Der Aufstieg der Assassine von -Rinni- ================================================================================ Kapitel 2: Vergoldeter Käfig ---------------------------- "V-Verlobungsfeier?!" Scarramouches Stimme nahm einen schrillen Klang an, als sie für einen kurzen Moment die Beherrschung verlor. Sie saß nun kerzengerade im Bett, nachdem sie mit dieser Neuigkeit von ihrer Mutter geweckt worden war. Eliha wedelte ungeduldig mit der Hand. "Natürlich, Scarramouche. Du weißt doch, dass dies unter den mächtigsten Familien Neriaks üblich ist, und dein Verlobter ist nach dem König nahezu der einflussreichste Mann in der Stadt. Es werden etliche wichtige Persönlichkeiten auf dieser Feier anwesend sein." "Aber - heute Abend?! Mutter, das kann doch nicht euer Ernst sein?!", entgegnete Scarramouche wütend und sprang aus dem Bett. Erst vor wenigen Tagen hatte sie ihren Entschluss gefasst, Sharthir zu töten, wenn die Zeit gekommen war, als Antwort auf seine Unverfrorenheit zu glauben, dass er sie einfach zur Frau zu nehmen könne, weil es ihm gerade beliebte. Erst vor wenigen Tagen war der Hochzeitstermin der beiden bekannt gegeben worden - wie also konnten ihre Eltern bereits für den heutigen Tag ihre Verlobungsfeier ansetzen? Doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich konnten ihre Eltern dies nicht so kurzfristig geplant haben. Die Hochzeit würde bereits in weniger als drei Monaten stattfinden; welche Vermählung in diesem Größenverhältnis organisierte man in nur drei Monaten? Ihre Eltern mussten sie Sharthir schon lange, lange bevor er ihr vorgestellt wurde, versprochen haben und damit auch die Vermählung sowie auch die Verlobungsfeier geplant haben. Nur sie hatte jetzt erst davon erfahren. Scarramouche öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, unfähig ihre Wut in Worte zu fassen; sie war buchstäblich sprachlos. Ihre Mutter blieb von ihrem Zorn völlig ungerührt. "Die Feier findet heute Abend vor Sonnenuntergang im Palast statt. Sogar der König und die Königin werden anwesend sein! Denk doch nur mal darüber nach, welch eine Ehre das ist!", erwiderte Eliha voller Begeisterung, welche Scarramouche nicht einmal ansatzweise teilte. Stattdessen starrte sie ihre Mutter eingeistert an. "Im PALAST?!", stieß sie schrill hervor. "Ganz recht, im Palast", antwortete ihre Mutter unbeeindruckt. "Und deshalb müssen wir jetzt schon dafür sorgen, dass du heute Abend angemessen dort erscheinst." Sie klatschte energisch in die Hände, und im nächsten Augenblick erschienen zwei Dienerinnen in Scarramouches Zimmertür; eine von ihnen trug ein prächtiges schwarzes Kleid über dem Arm, welches Scarramouche misstrauisch beäugte. Eliha war ihrem Blick gefolgt. "Ein Geschenk deines Verlobten", erklärte sie lächelnd. "Er hat unmissverständlich klargemacht, dich heute Abend darin sehen zu wollen." Scarramouche rümpfte verstimmt die Nase und öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch ihre Mutter warf ihr einen strengen Blick zu, sodass sie beschloss, es dabei zu belassen. Mit ihrem Entschluss, ihren Peiniger zu töten, hatte sie im Stillen zähneknirschend zugestimmt, seine Frau zu werden, bis die Zeit gekommen war, es ihm heimzuzahlen. Also würde sie sich dieser Verlobungsfeier nicht entziehen können. Mit einem Seufzen ließ sie sich wieder auf ihrem Bett nieder und erlaubte es ihrer Mutter und den beiden Zofen, ihr dabei behilflich zu sein, sich für den kommenden Abend zu richten. Und tatsächlich wurde auch fast der gesamte Tag dafür in Anspruch genommen und als Scarramouche sich am frühen Abend im Spiegel betrachtete, war sie aufrichtig überrascht über das Ergebnis. Es gefiel ihr nicht, doch sie musste zugeben, dass Sharthir ihren Geschmack genau getroffen hatte, was das Kleid betraf. Die glänzende, schwarze Seide ließ anmuten, dass sie ein Vermögen gekostet haben musste, ebenso wie die aufwendigen silbernen Stickereien und Perlen, mit der sie überzogen war. Dennoch war das Kleid nicht zu protzig - es war schlicht geschnitten und zu Scarramouches Erleichterung fiel es auch nicht zu aufreizend aus und das Gesamtbild mit ihrer Hochsteck-Frisur, Schminke und dem Schmuck, den Sharthir ebenfalls bezahlt hatte, war atemberaubend und schmeichelte ihrer mitternachtsblauen Haut. Und doch, obwohl sie als Tochter einer einflussreichen Familie sehr gerne schöne Kleider trug, fühlte sie sich unwohl, denn nun sah sie genauso aus, wie ihr Verlobter es wünschte. Wenn sie jetzt schon von ihm vorgeschrieben bekam, wie sie sich zu kleiden hatte, wagte sie es nicht, sich auszumalen, was künftig noch auf sie zukommen würde. Ihr Spiegelbild blickte ihr gleichgültig entgegen, doch hinter der Fassade tobte ein Kampf verschiedenster Gefühle; Wut, Angst, Unsicherheit und Verzweiflung rangen um die Vorherrschaft und Scarramouche hatte Mühe, keines von ihnen nach außen dringen zu lassen. Sie fühlte sich wie eine Opfergabe; geschmückt und hergerichtet und bereit, ihrem Untergang entgegengeführt zu werden. Als ihr Vater Nador den Raum betrat, wurde Scarramouche aus ihren düsteren Gedanken gerissen. "Es wird Zeit, die Kutsche wartet bereits", sagte er an seine Frau gewandt, dann blieb sein Blick an seiner Tochter hängen. Scarramouche spürte, wie sie einer genauen Musterung unterzog, bis ein zufriedener Ausdruck auf seine Züge glitt. Die junge Teir'Dal wandte den Blick mit finsterer Miene ab. "Wirklich erstaunlich, zu was Lord T'Narem bereit ist, für dich in Bewegung zu setzen." Die Stimme ihres Vaters klang sichtlich beeindruckt und auch ein gewisser Stolz schwang in ihr mit. "Es muss für dich eine Ehre sein, Scarramouche, er ist nahezu der einflussreichste Mann in ganz Neriak und du scheinst ihm ein kleines Vermögen wert zu sein, wenn ich mir dieses Kleid ansehe und an die Gästeliste für heute Abend denke", fuhr er fort. "Selbst auf unseren ausdrücklichen Wunsch hin, die Kosten für eure Vermählung aufzuteilen, bestand er darauf, sie ganz alleine zu tragen." Scarramouche starrte ihn an und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Während sie ihren Eltern vor das Eingangsportal ihres Anwesens folgte, wo die Kutsche auf sie wartete, grübelte sie darüber nach, was nur mit diesem Kerl los war - sie hatte ihm, wie auch all seinen Vorgängern stets die kalte Schulter gezeigt und ein derart schlechtes Benehmen an den Tag gelegt, dass ausnahmslos jeder von ihnen alsbald das Interesse an ihr verloren hatte. So aber nicht Sharthir. Sie hatte eher das Gefühl, dass, je mehr sie sich gegen ihn sträubte, sie sein Begehren noch weiter damit anfachte. So wie sie sich ihm gegenüber verhielt, war es ihr unerklärlich, dass er keine Kosten scheute, was ihre Vermählung anbelangte. Während der Kutschfahrt durch Neriak in Richtung Todesgrotte, wo  der Dunkellicht-Palast lag, sah Scarramouche lustlos aus dem Fenster. Früher einmal, noch vor ihrer Geburt, hatte die Familie V'Oziar ebenfalls in der Todesgrotte gelebt - dem Viertel, in dem nur die reichsten und angesehensten Teir'Dal-Geschlechter wohnten und in dem sich auch der Palast der Königsfamilie Thex erhob. Doch auf Anordnung von Cristanos Thex, der gegenwärtigen Gemahlin des Königs Naythox und gleichzeitig das Oberhaupt der "Toten", der Nekromanten-Gilde in Neriak, zogen ihre Eltern in ein nicht minder prächtiges Anwesen im Hafenmarkt, um dort die "Indigo-Bruderschaft" im Auge zu behalten, der auch König Naythox angehörte. Es war kein Geheimnis, dass Königin Cristanos und König Naythox sich hassten und im ständigen Streit miteinander lagen und um die Herrschaft über Neriak kämpften, bis einer der beiden irgendwann dem anderen schließlich unterliegen würde. Als ihre Gedanken von dem alten Sitz ihrer Familie zum Kampf um die Krone geschweift waren, seufzte Scarramouche. Irgendwie konnte sie Cristanos sehr gut verstehen; es gab gewisse Parallelen zwischen ihr und der Gemahlin des Herrschers. Sie war nur eine angeheiratete Thex und höchstwahrscheinlich war dies ebenfalls eine arrangierte Ehe gewesen, um das reine Blut der Thex zu wahren - ebenso wie bei ihr und Sharthir. Cristanos hatte nicht einmal etwas von einer solch politisch wichtigen Hochzeit - vor vielen Jahren hatte sie Naythox einen Sohn, Talvus, geboren und somit würde die Krone an ihr vorbei, an ihren Sohn übergehen, sollte Naythox tatsächlich vor ihr sterben. Scarramouche war vollauf bewusst, dass es ihr wohl nicht anders ergehen würde - ihr makellos reines Blut wurde gebraucht, um die Blutlinie der Familie T'Narem fortzusetzen und da ihre eigene Familie selbst keinen männlichen Nachfolger hervorgebracht hatte, waren ihre Eltern natürlich entzückt, ihre einzige Tochter zumindest an einen solch ranghohen Teir'Dal wie Sharthir vergeben zu können. Scarramouche würde genau wie die Königin für die Geburt eines Erben verantwortlich sein und sobald dies vollbracht war, lediglich zu Hause sitzen als Eigentum von Sharthir oder aber ihn auf wichtige Veranstaltungen begleiten, damit er dort mit einer hübschen Frau glänzen konnte. Keine Freiheit, keine Rechte, keine Assassinenausbildung. Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, womit sie das verdient hatte. Die Kutsche holperte durch das dritte Tor von Neriak, womit sie in der Todesgrotte angekommen waren. Vor ihnen ragte düster und in der Baukunst der Teir'Dal doch anmutig schön der Dunkellicht-Palast auf, doch der Kutscher steuerte ein gewaltiges Anwesen in der Nähe der Palastanlage an, wo sie schließlich anhielten. Scarramouche runzelte verwirrt die Stirn. Sollte die Feier nicht im Palast stattfinden? Ihr Vater stand auf, als der Kutscher die Türe öffnete und stieg aus. Scarramouche sah ihre Mutter erwartungsvoll an, denn sie hatte ihr beim Aussteigen den Vortritt zu lassen, doch Eliha blieb regungslos sitzen. "Scarramouche", drang Nadors Stimme von draußen ins Innere der Kutsche und Scarramouche runzelte erneut verwirrt die Stirn. "Kommst du nicht mit, Mutter?", fragte sie irritiert und Eliha schüttelte daraufhin den Kopf, blieb ansonsten aber stumm. Mit einem letzten misstrauischen Blick auf ihre Mutter stand Scarramouche auf und ließ sich von ihrem Vater aus der Kutsche helfen. Als sie aufblickte, erhob sich vor ihr ein gewaltiges Anwesen. Eine dunkle Vorahnung beschlich Scarramouche, dann wandte sie sich an ihren Vater. "Ist ... dies das T'Narem-Anwesen?" Nador nickte schweigend. Scarramouches Blick kehrte zurück zu dem gewaltigen Gebäude vor ihr - es war um einiges größer, als das ihrer Familie und dies sprach bereits für sich, denn jenes war nicht gerade klein. Immerhin gehörte auch die Familie V'Oziar zu Neriaks einflussreichsten Familien, doch sie konnte in keinster Weise T'Narem das Wasser reichen. Als Scarramouche bemerkte, dass sie sichtlich beeindruckt an dem Gebäude hochstarrte, fasste sie sich hastig wieder und setzte eine neutrale Miene auf. Dann blickte sie zur Kutsche zurück. "Sollte die Feier nicht im Palast stattfinden?", fragte Scarramouche voller Misstrauen. "Korrekt", antwortete Nador knapp und schritt ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei, auf das Portal des T'Narem-Anwesens zu. Scarramouches Miene wurde finster, dann blickte sie noch einmal zur Kutsche zurück. "Wieso kommt Mutter nicht mit?", fragte die junge Teir'Dal. Nador jedoch ohne jegliche Reaktion weiter und klopfte gegen das Portal. Zögerlich folgte ihm Scarramouche und sie wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass hier etwas nicht stimmte. Kaum einen Wimpernschlag später wurde die Tür geöffnet, gerade so, als hätte man sie bereits erwartet und ein Diener bat Scarramouche und ihren Vater herein. Ihr Magen krampfte sich zusammen; sie hatte die Höhle des Löwen betreten und bei dem Gedanken daran wurde ihr speiübel. Mit größter Mühe versuchte sie ihr Unbehagen zu verbergen, indem sie die Schultern durchdrückte und das Kinn hob, um einen selbstsicheren und gleichgültigen Eindruck zu erwecken, während sie sich in der weitläufigen Eingangshalle des T'Narem-Anwesens umsah. Der Diener zwar bereits davongeeilt, um seinem Herrn über die Ankunft des Besuches zu informieren. Stirnrunzelnd wandte Scarramouche sich an ihren Vater. "Was soll dieses Theater?", fragte sie zweifelnd. Erst jetzt bemerkte sie, dass Nador im Eingangsportal stehen geblieben und gerade im Begriff war, das Haus wieder zu verlassen. Sie starrte ihn an. "Deine Mutter und ich erwarten euch dann zusammen mit euren Gästen im Dunkellicht-Palast ", erklärte Nador und lächelte zufrieden. "Du wirst selbstverständlich mit deinem Verlobten gemeinsam zur Feier erscheinen." "Moment - was?", stieß Scarramouche entsetzt hervor, doch das Portal war bereits ins Schloss gefallen. "Ganz recht", ertönte eine Stimme über ihrem Kopf. Scarramouche gefror das Blut in den Adern, als sie diese erkannte. Sharthirs düstere Gestalt war im ersten Geschoss erschienen; er lehnte schon beinahe gelangweilt am Geländer, doch ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen, als er zu Scarramouche ins Erdgeschoss hinunterblickte. Ihr Herz schlug zu ihrem Ärger auf einmal bis zum Hals und sie schluckte, während sie ihr Bestes gab, sich nichts anmerken zu lassen. "Willkommen in meinem bescheidenen Heim. Fühl dich ganz wie zu Hause", begrüßte er sie und seine grauen Augen blitzten. "Schließlich wird es bald auch das deine sein." Scarramouche starrte den Teir'Dal an. Während er gesprochen hatte, war er aus dem Schatten getreten und langsam die Treppe, die ins Erdgeschoss führte, hinuntergeschlendert, an deren Fuß er schließlich stehen geblieben war. Sie hielt kaum merklich den Atem an; in seinem Verlobungsgewand, das, wie ihr nicht entging, an das ihre angelehnt war, war er gut aussehender denn je, und sie bedauerte beinahe, dass er es sich durch seine Unverfrorenheit gänzlich mit ihr verdorben hatte. Sofort verbannte sie diesen Gedanken aus ihrem Kopf; er könnte noch zehn mal so gut aussehen, das, was er im Begriff stand, ihr anzutun, würde er teuer bezahlen. Dennoch war sie nicht darauf vorbereitet, schon so bald völlig allein mit Sharthir zu sein und der Gedanke daran jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken. Sie konnte spüren, wie sein Blick auf ihr ruhte und das machte es nicht gerade besser. Angespannt überlegte sie, wie sie sich nun verhalten sollte - schon öfter hatte sie darüber nachgedacht, einfach gute Miene zum bösen Spiel zu zeigen, da es die Dinge für sie eventuell ungemein erleichtern würde, aber ihr Stolz untersagte ihr jegliche Unterwerfung ihm gegenüber. Also atmete sie einmal tief durch und wandte sich um - und starrte direkt in Sharthirs kalte Augen. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück; sie hatte ihn weder kommen hören noch irgendwie anderweitig bemerkt, dass er sich näherte. Dass sie dermaßen zusammengezuckt war, schien ihn zu belustigen, denn ein amüsiertes Lächeln war auf seine Züge getreten. Welch Ironie, dass sie gerade eben noch darüber nachgedacht hatte, wie sie ihren Stolz wahren konnte und er im nächsten Moment mit Füßen getreten wurde. Scarramouche nahm wieder eine aufrechte Haltung an und zwang sich, Sharthir ins Gesicht zu sehen. "... Wann werden wir zur Feier aufbrechen?", fragte Scarramouche schließlich, um die unangenehme Stille zu durchbrechen, die eingetreten war. Außerdem wünschte sie sich gerade nichts sehnlicher als aus dieser unfreiwilligen Zweisamkeit mit Sharthir zu entkommen. Im nächsten Moment ärgerte sie sich jedoch über sich selbst, da sie jetzt wohl den Eindruck erweckt haben musste, die Feier gar nicht abwarten zu können. Doch Sharthir antwortete nicht auf ihre Frage, denn er schien etwas abgelenkt zu sein und als sie seinem Blick folgte, bemerkte sie, dass er sie einer genauen Musterung unterzog. Augenblicklich verkrampfte sie sich, versuchte aber mit aller Macht, dies zu verbergen. Da war es wieder, dieses unheimliche Blitzen in Sharthirs Augen. "Erfreulich zu sehen, dass ich die Auswahl deines Kleides nicht bereuen muss." Angewidert wandte Scarramouche den Blick ab und beschloss, nicht darauf einzugehen. Wieder machte sich diese unangenehme Stille zwischen ihnen breit, die Sharthir aber bald darauf mit einem Blick auf seine Taschenuhr durchbrach. "Zu schade", sagte er mit einem übertriebenen Seufzer. "Aber ich fürchte, wir müssen unser kleines Rendezvous hier unterbrechen, sonst kommen wir zu spät zu unserer Feier."   * * *   Die Kutsche machte Halt und nur wenige Augenblicke später wurde die Tür von einem herbeieilenden Diener geöffnet. Sharthir stieg aus, dann reichte er Scarramouche höflich die Hand, um ihr nach draußen zu helfen. Sie zögerte einen Moment, denn deutlicher Widerwillen stieg in ihr auf, dann erinnerte sie sich an ihren Schwur und dass sie ihr Ziel nur erreichen würde, wenn sie dieses Spiel nun mitspielte. Also reichte sie ihm mit einem nichts sagendem Blick die Hand und ließ sich von ihm aus der Kutsche helfen. Daraufhin wurden sie von zwei Palast-Wachen begrüßt und stiegen in deren Begleitung die ausladenden Treppen zum Palast-Portal empor. Nachdem sie den langen, schwer bewachten Flur zum Thronsaal entlang geschritten waren, bot Sharthir Scarramouche seinen Arm an - sie wusste, dass dies kein Angebot war sondern eher ein Befehl. Seine grauen Augen ruhten kalt auf ihr, während er darauf wartete, dass sie seiner Aufforderung nachkam und erneut gelang es Scarramouche, ihr Missfallen zu verbergen und sie legte mit ausdrucksloser Miene ihre Hand auf seinen Unterarm. Das Portal zum Thronsaal schwang auf und gab den Blick auf eine prächtige Feier frei. Im selben Augenblick wandten sich sämtliche Köpfe in ihre Richtung und es wurde still im Saal. Paare, die soeben noch getanzt hatten, hielten inne und verließen eilig die Tanzfläche, als sie Scarramouche und Sharthir erblickten, Gespräche wurden hastig unterbrochen und Gelächter erstarb. Auch das Orchester am anderen Ende des Saales, welches gerade einen weiteren, düsteren Walzer angestimmt hatte, verstummte und Scarramouche wurde unangenehm bewusst, dass sie nun im Zentrum aller Aufmerksamkeit stand. Im Augenwinkel bemerkte sie, dass Sharthir sie beobachtete und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen, selbstzufriedenen Lächeln. Dann nickte er dem Dirigenten des Orchesters zu, der erwartungsvoll seinen Blick gesucht hatte und dieser stimmte nun eine feierliche Fanfaren-Hymne an. Sharthir setzte sich in Bewegung und Scarramouche bemühte sich hastig, an seiner Seite Schritt zu halten und gemeinsam gingen sie durch die Mitte des Saales, geradewegs auf den Thron zu, wo König Naythox und Königin Cristanos Thex die beiden erwarteten; im Beisein ihrer engsten Berater: Scarramouches Eltern. Noch immer waren sie der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und Scarramouche konnte kaum fassen, welch Ansehen Sharthir am königlichen Hofe genießen musste, um eine solche Aufwartung bei seiner Verlobungsfeier zu erhalten. Als sie vor dem Thron und dem Königspaar angekommen waren, verbeugte Sharthir sich tief und Scarramouche machte einen unterwürfigen Knicks, dann hob Naythox die Hand und die Musik verstummte augenblicklich. "Verehrtes Volk", rief er und begann eine feierliche Ansprache. "Freunde der Finsternis, Kinder Innoruuks!" Er machte eine kurze Pause; im Saal war es noch immer totenstill. "Wir haben uns heute hier versammelt, um die Verlobung zweier unserer Kinder zu feiern, die unserer Blutlinie - der Königsfamilie der Teir'Dal, der Thex - am nahesten kommt, zweier wahrer Kinder des Hasses!" Scarramouche warf einen flüchtigen Seitenblick auf Sharthir - ihn als "Kind" zu titulieren hatte beinahe schon etwas Aberwitziges. Er musste um ein Vielfaches älter sein als sie selbst, wenn er nicht schon mehrere hundert Jahre alt war. Sie blinzelte hastig, denn sie war mit den Gedanken abgeschweift - Naythox hatte seine Rede unterdessen fortgesetzt und sie hörte ihm nun wieder aufmerksam zu. " ... So lasst uns heute also die baldige Verbindung zweier solch mächtiger Adelsfamilien gebührend feiern, auf dass sie und ihre Nachkommen dem Teir'Dal-Reich dienlich sein werden!" Der König erntete begeisterten Beifall der anwesenden Teir'Dal und auch Sharthir und Scarramouche stimmten mit ein. Ihr Verlobter schien äußerst zufrieden mit sich zu sein, als Scarramouche ihn unauffällig beobachtete und obwohl sie selbst alles andere als erfreut war, gelang es ihr, eine neutrale Miene zu wahren. Erster Schritt auf dem Weg zur Assassine: Keine Gefühle zeigen, rief Scarramouche sich ins Gedächtnis. Diesen Schritt werde ich dank Sharthir schnell meistern. Zwischenzeitlich hatte König Naythox das Wort an Sharthir übergeben und der Teir'Dal trat vor, nachdem er sich nochmals tief vor seinem Herrscher verbeugt hatte. Zuerst sprach er davon, welch Ehre es für ihn sein, dass diese Feier im Beisein des Königs und der Königin stattfinden durfte, dann welch Freude ihn erfüllte, die Tochter einer solch hoch angesehenen Familie wie der V'Oziar zur Frau nehmen zu können. "Nachdem meine Eltern in der Schlacht vom Blutigen Kithicor im Dienste von Lanys T'Vyl, der Tochter Innoruuks, einen wahren Heldentod gestorben sind, war ich der einzige Hinterbliebene unseres Geschlechts", verkündete er und seine tiefe Stimme hallte in der gespenstisch stillen Halle wider. Scarramouche unterdrückte den Drang, Sharthir überrascht anzusehen. Seine Eltern sind in der Schlacht von Lanys T'Vyl gefallen? Diese legendäre Schlacht hatte Jahrzehnte vor ihrer Geburt getobt und dass Sharthir zu dieser Zeit das Familienerbe übernommen hatte, bedeutete, dass er mindestens ein ganzes Jahrhundert älter war als sie. "Ich übernahm die Nachtlied-Oper und führte unser Erbe weiter", fuhr Sharthir fort. "... und machte mein Geschlecht zu dem, was es heute ist: Eines der mächtigsten Neriaks!" Er wandte sich zu Scarramouche um und legte eine Hand auf ihre Schulter. "Umso mehr erfüllt es mich nun mit Stolz, eine solch intelligente, hübsche Frau von reinstem Blut wie Lady V'Oziar zu meiner Frau zu nehmen. Gemeinsam werden wir dieses Geschlecht fortführen und Neriak damit treu zu Dienste stehen!" Auch er erntete tosenden Applaus für seine Worte. Scarramouche war übel, doch sie zwang sich zu einem Lächeln, in der Hoffnung, dass niemand bemerkte, dass ihr die Erkenntnis über Sharthirs tatsächliches Alter noch tief in den Knochen saß. Es war ein beunruhigendes Gefühl, einen solch mächtigen Teir'Dal mit einem so hohen Altersunterschied zum Mann nehmen zu müssen - schließlich wusste sie nicht, wie alt er bereits gewesen war, als seine Eltern in der Schlacht des Blutigen Kithicors umkamen. Mit ihren 51 Wintern kam sie sich neben ihm fast wie ein kleines Mädchen vor; kein Wunder, dass Sharthir sie nicht im Geringsten ernst nahm. Für ihn war sie nur ein kleines Kind, das wahnwitzigen Träumen nachhing, die er allerhöchstens belächeln konnte. Scarramouches Miene verfinsterte sich kaum merklich. Königin Cristanos hatte sich nun ebenfalls erhoben und richtete das Wort an die Anwesenden. "Auch ich möchte meine Freude darüber aussprechen, dass die Tochter meiner beiden engsten Berater hier - Nador und Eliha V'Oziar - nun endlich einen mehr als geeigneten Bräutigam gefunden hat!" Scarramouche sah die Königin an und neigte unterwürfig den Kopf. "Unter uns reinblütigen Teir'Dal ist es üblich, sofern kein männlicher Nachkomme hervorgebracht werden konnte, unsere Töchter so früh wie möglich mit einem Mann von ebenfalls reinstem dunkelelfischen Blut zu vermählen." Scarramouche entging nicht, dass bei diesen Worten Cristanos' Blick kalt auf ihrem Gemahl Naythox lag und wieder keimte eine jähe Sympathie für die Königin in ihr auf. Auch sie wurde jung und gegen ihren Willen an den König verheiratet. "Lady V'Oziar hier hat sich als erstaunlich wählerisch erwiesen; ganze dreizehn Jahre hat es nun gedauert, bis endlich ein Bewerber Euer Herz erobert hat, nicht wahr?", fragte Cristanos nun direkt an Scarramouche gewandt und diese wusste nicht, ob sie diese Frage als bloßes Interesse oder als Vorwurf werten sollte; die Miene der Herrscherin gab nicht im Geringsten Aufschluss darüber. Scarramouche fasste Sharthir am Arm und warf ihm einen überzeugenden Blick purer Zuneigung zu und antwortete: "Ich habe lediglich auf den Richtigen gewartet." Sharthirs Augen blitzten und seinem Blick konnte sie entnehmen, dass er genau wusste, dass kein Fünkchen Wahrheit in ihren Worten steckte. Cristanos hingegen schien zufrieden gestellt und eröffnete daraufhin die prunkvolle Feier.   * * *   Nach der offiziellen Eröffnung hatte Sharthir sich unter die Leute gemischt und Scarramouches Pflicht als künftige Gemahlin war es nun, ihn zu begleiten. Er sprach mit mehreren wichtigen Kaufleuten, die in Neriak namhaft waren, wie auch mit einigen Mitgliedern des restlichen Hochadels der Stadt, sowie mit anderen bedeutenden Persönlichkeiten, während Scarramouche meist mit den Frauen oder zumindest mit der weiblichen Begleitung plauderte. Eigentlich war ihr überhaupt nicht nach so etwas zumute; sie sah ihre Verlobung mit Sharthir nicht im Geringsten als Anlass zum Feiern, doch sie riss sich zusammen und wahrte so gut wie möglich das Bild des glücklichen Verlobungspaares. Wenig später verabschiedete Sharthir sich von Graf Calin T'Vor, einem hohen Tier bei der Palastwache, und so beendete auch Scarramouche ihr Gespräch mit seiner Frau und die beiden begrüßten ein paar Bekannte ein wenig entfernt und begannen mit diesen zu plaudern. Scarramouche seufzte leise; das Gespräch mit dieser Dame war besonders anstrengend gewesen; ihr Mann schien sich nur noch um die Belange der Wache zu kümmern und ihr selbst kaum noch Beachtung zu schenken. Dinge, die Scarramouche nicht wirklich interessierten - immerhin hatte sie genug eigene Probleme, mit denen sie kämpfen musste. Eines davon stand gerade neben ihr und warf ihr forschende Blicke zu. Scarramouche hob den Kopf und blickte in Sharthirs unergründliche, graue Augen. Seine Lippen kräuselten sich zu einem rätselhaften Lächeln, dann erregte eine Dunkelelfe in weiten, reich verzierten Roben, die auf die beiden zuhielt, seine Aufmerksamkeit. "Lady Syl'Tor", begrüßte Sharthir sie, als sie bei ihnen angekommen war und neigte höflich den Kopf. Auch Scarramouche nickte der Magierin zum Gruße zu und reichte ihr daraufhin schwach lächelnd die Hand. "Seid mir gegrüßt, Lord T'Narem, Lady V'Oziar", sagte Lady Syl'Tor und schüttelte auch Sharthirs Hand. Sie war anmutig schön, wie Scarramouche bemerkte. Langes, weißes Haar fiel ihren Rücken hinab und ihre feinen Gesichtszüge und die hohen Wangenknochen ließen sie selbst unter Dunkelelfen noch herausragend hübsch wirken. Die mitternachtsblaue Haut glich feinstem Marmor und ihre Augen zeugten von purer Intelligenz. Bisher hatte Scarramouche sie nie persönlich kennen gelernt, wohl aber von ihr gehört, denn Tserrina Syl'Tor war eine der mächtigsten Magier Neriaks. "Auch von mir die besten Glückwünsche zu Eurer Verlobung", fuhr Tserrina fort. "Möge Innoruuk Eure baldige Verbindung segnen - für die Ewigkeit." "Vielen Dank, Lady Syl'Tor", antwortete Sharthir, während Scarramouche möglichst ungezwungen lächelte. "Auch ich möchte meinen Glückwunsch aussprechen: Wie ich hörte, hat König Naythox Euch erst vor Kurzem den Titel 'Illusionistin von Neriak' verliehen." Erstaunt sah Scarramouche auf und warf der Dunkelelfe einen anerkennenden Blick zu. Ein solcher Titel wurde in der Stadt des Hasses nicht unverdient vergeben. Ein Lächeln trat auf Tserrinas Lippen, als sie sich bedankte und bald darauf waren Sharthir und sie in ein eher oberflächliches Gespräch vertieft, bei dem Scarramouche größtenteils schweigend zuhörte. Schon bald begann sie, sich zu langweilen, denn das Gespräch hatte sich nun politischen Themen zugewandt, zu denen Scarramouche erst recht nichts sagen konnte. Trotzdem versuchte sie, aufmerksam zuzuhören, schweifte mit den Gedanken aber immer wieder ab - bis aufgeregtes Raunen in ihrem Umkreis sie aus ihren Tagträumereien riss. Stirnrunzelnd hob sie den Kopf. Ein stattlicher Teir'Dal kam durch den Saal geschritten und hielt auf das Verlobungspaar und Tserrina zu. Voller Ehrfurcht huschten mehrere Teir'Dal aus dem Weg, viele gaben vor, sich weiter ihren Unterhaltungen zu widmen, doch ihre Blicke folgten dem Elfen, dessen Auftreten allein schon für Respekt und Ehrerbietung sorgte. Ein Frösteln überlief Scarramouche, als der Fremde langsam näher kam. Mit Sharthir, so hatte sie bisher geglaubt, hatte sie den furchteinflößensten Teir'Dal ihres Lebens kennen gelernt, doch er stand in keinem Vergleich zu diesem Mann. Seine Miene war ausdruckslos, sein Blick unergründlich, doch es ging eine Macht von ihm aus, die alles überstieg, was ihr je widerfahren war. Scarramouche spürte, wie Sharthir ihr eine Hand auf die Hüfte legte und sie näher zu sich heran zog. Der Gedanke gefiel ihr zwar ganz und gar nicht, doch sie musste zugeben, sie war zum ersten Mal froh, dass er da war, also widersetzte sie sich nicht. Auch Sharthir schien nervös. Dann warf Scarramouche einen Seitenblick auf Tserrina und blinzelte überrascht, als sie erkannte, dass deren Miene sich sichtlich aufgehellt hatte und ihre Augen rätselhaft funkelten. Inzwischen war der Fremde bei ihnen angekommen und machte eine kurze Verbeugung, die Sharthir erwiderte. Scarramouche und Tserrina taten es ihm gleich. Scarramouches Herz schlug unangenehm schnell in ihrer Brust. "Seid gegrüßt, Lord Nebelmoor", sprach Sharthir, schon beinahe unterwürfig. Scarramouche traute ihren Ohren kaum. Nebelmoor? MAYONG Nebelmoor? "Seid auch mir gegrüßt, Lord T'Narem", erwiderte Mayong, dann begrüßte er Scarramouche und Tserrina ,während er Letztere mit einem geheimnisvollen Lächeln bedachte. Tserrina lächelte beinahe verträumt zurück. Auch Mayong beglückwünschte Sharthir zur bevorstehenden Hochzeit, dann verwickelte er ihn in ein Gespräch, das sich anderen Themen zuwandte. "Wie laufen die Geschäfte?", fragte der rätselhafte Teir'Dal, doch Scarramouche meinte, kein aufrichtiges Interesse in seinen Augen aufflammen zu sehen. "Bestens, danke der Nachfrage", antwortete Sharthir, dann flackerten seine Augen kurzzeitig zu Scarramouche. Sie glaubte, Anspannung und auch einen Anflug von Sorge darin zu erkennen, doch im nächsten Moment lag sein Blick wieder völlig ruhig auf Mayong, wodurch Scarramouche sich sicher war, sich geirrt haben zu müssen. "Aber, Lord Nebelmoor", fuhr er daraufhin fort. "Ich würde gerne etwas Geschäftliches unter vier Augen mit Euch besprechen, wenn es Euch nichts ausmacht." Er warf Scarramouche und Tserrina einen undeutbaren Blick zu. "Wenn Ihr uns kurz entschuldigen würdet." Die beiden schritten von dannen und Scarramouche blieb mit Tserrina allein zurück. "Zu schade", seufzte diese enttäuscht und Scarramouche blickte auf. "Lady Syl'Tor?", fragte sie vorsichtig, denn sie sah sich nun aufgefordert, ihren gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen. Tserrina winkte ab. "Nennt mich ruhig Tserrina. Unsere Stammbäume sind vergleichbar." Scarramouche blinzelte, überrascht von dieser unerwarteten Geste. "Vielen Dank." Dann seufzte Tserrina abermals, während ihr Augenmerk auf etwas in weiter Ferne lag. Scarramouche folgte ihrem Blick und erkannte Sharthir und Mayong, wie sie sich etwas abseits der Feier leise unterhielten. Fragend sah sie Tserrina an. "Man trifft ihn nur auf wenigen Abendgesellschaften an", sagte sie schließlich verträumt und ohne den Blick von den beiden abzuwenden. "Er besucht ausschließlich die höherrangigen und politisch wichtigen Veranstaltungen Neriaks." Scarramouche runzelte die Stirn, ein wenig verwirrt darüber, wen die Hexe meinte. "Wer nun genau?" "Mein dunkler Prinz natürlich", antwortete Tserrina abwesend, während sie noch immer zu den beiden Männern hinüberstarrte. Inzwischen war Scarramouche sich sicher, dass sie wohl kaum Sharthir meinen konnte, also fragte sie zögernd: "Lord Nebelmoor?" Wieder seufzte Tserrina, diesmal jedoch verzückt, dann nickte sie. "Ein Traum von einem Mann", flüsterte sie, dann gelang es ihr endlich den Blick von ihm abzuwenden und Scarramouche anzusehen. "Ich hoffe, er findet nach dem Gespräch mit Eurem Verlobten noch einmal den Weg hierher - wie ich schon sagte: Man trifft ihn nicht oft auf solchen Feiern." Scarramouche lächelte nur, antwortete jedoch nicht. Auf ein Neues fand sie den Einfluss, den Sharthir in Neriak haben musste, erschreckend; wie wichtig konnte seine Verlobung sein, dass sogar Persönlichkeiten wie das Königspaar, Tserrina Syl'Tor und Mayong Nebelmoor höchstpersönlich hier erschienen? Sie unterdrückte das Bedürfnis, ratlos mit dem Kopf zu schütteln. Insbesondere bei Mayong Nebelmoor konnte sie es kaum fassen - sie hatte bereits viel von ihm gehört: Er war mächtig, unfassbar mächtig - einige hielten ihn sogar für das mächtigste Wesen in ganz Norrath - und er lebte bereits so lange, dass man munkelte, er wäre persönlich dabei gewesen, als die Urmutter der Drachen, Veeshan, ihre Klauen in Norrath grub und damit die Welt schuf, in der Scarramouche heute lebte. Doch wie sie wusste, rankten sich noch andere Legenden und Gerüchte dunklerer Natur um Nebelmoor, welche ihr kalte Schauer über den Rücken jagten. Schließlich riss Tserrina Scarramouche aus ihren Gedanken. "Ich wünschte, er würde mich auch endlich fragen", murmelte die Hexe mehr zu sich selbst, als zu Scarramouche und ihr Blick ruhte auf deren Verlobungsring, den sie am Finger trug. Scarramouche sah überrascht auf, dann betrachtete sie ihre Hand. Der Ring glänzte kalt im schummrigen Licht. "Wer? Lord Nebelmoor?", fragte sie verdutzt. Tserrinas Blick wurde geheimnisvoll und ein rätselhaftes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Scarramouche starrte sie ungläubig an, dann nickte Tserrina langsam. "In der Tat", antwortete sie leise. "Er lässt mich schon viel zu lange warten..." Scarramouche traute ihren Ohren kaum; es war nahezu unvorstellbar, dass sich ein solch mächtiges Wesen wie Mayong Nebelmoor mit einer einfachen Teir'Dal einlassen würde. Doch dann stockte sie. Tserrina Syl'Tor war keine einfache Dunkelelfe. Ihr Stammbaum reichte, wie Scarramouche wusste, weit bis in die frühesten Wurzeln der Teir'Dal-Geschichte und wurde nicht von einem einzigen Tropfen minderwertigen Blutes getrübt. Zudem war sie eine mächtige Magierin mit herausragenden Fähigkeiten; nicht umsonst trug sie nun den Titel "Illusionistin von Neriak". Sie war alles andere als eine gewöhnliche Teir'Dal. Scarramouche musterte Tserrina forschend, dann flackerte ihr Blick kurzweilig zu Mayong. Konnte es wirklich sein, dass ...? "... Aber ranken sich nicht einige ... besorgniserregende Gerüchte um ihn ...?", fragte Scarramouche vorsichtig. " ... Es wird gemunkelt, er sei ein ..." Sie brach ab, unsicher darüber, ob sie wirklich aussprechen sollte, was sie dachte. "Ein Vampir, ja", beendete Tserrina ihren Satz. Dann kicherte sie leise. "Alles Geschwätz; nichts von alledem wurde je bewiesen." Scarramouche sah Tserrina überrascht an, dann bemerkte sie ihn erneut, diesen seltsamen Glanz in den Augen der Teir'Dal und erst jetzt begriff sie, was dieser bedeutete: Pure Begierde. "Und selbst wenn es die Wahrheit wäre, fändet Ihr das nicht aufregend, Scarramouche?", fuhr Tserrina fort. "So düster, so mächtig und wunderschön ... und ... unsterblich." Das letzte Wort hauchte Tserrina voll Ehrfurcht. Scarramouche stutzte kurzzeitig, dann stimmte sie hastig zu. "Oh ja, in der Tat." Und obwohl sie, wie alle Dunkelelfen, sehr wohl Gefallen an allem Finsteren fand, wurde ihr dennoch unwohl beim Gedanken an Mayong Nebelmoor und all die Geschichten, die sich um ihn rankten. Tserrina hingegen schien ihm gänzlich verfallen zu sein. "Lange kann es nicht mehr dauern", murmelte Tserrina schließlich und wieder lag ihr Blick auf Lord Nebelmoor. "Er besucht mich in letzter Zeit immer häufiger - ich denke, ich werde ihm seinen kleinen Verrat endgültig verzeihen, wenn er mich endlich fragt." Scarramouche blieb stumm, denn sie hatte das Gefühl, Tserrinas letzte Aussage war viel mehr ein laut ausgesprochener Gedanke, als dass er an sie gerichtet gewesen war. Noch immer fröstelte es sie beim Gedanken daran, dass Mayong Nebelmoor und Tserrina Syl'Tor tatsächlich ein Paar sein sollten, doch allmählich wich die Furcht einem prickelnden Gefühl der Aufregung, wenn sie sich vorstellte, welch Macht  diese beiden gemeinsam besitzen mussten. Scarramouches Augen funkelten; Macht war etwas, nach dem sich jeder Teir'Dal verzehrte, und Macht war auch das, was Scarramouche begehrte. Tserrina hatte es bereits geschafft, sich damit Anerkennung, Ehrfurcht und Unterwürfigkeit zu verschaffen - sogar noch viel mächtigere Wesen wie Mayong Nebelmoor schenkten ihr nun Beachtung - und genau das war es, was Scarramouche ebenfalls erreichen würde. Irgendwann würde eine Assassine in Neriak in aller Munde sein; ihr Deckname würde mit Ehrfurcht ausgesprochen werden und alle jene, die gegen sie waren, ihr nur mit Furcht begegnen. Ihre Zukunftsvisionen nahmen ein jähes Ende, als sie Sharthirs Präsenz wahrnahm und spürte, dass er näher kam. Scheinbar hatte er seine Unterhaltung mit Mayong beendet und war nun auf dem Weg zurück zu ihr und Tserrina. Letztere stellte mit Enttäuschung fest, dass Mayong nicht mit Sharthir zurückgekehrt war und sich nun am anderen Saalende beim Königspaar aufhielt. "Ich muss mich nun leider empfehlen", sagte Tserrina daraufhin und hob entschuldigend die Schultern, doch ihre Augen verrieten kein aufrichtiges Bedauern; viel zu fixiert darauf war sie, so rasch wie nur möglich in Mayongs Nähe zu gelangen. "Ich habe selbst noch einige Angelegenheiten mit Lord Nebelmoor zu klären." Scarramouche nickte höflich. "Dann halte ich Euch nur ungern davon ab." "Habt noch einen wundervoll unseligen Abend, Scarramouche", erwiderte Tserrina und neigte zum Abschied den Kopf. "An der Seite von Lord T'Narem werden wir uns nun sicherlich öfter treffen." Mit diesen Worten verabschiedete sie sich auch von Sharthir und schritt eilends davon. Scarramouche sah ihr nachdenklich nach, bis sie zwischen den anderen Gästen verschwunden war. "Du hast dich mit ihr angefreundet?", fragte Sharthir interessiert an seine Verlobte gewandt. "... Wenn Ihr es so nennen möchtet", antwortete Scarramouche geistesabwesend, noch immer in Gedanken bei Tserrina und Mayong. "Du tätest gut daran. Tserrina Syl'Tor ist eine unglaublich mächtige Magierin und genießt, wie du siehst, hohes Ansehen hier in Neriak." Sharthir sah sie ausdruckslos an und doch bohrten sich seine Augen tief in die ihren. "Es kann unserer Familie nur von Nutzen sein, wenn du dich gut mir ihr stellst." Scarramouches Gesichtszüge verhärteten sich; sofort wollte sie widersprechen, dass sie nicht zu "seiner" Familie gehörte, doch dann rief sie sich hastig ins Gedächtnis, wo sie sich gerade befand und welchen Schein sie wahren musste. Anstelle einer Antwort wechselte sie lieber das Thema. "Ihr habt Lord Nebelmoor absichtlich von mir ferngehalten, nicht wahr?" Sharthir hob eine Augenbraue und Scarramouche gab ihr Bestes, seinem forschenden Blick standzuhalten. "So ist es", sagte er knapp, doch das genügte Scarramouche nicht. "Weshalb?" Sharthir antwortete nicht und Scarramouche wartete einen Moment, doch als er sich immer noch nicht äußerte, packte sie die Ungeduld und sie fragte erneut. "Nicht hier." Wieder war seine Antwort karg und sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. "Halt dich einfach von ihm fern." Verständnislos sah Scarramouche ihn an, doch Sharthir ignorierte sie und ließ den Blick durch den Saal schweifen. "Dort vorne ist Lady Najena; wie es scheint, wünscht sie, mit uns zu sprechen", sagte er schließlich und Scarramouche unterdrückte einen lauten Seufzer, dann folgte sie ihrem Verlobten, der zu der Magierin hinüber schritt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)