Mörderische Goldgier von Anmiwin ("Geliebter Blutsbruder"- Teil II) ================================================================================ Kapitel 43: Missstimmungen -------------------------- Beinahe hatte ich Mühe, meinem Blutsbruder zu folgen, solch ein halsbrecherisches Tempo hatte dieser jetzt eingeschlagen auf der Suche nach den Vermissten. Er wusste natürlich ebenso gut wie ich, dass sich mit jeder Minute, die verstrich, die Überlebenschancen unserer Gefährten dramatisch verringerten und sie dem Erstickungstod näher kamen – sofern sie überhaupt vom Sand verschüttet worden waren. Es hätte übrigens rein gar nichts gebracht, wenn ich auf eigene Faust losgezogen wäre, da ich auch nicht im Entferntesten wusste, wo ich eigentlich hätte suchen sollen. Die Landschaft hier war nämlich überall gleich wellig, sandig, teils mit dornigem, ausgedörrtem Buschwerk besetzt und wies nirgendwo große Unterschiede auf. Wo also suchen? Und hier zeigte sich wieder einmal die große Verbundenheit des Apatschen zu seiner Heimaterde und der Natur. Zielsicher stürmte er auf einige bestimmte Stellen zu, an denen sich tatsächlich dann auch immer große und frisch aufgehäufte Sandberge fanden. Dort sprang er ab und begann an wenigen und offenbar nur für ihn sinnvoll erscheinenden Orten zu suchen und zu graben. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, nach welchen Kriterien er dabei vorging, denn wenn ich ihm zu Hilfe kommen und dabei aber an einem anderen Flecken, nur wenige Meter entfernt, zu suchen begann, schüttelte er nur den Kopf und gab mir zu verstehen, dass es an diesem Platz keinen Sinn machte. Auch hätte ich mich viel länger an den einzelnen Stellen aufgehalten und gegraben – Winnetou aber brach seine Suche jedes Mal nach nur wenigen Minuten ab, saß wieder auf und preschte erneut zielgerichtet in die Wüste hinein, nachdem er zuvor einen kurzen Blick zurück zur Felsspalte geworfen hatte, an der sich all unsere Gefährten befanden. Offenbar berechnete er dadurch mögliche Wege, die die einzelnen Sturmböen genommen haben könnten, und das Ergebnis gab ihm auch jedes Mal recht: Überall, wo er hin ritt, fanden sich frisch aufgetürmte Sandhaufen. Der vierte Versuch war dann schließlich von Erfolg gekrönt, allerdings von einem äußerst traurigen: Mein Freund legte binnen weniger Sekunden den Leichnam einer der Soldaten frei. Erschrocken sahen wir uns an: Wenn hier schon jede Hilfe zu spät kam – wie viel Hoffnung bestand denn dann noch für die anderen Vermissten? Doch Aufgeben kam natürlich überhaupt nicht in Frage, also prägten wir uns die Stelle genau ein, um später in der Lage zu sein, sie wiederzufinden und den Toten zu bergen, denn dafür war jetzt absolut gar keine Zeit. Weiter ging es, und schon an der nächsten Stelle wurden wir wieder fündig. Dieses Mal brauchten wir nicht zu graben, denn der Sturm hatte den Mann, den wir dort liegen sahen, wohl ziemlich zum Schluss durch die Gegend gewirbelt, so dass ihn nur noch eine hauchdünne Sandschicht bedeckte – zu mehr hatte es nicht mehr gereicht, weil dem Hurrikan danach die Luft ausgegangen war. Schon waren wir an der Seite des Opfers, entfernten so schnell es ging den Sand aus dessen Gesicht und erkannten schließlich zu unserem großen Schrecken – Frederic Butterfield! Offenbar hatte es ihn ziemlich schwer erwischt, denn er schwamm beinahe in seinem eigenen Blut, während einige seiner Gliedmaßen in einem teils abstrakten Winkel vom Körper ab standen. Schnell kniete Winnetou neben ihm und unterzog den jungen Mann einer kurzen Untersuchung. Seine Stimme klang gehetzt, als er mir schließlich mitteilte: „Das Bleichgesicht wird verbluten, wenn wir nicht sofort handeln! Mein Bruder mag mir helfen!“ Er wies mich an, das rechte Bein des Jünglings anzuheben, woraufhin deutlich zu erkennen war, dass der Unterschenkel gleich mehrfach gebrochen war und einige Knochensplitter nicht nur die Haut, sondern wohl auch größere Blutgefäße durchstoßen hatten, so dass Frederic jetzt Unmengen Blut verlor. Auch der linke Arm war offenbar gebrochen, allerdings schien dieser Bruch im Augenblick nicht für solch große Probleme zu sorgen. Als Winnetou dem Verletzten das Hemd vom Körper riss und in mehrere Streifen zerfetzte, war nicht zu übersehen, dass der Oberkörper ebenfalls von Blutergüssen und kleineren Verletzungen übersät war, genauso wie der Kopf, und ich war mir sicher, dass auch der Rest des Körpers ähnlich aussah. Der Mann befand sich in einem wirklich erbärmlichen Zustand, was wohl darauf zurückzuführen war, dass er der Naturgewalt hilflos ausgeliefert gewesen sein musste – offenbar war er dabei mehrfach durch die Luft geschleudert und dann wieder zu Boden geworfen worden. Gerade die Unterschenkelverletzungen boten einen Anblick, die wirklich nichts für schwache Nerven war, und ich konnte mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass er diese schweren Verwundungen hier in der Wildnis überleben würde können. Winnetou hatte mittlerweile begonnen, das Bein des jungen Mannes abzubinden, um die schlimmsten Blutungen zu stoppen. Als das geschehen war, widmete er sich ausgiebig den weiteren Verletzungen, und ich half ihm dabei, so gut ich nur konnte. Aus dem ringsherum spärlich wachsendem und teils verkrüppelten Strauchwerk bastelten wir eine provisorische Schiene, und als mein Freund dann den mehrfachen Unterschenkelbruch soweit richtete, dass zumindest eine geringe Chance bestand, dass dieser wieder einigermaßen gerade zusammenwachsen würde, war ich für Frederic einfach nur froh, dass dieser in tiefer Bewusstlosigkeit lag – die daraus entstandenen Schmerzen hätten ihn wahrscheinlich sonst halb in den Wahnsinn getrieben! Und nun bekamen wir auch endlich Verstärkung. Ein großer Trupp aus Soldaten, Westmännern und Apatschen hatte sich in Bewegung gesetzt und war unseren Spuren gefolgt, so dass nun die Möglichkeit bestand, den Verletzten auf eine sanfte und vorsichtige Weise zu unserem provisorischen Lager an der Felsspalte am Rande des Llano zu transportieren. Während Winnetou mit Hilfe einiger seiner in der indianischen Heilkunst ebenfalls bewanderten Mescaleros alles dafür tat, dass der junge Butterfield diesen Transport auch lebend überstehen würde, fertigten die anderen Krieger in Windeseile aus dem krüppeligen Gesträuch zwei Travois an, welche zwischen zwei Pferde befestigt werden konnten. Ich nutzte währenddessen die Zeit, um die Soldaten zu der Stelle zu führen, an der wir ihren toten Kameraden gefunden hatten. Die Leiche wurde nun von ihnen ebenfalls für den Transport vorbereitet und sollte anschließend auf dem zweiten Travois befestigt werden. Nachdem Winnetou sein Möglichstes getan hatte, um Frederic vorerst das Leben zu erhalten, konnte er ihn nun beruhigt der Obhut seiner Krieger übergeben, denn uns lief langsam wirklich die Zeit davon. Der Tag neigte sich jetzt rasch dem Ende zu, und noch hatten wir weder den zweiten Soldaten noch den Verbrecher Thomson gefunden – und dass mir das Auffinden desselben, egal ob tot oder lebendig, besonders am Herzen lag, konnte man sich wohl denken! Es gab einfach niemanden, der besser für diese komplizierte Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen geeignet war als Winnetou. Er besaß die einzigartige Gabe, die Natur so zu verstehen, dass er den Weg des Tornados förmlich vor sich sehen konnte – es schien beinahe so, als hielte er Zwiesprache mit den Elementen, mit dem Wind, mit der sonnenverbrannten Erde, wenn er zwischendurch immer mal wieder völlig unbeweglich und mit geschlossenen Augen, wie in Stein gemeißelt, im Sattel saß, während Iltschi starr wie eine Statue dieses Bild abrundete. Die lange, blauschwarze Mähne meines Freundes, in der sich der Wind immer wieder verfing, war dabei das Einzige, was davon zeugte, dass dieses Bild tatsächlich lebte, abgesehen von seinen sich manchmal bewegenden Nasenflügeln, wobei er dann fast den Eindruck machte, als würde er etwas wittern. Doch es war alles umsonst. Wir suchten bis weit in die Abenddämmerung hinein, bis wir fast die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnten, aber ohne Erfolg. Beide Männer blieben verschwunden, und es war nicht auszuschließen, dass der Sturm sie so weit in die Wüste hinausgetragen hatte, dass wir tagelang nach ihnen suchen konnten und doch nichts fanden. Die Gefährten hingegen waren schon längst mit dem Verletzten und dem Toten in das sichere Lager zurückgekehrt, denn nachts verändert die Wüste ihr Aussehen vollständig, so dass jeder, der dann noch auf unbekanntem Terrain dort unterwegs ist, kaum noch eine Chance hat, den Weg zurückzufinden. Nicht so Winnetou. Mit traumwandlerischer Sicherheit führte er uns zurück zu unserer Reisegruppe, wobei ich ehrlich zugeben muss, dass wir diesen Weg beinahe schon resigniert zurücklegten. Natürlich machten wir uns große Sorgen um den Soldaten, der, wenn er denn überhaupt noch lebte, eine bitterkalte Wüstennacht wohl kaum überstehen würde, aber vor allem das spurlose Verschwinden Thomsons gab uns wirklich zu denken – mir wahrscheinlich noch viel mehr als Winnetou selber, von dem ich mehr und mehr den Eindruck gewonnen hatte, dass ihm an einer kaltblütigen Rache an diesem Widerling eigentlich gar nichts mehr lag, trotz des Leides und der fürchterlichen Qualen, die er durch den Schurken hatte ertragen müssen. Nein – mein Freund hätte sich bestimmt damit begnügt, den Dreckskerl einfach nur tot zu sehen, und auch das weniger als Genugtuung für sich, sondern eher noch aus der Verantwortung für dessen zukünftige Opfer heraus. Doch es half alles nichts – für heute konnten wir einfach nichts mehr tun. Als wir im Lager ankamen, das heute aus verständlichen Gründen an der eigentlich nicht sonderlich dafür geeigneten Felsspalte aufgeschlagen worden war, wurden wir schon sehnsüchtig erwartet, denn aufgrund der rasch hereingebrochenen Dunkelheit hatte man allmählich begonnen, sich Sorgen zu machen. Winnetou gönnte sich allerdings auch jetzt keine Pause, sondern eilte sofort zu dem schwerverletzten Frederic, der ja noch lange nicht über den Berg war. Um den jungen Mann herum standen oder saßen die restlichen Butterfields, alle völlig geschockt und wie gelähmt von den schrecklichen Ereignissen der letzten Stunden. Ein Familienmitglied tot, das andere durch schwere Verletzungen versehrt, und dann noch die Ungewissheit, ob diese überhaupt überlebt werden und jemals wieder vollständig heilen konnten! Was für ein fürchterlicher Tag für die jungen Männer; was für eine schreckliche Ausbeute ihrer Goldsuche! Der Doktor hatte sich indessen mit Hilfe einiger Apatschen sowie mehrerer Westmänner zwischen ihnen etwas Platz geschaffen und bemühte sich seitdem aufopferungsvoll um den Jüngling, wobei er von Entschah-koh tatkräftig unterstützt wurde. Als Winnetou sich dazugesellte, verbrachten die beiden die nächste Stunde damit, den zertrümmerten Unterschenkel Frederics so gut zu richten und zu versorgen, dass die Blutungen dort völlig gestillt werden konnten und der junge Mann tatsächlich die größtmögliche Chance bekam, sein Bein in ferner Zukunft bis auf einige kleinere Einschränkungen in beinahe normaler Weise wieder nutzen zu können. Walter Hendrick gab später unumwunden zu, dass er dieses kleine medizinische Wunder selbst wohl niemals so hinbekommen hätte, und er schwärmte danach noch lange Zeit von den unglaublichen Heilkünsten des Apatschenhäuptlings. Aber auch danach konnte ich meinen Blutsbruder noch nicht zu einer Pause überreden. Im Gegenteil, er gab nicht eher Ruhe, als bis auch das letzte Opfer des Sturms von ihm begutachtet worden war, und nicht selten legte er hier und da nochmal Hand an oder wechselte ganze Verbände, und jede seiner Maßnahmen trug zu einer Verbesserung oder einer Erleichterung des Zustandes seiner Patienten bei. Dabei ließ er auch den Doktor nicht aus, dessen Schnittwunde am Arm gleichsam von ihm versorgt wurde, obwohl Walter sich mehrmals dagegen zu wehren versuchte. Immerhin war Winnetou ja ebenfalls verwundet und bedurfte eigentlich einer Behandlung, doch gegen dessen unerbittlichen Willen hatte Hendrick einfach keine Chance. Selbst Sam Hawkens kam um eine Versorgung durch meinen Freund nicht herum. Er hatte während des tosenden Orkans versucht, sich hinter seinem Maultier in Sicherheit zu bringen. Leider war das Tier dann wohl in Panik geraten und hatte im Liegen mehrmals mit den Hufen ausgeschlagen, wodurch Sam einmal mit voller Wucht am Kopf getroffen worden war. Dadurch hatte er für längere Zeit das Bewusstsein verloren; und auch jetzt saß der kauzige Westmann immer noch etwas benommen am Boden und war sichtlich froh über die Linderung, die Winnetous Behandlung mit sich brachte. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, mit dem Apatschen ein wenig zu schimpfen, da dieser schließlich auch am Kopf verletzt worden war, sich aber immer noch keinen Deut darum scherte. Natürlich hatte sich mein Freund zu Anfang als erstes um die anderen beiden Schwerverletzten gekümmert – hier hatte es einerseits noch ein Mitglied unserer militärischen Begleitung getroffen, einen Soldaten mit einem gebrochen Arm sowie einer ausgerenkten Schulter, und andererseits einen Krieger der Apatschen, der ebenfalls aufgrund eines Huftrittes eines Pferdes mit einer gebrochenen Hüfte zu kämpfen hatte. Beide Verletzten mussten sich jetzt noch einmal einer aufwändigen Behandlung unterziehen, die bis weit in den Abend hinein dauerte; und danach ließ es sich mein Freund nicht nehmen, für jeden der Leichtverletzten das Höchstmaß seiner indianischen Heilkunst aufzubringen. Ich begleitete ihn dabei die ganze Zeit über, half, wo ich konnte, und wurde von Mal zu Mal unruhiger und ungeduldiger. Hatte mein Freund vergessen, dass er selbst verletzt worden war? Hatte er vergessen, dass ein Feind in seinem Körper lauerte, der keine großen Anstrengungen duldete und auch nicht die geringste Überforderung desselben verzieh? Zuerst versuchte ich durch mahnende Blicke oder kaum wahrnehmbare Gesten, Winnetou an seine Fürsorgepflicht für sich selbst zu erinnern. Als das nichts fruchtete, warf ich zwischendurch immer wieder kleine Bemerkungen ein, die alle in diese Richtung zielten, aber für die Gefährten nicht zu durchschauen waren. Doch auch hier hatte ich keinen Erfolg, und somit zog ich ihn jetzt nach jeder erfolgreichen Behandlung kurz zur Seite und bemühte mich, ihn von der Notwendigkeit einer Pause zu überzeugen, mittlerweile mit der energischen Unterstützung durch unseren Doktor. Hendrick hatte Winnetou natürlich bei jeder Behandlung begleitet und geholfen, und auch er war jetzt zu der Ansicht gelangt, dass mein Freund mehr als genug getan hatte. Dieser ließ sich aber weiterhin nicht beirren, doch als er nach der Versorgung des letzten Verwundeten nochmals zu Frederic Butterfield zurückkehren wollte, beim Aufstehen aber minimal und von den anderen unbemerkt zu taumeln begann, da hatte ich endgültig genug. Ich packte seinen Arm und zog ihn fast schon heftig ein ganzes Stück zur Seite, in die Dunkelheit hinein, so dass uns die Gefährten nicht mehr sehen konnten. „Winnetou, es reicht jetzt!“, fuhr ich ihn völlig unbeherrscht an. „Du hast hier heute Abend wahrlich dein Möglichstes getan, aber wenn du dich jetzt nicht endlich selbst schonst, dann hat unser Doktor bald einen Patienten mehr – und der würde uns mit Sicherheit die größten Sorgen machen!“ „Scharlih...“, begann mein Freund mit einer Mischung aus leisem Erstaunen und – war das tatsächlich möglich? - einer langsam aufkommenden, wenn auch noch minimalen Gereiztheit. „Winnetou will ja nur helfen – er überfordert sich doch nicht...“ „Und ob du das tust!“, fiel ich ihm fast wütend ins Wort. „Du bist heute selbst verletzt worden, und wir hatten überhaupt noch keine Gelegenheit, uns darum zu kümmern! Zudem warst du auch noch lange bewusstlos, und ich möchte eigentlich gar nicht wissen, was dieses Herumschleudern in der Luft noch alles mit deinem Körper angestellt hat! Dazu kommt die endlose Suche nach den Vermissten, und nun dieser stundenlange Behandlungsmarathon – du hast dir währenddessen auch nicht das kleinste bisschen Ruhe gegönnt, hast nichts gegessen und, noch schlimmer, überhaupt nichts getrunken, trotz der Hitze und der großen Anstrengungen! Es ist jetzt wirklich...“ „Mein Bruder – so hör doch...“, unterbrach er mich jetzt fast hilflos, doch ich hatte mich nun mal endgültig in Rage geredet und war durch nichts mehr zu beruhigen. „Nein! Es ist jetzt wirklich genug! Ich will einfach nicht mehr nur tatenlos zusehen müssen, wie du dich...“ Erschrocken bemerkte ich jetzt seine mit einem Mal verzagte, beinahe schon verschreckte Miene, und sofort war meine Wut wie weggeblasen. Im Gegenteil – mein Herz wurde in diesem Augenblick mit solch einem immensen Gefühl der tiefsten Liebe zu meinem Blutsbruder überflutet, dass ich ihn am liebsten ganz fest in meine Arme gezogen und nie wieder losgelassen hätte. „Bitte... verzeih mir meine Unbeherrschtheit, mein Freund – ich wollte dich auf keinen Fall so anfahren... doch ich bin in großer Sorge um dich!“, versuchte ich meinen Wutausbruch zu rechtfertigen, jetzt aber im sanftesten Flüsterton. „Ich will dich einfach nicht verlieren – du bist doch alles für mich!“ Im fahlen Mondlicht konnte ich es in seinen Augen feucht schimmern sehen, als er meine Hände ergriff. „Aber mein Bruder vertraut mir nicht...“ sagte er leise. Seine beinahe resigniert klingende Stimme, das Glitzern in seinen Augen und zusätzlich noch der für mich deutlich herauszuhörende Vorwurf trafen mich jetzt bis ins Mark. Sprachlos, ja, fast schon erschüttert starrte ich ihn an – was sollte ich darauf nur erwidern? Ich musste in diesem Augenblick wohl einen äußerst hilflosen und wahrhaft zerknirschten Eindruck auf meinen geliebten Freund gemacht haben, denn sein Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal ganz weich, und dann fasste er mich bei den Schultern und zog mich in eine heftige Umarmung hinein, die ich beinahe noch heftiger erwiderte – man konnte es schon fast eine Umklammerung nennen, denn ich presste ihn so stark an meine Brust, als wäre ich ein Ertrinkender, der seinen Rettungsanker nie wieder loslassen wollte. Glücklicherweise war es hier hinten so dunkel, dass uns die Gefährten nicht sehen konnten – hoffte ich zumindest! Mir war die Kehle eng geworden, so dass ich ihm nur heiser ins Ohr flüstern konnte: „Natürlich vertraue ich dir, mein Bruder! Niemals könnte und würde ich dein Urteilsvermögen anzweifeln, aber...“ „... aber dennoch folgst du deinem Winnetou auf Schritt und Tritt und wachst über all seine Bewegungen“, unterbrach er mich mit einem deutlich herauszuhörenden Lächeln in der Stimme. „Ich kann doch gar nicht anders!“, brach es aus mir heraus, wobei ich ihn an die Schultern fasste und ein Stück von mir wegschob, so dass ich ihm ins Gesicht schauen konnte. „Mittlerweile kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass du deinen Körper im Augenblick einfach überschätzt – oder die Krankheit vielleicht sogar nicht ernst genug nimmst! Und wenn dem nicht so ist, dann bleibt nur die Möglichkeit, dass dein Wille, anderen zu helfen, im Moment stärker ist als der, auf deine Gesundheit zu achten!“ Mein Freund erwiderte nichts darauf, sah mich nur aus seinen so tiefgründigen, dunklen Augen an, in denen sich die Sterne widerspiegelten – Diamanten gleich, und ich war mir nicht sicher, ob dieses Glitzern nur dem Widerschein der Gestirne geschuldet war. Nochmals versuchte ich mich zu erklären: „Ich habe solche Sorge um dich... ich muss dich doch zurückhalten, wenn du dich selbst zu sehr forderst... und ich... was würdest du denn an meiner Stelle tun?“ Ein zaghaftes Lächeln glitt über Winnetous schönes Antlitz, und dann antwortete er leise: „Dich zurückhalten...“ Ich konnte nicht verhindern, dass sich mir jetzt ein breites Grinsen ins Gesicht stahl, und mit einem nur halb unterdrückten Glucksen in der Stimme ergänzte ich: „Und ich an deiner Stelle... nun ja, ich würde mich wahrscheinlich auch nur ungern zurückhalten lassen...“ Sein feines Lächeln wurde noch ein wenig breiter, und rasch senkte er den Kopf, um seiner Belustigung schnell wieder Herr zu werden, währenddessen er meine Hände ergriff und sie kurz drückte. Doch das genügte mir nicht. Sein ganzes Wesen wirkte im Augenblick beinahe hilflos, schien sich unwillkürlich nach einem Beschützer zu sehnen; seine latent vorhandene Melancholie samt dieser leisen Wehmut traten jetzt viel deutlicher hervor, gepaart mit einem ebenso unsinnigen wie unnötigen Schuldbewusstsein mir gegenüber... Außerdem war da ja weiterhin seine immer noch sichtbare körperliche Schwäche, die sich in seinem durchscheinenden und grazilen Äußeren zeigte – das alles rührte mich zutiefst, und jetzt konnte ich einfach nicht mehr an mich halten. Ich riss ihn wieder in meine Arme, presste ihn an mich und hätte ihn jetzt am liebsten mit Zärtlichkeiten nur so überschüttet, doch mit all den Gefährten in der Nähe war da ja nun gar nicht dran zu denken. Mein Herz flutete über vor Liebe zu diesem Mann, und in diesem Moment hätte ich alles dafür gegeben, wenn ich mit ihm alleine gewesen wäre! Eine wunderbar kleine Ewigkeit lang lagen wir uns so in den Armen, hielten uns eng umschlungen, unfähig, den anderen loszulassen. Doch irgendwann hörten wir in unserer Nähe ein verhaltenes Räuspern, so dass wir uns dann doch schnell von einander lösten. Es war der Doktor, der nun aus dem Halbdunkel neben uns auftauchte. Zuerst sagte er kein Wort, sondern musterte Winnetou nur, erst etwas scheu, dann aber mit zunehmend strengerer Miene. Schließlich fasste er sich ein Herz, straffte sich und begann: „Du hast heute Abend wirklich Großartiges geleistet, Winnetou – aber nun ist es genug! Wir waren uns doch einig: Keine Überanstrengungen! Und davon gab es heute wohl mehr als genug, oder meinst du nicht auch? Charlie macht sich zu Recht große Sorgen, und auch ich...“ „Winnetou wird sich sofort zur Ruhe legen“, unterbrach mein Freund den Arzt, bevor dessen Strafrede in eine endlose Litanei ausarten konnte, und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Aber seine Stimme klang nun doch recht müde, und auch seine Bewegungen wirkten mit einem Mal so, als ob er Zentnerlasten mit sich herumschleppen müsste. Nicht nur mir fiel das jetzt auf, auch Walter besah sich Winnetou nun noch etwas genauer. Als er sich daraufhin zu mir umdrehte, brauchten wir nur einen einzigen besorgten Blick tauschen, um uns über die weiteren Maßnahmen einig zu sein. Ich legte meine Hand leicht auf den Rücken des Apatschen und übte nur so viel Druck aus, wie es nötig war, um ihn dazu zu bringen, sich in Bewegung zu setzen und uns zurück zu dem provisorischen Lager hin zu folgen. Doch noch bevor ich ihn zu unseren Rappen führen konnte, in deren Nähe ich am Abend zwischendurch unsere Decken schon einmal in einer kleinen Nische hinter einigen größeren Felsen ausgebreitet hatte, blieb Winnetou wieder stehen. Sein Blick irrte suchend über das Lager, in dem sich mittlerweile die meisten unserer Gefährten schon zur Ruhe begeben hatten, dann wandte er sich an den Doktor. „Winnetou möchte sich lieber noch einmal das junge Bleichgesicht namens Frederic ansehen...“, doch sofort wurde er wieder unterbrochen, und zwar von Walter und mir gleichzeitig. „Nein! Bitte, Winnetou, ich glaube nicht, dass...“ Doch Hendrick fiel auch mir direkt ins Wort: „Das ist wirklich nicht nötig, mein Junge! Ich war vorhin selbst noch bei ihm... er schläft, und im Augenblick geht es ihm soweit recht gut. Wir können da jetzt wirklich nicht mehr tun – und nun bist du an der Reihe! Du bist erschöpft, das ist deutlich zu sehen, und es wird höchste Zeit, dass du dich endlich hinlegst!“ Sein Tonfall war zum Schluss seiner Rede so streng geworden, dass meinem Freund jetzt gar nichts anderes übrig blieb, als ergeben den Kopf zu senken und Walter ohne jeden weiteren Widerspruch zu folgen. Innerlich atmete ich erleichtert auf, als er sich kurz darauf endlich legte. Seine Kopfwunde war von Walter natürlich nicht vergessen worden, und um Winnetou das lange Sitzen während der Versorgung derselben zu ersparen, sorgte ich jetzt dafür, dass er mit dem Kopf auf meinem Schoß so zu liegen kam, dass Walter ohne Probleme die kleine, aber recht tiefe Platzwunde behandeln konnte – und mein Freund ließ dieses zum Glück auch ohne Widerstand zu. Wie sehr dieser Tag Winnetou dann letztendlich doch erschöpft hatte, konnte man nun daran sehen, dass er tatsächlich noch während der Wundversorgung einschlief! Walter und ich lächelten uns an, als wir es bemerkten, und während der Doktor seine Behandlung so sanft wie möglich fortsetzte, griff ich nach meiner Decke und zog sie vorsichtig über den Körper meines Freundes. In dieser Nacht fand ich so gut wie keinen Schlaf. Einerseits ging mir das Schicksal der Butterfields nicht mehr aus dem Kopf – es war wirklich schrecklich anzusehen, wie sehr Winnetou mit seiner Bezeichnung „tödlicher Staub“, mit der er das Gold regelmäßig betitelte, mal wieder Recht gehabt hatte. Andererseits kam ich erst jetzt dazu, den furchtbaren Sturm mit seinen teils verheerenden Folgen für mich Revue passieren zu lassen und dabei auch irgendwie zu verarbeiten, und das fiel mir wirklich nicht leicht. Im Nachhinein befand ich aber, dass wir trotz der Schicksalsschläge doch noch sehr viel Glück im Unglück gehabt gehabt hatten – wenn Winnetou nicht die Felsspalte entdeckt hätte, dann wären mit Sicherheit noch viel mehr Opfer zu beklagen gewesen. Und dass bei dieser unfassbaren Kraft, die der Hurrikan entwickelt hatte, nicht noch mehr Menschen einfach weggeweht worden waren, konnte man tatsächlich als ein wahres Wunder bezeichnen. Die größten Sorgen aber machte ich mir natürlich um meinen geliebten Freund. Der heutige Tag hatte seiner Genesung wahrhaftig nicht gedient, es war wohl eher das Gegenteil der Fall. Zwar schlief er im Augenblick ruhig in meinen Armen, aber in mir machte sich immer mehr ein Gefühl der Unruhe bemerkbar – und gegen Morgen glaubte ich auch den Grund dafür zu erkennen. Als ich dann zum wiederholten Male die Stirn des Apatschen befühlte, war ich mir sicher, dass er zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder von einem Fieber heimgesucht wurde. Sofort weckte ich den Doktor, der neben uns schlief, bei meinen leise geflüsterten Worten aber sogleich aufsprang und Winnetou einer kurzen Untersuchung unterzog. Seufzend bestätigte er kurz darauf meinen Verdacht – und somit war klar: an eine Weiterreise war heute nicht mehr zu denken! Doch als wenig später die Sonne unser provisorisches Lager in ein strahlendes, rotgoldenes Licht tauchte, wurde uns allen bewusst, dass auch so ein erneuter Aufbruch nicht möglich gewesen wäre. Die meisten der Verwundeten benötigten noch mindestens einen Tag Ruhe, und die drei Schwerverletzten – allen voran natürlich Frederic Butterfield – waren noch gar nicht transportfähig. Das war natürlich so gar nicht in unserem Sinne, hatten wir uns doch vorgenommen, so schnell wie möglich wieder aus dem Gefahrenbereich des Llano und vor allem des in unmittelbarer Nähe liegenden Grenzgebietes der Comanchen herauszukommen. Nun hieß es natürlich doppelt und dreifach wachsam sein. Unser Lager war zudem in keinster Weise dazu geeignet, Angriffe schnell und erfolgreich abzuwehren, allein schon aufgrund der landschaftlichen Verhältnisse – und wie schnell konnte es dann auch wieder zu einem neuerlichen Sturm kommen, wie schnell konnte sich der gestrige Horror nochmals wiederholen! Andererseits kam uns diese Zwangspause auch ganz gelegen, denn so konnten wir die Suche nach den Vermissten doch noch mindestens einen Tag lang fortsetzen, wobei wir dieses Mal aber auf die unvergleichlichen Kenntnisse von Winnetou verzichten mussten. Dieser lag den ganzen Tag über im Fieber, welches wir glücklicherweise durch seine eigenen Heilpflanzen, die wir auf der Reise in einem ausreichend großen Vorrat mitgeführt hatten, soweit absenken konnten, dass es gar nicht erst zu den gefürchteten Fieberkrämpfen kam. Trotzdem war er fast die ganze Zeit über nicht ansprechbar, so dass ich es nicht übers Herz brachte, ihn auch nur für wenige Augenblicke alleine zu lassen. Ich überließ die Führung des Lagers daher Old Firehand sowie Winnetous stellvertretenden Häuptlingen, wobei wir uns jedoch zusammen mit den anderen Westmännern kurz vorher nochmals besprachen. Es wurde beschlossen, dass ein Teil der Apatschen unter der Leitung Entschah-kohs die Suche in der Wüste fortsetzen sollten, denn Winnetous Stammesgenossen war es am ehesten zuzutrauen, hier erfolgreich zu sein, verfügten sie doch über fast ebensolche Fähigkeiten wie mein Freund, wenn auch im deutlich geringeren Maße. Im Gegensatz zu uns Weißen hatten sie jedoch deutlich größere Chancen, zumindest einen der Vermissten zu finden, wenngleich zu befürchten war, dass es dann nur noch Tote zu bergen geben würde. Die restlichen Apatschen bildeten, wie schon des öfteren geschehen, mit den Westmännern gemischte Trupps, wobei die einen weit ausgedehnte Erkundungsritte unternahmen, um die Sicherheit des Lagers zu gewährleisten und eventuelle Gefahren durch umherstreifende Comanchen rechtzeitig zu erkennen, die anderen hingegen in die Richtung aufbrachen, aus der wir gekommen waren, um zu jagen. Hier in dieser öden Gegend hätte man damit niemals Erfolg gehabt, aber da die einzelnen Reiter in der Lage waren, viel schneller eine große Entfernung zu überwinden als wir vorher mit unserem ganzen Zug, konnten sie auch eine deutlich größere Strecke zurücklegen, so dass sie im Laufe des Tages ein Gebiet erreichen sollten, in dem sich eine Jagd auch lohnen würde. Dadurch stand natürlich zu erwarten, dass diese Männer erst am nächsten Tag wieder zu uns stoßen würden, was aber kein Nachteil sein würde, denn so wie die Verhältnisse lagen, würden wir noch mindestens zwei volle Tage hier rasten müssen. Til Lata, der im Lager geblieben und hier das Kommando übernommen hatte, hatte daher Boten zum Pueblo der Mescaleros gesandt, um einerseits unsere Verspätung zu melden und andererseits einen weiteren großen Trupp Krieger zu mobilisieren, die uns entgegen reiten sollten, um auf diese Weise jegliche Gefahr eines Zusammenstoßes mit den Comanchen von vornherein im Keim zu ersticken. Den Soldaten wurde die Aufgabe übertragen, die unmittelbare Umgebung des Lagers abzusichern, natürlich unter der Anleitung der leichtverletzten Apatschen und Westmänner. Einige Mescaleros, die sich in der indianischen Heilkunde gut auskannten, waren ebenfalls daheimgeblieben, um unseren Doktor zu unterstützen, der den ganzen Tag damit zubrachte, die Schwerverletzten zu versorgen und vor allem Frederic Butterfield am Leben zu halten. Da er sich von Winnetous großem Erfahrungsschatz mittlerweile so einiges angeeignet hatte und zudem auch noch von den Apatschen unterstützt wurde, konnte er am Ende des Tages mit großer Zuversicht behaupten, dass der junge Butterfield jetzt endgültig außer Lebensgefahr war und er in einiger Zeit wohl auch wieder sein altes Leben aufnehmen können würde, wenn auch dieses wahrscheinlich verbunden sein würde mit einer dauerhaften Einschränkung der Beweglichkeit seines rechten Beines. Schon am gestrigen Abend hatten wir Winnetou etwas von dem Rest unserer Reisegruppe abgeschirmt, um ihn nicht den neugierigen Blicken der Soldaten auszusetzen, und in unserer unmittelbaren Nähe hatten sich zudem einige weitere Apatschen postiert, die ausschließlich für seine Sicherheit sorgen sollten und nur zu diesem Zweck ebenfalls im Lager geblieben waren. Immerhin konnte niemand von uns mit Gewissheit sagen, wo der Verbrecher namens Thomson wirklich abgeblieben war – natürlich war die Wahrscheinlichkeit mehr als groß, dass der Kerl irgendwo weit draußen in der Wüste unter Unmengen von Sand begraben lag und ihn in der Zwischenzeit wohl das Zeitliche gesegnet hatte... aber wer konnte das schon so genau wissen? Und bevor wir nicht den endgültigen Beweis seines Ablebens finden würden – am besten natürlich in Form seiner Leiche – wollten wir weiterhin die größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen aufrecht erhalten lassen, um Winnetou auf keinen Fall durch irgendeine Nachlässigkeit zu gefährden. Sollte dieser Wahnsinnige nämlich tatsächlich noch leben, war es ihm durchaus zuzutrauen, dass er alles daransetzen würde, um sich irgendwie an meinem Freund zu rächen. Thomson hatte in den letzten Wochen natürlich deutlich mitbekommen, dass dieser im Augenblick noch lange nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war, und von daher war der Zeitpunkt einer Rache für ihn gerade jetzt besonders günstig. Und dass er sich rächen wollte, darüber hatte er uns in den letzten Tagen oft genug in Kenntnis gesetzt, ob wir es nun hören wollten oder auch nicht. Gerade nach Winnetous Meisterschuss, dessen Pfeilwunde dem Kerl bis jetzt höllische Schmerzen bereitet hatte, waren seine Racheschwüre dem Apatschen gegenüber unüberhörbar gewesen, wenn er sich nicht gerade in lautes Schmerzensgeheul ergangen hatte – oder genau deswegen von seinen Bewachern geknebelt worden war! Ich hingegen hielt mich den ganzen Tag über selbstverständlich nur bei meinem geliebten Freund auf, bewachte seinen Schlaf, flößte ihm immer wieder etwas von dem fiebersenkenden Heiltee ein, wusch sein von der Kopfwunde blutdurchtränktes Haar aus, sorgte dafür, dass er stets bequem lag – und nahm selbst zwischendurch öfter mal eine Mütze voll Schlaf, da meine letzte Nachtruhe nun mal nur sehr kurz bis gar nicht vorhanden gewesen war. So oft es ihm möglich war, leistete Walter mir Gesellschaft, vor allem auch deshalb, weil er einigermaßen beunruhigt war über die nun wieder vermehrt auftretenden Rhythmusstörungen, die den Apatschen seit der Nacht heimsuchten und schnell wieder bekämpft werden mussten, bevor es für ihn zu gefährlich wurde. Am späten Abend dann schlug Winnetou endlich die Augen auf und sah mich erstmals wieder mit einem klaren und unverschleierten Blick an, an dem ich erkennen konnte, dass er in diesem Moment auch wieder ganz bei Sinnen war. Ich lächelte ihm zu und war gerade im Begriff, nach dem Becher mit dem Tee zu langen, als sein niedergeschlagener Blick mich sofort wieder innehalten ließ. Zärtlich legte ich ihm meine Hand auf seine Wange und fragte leise: „Geht es dir nicht gut, mein Bruder?“ „Winnetou hat sich geirrt“, flüsterte er. „Wie meinst du das?“, fragte ich ihn besorgt. So hatte ich ihn bisher selten gesehen – was war es nur, das ihn in diese seltsame, beinahe melancholische Stimmung gebracht hatte? „Winnetou war ganz sicher, seinen Zustand richtig beurteilen zu können – und nun hat er seinem Bruder Scharlih doch wieder großen Kummer bereitet...“ Ich wusste, dass wir in diesem Augenblick alleine waren, außerdem war es dunkel – doch auch wenn es anders gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich nicht mehr an mich halten können. Ich riss ihn beinahe hoch, presste ihn an mich und drückte ihm einen innigen Kuss auf die Stirn. „Nun mach dir doch darüber keine Gedanken!“, rief ich fast schon entrüstet aus. „Das war gestern nun ein wirklich furchtbarer Tag, der uns allen sehr viel abverlangt hat – da ist es doch selbstverständlich, dass du dich unbewusst übernimmst, während du so vielen Menschen beistehst... und du glaubst nicht, wie froh ich bin, dass du das alles bis hierhin recht unbeschadet überstanden hast!“ „Und doch hatte Winnetou um dein Vertrauen geworben – er hat es aber nicht verdient!“, unterbrach er mich mit düsterer Stimmte, sich weiterhin in Vorwürfen ergehend. Deutlich waren seine Selbstzweifel herauszuhören. „Aber das ist doch gar nicht wahr!“ Jetzt war ich ehrlich entsetzt. „Du hast mein grenzenloses Vertrauen, in jedweder Hinsicht – und du hast mich noch niemals enttäuscht! Außerdem weiß ich doch selbst am besten, wie schwer es ist, sich zurückzuhalten, wenn Not am Mann ist! Winnetou, mein geliebter Bruder: es ist ja bald vorbei! Wenn wir erst einmal aus diesem gefährlichen Landstrich heraus sind, wirst du auch gar nicht mehr in Versuchung kommen, dich zu überanstrengen – und wenn wir dann in einigen Monaten wieder hierher zurückkehren, wirst du so stark und gesund sein wie früher, so dass unsere Sorgen endgültig der Vergangenheit angehören werden!“ Winnetou hatte mich während meiner kurzen, aber eindringlichen Rede unverwandt angesehen, und wie immer wurde ich auch jetzt von den Diamanten in seinen nachtdunklen Augen wie magisch angezogen. Nun glitt ein sanftes Lächeln über seine schönen Züge, und mit leiser Stimme meinte er: „Mein Bruder versteht es, jedwede Düsternis im Herzen des Apatschen mit seinen Worten zu vertreiben – so wie der langersehnte Regentropfen den Staub von der Wüstenblume entfernt!“ Ich lächelte ihn breit an: „Dafür bin ich doch schließlich da! Irgendjemand muss dir ja diese unsinnigen Gedanken aus dem Kopf treiben! Du kannst nun wirklich...“ „Was denn für unsinnige Gedanken?“ Diese Unterbrechung kam von dem Doktor, der gerade eben Winnetous abgeschiedenes Lager betreten hatte; in seinem Gefolge befanden sich zudem noch Emery sowie Sam Hawkens. Ich sah Walter nur stumm an und schüttelte beinahe unmerklich den Kopf – das hier war bestimmt kein Thema, welches Winnetou vor den Gefährten ausgebreitet sehen wollte, so nahe diese uns auch standen. Doch dem Arzt gelang es mal wieder wie schon so oft, mich zu überraschen. Offenbar erahnte er den Inhalt des Gespräches zwischen Winnetou und mir, denn schon kniete er bei dem Apatschen und begann, in einem leisen Flüsterton auf ihn einzureden. Ein paar wenige Worte bekam ich davon mit und konnte hören, wie er meinem Freund klarzumachen begann, dass dieser für seine neu aufgetretenen Fieberattacken in keinster Weise verantwortlich war, da solcherlei Rückfälle zu dem Krankheitsbild unweigerlich dazugehörten. Dann jedoch drehte ich mich schnell zu Emery und Sam hin, um sie in ein Gespräch zu verwickeln, damit sie davon nichts mitbekamen. „Ist euch etwas Außergewöhnliches begegnet?“, fragte ich den Engländer ganz direkt, denn dieser hatte dem Erkundungstrupp angehört, der das Grenzgebiet zu dem Lager der Comanchen ausspionieren sollte. „Nein – im Augenblick ist offenbar alles ruhig, alter Junge“, antwortete Emery und ließ sich dann ächzend neben mir zu Boden sinken. Anschließend schlug er mir herzhaft auf die Schulter und meinte in einem jovialen Ton: „Herr im Himmel – da haben wir gestern mal wieder richtig Glück gehabt, nicht wahr, mein Lieber?“ „Wir ja – aber zu meinem großen Bedauern gilt das nicht für alle unsere Gefährten, alter Freund, leider nicht für alle!“ „Da sprichst du wahre Worte,“ gab mir der Engländer recht und meinte dann: „Und gerade für unsere Butterfields tut es mir wirklich sehr, sehr leid! Diese armen, unerfahrenen Burschen – in den letzten Monaten und vor allem gerade jetzt wird ihnen einmal auf eine ganz harte Weise gezeigt, wie nah Licht und Schatten, Glück und Unglück im Leben beieinanderliegen!“ Ich nickte nachdenklich, und neben mir tat es Sam Hawkens mir gleich, der sich ebenfalls zu uns gesellt hatte. Seine Kopfwunde bereitete ihm kaum noch Schwierigkeiten, und Schmerzen hatte er auch schon seit geraumer Zeit nicht mehr, was er vor allem Winnetous Behandlung zuschrieb, bei dem er sich deswegen jetzt auch bedanken wollte. Da sich der Apatsche aber immer noch im Gespräch mit dem Doktor befand, ging der kauzige Westmann in der Zwischenzeit auf Emerys Bemerkung ein: „Leider, leider! Es sind zwar Greenhorns durch und durch, die nur von unserem guten Mr. Shatterhand hier noch übertroffen werden dürften – aber ihr Schicksal geht selbst dem alten Sam Hawkens richtig zu Herzen! Wollen hoffen, dass die Burschen dennoch ihr Glück zu schätzen wissen, welches sie in all dem Unglück gehabt haben. Ohne unsere – und vor allem ohne Winnetous Hilfe – wären sie doch niemals an ihr Ziel gekommen, wenn ich mich nicht irre! Vorher nämlich hätten ihnen diverse Indsmen so einige hübsche Löcher in den Leib geschossen, wenn ihnen nicht gar noch ein wenig früher Thomson und seine Schurkenbande ans Leben gegangen wäre, wenn ich mich nicht irre – und das hätte dem Äußeren dieser zarten Jünglinge wirklich gar nicht gut getan – hihihi!“ Der gute Sam ließ sich einfach durch nichts aus der Ruhe bringen! Auch er war ja dem Wirbelsturm mit nur knapper Not entronnen, und trotzdem wandelte er schon den ganzen Tag über so gleichmütig durch das Lager, als würde er sich auf einem Spaziergang entlang des Elbufers befinden. Allerdings hatte er nun auch schon wieder die Nase voll von der seiner Meinung nach nutzlosen Schonfrist, die ihm der Doktor aufgrund seiner Verletzung für den heutigen Tag verpasst hatte, und als dieser sein Gespräch mit Winnetou beendet hatte, setzte der kleine Mann nun alles daran, den Arzt von seiner vollständigen Genesung zu überzeugen und ihm zu verdeutlichen, dass er am nächsten Tage auf keinen Fall wieder nur im Lager herumzulungern gedachte. Seltsamerweise setzte auch Sam Hawkens sich nämlich nicht einfach über die Anordnungen von Walter hinweg, genauso wenig wie Winnetou es tat – auch er hatte wohl im Laufe der letzten Wochen und Monate die medizinischen Fähigkeiten des Doktors gleichsam wie dessen bemerkenswerten Charakter nebst seiner natürlichen Autorität schätzen gelernt. Ein wenig mochte es vielleicht auch daran liegen, dass gerade der Apatschenhäuptling dem Doktor sein unbedingtes Vertrauen aussprach und dieses auch ständig öffentlich bezeugte, in dem er immer wieder dessen Anweisungen Folge leistete und gleichzeitig dafür sorgte, dass es dem Arzt an nichts fehlte und ihm alle den nötigen Respekt erwiesen. Und Sams Respekt vor Walter sorgte jetzt auch dafür, dass er völlig still hielt, als sich dieser seine Kopfwunde noch einmal genau besah und anschließend zu dem Ergebnis kam, dass er Sams Wunsch durchaus Folge leisten konnte. Der Kleine nahm diese Nachricht mit seiner üblichen humorigen Art auf: „Wusste es doch, dass mein liebliches, aber gleichwohl falsches Haupthaar meinen Schädel zu schützen weiß, hihihi! Daher sollte ich mich bei Gelegenheit dann doch einmal bei den Indsmen recht herzlich bedanken, die mir den echten damals genommen hatten, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen, wenn ich mich nicht irre! Aber hoffentlich steht es bei Winnetou ebenso gut?“ Mit diesen Worten kniete er sich bei meinem Freund nieder und sah den Apatschenhäuptling fragend und mit liebevollem Blick an. Dieser hatte sich mit Walters Erlaubnis und meiner Hilfe etwas aufgesetzt und legte jetzt mit einem milden Lächeln seine Hand auf Sams Unterarm. „Mein berühmter weißer Bruder mag keine Sorge haben – Winnetous Wunde heilt ebenfalls gut, auch wenn er keinen falschen Skalp trägt!“ Diese Worte lösten bei uns allen natürlich großes Gelächter aus, und auch Sam konnte sich kaum beruhigen, während er kichernd antwortete: „Das wäre ja noch schöner – es ist wirklich mehr als ausreichend, wenn ich die ehrenvolle Rolle eines lebenden Skalpierten alleine übernehme, hihihi! Und wehe demjenigen, der es wagen sollte, Winnetous prächtigen schwarzen Schopf auch nur anzurühren – der bekommt es dann nämlich mit mir zu tun, wenn ich mich nicht irre!“ Trotzdem der Apatsche weiterhin leise lächelte, konnte ich ihm ansehen, dass er sich mittlerweile nur noch mit Mühe wach halten konnte; auch hatten seine Augen wieder einen erhöhten Glanz angenommen, trotzdem sein Blick leicht verschleiert wirkte, so dass ich davon ausgehen musste, dass das Fieber wieder im Begriff war, weiter anzusteigen. Natürlich hatte auch Walter diesen Umstand sofort bemerkt und sorgte jetzt mit meiner Unterstützung dafür, dass Sam und Emery Winnetous Lager schnell wieder verließen. Der Engländer setzte eine besorgte Miene auf, als er den Grund für unsere Aufforderung erkannte. Deutlich war ihm anzusehen, dass er sich nur höchst ungern zurückzog, doch gleichzeitig war er sich natürlich darüber bewusst, dass der Häuptling jetzt weiterhin viel Ruhe benötigte. Er konnte aber nicht umhin, diesem kurz seine Hand auf die Schulter zu legen und leicht zuzudrücken, wobei er meinem Freund einen äußerst liebevollen Blick zuwarf, den dieser freundlich erwiderte, darauf bedacht, den Gefährten ihre Sorgen zu nehmen, was ihm allerdings nicht gerade gut gelang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)