Cor Umbrarum von Flordelis ================================================================================ Kapitel 1: Die ganze Sache läuft langsam aus dem Ruder. ------------------------------------------------------- Das Labor, in dem wir unsere Forschungen abhielten, befand sich in der Nähe des College-Campus. Aufgrund der Praktikabilität waren mehrere Forschungseinrichtungen rund um das Gelände herum eingerichtet worden und konnten gemietet werden. Davon hatten wir Gebrauch gemacht. So erweckten unsere Experimente keine ungewollte Aufmerksamkeit, da es hier sogar vollkommen normal war, wenn dichter Qualm aus den gekippten Fenstern quoll. Lediglich der Polizeieinsatz vor einigen Wochen war ungewöhnlich gewesen und hatte auch entsprechend viele Gaffer angelockt. Zu meinem Bedauern war auch wirklich unser Labor für den Aufruhr verantwortlich gewesen. Jemand war eingebrochen und hatte einen Teil unserer Forschungsergebnisse gestohlen. Das hatten wir, aus versicherungstechnischen Gründen, melden müssen, obwohl es mir lieber gewesen wäre, keinen Außenstehenden darin zu verwickeln. An die Befragung und die Papierarbeit, die uns einen ganzen Tag unserer Forschungszeit gekostet hatten, dachte ich nur ungern zurück. Ohne all diese Umstände wären wir innerhalb weniger Stunden wieder auf demselben Stand gewesen wie vor dem Einbruch, aber unser Vermieter und mein Partner empfanden es als wichtig, die Polizei hinzuzuziehen. Die äußere Fassade des Gebäudes wurde von vielen Leuten als hässlich empfunden, ich sah sie als funktional. Grauer Beton wechselte sich mit Glasscheiben ab, die kurz nach Mitternacht allesamt in Dunkelheit getaucht waren – abgesehen von einem hell erleuchteten Quadrat im obersten Stockwerk; unser Labor. Da wir oft bis spät in die Nacht hinein arbeiteten, war ich es bereits gewohnt, dass man sich im Gebäude wie der letzte Mensch auf der Welt vorkam – und ich genoss es stets aufs Neue. Das unangenehm grelle Licht im Aufzug, gab mir die Möglichkeit, während der Fahrt nach oben noch einmal die Notizen durchzugehen, die ich von dem Tatort gemacht hatte. Aber es waren nicht sonderlich viele. Das Opfer war allein gewesen, es gab keine Zeugen, keine verwertbaren Spuren, genau wie in den letzten sechs Fällen. Und exakt wie in diesen war das Opfer unversehrt, wenn man von dem klaffenden Loch in der Brust und der Abwesenheit des Herzens absah. Das brachte uns wirklich nicht weiter. Im obersten Stockwerk trat ich schließlich aus dem Aufzug. Zwei Glastüren führten in Labore, eine weitere einen Gang hinunter zu mehr Räumen. Die Dunkelheit schien mir aber regelrecht davon abzuraten, dort entlangzugehen. Schon nach wenigen hundert Metern wurde die Finsternis derart undurchdringlich, dass ich glaubte, mich darin verirren zu müssen, wenn ich es doch einmal wagen sollte, mich dort hineinzubegeben. Glücklicherweise lag unser Labor direkt gegenüber des Aufzugs und war noch hell erleuchtet. Ich ließ die Milchglastür hinter mir und zog meine braune Jacke aus. In einer flüssigen Bewegung hängte ich diese an der Garderobe auf und griff nach meinem makellos weißen Laborkittel, den ich mir im Gehen überstreifte. Links von der Garderobe stand eine Empfangstheke, für den Fall, dass man eine Empfangsdame einstellte, die sich um Organisatorisches kümmerte. Mein Partner und ich besaßen keine, deswegen blätterte ich schnell durch die gestapelte Post, stellte fest, dass es sich dabei nur um Werbung handelte, dann widmete ich meine Aufmerksamkeit dem Anrufbeantworter. Mein Finger schwebte bereits auf der Abspiel-Taste, aber da fiel mir auf, dass keine Nachrichten angezeigt wurden. Niemand hatte angerufen. Ohne diese Ablenkungen konnte ich endlich in Richtung des Versuchsraums laufen, hielt davor aber noch einmal inne. Hinter dem Empfang führte eine Tür in eine kleine Küche für Angestellte. Es war ein winziger Raum, gerade groß genug für einen Herd und einen Tisch für zwei Personen, inklusive eines Stuhls. Auf diesem saß mein Partner gerade und aß Cup Noodles. „Guten Abend, Jarl“, grüßte ich höflich, worauf er den Blick hob. Ich kannte Jarl bereits seit der High School, weil wir im selben Biologie-Kurs gewesen waren. Dabei war meine erste Aussage ihm gegenüber nicht sonderlich freundlich gewesen: Ich wünschte, ich könnte dein Auge rausschneiden und es untersuchen. Damals hatte ich es nicht gewusst, aber Jarl wurde mit Heterochromia iridis geboren – im Klartext bedeutet es einfach, dass seine Augen zwei unterschiedliche Farben aufweisen. Sein rechtes Auge war grün, sein linkes golden, was mich damals so sehr fasziniert hatte und mich immer wieder erstaunt innehalten und darüber grübeln ließ. Nach diesem etwas holprigen Start hatten wir uns schnell angefreundet, da uns die Liebe zu den Naturwissenschaften verbindet. Irgendwann war er auch auf meine Fragen bezüglich seines linken Auges eingegangen und so wusste ich bald, dass er auf diesem nichts sehen konnte. Dadurch wurde das rechte überanstrengt, weswegen er eine Brille tragen musste, um das auszugleichen. Ich trug ebenfalls eine, also hatten wir schon zwei Gemeinsamkeiten. Dass wir beide auch noch Außenseiter waren, hatte die Sache schließlich perfektioniert. So waren unsere Wege immer dieselben geblieben, durch die High School, das College, bis zu diesem Labor. „Du weißt, dass dieses Essen nicht sonderlich viele Nährstoffe enthält?“ Ich nutzte die Gelegenheit, dass Jarl noch mit Kauen beschäftigt war, um ihn darauf hinzuweisen. „Und um diese Zeit zu essen ist mitverantwortlich für Albträume.“ Jarl rollte mit den Augen, schluckte das Essen hinunter und sprach: „Guten Abend, Konia. Du hast das siebte Opfer gesehen?“ Ich nickte. „Die ganze Sache läuft langsam aus dem Ruder. Ich nehme an, die Polizei hat sich nicht gemeldet?“ „Ich bezweifle, dass sie jemals denjenigen finden werden, der bei uns eingebrochen ist. Jedenfalls nicht, bis sie die Morde zurückverfolgen können.“ Darin lag auch schon unser Problem. Die verübten Morde standen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit unseren Forschungen. Unser Gebiet galt selbst unter anderen Wissenschaftlern als exotisch, weswegen die Polizisten, die wegen des Einbruchs vor Ort gewesen waren, skeptisch die Stirn gerunzelt hatten. Am Anfang jedenfalls. Nach einem Erklärungsversuch worin genau unsere Experimente bestanden, war deutlich zu sehen gewesen, dass es mühsam war, das Gelächter zurückzuhalten. Wenigstens waren sie nett genug gewesen, erst im Aufzug nach unten den Respekt abzulegen. Das dröhnende Lachen war durch den Fahrstuhlschacht zu hören gewesen. Kurz gesagt erforschten wir die Physiologie von Dämonen und versuchten sie nachzubilden, um sie künstlich zu erschaffen. Einen wirklichen Sinn schien das auf den ersten Blick nicht zu machen, aber es könnte im Training für Dämonenjäger nützlich werden. Zumindest war das unsere Hoffnung gewesen. Wir waren fast an dem Punkt gewesen, einen ersten Dämon zu erstellen, als uns die Unterlagen gestohlen wurden. Bislang war es uns nicht gelungen, die verlorenen Daten zu rekonstruieren. Natürlich nahmen uns die eingeschränkt denkenden Polizisten da nicht ernst. Deswegen war es auch ausgeschlossen, dass wir zu ihnen gehen und unsere Sicht der Dinge darlegen würden, was die Morde anging. Vermutlich glaubten sie eher, dass wir versuchten, unseren Fall künstlich auf der Prioritäten-Liste nach oben zu bugsieren. Also blieb uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, den Fall ebenfalls zu lösen und so den Einbrecher und Dieb – und inzwischen auch Mörder – zu finden. „Irgendwelche Ergebnisse heute?“, fragte ich, die Schulter gegen den Türrahmen gelehnt. Er beendete seine nächtliche Mahlzeit, stellte die Tasse mit dem Löffel in die Spüle und erhob sich dann vom Stuhl. „Nicht so wirklich. Langsam hege ich den Verdacht, dass wir damals nur durch einen unfassbaren Zufall auf die Ergebnisse kamen.“ Das musste dann aber wirklich ein sehr großer gewesen sein, fuhr es mir durch den Kopf. „Wie groß ist dafür die Wahrscheinlichkeit?“ „Willst du eine genaue Prozentangabe?“ Ihm genügte meine hochgezogene Augenbraue als Antwort, hob entschuldigend die Hände. „Jedenfalls konnte ich die Ergebnisse nicht rekonstruieren, aber ich habe etwas anderes gefunden, das dir vielleicht gefallen könnte.“ Meinem Gesicht war es vermutlich nicht anzusehen, aber diese Ankündigung weckte Interesse in mir. Ich trat beiseite und ließ Jarl an mir vorbeigehen, damit er den Weg führen könnte. Im Gehen griff er sich seinen Laborkittel, den er auf dem Stuhl abgelegt hatte und zog ihn über. Im Gegensatz zu meinem war seiner nicht mehr strahlend weiß, sondern mit einigen Flecken und Brandspuren übersät. Wann immer ich ihn darauf hinwies, zuckte er lediglich mit den Schultern, deswegen blieb ich in dieser Nacht still. Statt ins Hauptlabor, das noch einmal durch eine Glastür vom Empfangsraum getrennt war, führte er mich zum Schreibtisch am Fenster. Unser Computer, der einzige im Labor, summte dort leise vor sich hin. Auf dem Bildschirm herrschte Schwärze, die in unregelmäßigen Abständen von einem grünen Zucken durchbrochen wurde, ähnlich dem eines Herz-Monitors – allerdings sollte man sich bei diesem durchaus Sorgen machen, wenn er ein unregelmäßiges Bild zeigte. Jarl stieß die Maus an, während wir uns setzten. Sie erstrahlte in einem sanften blauen Licht und im selben Moment verschwand auch der Bildschirmschoner und enthüllte uns den Desktop. Der Hintergrund war ein schlichtes Blau, funktional eben, die wenigen Icons beschränkten sich auf wissenschaftliche Programme, die wir für unsere Forschungen benötigten. Falls Jarl diesen Computer manchmal für Spiele benutzte, war es zumindest gut versteckt. Ich dagegen wüsste nicht einmal, wo ich nach diesen suchen sollte, also spielte ich auch keine. Jarl klickte auf ein Programm, das wohl im Hintergrund gelaufen sein musste, denn es öffnete sich sofort in einem Fenster. Angezeigt wurde das Bild eines Lichtmikroskops, in der Flüssigkeit befanden sich viele kleine Kristallgebilde, die mich interessiert den Kopf neigen ließen. Auf den ersten – und auch auf den zweiten – Blick sahen sie aus wie kunstvolle Eiskristalle, geformt von der Natur selbst, niemals glich einer dem dem anderen, immer neu, immer anders. „Was ist das für eine Probe?“ Jarl sah kurz zu mir, das Licht des Monitors spiegelte sich auf seiner Brille. „Dein Blut.“ Mit gerunzelter Stirn dachte ich darüber nach, wann er an mein Blut gekommen war – und ich fand auch schnell eine Antwort: Vor zwei Tagen hatte ich mir an einem zerbrochenen Glas die Finger aufgeschnitten. Während ich ein Pflaster angelegt hatte, war Jarl damit beschäftigt gewesen, die Scherben einzusammeln. Er musste dabei das Blut auf einem Plättchen konserviert haben. Aber ich konnte mich nicht darüber aufregen, denn an seiner Stelle hätte ich genau dasselbe getan. Mir blieb allerdings eine Frage: „Warum wolltest du mein Blut analysieren?“ „Ich war neugierig“, erwiderte er schulterzuckend. „Man trifft selbst heutzutage nicht oft auf Menschen wie dich.“ Er vielleicht nicht, ich dagegen schon, was wohl aber auch an meinem Bruder lag. Das erwähnte ich allerdings nicht, da es nur zu neugierigen Fragen geführt hätte, die ich im Moment nicht beantworten wollte. Im Grunde ging es ihn auch gar nichts an, wie meine Familienverhältnisse aussahen. „Jedenfalls sind mir da diese Kristallgebilde aufgefallen, sie sind überall in deinem ganzen Blut.“ Es war das erste Mal, dass ich mein Blut unter dem Mikroskop betrachtete, aber ich wusste nicht, warum Jarl deswegen so aufgeregt schien. „Ist das nicht natürlich?“, fragte ich. „Aus irgendeinem Grund muss ich diese Fähigkeiten ja beherrschen.“ Zur Demonstration hob ich die Hand, mit der Handfläche nach oben, und ließ einen Kristall aus Eis darauf erscheinen. Mein Arm kribbelte dabei, unterhalb der Haut schienen zahlreiche Nadeln daran entlangzustreichen, ohne mich wirklich zu verletzen, möglicherweise handelte es sich dabei um die Kristalle in meinem Blut. Trotz meines Forscherdrangs, der in mir sogar den Wunsch geweckt hatte, Jarls Auge herauszuschneiden, war ich nie auf den Gedanken gekommen, mein eigenes Blut zu untersuchen. Für mich war diese Fähigkeit immer normal gewesen, nie ein Anlass, da weiterzuforschen, genausowenig wie Jarl selbst sein Auge untersuchen wollte. „Dennoch finde ich es seltsam, dass du diese Fähigkeit hast.“ Ich ließ den Kristall wieder verschwinden. „Nicht seltsam im Sinne von schlecht, sondern einfach ungewöhnlich genug, dass es mein Interesse weckt.“ „Was irritiert dich daran? Die Eispartikel in meinem Blut resonieren mit den Nanopartikeln in der Luft und erschaffen damit eine Form, die ihnen am nächsten kommt.“ Die Nanopartikel waren während des letzten Krieges – der historisch gesehen zwar Ausmaße eines dritten Weltkriegs hatte, aber allgemein nur als Erweckungskrieg bekannt wurde – entwickelt und auch eingesetzt worden, um zu ergründen, ob feindliche Gasangriffe eingesetzt worden waren. Es war angedacht gewesen, dass die Nanopartikel sich mit bestimmten Stoffen in bekannten Giftgasen verbinden und dann jedes Teilchen groß genug werden lassen, um mit dem bloßen Auge sichtbar zu werden. Das funktionierte auch. Aber es brachte noch mehr zum Vorschein. Etwas, das sich der menschlichen Wahrnehmung bislang geschickt entzogen hatte. Dämonen hatten, wer weiß wie lange, unerkannt zwischen den Menschen gelebt und wurden, nun da sie sichtbar waren, zu einer echten Bedrohung für diese. Angesichts dieses gemeinsamen Feindes hatte der Krieg schlagartig geendet, weil alle Nationen seitdem bemüht waren, sich gegen diese Wesen zu verteidigen. Glücklicherweise verursachten die Nanopartikel noch einen weiteren Nebeneffekt: Einige nach diesem Krieg geborenen Kinder trugen sie ebenfalls in ihrem Blut, unter anderem auch mein Bruder und ich. Diese Teilchen erlaubten es, unsere Körper mit den immer noch vorhandenen Nanopartikeln in der Luft zu verbinden und besondere Fähigkeiten einzusetzen und andere Kleinigkeiten, wie Telepathie oder das genaue Orten anderer, solange sie gerade ebenfalls verbunden waren. Die meisten von uns nutzten diese Fähigkeiten, um gegen die Dämonen vorzugehen, ich hatte mich dagegen entschieden. Ich war keine Kämpferin und wollte auch keine werden. Ich kannte die Theorie, aber ich war nie auf den Gedanken gekommen, mir einmal anzusehen, wie die Partikel wohl genau aussehen mochten. Weil es eben, wie erwähnt, für mich normal ist. „Mich irritiert daran nichts“, erwiderte Jarl auf meine Frage. „Ich kam vorhin aber ins Grübeln, das war mit ein Grund, mir deine Blutprobe anzusehen.“ Er machte eine Pause, wohl um mich auf die Folter zu spannen, was ihm auch außerordentlich gut gelang. Unwillkürlich rutschte ich ein Stück auf meinem Stuhl zur Seite, damit ich näher bei ihm saß, weil ich glaubte, er wartete darauf, um es mir verschwörerisch zuzuflüstern. Er näherte sich mir ebenfalls und senkte wirklich die Stimme – und seine Worte verfehlten die gewünschte Wirkung nicht: „Ich glaube, dein Blut ist der Schlüssel, um unsere Forschungen auf die nächste Stufe zu heben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)