Anwysitna ~ Die Prophezeiung von Anwysitna ================================================================================ Kapitel 2: Panik ---------------- Tick, tack, tick, tack. Vor Ella lag ein stumpfer, abgekauter Bleistift, auf dem zweiten kaute sie eifrig herum, während sie überlegte. Eine ziemlich blöde Angewohnheit hatte sie sich da zugelegt, aber es half ihr nun einmal beim Denken. Wenn ihr doch nur diese große Lösungsformel für quadratische Gleichungen einfallen würde. So eine einfache Formel und Ella hatte sie vergessen. Das war einfach typisch für sie! „Mit dieser Formel könnte ich sogar einen Dreier schreiben“, dachte sie wütend. Zehn Minuten hatte ihr Gehirn noch Zeit, zehn winzigen Minuten, und genau diese zehn Minuten waren wichtig für die gesamte Schularbeit. „Minus b plus/minus, dann kam eine Wurzel: b² minus viermal … aber was stand danach?“ Ellen biss enttäuscht ein Stück ihres Bleistiftes ab. „Warum dürfen wir kein Formelheft verwenden, was alle anderen Schulen auch erlauben?“ Das Beispiel konnte sie vergessen, genauso wie das Beispiel danach, dass für sie total unlogisch war. Wie sollte sie eine Gleichung aufstellen, wenn es in dem Beispiel nur eine einzige Zahl angegeben ist? „Viermal a mal c“, raunte ihr Heather leise zu, als sich die ältere, strenge Lehrerin kurz ihren Unterlagen widmete. Diese Streberfreundin war einfach ein Engel. Schnell bekritzelte Ella ihr Blatt mit dem weiteren Rechenweg, wurde aber trotzdem nicht rechtzeitig fertig, da diese zehn Minuten für Ellas Geschmack viel zu schnell vergangen waren. Der Horror mit dem Namen Mathematikschularbeit war endlich vorbei. Ella packte ihre Sachen, huschte aus der Klasse und ließ sich auf eine der Bänke plumpsen, während Heather sich ruhig und gelassen neben ihr niederließ. Bevor diese aber auch nur ein Wort sagen konnte, raunte Ella ihr zu: “Bitte lass mich nicht über Mathe reden.“ Immer wenn sie das taten, war sie schlechter davongekommen als geglaubt. Sie wollte sich keine Hoffnungen auf einen Dreier machen, nur um dann mit einem Fetzen enttäuscht zu werden. „Kein Problem“, meinte Heather nur und zwinkerte ihr zu, während sie in ihrem Kopf Ellas Dreier schon vorhersah. Sie war immer optimistisch, wusste einfach nicht, wie es ist zu versagen. Für sie war alles logisch, war für Ella total unlogisch war, besonders Zahlen und Formeln. Die Glocke kündigte den nächsten Stundenbeginn an: Chemie. Eigentlich mochte sie den Unterrichtsgegenstand, aber der Lehrer war die Hölle auf Erden, besonders, wenn man zu spät in seinen Unterricht kam. Mr. Sieder musterte die beiden mit seinem strengen Blick, eine seiner buschigen Augenbrauen nach oben gehoben, als die beiden den Chemiesaal betraten und schnell auf ihre Plätze huschten. „Sind Sie nicht ein wenig spät, meine Damen?“, tönte seine krächzende Stimme durch den Saal. Dann deutete er auf den Tisch, auf dem einige Schalen, Gläser und Flüssigkeiten standen. „Miss Mersley, wenn sie bitte so freundlich wären und sich hier versuchen.“ Miss Mersley, damit war Ella gemeint. Dieser Lehrer, konnte sie aus einem ihr unbekannten Grund nicht ausstehen, liebte es, sie fast jede Stunde nach vorne zu holen und dort mit zu Versuchen zu quälen, während die 22 anderen Schüler ihr bei ihrem Versagen zuschauten. Heather hatte das bessere Los gezogen, Mr. Sieder mochte seine 1A-Musterschülerin und bezog das Zuspätkommen nie auf sie. Deshalb hasste sie Chemie. Diese Aufmerksamkeit, dieses Bloßstellen...am liebsten würde sie schwänzen. Sie war so glücklich, dass Mr. Sieder nächstes Jahr voraussichtlich in Pension ging und sie in ihrem letzten Schuljahr einen anderen Lehrer bekamen. Vielleicht, war es Mrs. Vlorill, Ellas Biologielehrerin, die nicht nur nett sondern auch richtig begeistert von ihrem Unterrichtsgegenstand war. Sie war noch neuer an der Schule und unterrichtete auch Chemie, hatte weiters einen Chemie-Freigegenstand, an dem Ella teilnahm, um bei Mr. Sieders Unterricht bestmöglich vorbereitet zu sein. Ella wäre am liebsten aus dem Saal gerannt, doch riss sich zusammen und versuchte zu lächeln. Ein paar Schalen mit Salzen ein paar verschiedenfarbige Lösungen, so schlimm sah der heutige Versuch nicht aus. Sie zog sich den Labormantel an und setzte ihre Schutzbrille auf. „Wird schon schiefgehen“, dachte sie sich und stellte sich hinter den Tisch. Mr. Sieder blätterte kurz in seinen Unterlagen, dann ging er auf den Tisch zu. „Nun denn, schreiten Sie ans Werk“, sagte er und machte eine Art Verbeugung zum Versuch hin. Irgendwie war dieser Lehrer im letzten Jahrhundert stecken geblieben, so sah es zumindest aus. Wieder einmal wusste Ella überhaupt nicht, was sie machen sollte. „Zuerst drehen Sie den Bunsenbrenner auf“, ertönte Mr. Sieders Stimme lauter als erwartet, hörte sie wie direkt neben ihrem Ohr an, obwohl Mr. Sieder am anderen Ende des Tisches stand. Ella und drehte das Gasventil, das sich am linken Ende des Tisches befand, auf, das ein leises Zischen von sich gab. Dann zündete sie die Flamme am Bunsenbrenner. Zisch, Zisch. Immer lauter wurde Geräusch von Brenner und Gasventil, ließ Ellas Kopf schmerzhaft pochen. Doch sie musste durchhalten, musste das ignorieren, wollte nicht wie ein Loser dastehen. Zisch. Mr. Sieder schaute sie fordernd an. Wahrscheinlich hatte er etwas gesagt und sie hatte es nicht gehört. Zisch. Ella merkte, wie ihre Atmung unregelmäßig wurde, wie sie anfing nach Luft zu schnappen, wie sie Panik bekam. Zisch. Nicht schon wieder eine Panikattacke, nicht vor der gesamten Klasse! Doch sie konnte es nicht mehr verhindern. Schmerzhaft krampften sich ihre Muskeln zusammen, das Bild vor ihren Augen verschwamm, bis sie nicht mehr sehen konnte, wo sie war. Zisch. Ella musste hier raus, musste weg von diesem Zischen. Sie tastete sich mit ihren schwitzenden Händen am Tisch entlang, spürte ein Brennen an ihrem Unterarm, taumelte durch den Raum in Richtung Tür, bis sie dagegen stieß, schaffte es gerade noch die Tür zu öffnen und aus der Klasse hinaus zu taumeln, dann brach sie auf dem Boden im Gang zusammen. Als Ella ihre Augen öffnete, wusste sie zuerst nicht, wo sie war und warum wie am Boden lag, doch dann trafen sie ihre Erinnerungen wie ein Blitzschlag. Sie hatte gerade einen riesigen Anfall mit Ohnmacht gehabt, noch dazu vor der ganzen Klasse. Am liebsten wäre Ella in diesem Moment im Fliesenboden versunken, doch das ging leider nicht. Sie musste sich damit abfinden, wie sie 22 Augenpaare wie ein Alien anstarrten. „Haben die noch nie ein Alien gesehen?!“ Peinlich berührt wollte sie aufstehen, doch der etwas ältere Schularzt namens Dr. Brown deutete ihr, noch etwas sitzen zu bleiben, worauf sich Ella mit den Händen durch ihr zerzaustes Haar fuhr, um sich ein wenig mehr Schönheit anzueignen. Dabei fiel ihr Blick auf den großen weißen Verband, mit dem ihr Unterarm umwickelt war, der wie verrückt brannte. „Das wird schon wieder“, sagte Dr. Brown. „Ist nur eine kleine Verbrennung, wir mussten deine Mutter trotzdem davon in Kenntnis setzen. Es wäre gut, wenn ihr zur Kontrolle noch ins Spital fährt. Macht euer Lehrer öfters Vorschauversuche mit euch?“ Die Frage flüsterte er unhörbar für die anderen Schüler, wofür Ella ihm sehr dankbar war. „Eigentlich nur mit mir“, presste Ella zwischen den Zähnen hervor und blickte ihren Arm an. Der Arzt runzelte die Stirn. „Ist es okay, wenn ich den Direktor von dieser Art Versuchen in Kenntnis setze? Es klingt nicht wirklich so, als hättest du dich freiwillig hinter den Tisch gestellt.“ „Ich möchte nicht noch mehr Probleme mit Mr. Sieder“, flüsterte Ella zurück. Sie hatte am Anfang des Schuljahres schon versucht, sich gegen das Versuche-Vorzeigen zu wehren und es hatte nicht funktioniert. Außerdem war das Schuljahr bald zu Ende, das schaffte sie schon. Zehn Minuten später wartete eine besorgte Margi auf dem Schülerparkplatz. Sie war ausnahmsweise mit dem Auto angekommen, was einer 20 auf der besorgten Margi-Skala, die von eins bis 10 ging, glich, da sie Autofahren wie die Pest hasste. Ohne eine einzige Frage zu stellen, fuhr Margi zu ihrem kleinen Bücherladen, der außer Büchern auch noch alte Manuskripte, Schriftrollen, Heilsalben, Kräuter, Mixturen und Seifen führte. Für Margi gab es keine guten Krankenhäuser, das waren alles Lügner für sie. Als die beiden im privaten Teil des Ladens angekommen waren, brach Margi ihr Schweigen: „Was hast du denn schon wieder angestellt, mein Kleines?“ Sie entfernte den weißen Verband und betrachtete Ellas verbrannte Haut, danach rannte sie von Regal zu Regal, um die geeigneten Salben und Kräuter für Ellas Behandlung zusammenzustellen. In wenigen Minuten war die "Magische Sammlung", wie Margi sie immer genannt hat, als Ella noch kleiner war, vollkommen aufgebaut. Ella sah nur stumm auf ihren Arm herab und biss die Zähne zusammen, sie wusste, das würde jetzt wehtun. Im Krankenhaus hätte man sie schonender behandelt, doch Ella wusste, dass diese Salben bis jetzt immer geholfen hatten, stellte sie deshalb nicht in Frage. Margi schüttelte immer wieder den Kopf. „Was stellst du nur an, Kleines!“ Die Sorgenfalten auf Margis Stirn hatte Ellen in letzter Zeit öfters zu Gesicht bekommen. Ella betrachtete die Kruste auf ihrem anderen Arm. Eine Schürfwunde an die sie sich nicht einmal mehr erinnern konnte, weil sie schon wieder Schlafgewandelt war. Sie sollte diese Attacken und Schlafwandlereien endlich bekämpfen, so konnte es nicht weitergehen. Ein paarmal zuckte Ella wegen dem Aufbringen der Salben zusammen, doch dann war es endlich geschafft: Margi wickelte ihr einen frischen Verband um den Unterarm, ließ dann von ihr ab und räumte die Magische Sammlung wieder in die Regale. „Ruh dich ein bisschen aus“, trällerte sie noch zum Abschied, dann war sie durch die Tür verschwunden. Sie hatte ja schließlich auch noch Kunden zu betreuen. Ella schnappte sich eines der dicken älteren Bücher, das sie mindestens schon fünfmal gelesen hatte, legte sich auf die Couch und fuhr mit ihrer Hand über die eingravierten Buchstaben am alten Umschlag. Dann schlug sie die erste Seite auf und begann zu lesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)