Mörderische Goldgier von Anmiwin ("Geliebter Blutsbruder"- Teil II) ================================================================================ Kapitel 28: N'scho-tschi ------------------------ Meine hochgradig erschrockene Miene sowie meine vor Sorge um den geliebten Freund zitternde Hand veranlassten Winnetou erneut zu einem Versuch, sich voller Unruhe aufzurichten, und abermals drückte ich ihn sanft, aber bestimmt zu Boden. „Ich bitte dich, bleib liegen, mein Freund! Dein Kreislauf ist offenbar doch noch nicht so belastbar, wie wir beide uns es wünschen würden!“ Er wollte antworten und machte dabei unbewusst ein weiteres Mal Anstalten, seinen Oberkörper zu heben, ich aber schüttelte den Kopf und bat ihn eindringlich: „Lass uns deinem Körper erst einmal eine gewisse Zeit der Ruhe gönnen, ja? Der Doktor reißt mir ja den Kopf ab, wenn er dich in diesem Zustand vorfindet, und das zu Recht!“ Jetzt erst gab er auf und ließ sein Haupt zurück auf die Decke sinken; dabei schloss er die Augen, atmete einmal tief durch und sah mich mit einem Male wieder an. In seinen Augen war nun ein belustigtes Funkeln zu sehen, und auch seine Mundwinkel zuckten verdächtig, als er leise erwiderte: „Aber Winnetou fühlt sich jetzt doch viel besser als heute Mittag, bevor wir hierher kamen!“ Trotz meiner immer noch starken Anspannung stahl sich jetzt ein breites Grinsen auf mein Gesicht. „Das glaube ich dir sogar – aber vielleicht sollten wir mit solchen Überanstrengungen doch noch ein wenig warten...“ Nun mussten wir beide lächeln, und auf Winnetous Gesicht machte sich währenddessen ein fast schon seliger Ausdruck breit, als er die Augen schloss, leise seufzte und dann, weiterhin entspannt lächelnd, fragte: „Was machst du nur mit deinem Bruder, Scharlih....?“ „Dich lieben!“, antwortete ich schlicht, während ich damit begann, seinen und meinen Körper von den Spuren unseres heftigen Beisammenseins zu reinigen und uns wieder halbwegs anzukleiden. Das erschien mir jetzt allmählich notwendig, denn wir befanden uns ja schon seit mindestens zwei Stunden an diesem friedlichen Ort, und es war gut möglich, dass einer der Gefährten irgendwann doch einmal nach uns sehen und sich überzeugen wollte, dass alles in Ordnung war. Als diese Aufgabe erledigt war, begab ich mich sofort wieder an Winnetous Seite und kontrollierte zur Sicherheit nochmals dessen Puls – er war nur schwach zu ertasten und auch recht langsam, schlug aber dafür regelmäßig, und da dieser Umstand schon seit mehreren Tagen so anhielt, war ich jetzt doch einigermaßen beruhigt; ich wusste ja, dass sein Körper noch nicht in der Lage war, bessere Ergebnisse zu erzielen. Mein Freund hatte diese kleine Untersuchung wortlos über sich ergehen lassen, aber seine Mimik zeigte mir deutlich, dass er mein Handeln für einigermaßen übertrieben hielt. Er entzog sich dem aber nicht, wohl auch deshalb, weil er genau wusste: im umgekehrten Fall hätte er genauso reagiert. Unsere Liebe zueinander und das Bewusstsein, dass der eine ohne den anderen nicht mehr leben wollte, wohl auch gar nicht mehr könnte, machte uns natürlich höchst anfällig für eine übergroße Besorgnis um den Partner. Doch wenn man diesen Umstand vielleicht sogar als Nachteil einer so engen Beziehung empfinden mochte, dann nahm ich diesen aber sehr gern in Kauf, denn jede Minute, jede Sekunde unserer wunderbaren gemeinsamen Zeit entschädigte mich hundertfach für die Momente der Angst und Sorge um den geliebten Freund. Winnetou hatte während meiner Untersuchung nun schon zum zweiten Mal mit gespielt genervter Miene mit den Augen gerollt, woraufhin ich ihm zur Antwort jetzt leicht und spielerisch an seinem dichten, wundervollen Haar zog, dann die gesamte Fülle dieser bläulich-schwarzen Pracht durch meine Finger gleiten ließ und ihm letztendlich sein eigenes Haar über das Gesicht warf, so dass es ihn vollständig bedeckte. Für einige Sekundenbruchteile blieb er in genau dieser Position, ohne sich zu rühren, dann aber pustete er einige Male gegen seine Haare, so dass sich ihm schließlich eine Lücke darbot, durch die ich Teile seines schönen Antlitzes wieder sehen konnte – und dann begann er zu lachen, in seiner so eigenen Art, leise, nach innen gerichtet, aber so herzerwärmend, dass ich mich wieder einmal nicht mehr zurückhalten konnte, mich über ihn beugte und wir abermals in einem innigen Kuss versanken. Dieser Mann war die Liebe meines Lebens, ihm zu widerstehen war für mich ein Ding der Unmöglichkeit, und am liebsten hätte ich mich an ihn angekettet oder ihn auf irgendeine andere Art und Weise mit mir verbunden, um ja keine Sekunde meines Daseins mehr ohne ihn verbringen zu müssen. „Ihr werdet nicht mehr zwei, sondern ein Krieger sein, ein Herz, eine Seele, aber mit zwei Körpern!“ Diese Worte, so oder so ähnlich von Intschu tschuna damals während des Aktes der Blutsbrüderschaft ausgesprochen, gingen mir jetzt durch den Kopf. Ja, genauso fühlte es sich an, wir waren eins, es war nichts Trennendes mehr zwischen uns, aber trotzdem konnte ich das diffuse Gefühl nicht verdrängen, dass ich ihm irgendwie noch näher sein wollte, ihn noch intensiver spüren wollte... ich konnte es gar nicht genau definieren, und näher als jetzt konnte ich ihm ja auch gar nicht sein. Als wir uns irgendwann wieder voneinander lösten, etwas außer Atem, da sah ich ihm lange ins Gesicht, in seine wundervollen Sternenaugen, wobei mich wie so oft das Gefühl übermannte, von ihnen eingefangen und eingesogen zu werden in unser ganz eigenes Universum, unsere ganz eigene Sternenwelt. Ich konnte ihm gegenüber gar nicht ausdrücken, was ich für ihn empfand, jedes meiner Worte erschien mir viel zu nichtig und ausdruckslos, als dass sie meine Liebe zu ihm auch nur ansatzweise beschreiben konnten. Doch Winnetou wusste auch so, was ich ihm eigentlich sagen wollte, aber nicht konnte, empfand er doch genauso. Und deshalb ließ er jetzt auch wieder Taten sprechen und zog mich einfach hinunter zu sich an seine Brust – doch ich zuckte unwillkürlich zurück, denn ich hatte immer noch größte Sorge, ihm mit meinem Gewicht auf seinen Wunden Schmerzen zu bereiten. Und so legte ich mich daher ganz dicht an seine Seite, so eng wie nur möglich, positionierte meinen Arm unter seinen Nacken und Rücken und schob ihn so wieder halb auf mich herauf, bettete ihn an und auf meinen Körper und schloss ganz fest meine Arme um meinen geliebten Freund, froh, ihn ganz nah bei mir zu haben. Wieder lagen wir so eine lange, lange Zeit in innigster Zweisamkeit und einvernehmlichem Stillschweigen beisammen, jeden Moment davon genießend. Unsere Blicke waren in den strahlenden Sommerhimmel gerichtet, den jetzt einige Schönwetterwolken zierten, die immer wieder andere Formen annahmen und uns irgendwann dazu verleiteten, in diesen Formationen Bilder von Tieren oder Menschen zu entdecken. Wir bekamen immer größeren Spaß daran, daraus abwechselnd die seltsamsten und verrücktesten Sachen zu deuten, und mehr als einmal kamen wir beide aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Das war einer derjenigen Momente mit meinem Blutsbruder, die ich niemals im Leben mehr vergessen und ewig im Herzen tragen werde, denn aus ihm sprach die vollkommene Harmonie und der ewige Frieden, und ich werde von ihm bis an mein Lebensende zehren. Jedes Zeitgefühl war für mich verlorengegangen, als Winnetou mit einem Male, jetzt in ernstem Ton, zu sprechen begann und seine geliebten Verstorbenen erwähnte, von denen er glaubte, sie irgendwann einmal in Manitous großem Reich wiederzusehen. „Scharlih – in solchen Momenten wie jetzt bin ich mir sicher, dass unsere Lieben unter uns sind, uns ganz nahe sind, so wie sie sich immer in unseren Herzen befinden!“ Gerührt sah ich ihn an, aber auch etwas mitfühlend, wusste ich doch, wie sehr er immer noch unter dem gewaltsamen Tod seiner Lieben litt, die ihm alle so nahe gestanden hatten wie sonst niemand – bis auf mir. Und als er jetzt auf einmal wieder von ihnen sprach, auch Manitous Himmel erwähnte, da kam in mir aber doch ein etwas ungutes Gefühl auf, erinnerte mich an etwas – und dann kam es wie eine bedrohlich wirkende Wand auf mich zu: Winnetou, wie er schwerstverletzt in meinen Armen lag, in dieser unsäglichen Schlucht damals nach dem feigen Mordanschlag von Thomson, mit einer Kugel direkt neben seinem Herzen – sein unwirklicher, entrückter Gesichtsausdruck, als er mir zuflüsterte, den Himmel gesehen zu haben... Mir fielen seine fürchterlichen Albträume während des hohen Fiebers und der damit verbundenen Krämpfe vor erst wenigen Tagen ein – konnte es sein, dass er in diesen schrecklichen Stunden, die mit Sicherheit auch lebensbedrohlich gewesen waren, nochmals einen solch intensiven Kontakt mit dem Jenseits gehabt hatte? Seitdem ihm damals der Blick in die Ewigkeit vergönnt gewesen war, hatte sich etwas in seinem Wesen verändert, für die meisten unbemerkt, aber für mich, der ihn so gut kannte wie niemand sonst und auch für einige andere nahestehenden Personen durchaus wahrnehmbar. Seine Melancholie war nicht mehr so präsent, seine bis dahin tief im Innersten verborgene Heiterkeit hatte sich immer öfter ihren Weg nach draußen gesucht – und vor allem: Er war noch gelassener geworden, ruhte vollkommen in sich selbst und ließ klar erkennen, dass ihn nichts mehr auf dieser Welt erschüttern konnte und er den Tod, wenn er ihm einst gegenüberstehen sollte, wie einen Freund begrüßen würde – er wusste, wie es sich anfühlte, zu sterben. Jetzt wollte ich es genau wissen und fragte ihn darum in ganz vorsichtiger Weise: „Hat mein Bruder während der vielen Stunden, in denen er im Fieber lag, denn nochmals einen Blick auf die andere Seite werfen können?“ Fast hätte ich „werfen müssen“ gesagt, konnte es mir aber im letzten Moment noch verkneifen. „Nein, Scharlih“, entgegnete er mir mit weicher Stimme. „So nah war Winnetou dem Tod nicht wieder gekommen – das hatte er dir doch versprochen!“ Ich nickte, fast ein wenig erleichtert, und drückte ihn noch etwas fester an mich, während mein Freund weitersprach: „Dieser eine Augenblick damals, mein Bruder – dieser Moment ist so tief in Winnetous Seele eingedrungen und hat sich so tief in seinem Herzen verankert – nie, niemals werde ich das vergessen können!“ Ich sah ihm ins Gesicht, während er sprach, alle meine Sinne waren in diesem Moment aufs Äußerste angespannt, nur auf ihn und seine Worte gerichtet, und so registrierte ich auch, dass er fast mit dem gleichen, irgendwie überirdisch wirkendem Lächeln sprach, welches sich damals schon auf seinem vom Todeskampf schwer gezeichneten Gesicht ausgebreitet hatte. Liebevoll drückte ich ihn ein weiteres Mal an mich, und dann breitete sich erneut eine vielsagende Stille zwischen uns aus, welche weit mehr aussagte als die längste Rede. Nach einiger Zeit aber schnitt mein Freund erneut dieses Thema an, welches sich ihm im Augenblick wohl mit aller Macht aufdrängte. „Weißt du, Scharlih – Winnetou konnte damals nicht nur den Himmel sehen...“ Seine Stimme klang belegt, und als er sich jetzt unterbrach, hatte ich den Eindruck, dass ihn die Erinnerungen so sehr übermannten, dass es ihm fast die Stimme versagte. Leise fragte ich: „Was genau hat sich meinem Bruder denn damals offenbart?“ Wir hielten unsere Hände über seinem Bauch verschränkt, und meine Daumen begannen, ganz sanft über seine Handrücken zu streicheln, vielleicht auch als eine Art Ermunterung für ihn, sich mir vollständig zu öffnen. Er holte tief Atem, bevor er mit einer fast schon tonlosen Stimme fortfuhr: „Itisha und Intschu tschuna – meine Mutter, meinen Vater – beide konnte ich weit entfernt von mir ausmachen... recht verschwommen zwar, aber... aber sie waren da, standen dort mit offenen Armen – und sie hätten mich aufgenommen, wenn... ja, wenn ich mich dafür entschieden hätte...“ Völlig ergriffen, fast schon fassungslos starrte ich ihn eine Weile an, bevor ich mich wieder sammeln und ihn fragen konnte: „Du hattest dich gegen sie entschieden? Trotz der Schmerzen und Anstrengungen, die der Weg zurück für dich bereit halten würde?“ „Nein, mein Bruder“, antwortete er. „Ich hatte mich DAFÜR entschieden!“ Mein vollkommen erstaunter, ja fast schon verwirrter Blick schien ihn jetzt doch etwas zu amüsieren, denn er entgegnete mit einem leisen Lächeln: „Ich hatte mich für DICH entschieden, mein lieber Scharlih!“ Einen Moment lang lag ich ganz starr, dann aber drehte ich meinen Freund etwas auf die Seite, so dass wir uns fast frontal gegenüberlagen, und nahm ihn, so fest es mit Rücksicht auf seine Verletzungen ging, in die Arme. „Ich liebe dich, Winnetou“, murmelte ich mit tränenerstickter Stimme in das seidig glänzende Haar meines geliebten Freundes hinein. „Du bist für mich wirklich ein Geschenk des Himmels!“ Wieder blieben wir lange schweigend und eng umschlungen liegen, doch Winnetou schien das Thema einfach nicht loszulassen, und so begann er irgendwann von Neuem: „Ich durfte sogar einen Blick auf N'scho-tschi werfen – und ich war so unendlich froh darüber!“ „Davon bin ich überzeugt“, meinte ich leise. Erneut hingen wir beide einige Minuten unseren Gedanken nach, doch dann fragte mich mein Freund, fast schon ein wenig zaghaft: „Scharlih?“ „Ja, mein Bruder?“ „Wenn N'scho-tschi... wenn N'scho-tschi noch leben würde... wie wäre dann wohl das Verhältnis zwischen uns beiden?“ Jetzt war ich wirklich sprachlos. Was trug mein Freund auf einmal für Gedanken mit sich herum? „Ich weiß es nicht genau, mein Bruder", antwortete ich deshalb auch etwas zögerlich. „Sie hat dich geliebt“, kam es von ihm. „Ich weiß es... ich weiß es nur zu gut...“, stammelte ich, mit einem Male von den hervorbrechenden Gefühlen der Trauer überwältigt. „Wäre sie heute hier – für wen hättest du dich entschieden?“ Jetzt wurden die Fragen meines Geliebten fast schon unbequem, und das kannte ich gar nicht von ihm. Ich überlegte daher lange, bevor ich Antwort gab. „Ja, ich habe sie auch geliebt, mein Bruder, aber ich glaube nicht, dass ich das mit der gleichen Intensität tat, mit der ich dich liebe! Ich hatte bei ihr... bei ihr nie dieses Gefühl, als ob ich am Ziel einer langen Reise – nein, eher einer langen Suche, angekommen wäre, und auch nicht das Gefühl dieser unglaublichen Geborgenheit, welches ich bei dir empfinde.“ Ich sah meinen Freund liebevoll an, und dieser ließ mich wieder eintauchen in seine unglaublichen, nachtschwarzen, samtenen Augen, die jetzt, bei meinen Worten, sogar ein wenig glitzerten. „Sicher, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten...,“ überlegte ich laut weiter. „Ich weiß nicht, ob sich das nicht vielleicht so ähnlich hätte entwickeln können...“ Einen Augenblick sann ich über meine Worte nach, dann aber schüttelte ich entschieden den Kopf. „Aber nein, das wäre nie geschehen – das könnte nie geschehen! Ich bin mir absolut sicher, dass ich nur zu dir gehöre, ausschließlich zu dir!“ Winnetou senkte den Kopf und lehnte seine Stirn leicht an meine Brust, offenbar äußerst gerührt über meine Rede. Doch eine Frage lag ihm noch auf der Seele: „Und wenn sie jetzt hier wäre und wir schon... wie würde sie...?“ Er wusste wohl nicht, wie er seine Gedanken verständlich ausdrücken sollte, doch ich verstand ihn sehr gut. Daher legte ich jetzt meine Handinnenfläche unter sein Kinn, um ihn dazu zu bringen, mich anzusehen. „Sie ist nicht hier, Winnetou“, antwortete ich sanft. „Aber vielleicht – vielleicht kann sie ja von dort, wo sie sich befindet, eingreifen und unsere Geschicke lenken...? Vielleicht hat sie das Ganze hier genauso gewollt?“ Winnetous Kopf ruckte hoch, fast schon überrascht starrte er mich an. Dieser Gedanke war ihm völlig neu, das konnte ich ihm ansehen, genauso wie ich beobachten konnte, dass er langsam in ihm Fuß fasste und sich nach einigen Sekunden nicht mehr völlig außerhalb seiner Vorstellungskraft befand. „Sie könnte es gewollt haben...“, wiederholte er meine Worte, diese dabei leise vor sich hinmurmelnd. Eine kleine Weile sah er mir ins Gesicht, schien mich aber gar nicht wahrzunehmen, sondern durch mich hindurch in die Ferne zu schauen. Kurz darauf nickte er wie bekräftigend und streckte sich anschließend mit einem langgezogenen Seufzer wieder neben mir aus, dabei seine Augen schließend. Lächelnd betrachtete ich sein schönes Antlitz, in das sich jetzt ein entspannter und fast schon glücklich wirkender Ausdruck stahl. Seine Atemzüge wurden ruhiger, tiefer, und fast glaubte ich schon, dass ihn der Schlaf mit seinen starken Armen umfangen hatte, da setzte mein Freund doch noch mal zum Sprechen an, ohne jedoch die Augen zu öffnen: „N'scho-tschi hält ihre Hände über dich, mein Bruder!“ „Genauso wie über dich!“, antwortete ich ihm gerührt und küsste ihm sanft die Stirn. Sekunden später war er schon eingeschlafen. Als sich die Sonne einige Zeit später dem Horizont, oder besser gesagt, den uns umgebenden Felsspitzen zuneigte, wurde es Zeit, wieder zu unserer steinernen Behausung zurückzukehren, bevor es dunkel wurde. In diesen Breitengraden ging der Tag beinahe ansatzlos in die Nacht über, eine Dämmerung gab es nicht, und da ich Winnetou den ganzen Weg über tragen würde - laufen durfte er ja noch nicht - musste ich zusehen, dass ich meinen Freund noch vor der Dunkelheit sicher in die Höhle brachte. Er schlief immer noch, als ich ihn vorsichtig in meine Arme hob und den Rückweg antrat. Ich konnte allerdings spüren, dass er durch die Bewegung für einen kurzen Moment erwachte – dann aber erfasste er die Situation, legte seinen Kopf wieder voller Vertrauen an meine Schulter und war fast im gleichen Moment wieder eingeschlafen. Wenige hundert Meter vor den Höhlen kam mir eine große, breitschultrige Gestalt entgegen, gefolgt von einer kleineren, die wild gestikulierend hinter der ersten herlief, die sich mir schnellen Schrittes näherte. Ich erkannte in ihr Old Firehand, der unseren Doktor Hendrick im Schlepptau hatte, wenn auch etwas unfreiwillig, wie ich gleich erfahren sollte. „Meine Güte – wo bleibt ihr denn nur?“, wollte Firehand mit lauter Stimme wissen. Er wirkte aufgeregt, fast schon ängstlich – was war nur geschehen? Doch bevor ich eine Frage in diese Richtung stellen konnte, ereiferte sich Firehand schon weiter: „Wir haben uns große Sorgen um euch gemacht! Ihr wart fast sechs Stunden fort, und ich hatte wirklich Angst, dass Winnetou etwas ge.....Himmel!“ Das letzte Wort rief er laut, fast schon in Panik aus, als er Winnetou in meinen Armen gewahr wurde, der sich immer noch nicht gerührt hatte. „Mein Gott – was ist mit ihm? Hat er das Bewusstsein verloren oder...?“ „Nein, er schläft!“, antwortete ich so leise wie möglich, aber doch mit Nachdruck, um von ihm besser gehört zu werden. Gleichzeitig schnitt ich eine Grimasse, die ihm deutlich machen sollte, doch leiser zu sein, denn meine Hände konnte ich ja nun nicht gebrauchen. „Und ich bitte dich, sei leiser, du weißt doch, wie dringend er noch Ruhe benötigt!“ „Hast ja recht...“, murmelte Firehand, sichtlich verlegen. „Aber im ersten Moment dachte ich gerade... Ich meine, er sah wirklich so aus, als ob er – Himmel noch mal, ich hatte mir schon Sorgen gemacht, weil ihr so lange ausgeblieben seid – immerhin ist er noch lange nicht soweit, um schon Ausflüge zu unternehmen! Ich wollte schon seit geraumer Zeit los und nach euch sehen, aber der Doktor hier hat das mit aller Macht zu verhindern versucht... Doch jetzt konnte ich es einfach nicht mehr aushalten – soll ich ihn dir nicht abnehmen?“, unterbrach unser Gefährte jetzt endlich seinen Redefluss, während er schon Anstalten machte, mir meinen Freund aus den Armen zu nehmen. Ich wehrte mich entschieden gegen sein Ansinnen, da ich sicher sein konnte, dass Winnetou von diesem Positionswechsel garantiert erwachen würde. Während des kleinen Geplänkels hatte ich dem Doktor einen raschen Blick zugeworfen, woraufhin er mir ganz kurz und kaum wahrnehmbar zuzwinkerte. Jetzt musste ich wirklich lächeln, denn dieses Zwinkern konnte doch eigentlich nur eines bedeuten: Walter hatte fest damit gerechnet, dass Winnetou und ich uns in diesen Stunden sehr nahe kommen würden, weshalb er wohl auch alles dafür getan hatte, dass uns niemand währenddessen stören konnte. Als ich jetzt mit Winnetou an ihm vorbei schritt, raunte ich ihm leise zu: „Hab Dank, mein Freund!“, woraufhin er ebenso leise entgegnete: „Überanstrenge ihn aber nicht so, hörst du?“ Ich schmunzelte in mich hinein und musste nun doch einige Mühe aufwenden, nicht in lautes Gelächter auszubrechen – die Situation hatte aber allmählich wirklich etwas Urkomisches an sich! Um nicht aufzufallen oder letzten Endes doch noch laut loszuplatzen, trug ich meinen Freund so rasch wie möglich in unsere Felsenwohnung, bettete ihn dort sanft auf unser Lager, setzte mich an seine Seite – und dann konnte ich nicht mehr umhin, ich ließ ein unterdrücktes Kichern hören und musste schwer an mich halten, es nicht zu laut werden zu lassen. In diesem Moment öffnete Winnetou die Augenlider, sah mich mit einem belustigten Funkeln in seinen Augen an und ließ gleichzeitig seine Elfenbeinzähne in ihrer ganzen Pracht sehen. Mir war sofort klar, dass mein Freund von Old Firehands Ansprache, deren Tonfall aus Sorge um den Apatschen laut und lauter geworden war, doch erwacht war und sich anschließend nur schlafend gestellt hatte, wohl um besorgten Fragen zu entgehen. Und natürlich hatte er dadurch auch die leise Anspielung unseres Doktors mitbekommen, die ihn offensichtlich sehr erheiterte. Dadurch war es jetzt auch mit meiner mühsam bewahrten Haltung aus – ich ergab mich in ein befreiendes Gelächter, in das Winnetou mit seinem von mir so geliebten leisen Lachen auch sofort einstieg. In dieser fröhlichen Stimmung fand uns einige Minuten später unser Doktor, der sich meinen Freund zur Vorsicht doch noch einmal vornehmen wollte und jetzt etwas erstaunt im Eingang stehen blieb – so ausgelassen hatte er meinen Winnetou auch noch nicht erlebt! Dann aber trat er an unsere Seite, ließ ein breites Lächeln sehen und meinte, in einem gewissen Maß fast schon anzüglich: „Na, der Ausflug scheint euch beiden ja besonders gut bekommen zu sein...“ Und damit war es jetzt ganz vorbei – und unser darauffolgendes Gelächter mit Sicherheit im gesamten Tal zu hören! Es dauerte eine gewisse Zeit, bis vor allem Walter und ich uns endlich beruhigt hatten, dann aber drängte er mit großem Nachdruck auf eine Untersuchung Winnetous, vor allem deshalb, weil ich ihm beichtete, dass mein Freund auf der Lichtung kurzzeitig die Besinnung verloren hatte. Der Apatsche warf mir auf mein für ihn so überraschendes Geständnis einen fast schon entsetzten Blick zu, aber mir war seine Gesundheit viel, viel wichtiger als die Rücksicht auf unsere Privatsphäre. Außerdem war es gar nicht nötig, dem Arzt die Angelegenheit bis ins Detail zu erklären, denn dieser konnte sich den Rest auch so zusammenreimen. Er warf uns dann auch einen gespielt tadelnden Blick zu, konzentrierte sich aber sofort darauf lieber auf Winnetous Herztöne als auf eine an uns gerichtete Moralpredigt – ein kleines, wissendes Lächeln ließ er währenddessen aber doch sehen. Man kann sich wohl denken, dass ich den Doktor während seiner Tätigkeit überaus gespannt und mit leiser Sorge im Herzen beobachtete. Mein Freund hatte heute Mittag zwar nur für kurze Zeit das Bewusstsein verloren, aber Walter hatte die strenge Devise ausgegeben, dass jede Überanstrengung und jede riskante Handlung vermieden werden musste, um eine Verschlechterung seines Gesamtzustandes zu vermeiden und vor allem die Gefahr einer zusätzlichen Schwächung des Herzens so gering wie möglich zu halten. Dessen Leistungsfähigkeit war schon jetzt durch die Verletzungen und das ausgestandene hohe Fieber etwas eingeschränkt, und wenn der Herzmuskel weiterhin einer ständigen Überbelastung ausgesetzt werden würde, konnte es geschehen, dass daraus eine chronische Erkrankung entstand – und was das für meinen Freund bedeuten würde, darüber wagte ich gar nicht nachzudenken! Dazu drückten mich auch noch meine nicht gerade geringen Schuldgefühle, eben weil ich mich am Mittag überhaupt nicht unter Kontrolle und daher großen Anteil daran gehabt hatte, dass Winnetous Kreislauf kurzzeitig zusammengebrochen war, und ich hoffte so sehr, dass ich damit nicht unfreiwillig für einen Rückschritt in der Genesungsphase des Apatschen gesorgt hatte! Doch nach wenigen Minuten konnte Walter zum Glück Entwarnung geben – der Zustand meines Freundes hatte sich nicht verschlechtert, es schien im Gegenteil sogar eine leichte Besserung eingetreten zu sein, was mich innerlich nun ein weiteres Mal zum Schmunzeln brachte, und nicht nur mich. Auch Winnetous leicht zuckende Mundwinkel sprachen hier Bände, und der Doktor konnte sein breites Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht bekommen. Alle drei sahen wir uns an, schwiegen aber im stummen Einvernehmen. Hendrick bestand jetzt allerdings darauf, dass der Apatsche für den Rest des Abends und der darauffolgenden Nacht absolute Ruhe einhielt, daher verließen wir auch nach einem Gute-Nacht-Gruß, der zwischen Winnetou und mir von innigen Blicken begleitet wurde, ein wenig später die steinerne Kammer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)