My Dear Brother 2 von ellenchain (The Humans) ================================================================================ Kapitel 22: Vergangenes ----------------------- Vincents Worte stachen in meiner Brust wie Messerstiche. Oder war es die Erschöpfung? Natürlich erklärten sie, wieso er so hartnäckig an uns dranblieb. Persönliche Gründe waren doch immer die Besten. Kiyoshi wischte sich abermals über die Augen und wimmerte vor sich hin. »Vater ist sicherlich ... nicht der einfachste Mann, aber er hat sich immer für alle aufgeopfert! Auch für uns! Er würde nie grundlos irgendwen umbringen!« Und auch wenn ich Vater nur eine Woche kannte, Kiyoshi hatte Recht! Niemals würde er wahllos auf Menschen losgehen. Seine Lügen über Beruf und Ursprung taten natürlich niemandem gut und schürten nicht gerade Vertrauen, doch dass er sich selbst auf einen Menschen eingelassen hatte, nämlich unserer Mutter, zeigte doch eindeutig, dass er gewillt war, die Grenzen verwischen zu lassen. Auch dass er die Academy gründete, um den Menschen zu helfen, um den Vampiren Einhalt zu gebieten, zeigte doch deutlich, dass er kein willenloses Tier war, was sich auf seine Beute warf und sie meuchelte. Wenn es eine Sache war, die Vater mit Sicherheit in den 400 Jahren seines Lebens gelernt hatte, dann genau das! »Natürlich... der gute Fudo. Immer ein aufopfernder Vater, immer nett und toll. Heiratet einen Menschen, schwängert sie und lässt sich Kinder gebären. Toll! Das absolut perfekte Lebensglück!«, raunte Vincent genervt auf und zog erneut die Waffe an sich. »Dass ich nicht Lache! Ich will einfach nur, dass diese Familienlinie endlich ein Ende findet ... Denn mit dem fahrlässigen Töten deines Bruder, Kiyoshi ... hast du nur gezeigt, dass eurer Blut absolut nichts Gutes in die Welt zu setzen hat.« Ich konnte es nicht mehr hören. Vincents Gründe lagen also darin, dass er persönliche Rache nehmen wollte? Nur, weil er seinen Vater rächen wollte, war er also gewillt die Kinder von seinem Mörder zu töten? Und jetzt suchte er nur eine Belanglosigkeit wie das fahrlässige Beißen eines Menschen, um seinen Traum wahr zu machen? »Sorry für deinen Vater«, fing ich an zu murmeln, ging auf Vincent zu, schlurfte regelrecht über den Sand und staute ihn mit meinen Füßen auf. »Aber das bedeutet nicht, dass du unseren so runter machen musst. Denn wenn du unsere Linie so gut kennst... dann weiß du auch, dass wir Kämpfer sind!«, brüllte ich ihn letztendlich aus vollster Überzeugung an, hob meinen Fuß, schüttete den Sand in die Luft und traf Vincent im Gesicht. Der fluchte sofort auf, hielt sich die Hand vors Gesicht und versuchte den Sand aus seinen Augen zu kriegen. »Schnell!«, rief ich, drehte mich um, packte Kiyoshi am Arm und rannte an Alexander und Jiro vorbei, die sofort mit rannten. Das war unsere Chance zu fliehen! »Verschwindet!«, schrie ich ihnen verzweifelt entgegen. »Das hat nichts mehr mit euch zu tun! Verschwindet einfach!« Alexander und Jiro, die neben uns her liefen, sahen uns mit großen Augen an. »Macht schon!« Mit wedelnden Handbewegungen scheuchte ich sie in eine andere Richtung, als die ich mit Kiyoshi rannte. Ich konnte an ihren Blicken sehen, dass es genau das war, was sie nicht wollten. Getrennte Wege einschlagen. Voneinander Abstand nehmen. Sich vielleicht das letzte Mal zu sehen. »Pass ja auf meinen Kumpel auf, Alexander!«, rief ich den beiden noch hinterher, als sie Richtung Zaun liefen, um das Naturschutzgebiet zu verlassen. »Wenn du ihn anknabberst, bist du tot!« Ohne eine Antwort abzuwarten, sah ich nur, wie Alexander Jiros Hand nahm, der sich noch einmal zu uns umdrehte und verzweifelt weinte. Es tut mir Leid, dachte ich. Aber anders ging es nicht! Ich wollte weiterhin keinen Tod verantworten müssen. Keinen, bis auf meinen eigenen. Und das war, was ich vorhatte: Kiyoshi lebend aus der Sache bringen, koste es, was es wolle. »Hier!«, rief Kiyoshi mir zu, zog mich an der Hand in den kleinen Wald und gab die Richtung vor. Zwei Personen könnten sich eventuell besser verstecken als vier. Mit dieser Hoffnung rannten wir in das dichte Gestrüpp, welches mich mehrmals aufkeuchen ließ. Die frische Wunde an meinem Bein brachte mich mehrmals in die Knie. Doch der Wille, weiterzulaufen, war stärker. Und ich war dankbar über diese Willenskraft. Denn egal, was Vincent behauptet hatte: Wir waren keine Mörder, Kriminelle oder Aussätzige! Wir waren die Kabashis und wir waren Kämpfer!   »Wir können sie doch nicht alleine lassen!«, wimmerte Jiro und ließ sich mehr schlecht als recht von Alexander mitziehen. »Sie werden sterben!« »Nein«, brummte der Schwarzhaarige nur dunkel und sichtete den rettenden Zaun. »Sie werden überleben. Die sind hart im Nehmen!« Doch Jiros Tränen trockneten auch diese Worte nicht. Was wäre, wenn das wirklich die letzten Worte zwischen ihnen gewesen sein sollten? Wenn diese lange Reise so enden würde? Niemals hätte er sich ausgemalt, dass er einmal mit drei Vampiren auf der Flucht wäre. In der Menschenwelt. Als sie vor dem Zaun standen, zog sich Alexander seinen Parker aus, warf ihn recht gekonnt über den Draht und sprang wieder zurück auf den Boden. »Komm, ich heb dich hoch!«, befahl er und ging ein wenig in die Hocke, damit Jiro auf seine Hand steigen konnte. »Und wie soll ich dich über den Zaun bringen?«, fragte er recht zögerlich, stieg zittrig auf Alexanders starke Arme, die ihn sofort hochhoben. »Ich schaff das schon.« Mit diesen Worten nahm er noch einmal Schwung, indem er in die Knie ging, und warf Jiro fast komplett über den Zaun. Nur spärlich konnte der sich noch am obersten Absatz halten, um nicht ungebremst auf den harten Boden zu fallen. »Schaffst du es?«, war alles, was Jiro noch herausbrachte, bis er Vincents Figur in der Ferne auf die zukommen sah. »Beeil dich! Vincent kommt!« Alexander blickte noch einmal hinter sich, nahm all seine Kraft zusammen und sprang so hoch er konnte, um sich am Absatz festzuhalten. Doch alles, was zu packen bekam, war der Maschendraht, der durch den Parker stach. »Ah!«, schrie er schmerzerfüllt auf, da sich einzelne Stacheln durch seine Hand gebohrt hatten. »Oh mein Gott!«, quietschte Jiro heraus, der auf der anderen Seite hing und aus nächster Nähe die blutigen Hände sehen konnte. »Geht schon!«, stemmte Alexander aus seinen Lippen, drehte sich noch einmal panikerfüllt um und seufzte tief, als er Vincent näher kommen sah. Wieso folgte er ihnen? Und nicht den Zwillingen? Mit aller Kraft zog sich der Vampir höher, vollzog einen strammen Klimmzug und pumpte dabei sein ganzes Blut durch die Adern, sodass sie stark über seine Muskeln heraus stachen. Er hatte zu wenig getrunken, das war klar. Ihm wurde schwindelig und schwarz vor Augen, doch er schaffte ein Bein über den Parker zu schwingen, den Draht loszulassen und auf den Boden zu gleiten. Zwar verlief das nicht mehr ganz so elegant wie beim ersten Mal, trotzdem rollte er sich ab und fing sich sofort. Mit blutigen Händen öffnete er seine Arme und wartete ab, dass Jiro sich fallen lassen würde. »Komm jetzt!«, rief er erschöpft und sah Jiro wartend an. Der hing wie apathisch mit Tränen in den Augen am Zaun und wechselte energische Blicke zu Vincent und Alexander. »Flieh doch einfach! Du hast nur Schmerzen mit mir!«, jammerte er und konnte nicht loslassen. All seine Muskeln hatten sich verkrampft. »Mach schon!« Alexander näherte sich dem Zaun. »Red keinen Scheiß und lass dich fallen! Ich fang dich auf!« Weinerlich blickte sich Jiro noch einmal um, sah in Alexanders aufgeregte Augen, die wieder mehr Leben zeigten, als zu Beginn, wo sie alle hoffnungslos am Strand standen. Der Wille war da. Der Wille zu fliehen und lebend aus der Sache zu gehen. Egal, was danach wäre. Egal, wie das Leben danach aussehen würde. Vielleicht müssten sie sogar für ihre Eskapaden ins Gefängnis gehen. Doch wen interessierte das noch, wenn sie lebten? Jiro kniff die Augen zusammen, ließ los und fiel in die weichen Arme von Alexander, die sofort seinen Fall bremsten. »Gute Entscheidung«, grinste er dem Punk entgegen und strich über seine kurzen Haare. »Komm jetzt!« Ehe Jiro das Lächeln erwidern konnte, wurde er wieder an der Hand weiter gezogen, sodass er kaum eine Möglichkeit hatte, Alexander seinen Dank auszusprechen. Für alles, was er für ihn getan hatte. Für alles, was er aufgegeben hatte. Sie liefen den Strand entlang, zwischen den Strandkörben und den Liegen. Die Geschäfte hatten noch geschlossen, die Promenade wirkte wie ausgestorben. Als sie an einer Apotheke vorbei rannten, sahen sie die Uhrzeit: Halb eins. Vincent war nicht mehr zu sehen. Ob er aufgegeben hatte? Am Zaun? Ließ er die Männer wirklich laufen? Auf einmal blieb einer stehen. »Schau mal«, brachte Jiro aufgeregt aus seinen Lippen. »Hier können wir rein!« Er zeigte auf einen kleinen Geräteschuppen hinter einem Bäcker. Er stand offen und schien nichts Wichtiges zu lagern. »Hier können wir uns kurz verstecken!« Alexander musste nicht überzeugt werden, er folgte Jiro, als wären die Instanzen getauscht worden. Müde und erschöpft ließ er sich auf den hölzernen Böden der Schuppens nieder. Der Raum war vielleicht drei Quadratmeter groß und beherbergte nur einige Kiste. Hier könnten sie notfalls auch die Nacht verbringen, dachte Jiro und suchte nach nützlichen Dingen. Erst, als er das Seufzen von Alexander vernahm, hielt er still und sah auf den erschöpften Mann. Seine Hände bluteten noch immer und schienen nicht zu heilen. Selbst auf Jiros Hand klebte sein Blut. »Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragte er mit zittriger Stimme den Vampir und durchsuchte instinktiv seine Hosentaschen. Doch er hatte weder Wasser noch Packungen dabei. Bevor ihn der erschreckende Gedanke einholte, dass er aber den Inhalt der Packungen immer bei sich hatte, holte ihn Alexander in die Realität zurück. »Nein, danke ... das wird schon«, murmelte er vor sich hin und sah nur durch Schlitzen in die Ferne der offen stehenden Tür. Nur ein sanftes Lächeln streifte seine Lippen, sodass der andere schwarzhaarige ruhig gestellt war. Vorsichtig, fast ehrfürchtig, setzte er sich neben Alexander und betrachtete ihn eine Weile, bis er müde die Hände in den Schoß legte und die Beine von sich streckte. Auf einmal kam die Müdigkeit zurück, trotzdem sie beide auf der Autofahrt geschlafen hatten. Sie schwiegen sich eine Weile an, lauschten, ob Vogel oder Vincent auf dem Weg zu ihnen waren, stellten jedoch irgendwann fest, dass sie vorerst sicher waren. Vincent schien doch kein so großes Interesse an den beiden gehabt zu haben, wie an den Zwillingen. »Glaubst du, was Vincent gesagt hat? ... Über die beiden?«, fragte Jiro in die Stille hinein und flüsterte so leise er konnte. Er wollte sich nicht weiter mit dem Vampir anschweigen. Er wollte reden, sich die Last von der Seele sprechen. »Ja«, gab Alexander nur knapp von sich, drehte dann den Kopf zu seinem Nachbar. »Ich kannte nur wenige Sachen über die Kabashis, aber das, was ich wusste, hat sich mit den Erzählungen von Vincent überschnitten. Wieso sollte er also beim Rest lügen?« Ein sanftes Kopfschütteln überkam Jiro. Wieso? Weil er hoffte, er würde lügen! Es konnte doch nicht wahr sein, dass sein bester Kumpel, den er seit so vielen Jahren kannte, auf einmal eine solche Vergangenheit vorzuzeigen hatte. Nie hatte jemand über solche Sachen gesprochen – ganz im Gegenteil: Witze hatten sie über Vampire gerissen. Hatten sich dumme Spielfilme angesehen, hatten sich gewünscht, sie wären so cool wie die. Und jetzt sollte das alle wahr sein? »Weißt du ... seit wann Hiro einer von euch ist?« Jiros Blick bohrte regelrecht in Alexanders Augen, die noch immer auf ihm lagen. Aus einem Nicken folgte eine Antwort: »Ja. Seit letzter Woche. Noch ganz frisch«, kicherte Alexander recht amüsiert über die Tatsache, dass er sich noch daran erinnern konnte, als wäre es gestern gewesen, wie er Hiro auf dem Gang angemacht hatte. Fressen wollte er ihn. Einfach vernichten. »Kiyoshi hat ihn aus Versehen gebissen. Hiroshi hat danach wohl synthetisches Blut getrunken und wurde nur zur Hälfte ein Vampir. Wir nennen das Noneternal.« »Das klingt alles so abgefahren, man«, murmelte Jiro und schüttelte abermals den Kopf. »Ihr seid so fertig mit der Welt, dass ihr euch so was ausdenkt, oder?« Nur ein schwaches Lachen folgte. »Das denkt sich keiner aus. Das ist so.« »Also mein Hiro...ja? Mein bester Freund ... war bei seinem Dad im Norden, wurde von seinem eigenen Bruder gebissen und ist seitdem irgendwas zwischen Vampir und Mensch?« Ein Nicken Alexanders bestätigte Jiros Vermutung. »Und seine ganze Familie ist auch ... irgendwas Blutsaugendes?« »Seine Mutter nicht. Die ist menschlich. Nur der Vater ist ein Vampir.« »Das ist so krass«, kam Jiro gar nicht mehr aus dem Staunen raus, nachdem nun endlich alles einen Sinn machte. Wieso Hiro in der vergangen Woche so komisch drauf war, auf einmal nicht mehr an den See wollte, wieso sie sich nur noch nachts trafen und wieso er so schnell Sonnenbrand bekam. Wieso ihn Schusswunden nicht weiter tangierten und wieso sie so schnell heilten. Wieso er mit den anderen beiden Blut trank ... und es anscheinend brauchte. »Und du? Hast du auch so ne verrückte Geschichte?«, lachte Jiro verbittert und knibbelte nervös an seinem Langarmshirt. »Nein«, gab Alexander schmunzelnd zurück und zuckte kurz mit den Schultern. »Ich bin ein normales Kind, das zufällig in diese Schiene gerutscht ist.« »Kommt mir bekannt vor«, musste Jiro mit hochgezogenen Augenbrauen loswerden. Ja, er war auch nur so durch Zufall reingerutscht. Und bisher hatte es ihm nur Ärger gebracht. Aber auch einiges Gutes, oder nicht? Er hat seinen Freund besser kennen gelernt, dessen Bruder und ... diesen Mann hier, den er vorher noch zusammenschlagen wollte. »Darf ich dich was fragen?«, fing der nervös wirkende Mann erneut ein Gespräch an. »Klar«, kam es kurz zurück. Alexander war zwar nicht groß nach reden, wollte aber auch nicht weiter rumschnauzen und schlechte Laune verbreiten. Es war ihm schlichtweg egal. Er wollte nur kurz ruhen. Zu Kräften kommen. »Bist du ... also adoptiert? Von deinen jetzigen Eltern? Hab ich das richtig verstanden?« Doch diese Frage ließ den Mann mit den eisblauen Augen zusammenzucken. Noch nie hatte es jemand gewagt ihn das zu fragen. Noch nie musste er auf diese Frage antworten, noch nie war es Thema gewesen. Wieso auch? Er war beliebt, er war glücklich, wie es war. Reich zu sein, alles haben zu können, was er jemals wollte, war ein Traum, den viele Kinder hegten. Und er durfte ihn leben. Wieso also über eine solche Belanglosigkeit nachdenken? »Ja«, seufzte er schließlich und ließ die Schultern wieder gen Boden sinken. Eine hilflose Geste, die ihn nicht besser fühlen ließ. »Ich kenne meine echten Eltern nicht. Ich war noch recht jung, ich glaube so 3, da starben sie bei einem Autounfall. Das war in Deutschland.« »Also warst du doch schon mal in Deutschland«, grinste Jiro und zwickte Alexander gut gemeint in die Seite. Doch es kam nur ein genervter Blick zurück, der nicht verstehen konnte, wie Jiro bei einem solchen Thema auf Kleinigkeiten rumreiten konnte. »Nicht lange. Ich wurde von meinen jetzigen Eltern adoptiert, die mich nach Japan schleppten. Sie, eine ehemalige Bankerin, und er, Besitzer von zig Immobilien in Japan. Beide unfassbar viel Geld und viel Ruhm. Sie genossen das Rampenlicht und zeigten sich so oft es ging. Ich war wohl ... so die letzte Luxusanschaffung, die sie haben wollten. Ein eigenes Kind, welches sie mit Liebe und Geld zuschütten konnten.« Alexander war selber überrascht wie locker seine Zunge bei dem Thema wurde und wie nüchtern er an die Sache ranging. Ein schüchterne Blick zu seinem Nachbarn zeigte ihm die Neugierde, die in seinen Augen steckte. Also fuhr er leise fort. »Ich kann meinen Eltern eigentlich nichts nachsagen, sie haben wirklich alles getan, was in ihrer Macht stand, um mich glücklich zu machen. Sie ... schenkten mir das ewige Leben.« Er zuckte mit den Schultern, als sei es die größte Nebensache der Welt gewesen. »Einfach so?«, hakte Jiro nach und hob beide Augenbrauen. Bei Hiro und Kiyoshi schien das eine gefährliche Geschichte gewesen zu sein. »Nein«, lachte Alexander auf, als wüsste er genau, worauf Jiro hinauswollte. »Als sie mich adoptierten, wollten sie mich bereits zu sich ... in den Clan holen. Doch seit den Gesetzen von der Academy ... ist man gezwungen einen Antrag zu stellen. Auf Übernahme quasi. Ein Gericht entscheidet dann, ob es zulässig ist oder nicht den Menschen in einen Vampir zu verwandeln. Immerhin leben wir ewig, man kann nicht einfach so Menschen zu Vampiren machen und zusehen, wie die Bevölkerung verkümmert. Denn wer will nicht ewig leben?« Diese Frage klang so absurd in seinem Mund, dass er selber die Lippen aufeinander presste. Ewig leben, dachte er sich, war immer eine Sache, die er schätzte. So oft hatte er bei Menschen in den Nachrichten gesehen, wie sie starben. Katastrophen und Krankheiten suchten sie alle heim. Nur er – er durfte auf seinem warmen Sofa sitzen und Fernsehen schauen. Ihn ging das alles nichts an. Nein, denn er war unsterblich. »Der Antrag wurde also zugelassen ...«, murmelte Jiro und sah weiterhin interessiert zum Schwarzhaarigen. Der nickte abermals und stieß einen Seufzer aus. »Ja, ich wurde ein Vampir. Es war mein sechster Geburtstag, kurz bevor ich eingeschult werden sollte. Natürlich sollte es die Academy selbst sein, auf die ich gehen sollte. Zur Feierlichkeit wurde ich damals vor gefühlten hundert Gästen von meiner Mutter gebissen. Es tat weh und ich weinte jämmerlich. Bis heute frage ich mich, wie sie es zulassen konnten, ein Kind zu verwandeln. Aber das Gericht hatte zugestimmt, wieso also noch warten?« »Das ist wirklich verantwortungslos!«, schrie Jiro entrüstet los, hielt sich sofort die Hand vor den Mund, als er merkte, dass er zu laut war. Ein kurzes Schweigen folgte, in denen die beiden Männer erschrocken horchten, doch blieb das erwartete Stapfen der schweren Stiefel aus. Alexander nickte sofort, zuckte mit den Schultern und sah Jiro lange in die Augen. »Wenn Menschen behaupten, Geld mache nicht glücklich, dann ist das eine Halbwahrheit. Denn ich bin mir heute ziemlich sicher, dass der Antrag damals nur mit sehr viel Geld durchgekommen war. Und das stimmte meine Eltern sehr glücklich.« »Aber dich nicht ...«, bemerkte Angesprochener sehr leise und erwiderte den langen Augenkontakt. Es war kein direktes Mitleid, was er für Alexander empfand. Es war vielmehr ... Verständnis. Verständnis wieso er manchmal komisch drauf war. »Teilweise.« Da schmunzelte der Vampir und zeigte seine weißen, gerade Zähne. »Ich genoss den Status, den mir meine Eltern verschafft hatten. Denn er gab mir alles: Macht, Freunde, Leistungserfolg und materielles Glück.« Da blickte er in den Himmel hinauf, als würde er sinnieren. »Nur einer war mir immer ein Dorn im Auge und das war Kiyoshi. Er und sein Vater waren Reinblütler, quasi die am höchsten angesehenen Personen in unserem Clan. Er war von Natur aus edel und adlig und hatte jeglichen Respekt auf seiner Seite. Alles, was mir Respekt verschaffen hatte, war mein Geld. Was nicht einmal mehr mir gehörte, sondern meinen Eltern.« Da verstummte der Erzählende und sah wieder zu Boden. Nach einer langen Pause, fuhr er fort. Jiro traute sich gar nicht mehr, seinen Partner zu unterbrechen. »Ich habe ihn gedemütigt, ihn oft angepöbelt und gepiesackt. Jetzt, wo ich ihn besser kenne, weiß ich, dass er im Grunde genauso unglücklich wie ich war und absolut nichts für seine Position konnte. Keiner von uns hat sich das Leben, in das wir stecken, ausgesucht. Man hat es uns vorgelebt. Und wir nahmen es, wie es kam.« Jiros Augen sanken ebenfalls auf seinen Schoß und wurden nachdenklich. Alles, was Alexander ihm berichtet hatte, klang nach einer schönen Kindheit, und doch war sie geprägt von Vorgaben, Richtlinien und Regeln. »Und jetzt? Willst du wieder in dein Regelwerk zurück?«, fragte Jiro nach einer endlos wirkenden Pause. »Vielleicht«, säuselte Alexander und stieß einen enttäuschten Seufzer aus. »Wenn meine Eltern erfahren – und wie ich mitbekommen habe, hat es sie bereits erreicht; dass ich auf der Flucht war, Autos geklaut und so ungefähr weitere 10 Male gegen das Gesetz verstoßen habe – werden sie mich wohl früher oder später rausschmeißen.« »Meinst du? Deine Eltern klangen bisher nicht so streng ...« »Sind sie auch nicht. Aber wenn es um Prestige geht ... hört jeder Spaß auf.« Alexanders Augen fielen für einen Moment zu, als würde er sich die kommende Situation bereits vor dem inneren Auge ausmalen können. »Abwarten. Erst einmal will ich hier lebend raus.« »Ja, ich auch«, lachte Jiro und ließ den Kopf in den Nacken fallen. »Aber das werden wir auch.« Alexander ließ es sich nicht nehmen und sah wieder zu seinem Nachbar, der ausgelassen an der Wand lehnte und auf die hölzerne Decke starrte. Sein Profil war fast feminin mit der Stupsnase und den vollen Lippen. Wäre nicht dieses ganze Metall, so dachte er, wäre er ein hübscher Mann gewesen. »Und du? Was wirst du tun? Zurückkehren?«, fragte er ruhig den gepiercten Mann, der auf seine Frage hin sofort schmunzelte. »Ja. Einfach zurück zu meiner Mom. In mein einfaches, menschliches Leben. Wo ich zur Schule gehe und irgendwann arbeite, um mir eine kleine Wohnung am Stadtrand leisten zu können. So wie jetzt auch.« »Das ist traurig«, bemerkte Alexander. »Nein, das ist normal!« Jiro hob einen Zeigefinger, um seinen Gesprächspartner darauf aufmerksam zu machen, dass nicht alle so viel Geld hatten, wie er. Und dass es schon gar keine Selbstverständlichkeit war in einem Haus zu leben. »Hast du einen Vater?«, hakte Alexander nach, als nichts über den Verbleib des anderes Elternteils fiel. »Ja, irgendwo in dieser Welt habe ich einen Vater. Aber ... der wollte vor ungefähr 10 Jahren nichts mehr von uns wissen und hat meine Mom für eine Schlampe verlassen.« »Das tut mir Leid ...« »Nicht doch«, lächelte Jiro erheitert und grinste Alexander ehrlich an. »So ist es besser. Seitdem verstehe ich mich super mit meiner Mom.« »Weil sie dich Autos klauen und Polizisten vermöbeln lässt?« Der Vampir konnte sich ein Grinsen nicht nehmen lassen. »Tja«, brummte Jiro raus und spitzte die Lippen, als sei das eine hinzunehmende Tatsache. »Davon weiß sie zum Glück nicht viel. Ist auch besser so.« »Du Punk. Wahre Anarchie.« »Besser als ein Schnösel zu sein!«, lachte Jiro, wenn auch etwas empört, und sah seinen Nachbarn etwas missmutig an. »So ist das Leben: lieber reich und schön sein als arm und verlaust, oder?« »Fick dich«, kam wie aus der Pistole aus Jiros Mund geschossen, was Alexander schmunzeln ließ. Es war, als würde fast jedes Gespräch mit einem Kraftausdruck von Jiro enden. Doch Alexander musste sich eingestehen, dass er daran Gefallen gefunden hatte. Besonders dieses eine Gespräch hatte ihn einen kleinen Stein vom Herzen genommen. Noch nie hatte es jemanden interessiert, was er für eine Vergangenheit hatte und wie er sich dabei fühlte. Alle um ihn herum erschienen immer so oberflächlich. Jiro hingegen heuchelte kein Interesse – das war echte Neugierde. Vielleicht war Jiro nur deswegen an ihm interessiert, weil es gerade nichts anderes zu bereden gab, aber das sollte kein Abriss seines guten Gefühls sein. Noch ehe er die Augen schließen und sich weiter ausruhen wollte, hörte er den Punk noch einmal sprechen. »Ich danke dir ... für alles. Wenn du nicht gewesen wärst ... wären wir nicht ansatzweise so weit gekommen.« »Wirst du wieder sentimental?«, schmunzelte Alexander und bewegte noch einmal die Augen in Jiros Richtung. Der sah ihn eindringlich an und schien sich regelrecht in der Aufmerksamkeit des Vampirs zu suhlen. »Du sollst nur wissen, dass wir ohne deine Hilfe ... wahrscheinlich schon viel eher den Löffel abgegeben hätten. Ist das kein gutes Gefühl? Leben gerettet zu haben? Besonders auch meins – das eines lausigen Punks?« Jiros Worte ließen seinen Gesprächspartner schaudern. Vielleicht sogar für einen Moment heftig Schlucken. »Du weißt es also?«, hauchte er fast tonlos aus seinen Lippen. Hatte Hiro nicht geschworen, über die eine Sache zu schweigen? Und Kiyoshi darüber zu unterrichten? »Was weiß ich?«, hakte sein Gegenüber sofort nach. Da stockte Alexander abermals der Atem. »Äh – nichts. Nichts Wichtiges.« »Sag schon«, grinste Jiro auf einmal, schmunzelnd über die Tatsache, dass er Alexander in eine dunkle Ecke getrieben hatte. Ein lautes Seufzen entfuhr seinen Lippen, als würde er die Aktion bis heute bereuen. Was gab es schon zu verlieren? Nach der Familiennummer konnte sein Ego ja nicht noch sehr viel weiter sinken. »Am See«, begann er leise, »haben dich nicht die Zwillinge aus dem Wasser gezogen ... sondern ich.« Er presste die Lippen zusammen und sah verstohlen neben sich. Doch Jiro begann sanft zu lächeln und nickte wissend. »Das dachte ich mir schon«, gab er ebenso leise zu verstehen und legte den Kopf schief. »Ach ja? Was gab dir Anlass dazu?« Unmöglich, dass er bei vollem Bewusstsein gewesen war! »Es war immer nur deine Stimme, die ich gehört habe. Ganz weit weg ... wie du geflucht hast, als du mich in dein Auto gelegt hast. Oder wie du mir die Schuhe ausgezogen hast, haha!«, lachte Jiro laut los und hielt sich den Bauch; völlig vergessend in welcher Situation sie noch waren. »Die sind aber auch furchtbar!«, nahm Alexander dankend den Themenwechsel an und schüttelte den Kopf. »Das sind die besten Schuhe auf der Welt! Nie würde ich andere tragen!« »Andere würden dir auch nicht stehen, glaube ich. Zumindest nicht, bis du diesen Pennerlook losgeworden bist.« »Weißt du was?«, schmunzelte Jiro glücklich und lehnte sich etwas gegen Alexander. »Fick dich.« »Ja, du dich auch«, war das erste Mal, dass Alexander eine Antwort auf die immerwährende Beleidigung von Jiro fand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)