Relief von Kyo-chi ================================================================================ Relief ------ „Was ist passiert?“ Träge hebe ich meinen Blick, sehe aus spürbar geschwollenen und geröteten Augen hinauf zu der Person, zu dem Mann, der neben mir steht, mich zu mustern scheint. Zumindest vermute ich das. Denn nur schwach nehme ich dies wahr, mein Blick verschwommen, mein Kopf noch immer nicht richtig anwesend. Kein Ton verlässt dabei meine Lippen, stattdessen wende ich mich nur wieder ab, sehe zu Boden, auf welchem ich sitze. Die Fliesen sind kalt und doch fehlt das Verlangen in mir etwas dagegen zu tun, aufzustehen, um der Kälte zu entgehen. „Warum…?“ Die Frage klingt nicht anklagend, nicht wütend. Nein, viel eher besorgt und ich spüre, wie er sich neben mich hockt, mich noch immer ansieht, seine Hand auf die meine legt, sie sanft und behutsam umschließt. Erneut sehe ich zu ihm, betrachte ihn, bevor ich auf unsere Hände blicke, auf die etwas größere, warme Hand auf meinen kalten, auf die kleine Rasierklinge zwischen meinen Fingern. Augenblicklich beginne ich zu zittern und wie in Zeitlupe schaue ich auf meinen Oberschenkel, auf die vielen feinen Schnitte dort, die sich quer darüber ziehen und aus denen ein wenig Blut quillt. Ich spüre, wie Tränen über meine Wangen fließen, lautlos auf die Fliesen tropfen. Nicht zum ersten Mal weine ich heute. Nicht zum ersten Mal zittert mein Körper. Und nicht zum ersten Mal fange ich wie wild an zu schluchzen, zu beben, nach Atem zu ringen. Ich kann es einfach nicht kontrollieren. Erst jetzt nimmt er mir vorsichtig die kleine Klinge aus der Hand und ich lasse es zu, schluchze nur wieder laut, beinahe panisch, versuche nach Luft zu schnappen, die mir fast verwehrt bleibt. Dann spüre ich seine Arme, wie sie sich vorsichtig um mich legen, wie sie mich behutsam an den anderen, warmen Körper drücken, mir versuchen Schutz zu geben. Zärtlich streichen seine Finger durch mein Haar, kraulen mich im Nacken und ich drücke mich einfach an ihn, kralle mich fest in sein Oberteil und nehme einfach alles, was er mir gibt. Jeder andere würde versuchen mich mit Worten zu trösten, mir sagen, dass alles gut ist, dass alles gut wird und dass ich nicht so viel nachdenken soll. Dass es falsch ist, was ich da tue, dass es keine Lösung für all das ist, dass es dadurch nicht leichter oder gar besser wird. Ich weiß selbst, dass es nicht richtig ist, dass ich das nicht hätte tun sollen, dass es nicht hilft, dass es nichts ändert. Jahrelang habe ich es nicht getan, habe es nicht gebraucht. Aber heute… heute war es irgendwie anders. Ich kann es einfach nicht beschreiben, kann es nicht anders ausdrücken. Und obwohl ich es hasse, dass er mich so gesehen, dass er mich so vorgefunden hat, bin ich froh, dass ich ihm damals meinen Wohnungsschlüssel gegeben habe, damit er nach mir sehen kann, wenn etwas nicht stimmt. Und ich bin dankbar dafür. Denn er hat gemerkt, dass etwas anders ist. Langsam beruhige ich mich wieder, löse mich etwas von ihm, meide es jedoch, ihn anzusehen. Viel zu merkwürdig ist die ganze Situation. „Möchtest du vielleicht einen Tee? Und etwas Süßes?“ Beinahe liebevoll streichen seine Finger durch mein blondes Haar und er nimmt es einfach so hin, dass ich mich von ihm löse, mich sogar erhebe. Er wartet sogar geduldig auf eine Antwort, die er in Form eines Kopfschüttelns erhält. Ich möchte keinen Tee. Und auch nichts Süßes. Auch wenn es das ist, was ich an solchen Tagen brauche. Schon immer hat mich dieses Ritual, ein Tee und meine Lieblingssüßigkeit, beruhigt und geholfen, dass es mir besser geht. Heute möchte ich allerdings nicht. Und er akzeptiert es, nickt, wie ich aus den Augenwinkeln erkenne und erhebt sich mit einem leisen Ächzen. Noch einmal kann ich seine warmen Finger spüren, wie sie durch mein Haar streichen, mich kurz und federleicht im Nacken kraulen. Ich liebe das. Es hilft so viel mehr als alle Worte dieser Welt es könnten. „Dann geh erst einmal ins Wohnzimmer, ja? Ich komme gleich nach.“ Wieder seine Finger in meinem Haar. Wieder diese Berührung, die mir so viel gibt, mir so viel bedeutet, mich so sehr beruhigt. Und ich nicke, löse mich nun ganz von meinem Besucher und gehe langsam, aber zielstrebig ins Wohnzimmer. Kurz schweift mein Blick dabei über meinen Oberschenkel, über die feinen Schnitte, die bereits aufgehört haben zu bluten. Mittlerweile ist das Blut dunkelrot, klebt verkrustet an den Verletzungen, schließt sie so. Sie sind nicht tief, das weiß ich. Dafür hat es einfach zu sehr wehgetan… Ich versuche mir keine weiteren Gedanken zu machen, setze mich stattdessen auf die Couch, die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen und meinen Kopf auf den Knien gebettet. Ich fühle mich sofort wieder schlecht, einfach nur, weil ich alleine bin, weil Die - er ist es, der sich gerade in meiner Wohnung befindet - nicht bei mir ist. Dabei ist er doch nur wenige Meter entfernt. Und dennoch kann ich es nicht verhindern, dass mein Blick verschwimmt, dass mein Körper zu zittern und mein Herz zu schmerzen beginnt. Ich hasse es. Diese Momente, in denen ich mir so hilflos vorkomme, in denen ich einfach nicht weiß, was ich tun soll. Meine Fingernägel krallen sich fest in meine Beine und ein leises Wimmern entkommt meinen bebenden Lippen, während ich mein Gesicht mehr gegen meine Knie drücke, so versuche ein Schluchzen zu verhindern. Warum kann das nicht einfach aufhören? Warum muss es so verdammt wehtun? „Kyo…“ Ich spüre warme Hände an meinen kalten Fingern, fühle, wie sie sanft darüberstreichen, jedoch nichts dagegen tun, dass ich mich so in meine Haut kralle, rote, leicht blutige Striemen hinterlasse. Doch es ist okay. Ich mag es nicht, wenn man mir verbietet zu tun, was ich tun will. Er weiß das. Deshalb wartet er einfach, streicht über meine Hände, manchmal sogar über meine Arme, hinauf bis zu meinen Schultern. Solange, bis ich mich entspanne, bis ich von mir ablasse und sogar langsam meinen Kopf etwas hebe, um ihn anzusehen. Er hockt vor mir, betrachtet mich mit einem kleines Lächeln auf den Lippen. Ich weiß, was das bedeutet. Ich weiß, dass er stolz auf mich ist, weil ich es allein geschafft habe. Weil ich es ohne seine Hilfe geschafft habe, damit aufzuhören. Aber er liegt da so falsch. Ohne ihn würde ich es niemals schaffen. Ohne ihn hätte ich es nicht einmal damals geschafft und aufgehört. Ohne ihn wäre ich nicht so, wie ich es heute bin. Dennoch lächelt er mich weiterhin an, streicht nun wieder durch mein Haar, sodass ich für einen Moment meine Augen schließe. Ich brauche das gerade so sehr. Einfach nur die Nähe einer anderen Person, Die’s Nähe, das Wissen, dass ich nicht allein bin, dass es da jemanden gibt, dem ich wichtig bin. Er scheint dies zu bemerken, zu wissen, denn seine Finger gleiten weiterhin durch mein Haar, streichen einige kurze Strähnen aus meiner Stirn. Zwar höre ich leises Rascheln von Kleidung, bemerke, dass er sich erhebt und sich neben mich setzt, doch er hört nicht auf mir diese zärtlichen Berührungen zu schenken, so dass ich meine Augen auch weiterhin geschlossen halte. Schier eine Ewigkeit schenkt er mir weiterhin dieses beruhigende Streicheln, krault immer wieder meinen Nacken. Dabei sitzt er neben mir, so nah, dass ich seine Wärme spüren kann, fühle, wie sie auch mich langsam aufwärmt. „Auch wenn du nicht wolltest… ich habe dir eine Tee gemacht.“ Während er diese Worte ausspricht, steht seine Hand nicht still. Erst als ich meine Augen öffne, mich etwas zurücklehne, damit ich aufrechter sitze und zu ihm blicke, hält er in seiner Bewegung inne, erwidert meinen Blick. „Trink ihn, okay? Ich habe dir auch deine Lieblingsschokolade mitgebracht.“ Wieder lächelt er und zieht einmal kurz und sanft, fast ein wenig frech an meinem Ohr, so dass ich etwas mein Gesicht verziehe, murre. Ich weiß, was er damit bezwecken will. Und er weiß, dass er es dadurch erreicht. Grummelnd nicke ich und blicke auf den Tisch vor uns, auf die Tasse Tee, die dort steht, noch immer etwas dampft. Und daneben liegt eine Tafel der Schokolade, die ich am liebsten esse. Die ist so ein Idiot. Das ist er immer. Aber der beste, den es gibt. So kann ich es auch nicht verhindern, dass sich ein kleines Lächeln auf meinen Lippen ausbreitet, als ich nach der Schokolade greife, sie vorsichtig auspacke, damit ich die Verpackung nicht kaputt reiße. Das mag ich einfach nicht. Ein Stück der süßen Verlockung breche ich ab und stecke es mir in den Mund, seufze leise. Auch wenn es nur eine belanglose Kleinigkeit zu sein scheint, für mich bedeutet sie so viel, einfach alles. „Danke“, murmele ich kaum hörbar und breche ein weiteres Stück ab, reiche es Die, der es lächelnd annimmt und isst, zufrieden scheint. „Für dich immer, Kyo.“ Wieder ist da diese zärtliche Berührung, dieses liebevolle Streicheln. Und je öfter und länger ich es spüre, desto besser geht es mir. Erneut muss ich lächeln. Ich bin so froh ihn zu haben, ihn an meiner Seite zu wissen. „Danke…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)