richard zu Fuß die nahegelegene Eishalle aufsuchte, nahm Kieran die Bahn, um nach Hause zu kommen. Die Wohnung, in der er lebte, befand sich in einem der äußeren Bezirke von Cherrygrove. Hier gab es keine Kirschbäume mehr, die namensgebend für die Stadt gewesen waren, dafür aber Sandkästen, damit die Bewohner der umliegenden Häuser ihre Kinder dorthin schicken konnten. Inzwischen spielten aber nur noch selten Kinder dort, weil es durch die Medien in den Wohnungen wesentlich interessantere Beschäftigungsmöglichkeiten gab. Im Haus angekommen, das wie üblich nach Feuchtigkeit und Schimmel roch, blickte er erst einmal in die, an der Wand angebrachten Briefkästen, fand aber keinerlei Post für sich oder seinen Vater vor, und lief dann die Treppe hinauf. Wie üblich nahm er immer zwei Stufen auf einmal, ignorierte jene, an denen Teile abgesplittert waren und machte sich auch nichts mehr aus den Kinderstimmen, die er jenseits der Türen hören konnte. Als er an der Stelle vorbeilief, an der das hölzerne Geländer angesägt war, musste er wieder an seinen Cousin denken, wobei ihm einfiel, dass er diesem immer noch noch keine Nachricht geschickt hatte. Vor seiner Wohnungstür angekommen, verwarf er das aber sofort wieder und schloss auf, um in die angenehm riechende Wohnung zu treten. Zumindest an diesem Tag konnte er keinen Essensgeruch wahrnehmen, weswegen er davon ausging, dass sein Vater endlich einmal vernünftig war und sich an die Anweisung seiner Ärzte hielt. Um sich davon auch sofort zu überzeugen, betrat er das Wohnzimmer. Cathan saß auf dem schwarzen Sofa, gegenüber dem Fernseher, der mal wieder lief und irgendeine Show zeigte, die Kieran nicht kannte und die ihn auch nicht im Mindesten interessierte. „Hast du alles erledigt?“, fragte Cathan, ohne ihn anzusehen. Das Fernsehbild spiegelte sich auf seiner Brille, sein schwarzes Haar war noch feucht, offenbar war er erst vor kurzem in der Dusche gewesen. Kieran legte seine Schultasche ab, ehe er das bejahte. „Wie geht es dir heute?“ Statt einer Antwort zuckte Cathan nur mit den Schultern. Dafür, dass er vor einem Monat an Krücken gebunden war und er nun nur noch einen Gehstock benötigte, müsste es ihm eigentlich gut gehen, dachte Kieran sich, aber es kam ihm vor, als würde sein Vater mit jeder Besserung nur schlechter gelaunt sein. Vielleicht lag es aber auch an ihm und seinem Leben, das Cathan einfach nicht verstehen konnte. Eigentlich hasste Kieran diese Atmosphäre zwischen ihnen. Es gab für sie beide nur noch den jeweils anderen, seit seine Mutter gegangen war, aber nach all den Auseinandersetzungen, die sie durchgemacht hatten, fiel es ihm nicht sonderlich leicht, sich mit ihm zu unterhalten. Doch plötzlich, während er noch dastand und überlegte, was er sagen sollte, stellte Cathan den Fernseher stumm und bedeutete ihm, sich neben ihn zu setzen. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen nahm er auf dem Sofa Platz und überlegte, worüber er wohl reden wollen könnte. Er konnte sich nicht erinnern, etwas falsch gemacht zu haben, weder im Haushalt, noch bei den nächtlichen Streifzügen, immerhin achtete er ganz besonders darauf, alles richtig zu machen, seit er vor einem Monat diesem Dämon begegnet war, der sich wegen seiner Nachlässigkeit durch die Stadt gefressen haben musste. „Du erinnerst dich sicher an diesen Freund, von dem ich dir erzählt habe, der seinen Schüler hierher schickt, wenn du eine Auszeit brauchst.“ Kieran kannte seinen Namen nicht, war weder diesem Freund, noch dem Schüler je begegnet, aber er nickte dennoch und fragte sich, weswegen sein Vater ihm das nun erzählte. „Albus, also mein Freund, hat mich heute angerufen, um mir mitzuteilen, dass sein Schüler letzte Nacht nicht wieder nach Hause gekommen ist.“ Ein eisiges Frösteln fuhr seinen Rücken hinab, als er das hörte. Natürlich starben Jäger auf Streifzügen schon einmal, das wusste er, nicht zuletzt deswegen, weil sein Onkel auf diese Art und Weise gestorben war – aber doch nicht hier in Cherrygrove und schon gar nicht in der letzten Zeit. Seit er vor einem Monat diesen verfressenen Dämon getötet hatte, war alles ruhig in der Stadt, was die ganze Sache für Kieran wesentlich einfacher machte. Deswegen traf ihn das umso mehr. „Ist er tot?“, fragte er. Cathan hob ratlos die Schultern. „Ich weiß es nicht. Offenbar wurde bislang noch keine Leiche gefunden, also gehen wir davon aus, dass er noch lebt.“ Kieran überlegte, ihm davon zu erzählen, dass der Dämon damals ihn hatte entführen wollen, aber er beließ es dabei, erst einmal nichts zu sagen, solange er nicht mehr wusste. Außerdem wollte Cathan offenbar gar nichts über einen möglichen Aufenthaltsort wissen oder was diesem anderen Jäger wohl geschehen war und sagte etwas anderes: „Sei bitte vorsichtig, wenn du nachts auf Streife gehst, ja? Ich will nicht, dass dir auch etwas passiert.“ In seinen dunklen Augen war deutlich die Aufrichtigkeit dieses Wunsches zu sehen, die Kieran nicht einfach ignorieren konnte. Also nickte er rasch. „Natürlich. Ich werde aufpassen.“ Cathan atmete erleichtert auf und klopfte ihm lächelnd auf die Schulter. „Gut, da bin ich erleichtert.“ Damit wandelte sich seine Stimmung auch sofort und rief offenbar sogar den Hunger wieder hervor: „Also, wie wäre es, wenn du deinem armen Vater, der immer noch an die Couch gefesselt ist, und dir selbst, etwas zu essen kochst?“ Kieran erwiderte das Lächeln, das er viel zu selten geschenkt bekam. „Natürlich, sofort, Papa.“ Damit erhob er sich wieder von seinem Platz und strebte direkt in die Küche. Doch dabei dachte er nach wie vor an den verschwundenen Jäger und nahm sich vor, in dieser Nacht nach ihm Ausschau zu halten, in der Hoffnung, dass ihm nichts weiter geschehen war und sein Vater sich keine Sorgen mehr um ihn machen müsste. Hosted by Animexx e.V. 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