Bruderliebe von randydavies ================================================================================ Prolog: -------- Randy D. Avies   Bruderliebe   von Randy D. Avies   Gay Drama Romance   Copyright © 2015 © Randy D. Avies Impressum   Text © Randy D. Avies 
 Alle Rechte vorbehalten.   Sämtliche Personen und Geschehnisse in dieser Geschichte sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.   Bitte beachten Sie: Im wahren Leben gilt verantwortungsbewusster Umgang miteinander und Safer-Sex!                   Inhaltsverzeichnis           Inhaltsangabe: Eine Wanderung in den Bergen endet für Jaden in einem Desaster. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Bruderliebe ist eine Geschichte um Halbbrüder, die tragischer nicht sein kann. Wenn einer sich in seinen eigenen Bruder verliebt, und der andere dies nicht erwidert und dafür kein Verständnis aufbringt.                                     Prolog     Es schneite! Meine Arme und Beine schmerzten bei jeder Bewegung, die ich vollführte, um den Berg zu erklimmen. Sie fühlten sich schwer und träge an, als wären sie mit Wasser gefüllt worden. Von meinem Rucksack, der wie ein Sack geschultert über meinen Rücken hing, wollte ich erst gar nicht anfangen. Ich war bepackt wie eine Ameise, die ihr dreifaches Gewicht mit sich herumtrug. Solche Art Wanderung war ich nicht gewohnt. Streng genommen wanderte ich eigentlich nie. Lieber saß ich zu Hause vor dem PC oder steckte meine Nase tief in eines meiner Lieblingsbücher von Aston Burton und hörte im Hintergrund leise Musik. Dabei verspeiste ich nebenbei meistens meine heiß geliebten Donuts in allen Variationen und kennzeichnete somit meine Bücher jedes weitere Mal immer mehr. Es gab kein Buch mehr, in dem nicht irgendein Fingerabdruck aus Schokolade, Schlieren von Krümeln und verschiedenfarbige Zuckergüsse von mir abgebildet waren.   Während ich mich weiterhin mühsam den Berg hinauf quälte, bekam ich Hunger auf eines meiner süßen Laster, die sich fortwährend in meine trüben Gedanken eingeschlichen hatten. Diese bescheuerte Idee, einen dreitägigen Marsch zu unternehmen, mitten im Nirgendwo, war mir immer noch schleierhaft? Mich von einer Frau, Pardon, zwei Frauen, zu so etwas überreden zu lassen, war mir ebenso unbegreiflich. Ich bereute, ohne irgendeinen Widerstand meinerseits zugesagt zu haben. Weiber! Nie kam was Gutes dabei heraus. Alleine der Gedanke daran ließ mich wütend auf mich werden. Wut und Frust wechselten sich ab und spielten im Duell mit mir. Doch wollte ich mir nach außen hin nichts anmerken lassen. „Männer sind keine Memmen“, hämmerten die Worte meines Bruders in mein Gedächtnis, der es jedes Mal erwähnte, wenn ich etwas nicht geschafft hatte. Darian hatte sich für unsere Tour für das Ostallgäu entschieden – im Alleingang wohlgemerkt. Dort waren die Berge höher, wie er sagte. Sie grenzten an sein heiß geliebtes Österreich. Unser Ziel, bzw. seines, bestand darin, den Gipfel zu erreichen und im Anschluss zwei Tage unterhalb auf einer Jausestation zu übernachten, um von dort aus weitere Touren unternehmen zu können. Anmelden brauchten wir uns nicht, da um diese Jahreszeit nicht viel los ist – meinte Darian. Ich hingegen hätte mich wohler gefühlt, wenn wir auf der Station angerufen hätten.   Mein Halbbruder hatte einen zügigen Schritt drauf. Wenn ich nicht abgehängt werden wollte, musste ich dicht an ihm dran bleiben, was sich äußerst schwierig gestaltete. Denn mein Bruder war gute fünfzehn Zentimeter größer, seine Schritte dadurch länger und ich kam mir klein und mickrig neben ihm vor. Bei seinem Schritt brauchte ich fast zwei. Den Wetterumschwung, der gestern in den Nachrichten angekündigt wurde, hatte mein Bruder selbstverständlich ignoriert. In den Bergen ein fataler Fehler, wie sich nun herausstellte. Der Schneefall nahm zu, Wind kam auf, peitschte einem gnadenlos ins Gesicht. Ein tückisches Wetter, bei dem man schnell krank werden konnte. Ich fühlte mein Kinn nicht mehr, die Nase hingegen tropfte fröhlich. Unglücklich über die Lage hier, stampfte ich missmutig durch die paar Zentimeter des liegen gebliebenen Schnees. Nasskaltes Wetter war etwas Ekelhaftes. Es war nicht kalt genug, dass man den Schnee an seiner Jacke runterrieseln sah, nein, er klebte pampig an einem. Ich zog meinen Kopf tiefer in den Kragen, doch die schwarze Lederjacke, die mit Nieten und Ketten bestückt war, bot nicht wirklich Schutz. Sie sah nur toll aus, für meinen Geschmack jedenfalls. Doch vor meinem Bruder wollte ich es nicht zugeben, dass ich tatsächlich die falsche Kleidung für diesen Ausflug anhatte. Darian hatte mir von ihr abgeraten, als er mein Outfit davor betrachtet hatte. Doch hatte ich es mit einem Schulterzucken abgetan, worauf er resigniert den Kopf geschüttelt hatte. Lediglich seinen roten Rucksack hatte ich mir aufschwatzen lassen. So lief ich in meiner schwarzen Lederhose, den Springerstiefeln und einem grauen Pullover unter der Jacke herum. Nicht zu vergessen die schwarze Pudelmütze, die auf meinem Kopf mehr zierte, als dass sie von Nutzen war. Darian war stehen geblieben, und drehte sich zu mir um. „Jaden …!“ Seine Stimme war zwar laut und kräftig, doch der Wind verschluckte einiges und bei mir kam nur mein Name an. Vielleicht hatte er aber auch nicht mehr gesagt und ich hatte mir eingebildet, er würde mehr sagen. Ich blieb nun ebenfalls stehen und klang frustriert. „Ja, was ist?“ Man sah fast die Hand vor den Augen nicht. Meine längeren Haare lugten aus meiner schwarzen Mütze heraus und waren vom Schnee feucht. Sie hingen mir über den Augen, erschwerten zusätzlich die Sicht. Zudem sagte mir mein Bauchgefühl, dass wir uns verirrt hatten. Warum sonst war mein Bruder stehen geblieben? An seiner Körpersprache erkannte ich, dass er mit dieser Situation nicht glücklich war. Er sah sich mit finsterem Gesichtsausdruck um. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Und wenn ich es mir ehrlich eingestehe, war dieser Zustand seit Stunden gleich geblieben. Mutterseelenallein bewegten wir uns durch einen geschlungenen Pfad nach oben. Schon lange hatten wir den breiten Weg verlassen. ‚19 Kilometer bis zur Alm‘, hatte auf einem der Schilder gestanden, das war vor drei Stunden gewesen. Doch wie viele Kilometer bewerkstelligte man in einer Stunde tatsächlich, wenn es immer stärker schneite und man auf den Weg vor sich höllisch achtgeben musste? Hätten wir doch nur auf den letzten Wanderer gehört, der uns zur Umkehr bewegen wollte. Aber hörte man einem Wanderer ernsthaft zu, wenn das Wetter zu Anfang unserer Wanderung noch relativ gut war? Sogar Sonnenschein hatten wir, als wir losgelaufen waren. Darian hatte noch zu mir gesagt: „Siehst du, man sollte dem Wetterdienst nicht immer glauben.“ Schlauberger! Ich hätte nicht gleich nachgeben dürfen, und erinnerte mich an die Worte des Wanderers vor Stunden. „Leute, es zieht ein schlimmer Schneesturm auf“, war die Mahnung des älteren Mannes mit Bart, zwei Wanderstöcken und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken, an uns gewesen. Er hatte dann auf die Wolken gedeutet die von Südwesten her aufzogen waren. Doch mein Bruder hatte lapidar abgewunken, wie es immer seine Art war, alles zu bagatellisieren, wenn er sich im Recht fühlte. „Wir haben erst Anfang November und Schnee ist auch noch nicht in den Bergen. Der Sommer war lange bis weit in den Oktober hinein zu spüren und zu heiß“, erwiderte er arrogant, woraufhin  der Wanderer kopfschüttelnd weitergelaufen war. Tja, so war Darian nun mal, von Kopf bis zur Sohle ein Arschloch. Als ich mit ansehen musste, wie rasant das Wetter tatsächlich umschlug, war auch meine Laune in den Keller gerutscht. Der Wind hatte sich gedreht. Vom Nordosten kam nun die kältere Luft, die das Klima in einen Eiswind mit zuerst Regen, dann Graupel und zum Schluss in Schneeflocken wandelte. Der Mann hatte recht behalten, doch würde Darian es niemals zugeben. Darian winkte mir hektisch zu und ich stemmte mich trotzig gegen den Wind. Meinen Rucksack hatte ich mir nach vorne aufgesetzt und lief so weiter. Ob es bescheuert aussah, war mir ziemlich egal. Es half jedoch, dass ich nicht durch den starken Gegenwind umgeworfen wurde. Nur bedauerte ich, keine Handschuhe mitgenommen zu haben. Und wenn es auch nur meine ledernen gewesen wären, die mit Strasssteinen besetzt sind. Sie hätten nicht nur toll ausgesehen, sondern sie hätten mich dennoch gewärmt. Davon war ich felsenfest überzeugt. Ich hielt meine Hand als eine Art Schutzschild vor Augen und versuchte dadurch, eine bessere Sicht zu erhalten, auch um den Schnee damit abzuwehren, der in meine Augen fallen wollte. Was ich allerdings erblickte, waren Silhouetten von Bäumen und der Umriss meines Bruders, der weiterhin hektisch winkte und abermals meinen Namen rief. Mehr konnte ich zuerst nicht durch den Schneesturm ausmachen, doch wurde, je näher ich Darian kam, die Sicht klarer. Etwa einen halben Meter vor ihm blieb ich stehen. „Hier vorne ist eine Schutzhütte, glaube ich. Vielleicht ist sie ja bewohnt?“, schrie er mir verärgert zu und deutete mit dem Finger nach vorne. Ich konnte tatsächlich einen dunklen Umriss erkennen. Er mochte möglicherweise recht haben, dennoch hatte mich sein Tonfall mir gegenüber gestört. Mich bedrückte das unterkühlte Verhältnis gewaltig, das zwischen uns herrschte. Und war darum den ganzen Tag nicht viel anders gewesen, als selbst mürrisch und schlecht gelaunt zu wirken. Zudem schleppte ich mit mir schon lange ein Geheimnis herum. Was mein Bruder nicht wissen konnte oder auch nur ahnte, war die Tatsache, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Schon seit unserer ersten Begegnung, als wir Kinder waren, prägte mich meine Homosexualität. Ich stand auf Männer, daran gab es keine Zweifel. Nein, mehr noch, ich stand auf meinen eigenen Bruder, wenn auch nur Halbbruder. Doch floss in unseren Adern das Blut unseres Vaters und ich schämte mich meiner Gefühle für ihn. Ja, ich liebte Darian schon eine Ewigkeit.   Kapitel 1: ----------- ~°~1~°~   Das Wetter ließ nicht mehr an Sicht zu, vielleicht war es wirklich eine Schutzhütte, doch lag sie noch ein ganzes Stück von uns entfernt. Ich zuckte nur mit der Schulter, als Darian auf seine Antwort wartete und setzte einen Fuß vor den anderen, ging wortlos an ihm vorbei in Richtung des dunklen Schattens. Ob es eine Hütte war, konnte ich trotzdem noch nicht erkennen. Gut möglich, dass es nur ein Felsvorsprung war. Ich behielt die Vermutung vorerst für mich, nicht dass ich mich irrte und mein Bruder Grund hatte, mich noch mehr aufzuziehen. Der Weg vor mir war weiterhin gefährlich und meine Springerstiefel alles andere als zum Wandern geeignet. Der Schnee klebte an meinen Sohlen. Daher musste ich höllisch aufpassen, nicht auf den Steinen oder den dicken Wurzeln auszurutschen. Darian, dachte ich nebenbei. Seit du in mein Leben getreten bist, ist einiges anders und schrecklich kompliziert. Ich sah ihn ständig im Geiste vor mir, spulte sein Aussehen in Sekunden ab, während ich mich auf den Weg konzentrierte. Darian, mit seiner tollen, schlanken Figur, seinen unglaublich grünen Augen und seinen strohblonden Haaren, die er im Nacken kurz, aber an den Seiten und vorne lang trug. Er sah mit seinen 24 Jahren unverschämt gut aus. Ich komme eher nach meiner Mutter. Sie ist klein, zierlich und hat ein schmales Gesicht. Wenn ich auch nicht ganz so klein bin wie sie, aber immer noch klein für einen Mann. Mit meinen 1.70 m überragen mich die meisten Mädchen. Meine Haarfarbe ist im Gegensatz zu der meines Bruders schwarz. Zu allem Überfluss sind meine Augen grau, fast silbrig, sodass ich wirklich keine Schönheit bin. Ich besitze keine schönen grünen Augen wie Darian oder mein Vater. Nein, sie sind grau, wie die meiner Mutter. Aus meiner Sicht: hässlich und schwul. Ich gehöre zu der Sorte von Typ – unscheinbar eben. Ich erinnerte mich wehmütig an unser erstes Aufeinandertreffen, als ich Darian das erste Mal erblickte. Mir kam die Erinnerung vor, als wäre sie erst gestern passiert.   Meine Eltern und ich waren gerade mit dem späten Mittagessen fertig und ich dabei ein wenig für die Schule zu lernen, als es an der Tür klingelte. Das Englischbuch lag aufgeschlagen vor mir, als es ein weiteres Mal läutete und ich registrierte, dass weder meine Mutter noch mein Vater es für nötig hielten, an die Tür zu gehen. So erhob ich mich leicht missmutig und zu einem gefühlten Sklaven degradiert von meinem Platz auf. Manchmal fragte ich mich, ob das nicht pure Absicht war, mich zu schikanieren. Eltern eben! Ein Junge in meinem Alter, dreizehn, vielleicht auch etwas älter, stand mit blassem Gesicht und geröteten Augen vor mir, als ich aufmachte. Seine Augen waren das Erste, was ich an ihm registrierte. Grüne, leuchtende Augen. Sie hauten mich um, irritierten mich. Da ich ihn niemals zuvor hier in der Gegend oder auf dem Schulhof gesehen hatte, dachte ich gleich an einen frisch hinzugezogenen Nachbarn.   Ich weiß noch genau, wie ich ihn damals stumm, aber doch mit gewisser Neugierde betrachtet hatte.   Drei Häuser nebenan war ein Ehepaar frisch ins Reihenhaus eingezogen, mit einem schwarzen Mischlingshund, der ständig bellte. Kinder hatte ich keine gesehen, aber vielleicht gehörte er doch zu ihnen und war die ganze Zeit krank gewesen, so blass, wie er aussah. Dennoch, umso mehr ich ihn ansah … Seltsamerweise kam er mir vertraut vor. Mein Vater hatte den Fernseher angemacht, im Hintergrund liefen laut die Nachrichten im Ersten. Meine Mutter, wie immer mit dem Haushalt beschäftigt, klapperte mit dem Geschirr. Doch schließlich kamen sie beide dazu, als ich nicht auf ihr Rufen: „Wer an der Tür wäre?“, geantwortet hatte. „Darian Henning“, hatte er sich daraufhin vorgestellt und musterte uns merkwürdig in vertrauter Dreisamkeit. „Was willst du, ich kenne dich nicht?“ Ich hatte endlich meine Stimme wiedergefunden, hörte sich aber eher an, als ob ich röchelte. Dann kam für uns alle das überraschende Geständnis. „Ich möchte zu meinem Vater, ich bin sein unehelicher Sohn“, sprach der Junge namens Darian mit fester Stimme.   Das Gesicht meines Vaters werde ich wohl nie vergessen können. Er war aus allen Wolken gefallen, hatte es abgestritten. Männer! Aber auch ich hatte nicht schlecht gestaunt.   Während wir inzwischen alle um den Küchentisch versammelt waren, weil meine Mutter kein Aufsehen erregen wollte, schon alleine der Nachbarschaft wegen, erzählte Darian uns in Kurzform seine Geschichte. Die Ähnlichkeit zwischen meinem Vater und ihm war verräterisch, darum war er mir so vertraut vorgekommen. Die gleiche Haar- und Augenfarbe, ähnliche Gesichtszüge. Ich erinnerte mich an Vaters Kindheitsfotos, die er uns ein paar Mal mit Stolz präsentiert hatte. Bereits mit dreizehn war Darian ziemlich groß und schlaksig, genauso, wie es mein Vater in diesem Alter auch gewesen war.   Es irritiere mich immer noch, und nicht weil ich von da an einen Halbbruder hatte, sondern die sonderbaren Gefühle für ihn, die sofort da waren – anfänglich hielt ich sie wirklich für brüderliche.   Es passte alles. Mir war sofort klar, dass dieser Junge hier die Wahrheit sagte und Vater uns über Jahre hinweg belogen hatte. Als mein Vater uns weiterhin weismachen wollte, es handelte sich hierbei um einen Irrtum, die Ähnlichkeit wäre nur reiner Zufall, bestanden wir alle auf einen Vaterschaftstest. Erst recht, als Darian auch noch seine Geburtsurkunde vorlegte und sich die Beweislage gegen ihn verdichtete. Er schilderte uns auch, warum er nach seinem Vater suchte, da seine Mutter kürzlich an Krebs verstorben sei und er eine Familie brauchte. Erst da hatte er von seinem Vater erfahren. Welche Ironie, als ich auf die Urkunde starrte, so hat Darian am zweiten Weihnachtsfeiertag und ich an Heiligabend Geburtstag. Zudem sind wir beide gleicher Jahrgang. Der Test fiel, wie erwartet, positiv aus. Ich hatte davor auch keine Zweifel gehabt. Darian war wahrhaftig mein Halbbruder. Nun hatten wir es schwarz auf weiß auf Papier stehen. Ich fand es cool, einen Bruder zu haben. Kurz darauf zog Darian bei uns ein, als alles geregelt war. Er bekam sogar ein eigenes Zimmer, in dem der Dachboden umgebaut wurde. Vor dieser Zeit schlief er allerdings auf einer grauen Luftmatratze in meinem Zimmer. Diese Zeit, in der er bei mir war, nutzte ich aus, um ihn auszufragen. Ich war von Neugierde getrieben. Ich wollte so viel von ihm wissen, wie es nur ging. Er redete jedoch nicht viel über sich, blieb mir gegenüber stets reserviert. Ich schob es auf den Verlust seiner Mutter und dachte mir vorerst nichts dabei, auch wenn ich etwas enttäuscht war. Abends, wenn er vor mir eingeschlafen war, betrachtete ich ihn, war fasziniert von seinen schönen, gleichmäßigen Gesichtszügen, wenn er ruhig schlief. Anfänglich glaubte ich an brüderliche Gefühle, die ich für ihn empfand, wenn mein Herz schnell zu klopfen anfing, wenn wir zusammen Fußball spielten oder schwimmen gingen. Ich freute mich über unsere Zweisamkeit, wenn wir ganz alleine waren. Da schlug mein Herz dann noch einen Tick schneller – ich hatte nur Augen für ihn. In dieser Zeit weckte Darian noch ganz andere Gefühle - verborgene. Er rührte was in mir auf, was ich anfänglich nicht wahrhaben wollte und es erst verstand, als mir bewusst wurde, was anders war. Ich hatte mich in meinen Bruder verliebt. Es passierte immer öfter, wenn er schon tief schlief, dass ich ihn streichelte, ohne ihn zu berühren, damit er nicht wach wurde. Ich zeichnete über seinem Körper seine Konturen nach, stellte mir vor, wie es wäre, seine Haut zu berühren und wünschte mir, der Umbau vom Dachboden würde noch ewig dauern. Aber leider war das nicht der Fall. Als der Dachboden fertig umgebaut war und ich mein Zimmer wieder für mich alleine hatte, war die Situation für mich irritierend. Die Leere, ihn nicht mehr in meinem Zimmer zu haben, war eigenartig. Die Enttäuschung darüber noch viel größer, als ich spürte, wie sehr er mir fehlte. Mein Vater adoptierte, als der Papierkrieg zu Ende war, schließlich Darian, um ihm das Gefühl zu vermitteln, eine Familie zu haben. So wurde aus Darian Henning – Darian Müller. Er trug fortan den gleichen Familiennamen wie ich. Ich sollte mich glücklich schätzen, doch kam alles anders. Ich hatte das Gefühl, dass Darian sich mehr und mehr von mir zurückzog. Mein Bruder und mein Vater verstanden sich immer besser. Ich wurde ab diesem Zeitpunkt eifersüchtig, weil sie viel miteinander unternahmen. Anfangs ging ich bei ihren Angelausflügen noch mit oder wenn sie sich zusammen ein Fußballspiel anschauten. Doch bald spürte ich, dass ich das fünfte Rad am Wagen war. Vielleicht war es auch meine Schuld, durch mein komisches Verhalten den beiden gegenüber; ich wusste es nicht. Jedenfalls kam ich mir deplatziert vor, gerade weil mein Bruder nur Augen für unseren Vater hatte. Meine Mutter kam mit der neuen familiären Situation nicht zurecht. So sehr sie sich bemühte, sah sie in Darian die Untreue ihres Mannes und verfiel in eine schwere Depression und fing zu trinken an. Sie ertrug die Situation nicht mehr, stritt sich oft mit unserem Vater. Wir bekamen die Eskapaden der beiden immer mehr zu spüren und schließlich kam, wie es kommen musste, die Scheidung. Meine Mutter wollte, dass ich bei ihr blieb, weil sie meinem Halbbruder an allem die Schuld gab. Die Situation war grotesk, hatte Darian wirklich unsere Familie entzweit? Ich war mir nicht sicher, ob er tatsächlich der alleinige Grund war. Die Ehe meiner Eltern hatte zuvor schon nicht zum Besten gestanden. Vielleicht wäre sie irgendwann auch ohne ihn in die Brüche gegangen.   Ich denke, mein Bruder war nur einer von vielen Gründen, die den Dominoeffekt herbeigeführt hatten.   Ich lehnte kategorisch ab, mit meiner Mutter wegzuziehen, weil ich nicht von Darian getrennt sein wollte. Ein unsichtbares Band, das leider nur von mir ausging, zwang mich hier zu bleiben. Mein Bruder war wie ein Magnet für mich. Ich war so stark von ihm angezogen, obwohl zu dem Zeitpunkt unser Verhältnis nicht besonders war. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich wäre gleich mit meiner Mutter mitgegangen. Sie hingegen gab nicht auf, mich zu holen, war mit meiner Entscheidung nicht einverstanden. Der übliche Sorgerechtsstreit begann. Darian war das alles sehr unangenehm. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, sah ich sein trauriges Gesicht. In der Zeit hätte ich ihn so gerne in den Arm genommen. Einmal vertraute er mir an, dass er sich die Schuld an der Trennung gab. Ich versicherte ihm das Gegenteil und war glücklich, dass er mir das anvertraut hatte, obwohl es kein freudiges Geständnis war. „Du bist nicht Schuld, niemals, hörst du!“ Da nahm er mich spontan in den Arm, drückte mich kurz für die Worte. Von da an wusste ich, ich war verloren. Die erste richtige Berührung und ich war wie vom Blitz getroffen. Es war sogar so schlimm, dass ich mich zwei Tage lang weigerte, zu duschen, nur um ihn immer noch an mir riechen zu können. Eigentlich hätte ich auf Wolke sieben schweben müssen, aber das heimische Zuhause wurde immer unerträglicher, für jeden von uns. Der Streit meiner Eltern um mich eskalierte und ich wurde vom Richter gefragt, was ich denn wollte. Und ich sagte deutlich, was ich wollte. Ich wollte bei meinem Vater bleiben, was meine Mutter komplett aus der Fassung brachte und den Boden unter den Füßen wegzog. Zudem hatte man dem Richter mitgeteilt, dass sie an Depressionen und Alkoholproblemen litt. Einmal war sie zu der Verhandlung in einem äußerst desolaten Zustand erschienen. Ab da war klar, sie würde mich nicht bekommen. Sie musste erst einmal ihr eigenes Leben in den Griff kriegen. Man entschied sich gegen sie. Mein Vater bekam letztendlich das alleinige Sorgerecht zugesprochen. Meine Mutter musste eine Entziehungskur machen, wenn sie die Besuchsrechte an mir nicht auch noch verlieren wollte. Mir hatte sie leidgetan, auch wenn sie mich manchmal mit ihren konservativen Ansichten in vielerlei Situationen in den Wahnsinn getrieben hatte, war sie doch meine Mutter. Ich legte schließlich bei meinem Vater ein gutes Wort für sie ein. Er gab nach, räumte ihr ein großzügiges Besuchsrecht ein. Damit war meine Mutter einverstanden. Und so ordnete meine Mutter ihr Leben neu, bekam rechtzeitig die Kurve und fing von vorne an. Lebte sogar nach kurzer Zeit in einer lockeren Beziehung mit einem etwas älteren Mann, den sie in der Kur kennengelernt hatte. Das war selbst für mich erstaunlich, bestätigte aber meinen Verdacht, den ich schon immer vermutet hatte: Die Ehe meiner Eltern hatte schon lange auf der Kippe gestanden. Ich durfte meine Mutter zum Schluss so oft besuchen, wie ich wollte, blieb in den Ferien zum Teil ganz bei ihr. Als ich älter wurde, fragte sie mich immer nach einer Freundin. Mütter! Wenn sie nur wüsste. Ich redete mich immer heraus. Als ich schon fast aus der Pubertät draußen und mir wirklich klar war, dass mich die Frauenwelt nicht reizen konnte, blieb Darian meine geheime Wichsvorlage. Mein Bruder war nach wie vor mein feuchter Traum. Ich litt und wusste, ich würde nach und nach eingehen, wenn ich nicht endlich von ihm loskommen würde. Er merkte und spürte meine Sehnsüchte nicht. Obwohl ich lieber seine Nähe suchte, distanzierte ich mich immer mehr von ihm, zog mich in ein Schneckenhaus zurück. Meine Familie hatte keinen blassen Schimmer, wie es um mich tatsächlich bestellt war. Sie ahnten nichts über die verbotene Liebe zu meinem Bruder und auch nicht, dass ich so oder so auf Männer gestanden hätte, wenn ich meinem Bruder nie begegnet wäre. Sie hielten mein Verhalten, mein in sich kehren, eher für eine Einsiedlerphase, die ich durchmachte, weil ich eben nie ausging. Da täuschten sie sich aber gewaltig. Es war keine Phase und ich blieb standhaft Jungfrau, auch wenn ich schon mehrmals die Gelegenheit dazu gehabt hätte, dies zu ändern. Die Illusion, mich für den Richtigen aufzusparen, hielt mich ein klein wenig aufrecht. Vielleicht klammerte ich mich auch an den Gedanken, mich für Darian aufsparen zu wollen. In dieser Sehnsucht verlor ich mich immer mehr. Solange dieser Zustand anhielt, in der ich nur ihn in meinen Gedanken hatte, konnte ich keinen anderen lieben. Der Spätzünder in mir manifestierte sich und blieb für die Außenwelt hartnäckig bestehen. Während ich zuhause las, dazu meine Musik hörte, baute mein Bruder immer weiter einen größeren Freundeskreis auf, betätigte sich in vielen Vereinen, war beliebt, besonders bei den Mädchen. Was mich aber am meisten schmerzte, war, dass er eine Freundin nach der anderen mit zu uns nach Hause brachte. Er ließ nichts anbrennen, was mich schließlich dazu veranlasste, mir das Ganze nicht mehr anzutun. Ich wurde mürrisch, ließ meine schlechte Laune an jedem aus – vor allem in der Schule. Also brach ich nach der 11. Klasse die Schule ab. Ich wollte ihn weder hier noch sonst wo sehen, und zog schweren Herzen zu meiner Mutter. Mein Vater, aber seltsamerweise auch Darian, bei dem ich dachte, er wäre froh, mich los zu sein, verstanden nicht, warum ich das getan hatte. Ich schlug eine Richtung ein, die weder ihm noch meinem Vater schmeckte und schon gar nicht meiner Mutter, weniger noch ihrem Lebensgefährten Helmut, der mich naserümpfend erduldete. Doch war ausschließlich Darian der Grund dafür, warum ich so war, und mich nun auch äußerlich veränderte. Von da an wurde das Verhältnis zu meinem Bruder noch kälter, wenn ich ab und an zu Besuch war und in meinem alten Zimmer übernachtete. Denn komplett schaffte ich es nicht, den Kontakt abzubrechen. Mein Bruder war fast immer arrogant zu mir, wenn ich zu Besuch kam. Er bezeichnete mich immer öfter als einen Versager, weil ich eine Lehre nach der anderen begann, aber sie alle nach kurzer Zeit abbrach, während er mit Bravour sein Abitur bestand. Zudem suchte ich verzweifelt eine kleine Wohngemeinschaft, weil der Partner meiner Mutter mich nicht mehr bei sich haben wollte und sie sich gegen ihn nicht durchsetzen konnte. Ich war zum Scheitern verurteilt, weil ich mich niemals allein über Wasser halten konnte. Sollte ich zu Darian und meinem Vater zurückkehren?   Die Erinnerung, sie war so nah – es schmerzte. Dabei hatte ich nicht gemerkt, dass ich stehen geblieben war. Erst als Darian vor mir knurrte: „Jetzt komm schon, Jaden, warum bleibst du immer stehen?“, hatte er mich endgültig aus meinen Gedanken, meinen Fantasien und Sehnsüchten herausgeholt. Ich seufzte, als mein Blick auf den viel zu prall gepackten Rucksack meines Bruders fiel, der doppelt so groß war wie meiner und ich nicht lang raten musste, um zu wissen, dass er auch wesentlich schwerer war. Ich fand meinen schon schwer genug, doch kein Vergleich zu seinem. „Siehst du sie jetzt? Kannst du sie sehen?“ Seine Stimme klang ungeduldig. Ich zwang mich, nicht mehr auf seinen Rucksack der Marke „Deuter“ zu starren. Als wir noch näher kamen, sah ich den Umriss nun viel deutlicher. Ich wischte mir den Schnee aus den Augen. „Ja, ich sehe sie“, gab ich zu verstehen. Ich erkannte eine schlichte Schutzhütte, hoch oben in den Bergen, die wirklich nur Schutz bieten sollte. Genau richtig bei solch einem überraschenden Wetterumschwung. Und für Schönwetter-Wanderer, wie wir es waren. Die jeden Ratschlag in den Wind geschlagen hatten und nun froh waren, Unterschlupf zu finden. Ich hatte schon die Bergwacht vor mir gesehen, mit ihren grimmigen Gesichtern, die uns retteten, wenn wir diese Hütte jetzt nicht angesteuert hätten. So betete ich insgeheim, dass die Hütte offen war und uns tatsächlich Schutz bieten würde. Darian schnellte nach vorne, sah sich die Holzhütte genauer an, die auf mich verlassen wirkte. Die Läden waren zugeklappt. Ich bildete es mir nicht nur ein; sie machte wirklich einen verlassenen Eindruck. Auch sah man keine Stromkabel oder einen Strommast, die darauf hinwiesen, ob sie bewohnbar war und mit Strom versorgt wurde. Das konnte heiter werden. Ich seufzte. Darian drückte als Erster von uns die alte, stark abgenutzte und zum Teil verrostete Klinke herunter, die übergroß an dieser Hüttentür angebracht war. Wir hielten beide vor Spannung den Atem an. Hoffentlich war sie nicht abgeschlossen, denn der Schneefall nahm immer mehr an Stärke zu und ich war nun richtig durchgefroren, klapperte bereits mit den Zähnen. Ächzend und stöhnend, als ob sie 1000 Jahre auf dem Buckel hatte, öffnete sich die Tür. „Glück gehabt“, meinte Darian erleichtert und ich nickte nur frierend und betraten die Hütte. Drinnen stellten wir ernüchternd fest, dass sie lange nicht mehr benutzt worden war. Als Darian sämtliche Fensterläden geöffnet hatte und man einen ersten Eindruck bekam, bemerkte ich trocken, dass die Hütte von außen einen wesentlich besseren Eindruck hinterlassen hatte als hier drinnen. Das spärliche Licht, das von draußen durch die stark verschmutzen Fensterscheiben hereingedrungen war, reichte nicht genügend aus, darum packte Darian seine kleine Lampe aus und schaltete sie an. Die Lampe erhellte den Raum sofort. Wir sahen den Verfall, die vielen Spinnenweben und was weiß ich, was noch an Krabbeltieren hier hauste. Ich muss auch nicht erwähnen, dass ich Ungeziefer nicht ausstehen kann. An manchen Stellen war das Glas an den Fenstern gesprungen.  Auch das noch! Dennoch wunderte es mich überhaupt, dass das Glas noch eher intakt war als der Rest. Vor allem, dass es gegen den Sturm standhielt. Doch für wie lange? Zudem war es hier schmutzig und ich ekelte mich, als ich den zusätzlich vermoderten Geruch bemerkte, der durch die Kälte und Nässe noch an Intensität zugenommen hatte. „Hier will ich nicht übernachten“, beklagte ich mich umgehend. Was ich von meinem Bruder jedoch erntete, war ein giftiger Seitenblick. „Wem verdanken wir das Ganze denn, hä?“ Darian stand nur da und wartete auf meine Antwort, da er gestern noch 1000 Argumente gegen unsere Wanderung ausgesprochen hatte. „Ich dachte, es wäre schön, wenn wir beide etwas zusammen unternehmen würden.“ Was für eine blöde Ausrede? Ich seufzte. „Unternehmen? Wir wohnen doch zusammen“, konterte er böse. Wir wohnten wirklich zusammen in einer Art WG mit seiner frisch eingezogenen Klette Stefanie. Susan, meine kumpelhafte Freundin, wusste als Einzige, was ich für meinen Bruder empfand und warum ich immer so defensiv reagierte, wenn er mich wieder auf dem Kieker hatte. Die beiden Frauen hatten sich auch diesen perfiden Plan ausgedacht. Zu einem Stefanie, weil sie meinte, den Samariter spielen zu müssen, und Susan, damit ich mir über die Gefühle für Darian endlich Klarheit verschaffen konnte. Schließlich wurde ich überredet und ich hatte zugestimmt. Bis jedoch Stefanie Darian um den Finger gewickelt hatte, war es eine schwerere Geburt gewesen. Doch stimmte er letzten Endes und schwereren Herzens zu, als ihm seine Argumente ausgegangen waren. Also war es nicht ganz meine Schuld. Wenn allerdings Stefanie von meinen wahren Gefühlen gewusst hätte, wäre sie bestimmt nicht dafür gewesen, sondern eher das Gegenteil wäre eingetreten. Fatale Lage, auf beide Seiten. Jetzt standen mein Bruder und ich hier, mitten im Nirgendwo, in einer staubigen, ruinenartigen und kalten Hütte, in der durch die gesprungenen Scheiben der kalte Wind herein blies. Ein Glück, dass es nicht noch hereinschneite, weil vielleicht ein Teil des Daches gefehlt hätte. Wenigstens das war uns erspart geblieben. Aber eines blieb mir nicht erspart. Mit einem immer wütender werdenden Bruder, der mich mit seinen Blicken nicht nur erdolchte, nein, er wollte gerade jetzt in diesem Moment garantiert meinen Tod, war die Situation für mich keinesfalls angenehm. Ich las es in seinen Augen. „Ich finde die ganze Situation saublöd“, brummte er nach einer Weile, weil ich die ganze Zeit über geschwiegen hatte. Ich zog meine durchnässte Mütze vom Kopf und stopfte sie, völlig innerlich aufgelöst, in meine Jackentasche. Dabei hinterließ ich auf dem Boden eine kleine Pfütze. Die Emotion brach über mich herein. „Es ist nicht nur meine Schuld“, gab ich endlich gekränkt von mir. Mir kamen ungewollt die Tränen. Und das hatte nicht nur mit dem Wetter zu tun. Ich heulte, wenn auch stumm, wollte vor lauter Scham den Kopf wegdrehen, aber Darian hatte es schon gesehen. „Bruder“, meinte er schließlich und ich verzog missbilligend mein Gesicht. Ich mochte es nicht, wenn er mich nur mit „Bruder“ betitelte. „So war das nicht gemeint.“ Darian trat an mich heran und legte seine Hand auf meine feuchte Schulter. In der anderen hielt er weiterhin die Lampe und schaute sich um, wo er sie platzieren konnte. „Jetzt wäre es nicht schlecht, wenn unsere beiden Frauen hier wären.“ Frauen? Hier? Kurz war ich zusammengezuckt. Ich sah zu ihm. Unsere Blicke trafen sich, vertieften sich aber nicht. Mir wurde meine Ausweglosigkeit immer bewusster. Er konnte nicht wissen, dass Susan nicht wirklich meine richtige Freundin war. Sie war nur mein Alibi. Warum erzählte ich es ihm nicht einfach? Doch wie würde er reagieren? Wäre er von mir abgestoßen? Angewidert? Würde er mich rauswerfen? Darian liebte mich nicht so, wie ich mir das wünschte. Ich war nur sein verdammter Bruder, mehr sah er in mir nicht. Halbbruder, korrigierte ich mich gedanklich. Machte das die Situation besser? Nein! Ich schüttelte trotzig seine Hand ab. „Jaden.“ Auf einmal wusste er meinen Namen wieder? Ich war gekränkt. „Aus dir muss man erst einmal schlau werden?“, murmelte er kopfschüttelnd und entfernte sich von mir, um weiter die Hütte zu untersuchen. Meine Tränen waren versiegt, mein Entschluss stand fest. Lieber fiel ich dem Schneefall zum Opfer, als weiter meiner unstillbaren Sehnsucht nachzugehen und setzte es in die Tat um. Ich musste hier raus. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Darian sein Handy hervorgeholt hatte, und versuchte, eine Verbindung herzustellen. So merkte er nicht, wie ich mich leise aus der Hütte heraus schlich und davon lief.   Ich lief ungeachtet weiter, während meine Nase wieder tropfte und der Schnee mich munter frieren ließ. Ohne einen Plan zu haben, wohin ich lief, irrte ich in irgendeine Richtung.     (c) Randy D. Avies 2015 Kapitel 2: ----------- ~°~2~°~   „Jaden“, hörte ich Darian hinter mir rufen. Aber trotzig und stur, wie ich nun mal war, hielt ich nicht an, im Gegenteil. Auch auf seine weiteren Rufe reagierte ich nicht. Eisern stemmte ich mich gegen den schneidenden Wind und die Schneemassen, die fröhlich weiter in Unmengen vom Himmel fielen, und gegen meinen Körper peitschten. Ich wusste, dass ich unvernünftig handelte und mir wurde kälter und kälter, auch wenn ich in Bewegung blieb, umhüllte mich das Wetter und kühlte mich immer weiter aus. Ohne Mütze waren meine Haare nun ein einziger Eisklumpen. Da an mir wirklich nichts dran war, schlotterte ich wie Espenlaub. So bekam ich auch nicht mit, wie Darian mich mit zügigen Schritten einholte, mich schließlich unsanft am rechten Arm packte und so zum Stehenbleiben zwang. Der Versuch mich gegen ihn zu wehren ließ ich schnell sein. Ich hatte gegen ihn keine Chance. Er wirbelte mich zu sich herum, sodass ich leicht ins Taumeln geriet, wurde aber von ihm aufgefangen, in dem ich gegen seinen Oberkörper prallte. Schnell brachte ich mich auf Sicherheitsabstand. Darians Augen funkelten zornig. „Sag mal, kannst du mir erklären, was mit dir schon wieder los ist?“, schrie er mich an. Er war völlig aufgebracht. Der Wind rüttelte uns richtig durch, der Schnee peitsche uns weiterhin eisig ins Gesicht, wir beide sahen aus wie zwei gerupfte Hühner. Auch Darian hatte seine Mütze nicht aufgesetzt. Ich schüttelte nur den Kopf und blieb stur, ihm nicht zu antworten. Da packte Darian mich wütend am Arm und schleifte mich unter strengen Protest zurück zu dieser dreckigen Hütte. Verzweifelt versuchte ich mich, aus seinen Fängen zu befreien. „Ich will da nicht rein“, schrie ich ihn ebenfalls an und hatte damit mein Schweigegelübde gebrochen, was er hingegen völlig ignorierte. Kaum waren wir in der Hütte, verpasste mein Bruder mir eine schallende Ohrfeige. Sprachlos und viel zu perplex rieb ich mir die schmerzende Wange. Die Wut wandelte sich in Schreck. Gekränkt sah ich ihn an. Darian hatte mich noch nie geschlagen. Niemals! Im nächsten Moment sah ich, dass es ihm leidtat und er selbst über seine Reaktion erschrocken schien, doch dann wurde sein Gesicht wieder von Zorn überrollt. Hatte ich mich geirrt? „Zieh deine Sachen aus, du wirst sonst ganz krank, bekommst vielleicht noch eine Lungenentzündung“, fauchte er mich an und etwas in seiner Stimme sagte mir, dass es besser war, sich ihm nicht nochmals zu widersetzen. Außerdem, eine Pneumonie wollte ich auf keinen Fall. Doch gestaltete es sich schwieriger als gedacht. Ich spürte meine Hände nicht. Die Finger waren steif vor Kälte und ich war nicht in der Lage mich meiner nassen am Körper klebenden Kleidung zu entledigen. Mein Zähneklappern verstärkte sich noch. Dann tat Darian etwas, was ich niemals für möglich gehalten hätte. Er half mir und ich ließ es geschehen – wie eine Puppe wurde ich ausgezogen. Dabei starrte ich auf seine Hände, die zielstrebig meine durchnässten Sachen abstreiften. Es war nicht zärtlich, und doch ... Seine Hände, seine Finger, entfachten eine Glut, die mich erhitzen ließ und mein Blut in Wallung brachte. Äußerlich versuchte ich kühl zu wirken, ließ mir nichts anmerken und ließ all das stumm über mich ergehen. Denn ich wusste genau, verlor ich nur ein Wort über diese Situation hier, so würde ich ihm endlich gestehen, wie sehr ich ihn liebte. Aber auch noch etwas anderes würde ich ihm offenbaren, was negatives, wie stark mir seine Ohrfeige wehgetan hatte. Der Wind pfiff leise durch die offenen Stellen. Ich stand seit einer viertel Stunde mitten in der staubigen Hütte auf einem trockenen, kleinen, grünen Handtuch, barfuß und in feuchter Unterwäsche und schlotterte. Da ich mich nicht vor ihm komplett entblößen wollte, hatte ich mich dagegen gewehrt, als er mich ganz ausziehen wollte. Meine Unterhose, so nass sie auch war, behielt ich an. Aus Sicherheitsgründen. Mein Schwanz hatte mir eh schon einen kleinen Herzinfarkt verpasst, als er ein Eigenleben entwickelte, nur bei Darians Versuch mir meine Shorts auszuziehen. Einen zweiten Versuch wollte ich nicht riskieren und hatte mich rechtzeitig von ihm weggedreht. Nun hoffte ich, nein, betete inständig, dass er das nicht mitbekommen hatte. Ich fluchte innerlich über meine Gefühle für ihn. Zu meiner Erleichterung schien er meine Erregung nicht gesehen zu haben, die nun wieder am Abklingen war. Es war zu kalt hier drinnen, um sich wohlzufühlen. Darian wirkte zufrieden, mich aus meinen Sachen geschält zu haben. Mit einem Grinsen meinte er: „Du solltest dir trotzdem frische Unterwäsche anziehen.“ Nein! Hatte er dies wirklich mit einem Grinsen auf den Lippen gesagt? Ich war verwirrt und hatte es mir bestimmt nur eingebildet, denn nun war nichts mehr von einem Lächeln zu erkennen. Es wäre kein Unding gewesen, mir frische, vor allem trockene Sachen anzuziehen, aber mich vor ihm ganz zu entblößen, das schaffte ich nicht. Immerhin hatte ich verhindern können, dass er mich jemals unbekleidet zu Gesicht bekam. Schon als wir noch Kinder waren und ich bereits wusste, dass ich mehr für ihn empfand, tat ich alles, damit er mich nicht komplett sah. Meine Erektion nicht sah, die ich ständig bekam, wenn er mich nur ansah oder in meiner Nähe war. Wer wusste schon, wie mein Körper hier auf ihn reagieren würde, wenn ich mich vor ihm komplett ausgezogen hätte oder mich von ihm hätte komplett ausziehen lassen. Daher war ich froh über mein Zittern, welches ich größtenteils auf die Kälte schob. So umschloss ich meinen Oberkörper mit den Armen, rieb mich warm oder versuchte es zumindest, scheiterte aber kläglich. Ich sah Darian dabei zu, wie er beide Rucksäcke auspackte. Zuerst meinen, dann seinen. Er holte zwei dünne Decken heraus, den Sturmkocher und dann unsere Schlafsäcke, die bei ihm im Rucksack untergebracht waren. Ich selbst hatte nur einen Satz frischer Unterwäsche, ein Wechselshirt, eine schwarze Leggins, eine dünne Decke und zu trinken mit eingepackt – so meine Erinnerung. „Warum hast du nichts außer Unterwäsche dabei?“, kam dann die prompte Frage von meinem Bruder, als er weiter in meinem Rucksack wühlte. Was ich ziemlich dreist fand, einfach ohne zu fragen in meinen Sachen zu wühlen. Kopfschüttelnd reichte er mir meine Decke, in der ich mich sofort und dankbar einhüllte. So fühlte ich mich behaglicher und war froh, nicht mehr halb nackt vor Darian dazustehen. Hatte ich wirklich vergessen, ein T-Shirt und meine Leggins mitzunehmen? Ich ahnte bereits, dass beide Teile noch ausgebreitet auf dem Bett lagen, weil ich viel zu hastig alles eingepackt hatte. Auf den letzten Drücker eben. „Hab ich wirklich nicht mehr dabei?“, fragte ich zögerlich, während Darian nun seinen Rucksack durchstöberte, als ob er selbst etwas darin suchte. „Nein, hast du nicht. Super. Ich hab meine auch vergessen“, schimpfte er mehr zu sich selbst. Er schüttelte verärgert den Kopf, holte tief Luft, seufzte und breitete unsere Schlafsäcke auf einer Stelle aus, wo es noch am saubersten schien – wenn man Sauberkeit neu definierte. Angewidert rümpfte ich die Nase, blieb aber ruhig. Die Schlafsäcke waren für die Hütte als Zusatz gedacht gewesen, wenn wir kein Bettzeug für eine Übernachtung gehabt hätten und ebenso die beiden dünnen Decken, die wirklich nicht viel Platz brauchten, waren zur zusätzlichen Sicherheit dabei. Wenigstens hatten wir die nicht vergessen. Mein Bruder legte unsere Schlafsäcke dicht aneinander, sodass mein Herz zu rasen anfing. Warum musste er sie so nah beieinander hinlegen? Pikiert schaute ich auf die Ruhestätte, als er mich dort hin dirigierte, dabei blieb mein Blick weiterhin auf den Schlafsäcken haften. Ich wich seiner Hand aus, als er mich an der Hand anfassen wollte. „Du bist echt seltsam, heute ganz besonders.“ Darian ließ mich in Ruhe. Mir war klar, dass ihm mein Verhalten merkwürdig vorkommen musste. Ich verschloss mich immer mehr vor ihm und wortkarger war ich dazu auch noch, denn ich sprach nur das Nötigste, wenn überhaupt. Ich erinnerte mich mit einem bitteren Nachgeschmack, wie er heute Früh, als wir die Tour starteten, sich von seiner Freundin leidenschaftlich verabschiedet hatte. Neidisch hatte ich beide beobachtet in ihrer innigen Zweisamkeit. Ich hatte meine Augen geschlossen, um sie nicht weiter zu beobachten. Innerlich hatte ich mir vorgestellt, dass ich es gewesen wäre, den Darian so küsste und nicht seine Freundin. Mir war bei dem Gedanken sogar schwindelig geworden, und als ich meine Augen geöffnet hatte, war von meiner Fantasie nur ein schaler Beigeschmack geblieben. Es tat weh, solche Gedanken zu haben. Aber sollte ich noch länger leiden, wenn die Sache so aussichtslos war? Ich war mit meinen 24 Jahren schon so lange alleine und sehnte mich nach Geborgenheit, nach einem Partner. Einerseits konnte ich mich glücklich schätzen, so nah bei Darian zu sein, andererseits war er gedanklich meilenweit von mir entfernt. Du musst ihn vergessen. Darian liebte nun mal seine Stefanie. Und ich, ich liebte Darian. Verdammt, damit musste endlich Schluss sein. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und ich hüllte mich noch fester in die Decke. Trotz, dass sie so dünn war, wärmte sie mich dennoch. Die Decke lag nun eng um mich herum. „An dir ist wirklich nichts dran“, stellte Darian trocken fest. Hatte er mich beobachtet? Ich schaute verletzt, über seine Worte, zu ihm und zog jetzt unbewusst die Decke noch einen Tick fester um mich, wodurch ich eigentlich von meiner Schlankheit mehr preisgab als umgekehrt. Sein Blick ging mir durch Mark und Bein. Draußen heulte und tobte es. Mir wurde bewusst, wenn Darian mich nicht zurückgeholt hätte, hätte ich keinerlei Chancen gehabt, da draußen zu überleben. Ich wäre erfroren. In den Bergen war es tatsächlich gefährlich, alleine bei einem Wetterumschwung aufzubrechen. Meine Aktion kam mir selbst kindisch und unreif vor. Wenn es die ganze Nacht so weitergehen würde, dann konnten wir am nächsten Tag nicht gleich weitermarschieren, soviel stand fest. Draußen war es dunkel geworden und nur Darians Lampe erhellte die kleine Schutzhütte, wenn auch spärlich und hüllte uns beinahe in ein gespenstisches Licht. Ich sah, wie Darian meine Sachen ausbreitete, die jetzt tropfnass über dem einzigen morschen Stuhl hingen. Die Fürsorge um meine Klamotten erstaunte mich. Ich sah auf die Einrichtung und es wunderte mich, dass der Stuhl unter meinen nassen Sachen nicht zusammengebrochen war. Bei dem Tisch, der mehr einem morschen alten Baumstumpf ähnelte, wollte ich mir gar nicht erst ausmalen, was bei weiteren Belastungen passieren würde. Ich sah ein paar Krabbeltiere herumlaufen. Bestimmt waren mehr Bewohner in dem Holz als draußen in der freien Natur. Ich schüttelte mich vor Ekel. „Ich habe dich was gefragt, Jaden? Warum bekomme ich heute fast keine Antworten von dir?“ Ich hatte vergessen, ihm zu antworten, aber wollte ich darauf eingehen, warum ich so schlank war? Was sollte ich ihm sagen? Dass ich ihm nicht gefalle, dies hatte er mich mehr als einmal spüren lassen. Ich entschloss mich doch, darauf zu reagieren. „Das kann dir doch egal sein oder?“, murrte ich als Antwort, während Darian mir eins der Brote rüberreichte, die seine Freundin für uns gemacht hatte. Missbilligend starrte ich drauf. Sie sahen zwar immer noch appetitlich aus und die Salami verströmte ihren unverkennbaren Duft, der den muffigen Geruch der Hütte kurz übertünchen konnte, dennoch verging mir schlagartig der Hunger auf eines der Sandwiches. Ich wollte schon den Kopf schütteln, sah aber Darians mahnenden Blick, woraufhin ich es schnell unterließ, das Essen abzulehnen. Ein wenig trotzig nahm ich ihm das dargebotene Brot aus der Hand und ließ mich auf meinen Schlafsack nieder. Darian setzte sich neben mich auf seinen eigenen und biss genüsslich in sein Sandwich. Ich biss ebenfalls, wenn auch nur halbherzig, in das Salamitoastbrot, das mit viel zu dicker Butter bestrichen war, und verzog das Gesicht. Die Tatsache, dass es auch noch seine Freundin für uns gemacht hatte, machte das Ganze für mich nicht gerade einfacher. „Ja, das kann es wohl“, murmelte Darian kauend und mit halb vollem Mund und ich wusste nicht, was er meinte. „Kann wohl was?“, fragte ich darum nach. „Tse, du hast doch gesagt, es kann mir egal sein, ob du viel zu dünn bist. Wäre es mir auch, wenn du nicht mein Bruder wärst.“ Dabei sah mich Darian merkwürdig an. „Halbbruder“, korrigierte ich ihn und merkte selbst nicht, wie lächerlich ich mich mit meinem stoischem Verhalten machte. Auch wenn ich das Brot lieber an irgendwelche Tiere verfüttert hätte, aß ich mit einem von mir nicht gewollten Appetit. Dabei spürte ich seine Blicke – die ganze Zeit, während ich aß. „Was ist? Warum starrst du mich so an?“, fragte ich ihn schließlich leicht angefressen, als ich fertig mit dem Salamibrot war. Den letzten Bissen schluckte ich runter und stellte fest, als ich Darian anblickte, dass er immer noch seins in der Hand hielt. Er hatte es nicht weiter angerührt. Im Gegenteil, außer dem einen Bissen hatte er nichts mehr davon gegessen. „Warum gibst du dich so unmännlich? Selbst dein Haar trägst du lang. Und dann die ganzen schwarzen Sachen. Sie wirken zum Teil so androgyn. Dieser Rock, den du letztens anhattest, der ist total frauenhaft.“ Die Verachtung in seiner Stimme war kaum noch zu überhören und seine Worte trafen mich direkt ins Herz. Er hatte meine Achillesferse getroffen. Warum konnte man mich nicht so nehmen, wie ich war? „Mir gefällt es aber“, rechtfertigte ich mich motzend. In der Tat trug ich gerne schwarze oder dunkle Farben, und niemals etwas Helles. Ich schminkte mich tatsächlich gerne, trug mit Vergnügen Kajal auf, aber ich trug keine Frauenkleider und so lang waren meine Haare auch nicht. Sie waren in Stufen geschnitten, den Pony kurz, die Seiten asymmetrisch – eben etwas Besonderes. An den Spitzen waren sie in ein dunkles Blau getaucht. Doch das, was Darian über mich sagte, fand ich mehr als beleidigend. Ich war ein Mann und war stolz, einer zu sein und diese Szeneröcke oder Bondagehosen, die mit Schnallen und Nieten versehen waren, gefielen mir nun mal. Mir war sofort klar, dass ich den Rock haben musste, als ich in der Stadt an dem Gothicladen vorbeigeschlendert war, und ihn im Schaufenster entdeckt hatte. Ich mochte die Gothicszene, wenn ich sie auch nur angehaucht mitmachte. So liebte ich unter anderem die Band: ‚The Cure‘ oder ‚Bauhaus‘. Aber auch einige Bands der Metal-Szene fand ich toll, auch wenn ich nichts mit der Szene zu tun hatte. Ich war eben ein Sonderling, wollte überall dazugehören und gehörte im Prinzip zu niemanden. Ich gehörte nur mir selbst und hatte meinen eigenen Stil. So trug ich auch keine Piercings oder Tattoos. Und diese schwarze Pudelmütze, die immer noch tropfend über dem Stuhl hing und aussah wie eine tote Ratte, hatte ich mir gestern extra eigens dafür gekauft, weil ich dachte, in den Bergen könnte man gut eine gebrauchen. Nur hätte ich nicht gedacht, dass die einer Ladung Schnee von oben standhalten sollte. Mein Bruder hingegen war in voller Wanderkluft erschienen. Von der Sohle bis hin zur Jacke zierte ihn Jack Wolfskin. Schrecklich. Und mein Rucksack? Eigentlich hatte ich gar keinen eigenen Rucksack und so hatte ich einen grellroten bekommen, den ich nur mit Widerwillen aufgesetzt hatte. Das Rot wirkte fast zu knallig gegenüber meinen dunklen Sachen und ich hatte, ganz zu Beginn, das Gesicht mehr als nur einmal verzogen. „Wie kann dir das nur gefallen, kein Wunder, dass du ständig arbeitslos bist.“ Wieder hatte er mich in meinen Gedanken unterbrochen und begann sich ebenfalls auszuziehen. Ich hatte mich schon gewundert, weil auch die Sachen meines Bruders nicht gerade trocken geblieben waren. Beschämt sah ich weg und wollte nicht als Stalker fungieren, in dem ich seinen Körper anstarrte. Ich schaute erst wieder zu ihm, als er sich in Unterwäsche unter seine Decke kuschelte. Trotzdem, der Gedanke, dass er fast nichts anhatte, machte mich nervös. Ich spürte, wie ich mich gefühlsmäßig immer schlechter unter Kontrolle hatte und die Kälte, die in der Hütte herrschte, drang durch die dünne Decke. Ich begann, trotz Decke wieder zu frieren. Darian, der mein Klappern sah, hatte daraufhin für ein paar Minuten den Sturmkocher angemacht. Die Flamme stach bläulich hervor, allerdings brachte sie nicht viel, dazu war der Raum zu groß für diesen Zweimannkocher. Wir hatten für den Kocher extra vier Dosensuppen mit eingepackt. Aber auf Suppe hatte ich keinen Hunger, als er mir was anbieten wollte. „Ich will nichts essen“, sagte ich und Darian schüttelte wortlos den Kopf. Er war seltsam ruhig für meinen Geschmack – zu ruhig. Ich nahm aus meiner Plastikflasche einen Schluck Wasser und stellte sie dann neben mich. Danach schlüpfte ich in den Schlafsack. Verstohlen sah ich dabei auf sein Brot, welches er einfach neben sich hingelegt hatte. Was kümmert es mich?, dachte ich beleidigt, als mir sein Kommentar wieder einfiel, auf den ich nicht geantwortet hatte. Das Thema Arbeitslosigkeit stieß bei mir sauer auf und wie ich herumlief auch. Ich machte meinem Unmut Luft. „Mir gefällt es nun mal, so herumzulaufen, und es liegt garantiert nicht an der Art, wie ich mich kleide, dass ich dauernd meinen Job verliere.“ Dies stimmte zwar nicht ganz, aber es war nicht der Hauptgrund. Der Letzte war ein Job bei einem Getränkehandel. Ich konnte mit dem Gabelstapler nicht gut hantieren, zudem wurde ich von den Arbeitskollegen gehänselt und unter anderem als ‚Schwuchtel‘ bezeichnet. Da war ich schließlich ausgerastet. Alles ließ ich mir nicht gefallen, und da es dort keine Kleiderordnung gab, zog ich mir Sachen an, in denen ich mich wohlfühlte. Fazit, ich wurde rausgeworfen und man zog diesen Ausraster von meinem Lohn ab. Ich hatte ein wenig randaliert. „Wer’s glaubt“, spöttelte Darian. „Es kann nicht jeder so schlau sein wie du und studieren, um Anwalt zu werden und nebenbei beim Vater in der Autowerkstatt helfen“, stichelte ich jetzt. Warum war Darian eigentlich immer so gemein zu mir? Erst holte er mich aus der Eiseskälte zurück, zog mich aus, damit ich mich nicht erkältete, doch für was, wenn er mich doch nicht leiden konnte? Hätte er mich doch verrecken lassen. „Wenn du deine Arbeit gut gemacht hättest, dann hätte dich unser Vater auch weiterhin beschäftigt. Ganz einfach! Warum hilft dir Bettina nicht?“ Ich hob meinen Kopf und sah ihn finster an. „Lass meine Mutter aus dem Spiel. Wenn deine Mutter nicht gewesen wäre, dann wäre sie heute noch mit Vater zusammen und nicht mit diesem Kerl, der mich nicht leiden kann.“ Ich war wütend geworden. Darian betrachtete mich nachdenklich. In seinem Gesicht arbeitete es. „Jaden, was kann ich dafür oder du, was unsere Eltern angestellt haben? Was meinst du, warum wir ausgezogen sind, als Vater das Haus verkaufte und sich eine kleine Wohnung nahm und ich darum eine eigene WG gründete.“ Was ich bis heute nicht verstanden habe, dass er mir diesen Vorschlag unterbreitet hatte, als ich mir eine neue Bleibe habe suchen müssen. Weil ich vielleicht kein Geld besaß? Weil ich ihm leidgetan habe? Da ich aber wirklich kein Geld besessen hatte, kam der Vorschlag von ihm gerade rechtzeitig, um nicht wieder auf Knien bei meiner Mutter zu betteln, doch ein paar Tage bei ihr wohnen bleiben zu können. Diese Erniedrigung war mir erspart geblieben. „Warum wolltest du überhaupt, dass wir zusammenziehen, wenn ich doch so einen Versager für dich darstelle?“, stellte ich ihm berechtigterweise die Frage. Seine grünen Augen erforschten mein Gesicht, während ich mir nervös auf die Lippe biss, da mir sein Blick durch und durch ging. „Weil du mein einziger Bruder bist und ich mir Sorgen um dich mache, darum.“ Seine Worte erstaunten mich. So hatte er mit mir noch nie gesprochen. Dieses Wochenende, dieser Trip verlief wahrlich ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte. „Du könntest doch mit Stefanie eine eigene Wohnung haben?“ Innerlich betete ich, dass er jetzt meinen Vorschlag nicht gut finden würde. Darian rieb sich die Stirn und strich über seine blonden Haare, die danach neckisch abstanden. Neidisch betrachtete ich ihn, wie toll er doch wirkte, auch wenn er jetzt ungekämmt aussah. „Könnte ich“, sagte er langsam und mir versetzte es einen Stich tief in der Brust. „Aber was ist dann mit dir? Und sag nicht, deine Freundin könnte dich über Wasser halten.“ Gekränkt drehte ich mich weg und ich griff nach meinem Rucksack, pardon, seinen für mich gekauften Rucksack. „Jaden, jetzt sei nicht immer gleich sauer“, lenkte er schnell ein. Ich war aber sauer. Ich war sauer, weil ich lieber hören wollte, wenn er gesagt hätte, dass er außer brüderlichen Gefühlen mehr für mich empfand. Aber da verselbstständigten sich meine Gedanken von ganz alleine und reimten sich eine Romanze zwischen uns zusammen, die niemals so stattfinden würde. Reines Wunschdenken, Jaden!, dachte ich traurig. Mittlerweile hatte sich sogar die Kälte in meinen Schlafsack geschlichen und so klapperte ich zum unzähligen Male ungewollt mit den Zähnen. Warum mussten meine Sachen auch so schlimm nass werden?, dachte ich betrübt und wünschte mir, ich hätte mehr als nur meine schwarze knappe Unterhose an, die immer noch feucht war. Darian sah mich nur an, dann beobachtete ich, wie er sich erhob und zu mir kam. Erstaunt darüber verfolgte ich nur das Geschehen wortlos, bis ich verblüfft feststellte, dass er in meinen Schlafsack geschlüpft war. Ich war automatisch zur Seite gerutscht, um Platz zu machen. Dann nahm Darian seine Decke, deckte uns zu, und zum Schluss nahm er seinen eigenen Schlafsack, drehte die Schmutzseite nach oben und legte ihn über uns. Ab da fand ich meine Stimme wieder. „Was soll das?“, krächzte ich und mein Herz bollerte verdächtig laut und viel zu schnell in der Brust. Dabei bildete ich mir ein, den Herzschlag überdeutlich hören zu können. „Nach was sieht es denn aus?“, sprach Darian mit fester Stimme. Keinerlei Wärme lag darin, obwohl er mir so nahe war. Ich konnte seinen Körper spüren, konnte seinen Atem auf mir fühlen. Ich zuckte mit den Schultern, während ich mich ganz an den Rand des Schlafsacks drängte und trotzdem seinen warmen Körper im Rücken spürte, bei dem ich schier verrückt wurde. Ich fing wieder zu zittern an, aber nicht vor Kälte, sondern vor Erregung und eine unaufhaltsame Hitze breitete sich in mir aus. Ein loderndes Feuer, das ich kaum löschen konnte, so sehr ich es auch versuchte. „Was machst du da?“, wisperte ich, als ich spürte, wie er sich an mich drängte. „Ich wärme dich ein wenig, du zitterst wie Espenlaub.“ Dann schob er seine Arme um meinen dürren Körper und presste sich noch einen Tick enger an mich. Noch niemals waren wir uns so nahe gewesen wie jetzt. Warum war noch mal dieser Ausflug entstanden? Mein Hirn war zu einer breiigen Masse mutiert. Mein Körper war nun mehr als nur aufgeheizt, ich glühte förmlich. Darian drängte sich immer weiter an mich, bis ich alles von ihm fühlen konnte. Und ich meinte wirklich alles. Meine Augen weiteten sich, als ich noch etwas anderes spürte. Etwas Hartes. Mein Bruder war erregt? Darian? Von mir etwa? Unmöglich, er liebte doch seinen Brummer Stefanie. Wobei sie keiner war. Eigentlich sah sie nett aus. Nur, wenn man in seinen eigenen Bruder verliebt ist, dann sehen alle schönen Frauen wie Kartoffelsäcke aus. „Darian?“ Meine Stimme zitterte, da ich es mir wirklich nicht eingebildet hatte. Ich konnte seinen Ständer fühlen. „Schhh, sag nichts! Schlaf jetzt!“ Ich hörte aus seiner Stimme die Erregung. Seine Arme schlangen sich noch fester um mich. Schlafen? Ich? Wie denn? (c)Randy D. Avies 2015 Kapitel 3: -----------   ~°~3~°~   Wie konnte ich an Schlaf denken, wenn ich zusammengepfercht mit meinem Bruder halb nackt in meinem Schlafsack steckte und er einen Mordsständer aufzeigte? Meine Gedanken kreisten ständig nur noch um sein Geschlecht. Ich wusste, er war gut bestückt, denn ich hatte ihn oft genug heimlich unter der Dusche beobachtet, wenn er sich einseifte, seine Augen dabei geschlossen waren und er sich manchmal unten angefasst hatte. Der Wunsch, dass er dabei an mich denken würde, war immer präsent gewesen. Wie oft hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, ihn dort unten zu berühren, mit den Lippen an seinem Schaft entlang zu knabbern, ihn einfach mit der Zunge zu verwöhnen und zum Schluss einen Kuss auf seine Schwanzspitze zu hauchen, nachdem er gekommen war. Sein Körper überhaupt war unwiderstehlich, alles passte zusammen. Nun lag er dicht bei mir und mein Herz schlug mir bis zum Hals hinauf. Der verbotene Gedanke, mit ihm zu schlafen, wurde größer, die Erkenntnis, mich von ihm ausfüllen zu lassen, stärker. Ich war jetzt ebenfalls vollständig erregt. So sehr, dass ich das süße Ziehen in der Lendengegend nicht mehr ignorieren konnte und wollte. Ich spürte, dass ich nicht lange brauchen würde, wenn ich mir einen runterholen würde. Ich biss die Zähne zusammen, als seine Hand meinen Bauch berührte und anfing, mich dort zu streicheln. Warum machte er das? Warum quälte er mich so? Warum sagte er die ganze Zeit kein Wort zu mir? Still betete ich vor mich hin, während sein heißer Atem meinen Nacken streifte, dass er dennoch nicht merken würde, wie erregt ich ebenfalls war. Doch seine Hand blieb nicht dort, sondern wanderte weiter abwärts, während mein verräterisch schneller werdender Atem immer lauter und vor allem abgehackter wurde. Darian wird es gleich merken und ich kann nichts dagegen machen, dachte ich bebend und auch etwas in Panik geraten. Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, war seine Hand in meinen Shorts verschwunden … Die Scham stand mir ins Gesicht geschrieben, denn spätestens jetzt wusste Darian, was ich für ihn empfand. Er hatte mein heißes Glied mit seinen Fingern umschlossen, und während draußen das Wetter tobte, tobte hier drinnen ein Orkan meiner Gefühle, meiner Emotionen, meiner Lust und Liebe für ihn.  Seine Hand fühlte sich so gut an – so schrecklich verboten. Doch anstatt ihn davon abzuhalten, verharrte ich ruhig in meiner Position, ließ ihn machen, anstatt ihn von meinem Penis wegzuziehen und ihm zu sagen: „Dass es verkehrt ist“, tat ich nichts. Mein Herz konnte dabei nicht mehr lauter und schneller schlagen, wie jetzt in diesem Augenblick. Zusätzlich fühlte ich, wie er anfing, sich an mir zu reiben. Ich spürte durch den Stoff die Hitze, die von ihm ausging, fühlte seine heißen Finger an meinem Geschlecht, konnte es immer noch kaum glauben oder begreifen, dass er so hart und erregt war – wie ich. Darian kann unmöglich von mir erregt sein, das gibt es doch nicht? Nein, das kann nicht sein, oder? Die Gedanken wirbelten umher. Noch hatte er seine Finger ruhig um meinen Penis, der in seiner Hand zuckte und pochte. Ich wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber zu verhalten hatte. Ich war hilflos gefangen. Er hatte mich komplett in der Hand. Immer noch schwieg Darian und ich verlor ebenfalls kein Wort. Doch hätte ich sagen sollen: „Hör auf, oder mach einfach weiter?“ Ich wusste nicht, was richtig oder falsch war. Auch wenn er nichts sagte, sprachen auf einmal seine Taten Bände, denn er nahm nun seine Hand von mir und zog meine Hose über den Hintern, schob sie bis zu meinen Knöcheln. All das tat er ohne eine Gegenwehr von meiner Seite aus, im Gegenteil. Ich half ihm sogar, indem ich mich ganz aus meiner schwarzen engen Hose strampelte, die ich nun an meinen Füßen spürte. Als ich mich zu ihm umdrehen wollte, versucht war, ihn sogar zu küssen, wurde ich aufgehalten. „Nein!“, zischte er ungehalten. „Nicht“, und drückte mich in die Position zurück, in der ich vorher gelegen hatte. Wieder wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte, und blieb somit in der passiven Stellung. Doch Gedanken wie: Soll ich mich wehren, soll ich abwarten? Warum willst du nicht, dass wir uns küssen, wenn wir beide erregt sind und das Gleiche wollen?, waren stets präsent und brachten mich weiter aus dem Konzept. Mein Gefühlsleben war ein reiner Chaoshaufen. Ich wusste nicht mehr, was richtig oder falsch war, wollte mich meinen Gefühlen absolut hingeben, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Ob es mein Gewissen war oder der plötzliche Stimmungswandel meines Bruders, ich wusste es nicht. Als Darian mir plötzlich am Hintern herumfummelte und mir meine Hinterbacken auseinander drückte, trocken und ohne Vorbereitung versuchte, in mich einzudringen, wusste ich, dass dies der verkehrte Weg war. So sehr ich es mir gewünscht hatte, es fühlte sich falsch an. Mir blieb vor Schmerz schier die Luft weg und stieß einen schmerzlichen Laut aus, als er sich weiter in mich schob. Da versuchte ich, ihn davon abzuhalten, weiterzumachen. Aber ein: „Nein“ kam nicht über meine Lippen. Ich bockte nur, aber er war einfach stärker, hielt mich eisern fest und ich kam nicht gegen ihn an, während er sich Zentimeter für Zentimeter vorantrieb. So hatte ich mir mein erstes Mal wahrlich nicht vorgestellt. Ich meinte, innerlich zerrissen zu werden, was zur Folge hatte, dass meine Erregung sofort in seiner Hand erschlaffte. Es tat derart weh, dass mir unweigerlich die Tränen in die Augen schossen. Mein Bruder bemerkte jetzt erst meinen Schmerz, denn ich hatte ein weiteres gequältes Stöhnen von mir gegeben, das sich keinesfalls anhörte, als würde es mir gefallen. Da ich aber nicht ganz verweichlicht vor ihm wirken wollte, biss ich mir auf die Zunge, um weitere Laute zu unterdrücken. Darian stoppte plötzlich, verhielt sich ruhig, machte nicht weiter. „Wird gleich besser“, versprach er mir. Woher wollte er denn das wissen? Der Schmerz und das Gefühl, einen Eindringling in mir zu spüren, überwog das Ganze gewaltig, die Fürsorge empfand ich deplatziert. Doch bevor ich mir darüber den Kopf zerbrechen konnte, warum Darian dies alles machte, konzentrierte ich mich lieber auf den Schmerz, der noch immer allgegenwärtig war, und versuchte mich zu entspannen. Seine Hand streichelte unterdessen ganz sanft mein Glied und rieb mich, sodass ich unter seiner Reibung erneut hart wurde. Wieder wurde mein Gesicht feuerrot. Ich wollte etwas sagen, mich herausreden, dass alles doch nicht so war – mich mit einer Lüge retten. Die ganze Zeit über kreisten meine Gedanken um ihn und seine Freundin. Niemals hatte er mir Signale in diese Richtung gesendet. Nicht im Entferntesten! Er ist doch mein Bruder? Auf einmal rutschte Darian ganz in mich. Bevor ich Protest einlegen konnte, fing er an, sich in mir zu bewegen. Er hob mein Bein an, damit er besseren Zugang zum Stoßen hatte. Allmählich, ob ich wollte oder nicht, vermischte sich der Schmerz mit einer Lust, die über mich hereinbrach. Ich wurde wieder erregt. Sein Rhythmus wurde schneller und ich versank bald mit ihm in einem Einklang und über meine Lippen entwich ein Stöhnen, während er mich vorne zusätzlich massierte. Darian nahm mich hart ran und wichste mich, keuchte dabei in meinem Nacken immer schneller werdend. Ich ergoss mich sehr schnell in seiner Hand. Er selbst kam nach wenigen Stößen nach mir und hatte mein linkes Bein losgelassen. Ich spürte, wie sein heißes Sperma in mich geschleudert wurde, in meinen wunden Darm. Da erst wurde mir bewusst, dass er mich ohne Schutz gefickt hatte. Ja, gefickt, so kam ich mir vor. Darum ebbten die Nachwehen meines Orgasmus rasch ab. Ernüchterung hatte die Vorhand. Ich hatte mir das alles ganz anders ausgemalt. In meiner Vorstellung war es mit Darian romantischer, denn er küsste mich auf den Mund, stieß seine Zunge in mich, ließ mich trunken von seinen Zärtlichkeiten werden. Dass das erste Mal schmerzhaft sein würde, wusste ich von Erzählungen und aus Büchern, das hätte ich alles über mich gebracht. Auch wenn ich einen Orgasmus hatte, war es ein schmerzvoller gewesen, kein schöner, eher ein erlösender. Mein Körper hatte nur auf seine Reibung hin reagiert und weil ich ihn schon so lange wollte. Während Darian sich weiter an mich presste und den letzten Rest seines Höhepunktes voll auskostete, verhielt ich mich weiterhin still. Er blieb auch noch in mir, als es schon längst vorüber war. Ich spürte, wie sein Glied schlaff wurde und schließlich aus mir fast von selbst herausrutschte. Meine Tränen, die sich in meinen Augen angesammelt hatten, liefen ungehindert über die Wangen. Ich weinte geräuschlos in mich. Darian bemerkte meinen Schmerz nicht, nahm mein Zittern nicht wahr, welches über mich hereinbrach vor Scham und Enttäuschung. Unsere Leiber waren noch erhitzt und verschwitzt, er lag weiterhin eng an mich geschmiegt, hatte sich nicht auf die andere Seite gelegt. Sein Atem ging ruhig, zu ruhig für meinen Geschmack, und da wusste ich, warum er meine Trauer nicht mitbekommen hatte, er war eingeschlafen. Ich hingegen fand keinen Frieden. Der Schlaf stellte sich nicht ein. Zu viele Gedanken brachen über mich. Aufgewühlt und mit schmerzendem Hinterteil fuhren meine Gefühle Achterbahn. Ich fragte mich die ganze Zeit über, warum er es getan hatte, wenn er doch gar nicht auf Männer stand oder auf mich. Doch noch schlimmer war die Tatsache für mich, dass Darian zu seiner Stefanie bestimmt zärtlicher war, wenn er sie im Arm hatte, sie streichelte, sie ansah, wenn er sie küsste. All die Dinge, die hier gefehlt hatten. Die Tatsache, dass mein Halbbruder zu mir nicht sanft gewesen war, war für mich Schmach und Schande gleichzeitig. Ich kam mir weggeworfen vor. Stefanie und er hatten ein reges Sexleben. Das wusste ich, denn immer, wenn sie es miteinander trieben, verließ ich oftmals verbittert die Wohnung, oder setzte mir einen Kopfhörer auf, schaltete die Musik überlaut, die dann dröhnend die Geräusche übertünchte. Ich wollte und konnte es nicht mit anhören. Ihre ständigen Liebesschwüre, während sie sich nebenan im Bett rekelten, schnitten mir tief ins Herz. Ihr gemeinsames Stöhnen, wenn sie gleichzeitig gekommen waren, war des Guten zu viel. Nein, das konnte ich nicht mehr länger dulden. Seit Darians Freundin bei uns wohnte, war es für mich kaum zu ertragen, sie morgens am Frühstückstisch zu sehen, mit ihren geröteten Wangen und zerzaustem Haar, ein Shirt meines Bruders an, völlig verliebt mit ihm sich zu mir setzend, um gemeinsam zu frühstücken. Seit einer Woche hatte ich mein Frühstück im Zimmer eingenommen, oder es einfach ausgelassen.   Lange Zeit lag ich wach, lauschte den Naturklängen, die in die Hütte hereindrangen. Vernahm Darians schlafende, schnarchende Atemzüge. Als er eher unbewusst, nehme ich an, seine Hand auf meine Hüfte legte und den Kopf an meinem Rücken schmiegte, da hatte ich vor Schreck kurz den Atem angehalten. Ich wusste nicht genau, was ich fühlen sollte, außer der Enttäuschung und Schmerz. Alles in mir schrie, mich von ihm zu entfernen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Wie erstarrt lag ich neben ihm, und nach einer gewissen Zeit überkam mich endlich die erlösende Müdigkeit, nachdem meine Tränen versiegt waren. Die geröteten, brennenden Augen fielen mir zu. Ich träumte wirres Zeug – träumte von Darian. Hin und wieder wachte ich auf, wenn ich mir einbildete, ein Geräusch gehört zu haben, und ich meinte, eine Spinne auf mir herumkrabbeln zu spüren. Ich ekelte mich immer mehr, hier komplett die Nacht verbringen zu müssen, hier schlafen zu müssen. Allein der Gedanke an die Hüttenbewohner hinterließ bei mir einen Schauer nach dem anderen. Es fröstelte mich leicht, obwohl der warme Körper von ihm mich hätte wärmen sollen.   Die ersten Sonnenstrahlen drangen in das Innere der Hütte und kitzelten mich an meiner Nase. Mein Hals fühlte sich rau an und beim Schlucken spürte ich genau: Ich hatte einen wunden Hals. Außerdem war ich noch von etwas anderem außer von Halsbeschwerden geweckt worden: Die Kälte hatte mich geweckt, da Darian nicht mehr neben mir lag, vertiefte die Tatsache nur. Wie sollte ich mich ihm gegenüber verhalten? Scham stieg in mein Gesicht, ließ meine Wangen erglühen, als mir die Tatsache bewusst wurde, dass ich immer noch nackt im Schlafsack steckte und ich noch nicht einmal meine Unterhose angezogen hatte. Auf meinem Bauch und auch die Decke zierten Reste getrockneten Spermas. „Morgen“, nuschelte ich, um die unheilvolle Stille von mir aus zu unterbrechen. „Steh auf – das Wetter ist gut für die Heimkehr“, war die barsche Antwort. Kein ‚Guten Morgen‘, nichts. Heimkehr? Ich drehte mich zu ihm, setzte mich dabei auf und verzog das Gesicht vor Schmerz, als sich mein Hintern meldete. Ich fluchte und sah ihn beinahe vorwurfsvoll an. Die verhärteten Gesichtszüge von Darian signalisierten mir keine gute Stimmung. Kalt und abweisend waren seine Augen und genauso seine ablehnende Körpersprache. Ich war doch derjenige, bei dem man sich eigentlich entschuldigen müsste, oder? Trotzdem nahm ich all meinen Mut zusammen, schluckte meinen ebenfalls aufkommenden Ärger hinunter. Ich erhob mich und zog mir meine Unterhose vor seinen Augen an und wischte mir mit einem Zipfel der Decke, die getrockneten Spermareste vom Bauch. Hinten würde ich mich sauber machen, wenn ich zu Hause war. Ich sah kurz auf meine Schenkel. Eine kleine eingetrocknete Blutspur zierte meinen linken Oberschenkel. Wie ich vermutet hatte, hatte ich geblutet. Bluteten Frauen bei ihrem ersten Mal nicht auch?, dachte ich traurig. Als ich mich einigermaßen gereinigt fühlte, schaute ich ihn wieder an. Ich registrierte, dass Darian komplett angezogen vor mir stand, da nahm ich all meinen Mut zusammen. „Warum hast du das getan?“, fragte ich und versuchte, mir nicht die Enttäuschung, Frust und den Schmerz anmerken zu lassen. Er betrachtete mich abschätzend und gab mir zunächst keine Antwort. Ich konnte mir denken, dass meine Haare zerzaust und meine Augen aufgequollen aussahen. Ich gab mit Sicherheit ein jämmerliches Bild ab. Darum versuchte ich mich abzulenken, indem ich meinen Kamm aus dem Rucksack hervorholte, mich wieder auf meiner Schlafstatt niederließ und mich zu kämmen anfing, bis Darian sich endlich dazu äußerte. „Warum hast du es denn zugelassen, hm?“, kam die schroffe Gegenfrage, worauf mir der Kamm aus der Hand fiel. Ich sah ihn zuerst vor Überraschung mit großen Augen an, aber dann wurde ich wütend. Wie konnte man nur so gemein sein? „Was ist mit Stefanie?“, fauchte ich brüskiert zurück. Er ging nicht auf meine Frage ein: „Seit wann weißt du, dass du eine Schwuchtel bist?“ Schwuchtel? Der Schock saß tief. Das war ich also für ihn. Ein warmer Bruder, nicht mehr. Die Bezeichnung traf mich hart. Härter, als ich mir das jemals eingestehen konnte und wollte. Darian stand zornig vor mir, während ich immer noch in Unterhose dasaß und mich nicht mehr bewegen, geschweige denn meinen Kamm wieder in die Hand nehmen konnte, zutiefst hatten seine Worte mich getroffen. „Seit wann, Bruder?“, fragte er ein zweites Mal und voller Verachtung. Schwuchtel! Das Wort pochte gegen meine Schläfe. Darian würde von mir nichts mehr erfahren. Ich wollte nicht darüber reden, kam mir dreckig vor, wie der letzte Mensch. Das Schlimme an der ganzen, verfahrenen Situation war, dass ich mir, dank ihm, auch noch schuldig vorkam, obwohl er sich eigentlich bei mir entschuldigen müsste. Ich stand auf. Die morgendliche Kälte ignorierend, drehte ich mich von ihm weg und ging auf meine Klamotten zu, die immer noch über dem Stuhl hängend, feucht aussahen. Die Nacht war zu kalt gewesen, als dass sie hätten richtig trocknen können. Egal! Mein Hals schmerzte beim Schlucken. Ich wollte gerade nach meinen Sachen greifen, da wurde ich grob von ihm am Arm gepackt und herumgewirbelt, sodass ich bereits wie am Vortag an seine Brust knallte. Doch anstatt mich erst einmal in einem sicheren Stand zu wissen, setzte er gleich einen Sicherheitsabstand zwischen uns, als ob er sich vor mir ekeln würde, aber immer noch so, dass er mich am Arm festhielt, worauf ich nicht wirklich fallen konnte. Meine Beine waren weich wie Pudding. Darians Blick war verhärtet, seine grünen Augen eiskalt auf mich herabblickend. „Seit wann weißt du es, Jaden? Los, mach deinen verdammten Mund auf, sonst kann ich für nichts garantieren.“ Er verstärkte seinen Griff um den rechten Oberarm, dass es schmerzte. „Hast du mir gestern Nacht nicht genug wehgetan?“, setzte ich mich endlich zur Wehr. Der Schmerz darüber, wie er mich wie ein Tier genommen hatte, nahm überhand. Ich spielte auf meine Verletzung an. Ich würde zwar keinen Arzt brauchen, das nicht, aber mein Schließmuskel pochte, wenn ich nur daran dachte. Darian ging nicht auf meine Frage ein, sondern drohte mir weiter. „Jaden, ich frage dich ein letztes Mal. Seit wann weißt du es?“ Er hob Unheil verkündend seine freie Hand, wollte zum Schlag ansetzen, da riss ich mich von ihm los, taumelte einen Schritt zurück, fing mich aber rechtzeitig. „Schlägst du mich wieder, weil ich schwul bin?“ Da ließ er seine Hand sinken. Nun hatte ich mich doch vor ihm geoutet. „Seit wann?“, fragte er jetzt leiser nach und ich gab nach. „Seit ich 13 bin, eigentlich seit ich dich, zum ersten Mal, an unserer …“ Ich kam nicht weiter, konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn Darian hatte mir eine schallende Ohrfeige verpasst, von der ich völlig überrascht wurde. „Du dreckige Schwuchtel. Ich werde allen sagen, was du bist, vor allem Vater“, schrie er und war außer sich vor Zorn. Ich rieb mir die Wange, die sofort warm wurde und schmerzte. Konnte ich noch geschockter sein als jetzt? Gab es noch eine Steigerung zu dem hier? Die Angst, vor anderen aufzufliegen, überwog den Schmerz. Ich war in der Familie nicht geoutet, nur vor Susan und jetzt vor ihm. Susan hatte es, bis eben, als Einzige gewusst. Nein, es durften nicht mehr Leute erfahren. Schon gar nicht meine Familie. Die Panik, mich vor allen zu rechtfertigen, der Schmach ausgesetzt zu werden, nahm überhand. „Bitte nicht, Darian. Ich beschwöre dich, bitte, sag es keinem“, fing ich zu betteln an, dann sprach ich ihn auf das an, was mich am meisten beschäftigte. „Warum hast du dann mit mir …?“ Ich brach schockiert ab, als ich seinen verächtlichen Laut hörte. „Warum? Bilde dir darauf ja nichts ein. Ich hatte Bock drauf und mir fehlte meine Freundin. Außerdem, Loch ist Loch.“ Die Worte meines Bruders trafen mich wie ein Felsbrocken. Die Feststellung, dass es eigentlich nichts Schlimmeres gab, so bezeichnet zu werden, bekam eine neue Bedeutung. Ich hätte niemals geglaubt, dass er so gemein zu mir sein könnte. Ich wurde in den wenigen Minuten von meinen eigenen Gefühlen für ihn zerquetscht, oder zermalmt und zu Boden gedrückt. Einen tieferen Fall konnte er mir nicht bescheren. Und die zweite Ohrfeige, die ich innerhalb von 12 Stunden kassiert hatte, war zu einer Nebensache geworden. Zu tief saß nun der Seelenschmerz, nur als ein Loch für seine Befriedigung fungiert zu haben. Meinen eigenen Bruder unterschätzt, wollte ich nur noch eines: Sterben!                 ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 4: -----------   ~°~4~°~   Darian hatte mich nach seinen vernichtenden Worten stehen gelassen und packte seinen Rucksack ungehemmt von meinem geschockten Zustand weiter ein. Er tat so, als wäre ich Luft. Aber dann drehte er sich zu mir um und eine gewisse Hoffnung einer Entschuldigung keimte in mir auf. Was dann kam, ließ mich noch mehr frieren. „Ich hoffe, ich habe mir kein Aids geholt.“ Blass sah ich ihn an, verneinte, indem ich mit dem Kopf schüttelte. Ich war sauber, und er? „Wehe, Bruder, ich habe mir was geholt bei dir? Dann ...“, drohte er erneut. Durch seine verletzenden Worte wie betäubt, und zu keinem Wort in der Lage, zog ich die feuchten Klamotten an, spürte kaum die klamme Kälte der Sachen und selbst das Kratzen im Hals nahm ich nur noch am Rande wahr. Ich wusste, mir stand eine fette Erkältung bevor, denn die Nase lief ununterbrochen. Ich schniefte. Wie konnte er nur denken, dass ich mir diese Krankheit hätte holen können, vor allem, mit wem? Trotz, dass mein Magen zu knurren anfing, da er nach Nahrung schrie, würde ich in dieser Situation nichts herunterbringen. Nicht so. Nach Essen stand mir wirklich nicht der Sinn und ignorierte die Signale meines Körpers. Stumm schaute ich ab und an zu Darian, der versunken in Gedanken, alles wieder ordentlich einpackte. Dabei würdigte er mich keines Blickes mehr, als ob ich für ihn Luft wäre. Obwohl ich psychisch völlig neben der Spur stand, packte ich selbst meine Sachen zusammen. Auf keinen Fall wollte ich, dass er das auch noch für mich tun musste. Es fiel in dieser Zeit kein einziges Wort zwischen uns. Die ganze Zeit über fühlte ich mich, je mehr die Zeit verstrich, ungerecht behandelt. Was hatte ich ihm denn wirklich getan? Er war es doch, der mir Leid zufügte, nicht umgekehrt. Als die Rucksäcke gepackt waren, fing ich das Gespräch von mir aus an. So stellte ich mich vor ihm hin, als er gerade seine Schnürsenkel zuband. Er bemerkte meine Anwesenheit und richtete sich auf. Doch anstatt mich anzusehen, sah er einfach weg. „Warum bist du so gemein zu mir?“, fing ich an. Es kostete mich immense Kraft, nicht dabei weinerlich herüberzukommen. „Was habe ich dir denn getan?“ Ich kämpfte mit meiner Enttäuschung, als von ihm gar nichts kam, im Gegenteil, mein Frust über diese Lage, nahm zu. Darian ließ mich stehen, ignorierte mich weiterhin, als ob ich Luft für ihn wäre, beugte sich zu seinen Wanderschuhen und zog die Senkel fester, als ob es das Wichtigste auf Erden wäre, und kehrte mir als krönenden Abschluss den Rücken zu. Da ergriff ich erneut die Initiative und fasste ihn am Jackenärmel. Was konnte mir noch passierten, außer dass ich wieder geschlagen werden würde? Zischend drehte er sich zu mir um, sah mich mit seinen grünen Augen wütend an. Doch als er etwas sagen wollte, klingelte sein Handy. Wir hatten wieder Netz und er nahm das Gespräch entgegen. Mist. Gerade jetzt! Und wer anrief, konnte ich an einer Hand abzählen. Stefanie. Seine erhellte Miene verriet es mir. „Hi Steffi, meine Süße.“ Mir war hundeelend zumute. Erstens, weil er so fröhlich dabei klang, zweitens saß die Angst tief im Nacken, dass er mich verraten würde. Denn seinen Ausrutscher, da war ich mir gewiss, den würde er vor seiner Freundin nicht gestehen. Ich kam mir weggeworfen vor und hörte paralysiert dem Gespräch widerwillig zu. „Das Wetter war so schlecht … Ja, wir haben eine Schutzhütte gefunden … Nein, wir kommen heute zurück, hat keinen Sinn, unsere Wanderung fortzuführen. Die Wege sind zu unsicher, zu rutschig … Nein, es ist alles in bester Ordnung … Wir haben uns vertragen … Ja, es hat was genutzt.“ Alles in Ordnung? Zwischen Darian und mir? Mir wurde alleine bei seinen Worten schlecht. Ich schulterte wütend wegen seiner Lüge meinen Rucksack, ließ ihn alleine zurück und öffnete die Tür, trat aus der Hütte. Die Sonne schien auf mein Gesicht. Von wegen schlechtes Wetter? Ich sah auf einen wolkenlosen Himmel. Und mit jedem Sonnenstrahl mehr erwärmte sich die Luft zunehmend. Der Schnee war so gut wie weggeschmolzen. Ich sah auf meine Uhr, es war kurz nach zehn. Ich schaute mich um, stellte fest, dass die Hütte auf einem Sattel gebaut worden war, der hoch oben lag und von zwei Bergen eingekesselt wurde. Eines war sicher: Wir hatten einen langen Abstieg vor uns. Der Drang, alleine hinunterzugehen, war groß, doch die Angst mich zu verirren, alleine durch die Wälder zu streifen, ließ mich zu einem Feigling werden. Darum schob ich den Fluchtgedanken beiseite. Instinktiv fasste ich nach meiner Wange, die sich wieder normal anfühlte. Die Narben jedoch, die mir mein Bruder hinterlassen hatte, waren tief und würden lange Zeit nicht heilen. Dass ich etwas ändern musste und so nicht weitermachen konnte, wusste ich mit jeder Minute, die voranschritt, während Darian immer noch mit Stefanie telefonierte. Seine Stimme, wie auch sein Lachen, hörte man bis nach draußen. Wie ich seine aufgesetzte Fröhlichkeit hasste, da es mein Herz nur noch mehr bluten ließ. Ich fasste einen Entschluss, einen neuen Weg einzuschlagen, mich von meinem Bruder zu trennen, sobald wir zu Hause waren. Ich hoffte, ich brachte auch die Kraft dazu auf, denn im Moment fühlte ich mich zu schwach dafür. Da es bei Darian anscheinend noch länger andauerte, drehte ich in der Zwischenzeit eine Runde um den Sattel. Der Anblick der Natur war atemberaubend. Das Bergmassiv beeindruckend. Ich hätte all dies genießen können, doch konnte ich mich an der Schönheit der Natur nicht erfreuen, zu sehr war ich verletzt worden. Ich wandte mich der Natur ab und der Hütte zu, sah, wie Darian rauskam und zu mir schaute, da wusste ich: Ich würde ihn trotzdem immer lieben. Wie er vor der Hütte stand, mit dem Rucksack auf dem Rücken, der klare Blick zu mir und der nun weiche Gesichtsausdruck. Schlagartig verflüchtigte sich das etwas positive Gefühl, weil mir klar wurde, dass diese Wärme in seinem Gesicht, der Blick eben, keinesfalls mir galt, sondern noch von dem Gespräch mit seiner Freundin herrührte. Auch wenn ich ihn so sehr liebte, so hasste ich ihn zugleich für das, was er mir angetan hatte. In diesem Moment spürte ich die gestrige Vereinigung, fühlte ihn in mir, wie ein Pfahl mit Dornen – die Strafe Gottes? Die Strafe dafür, dass ich schwul bin und auch noch die inzestuösen Gedanken hegte, ihn immer noch zu lieben, auch wenn ich ihn mehr hassen müsste. Meinen Schmerz darüber konnte ich kaum in Worte fassen. Ich riss mich zusammen. Fassung, ja, das war es, was ich zu bewahren versuchte, obwohl meine Seele um Hilfe schrie, mein Leid immer größer wurde, und die Enttäuschung in meiner Brust mich schier erdrückte. Bring dich auf andere Gedanken – „Loch ist Loch“, sprang in mein Gedächtnis. Wie blanker Hohn hallte seine Stimme in meinem Kopf. Ich war für Darian nur ein „Loch“, und genau in ein solches war ich gefallen – in mein eigenes. Ich fühlte mich beschissen.                   ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 5: -----------   ~°~5~°~   Seit wir aufgebrochen waren, fiel zwischen uns kein einziges Wort mehr. Keine Entschuldigung oder Reue von seiner Seite aus, wegen seiner gemeinen Worte oder der insgesamt zwei Ohrfeigen – von der Vergewaltigung ganz zu schweigen. Nichts dergleichen geschah. Ich lief kraftlos hinter ihm her. Meine Sachen trockneten allmählich, aufgrund der Sonnenstrahlen und meiner Körperwärme. Und doch wurde es mir nicht warm. Ich war innerlich kalt, wie abgestorben. Ab und zu meldete sich der Hals und mir lief ständig die Nase. Dauernd musste ich sie putzen, was selbst mich nervte, denn langsam gingen mir die Taschentücher aus. Zudem kam zu den Halsschmerzen noch ein leichter Husten dazu. Auch wenn ich zwischendurch kleine Schlucke aus meiner Wasserflasche trank, um den Hustenreiz abzumildern, half es nur für einen kurzen Moment. Aber irgendwann war die Flasche leer und ich packte sie in den Rucksack. Unglücklich über die ganze Situation lief ich missmutig hinter Darian her, der nicht einmal stehen geblieben war, um nach mir zu sehen, ob es mir einigermaßen gut ging. Nach einer frischen Flasche Wasser wollte ich ihn nicht fragen und so blieb es für den Rest des Weges zwischen uns weiterhin schweigsam, nur ab und an durchschnitt mein Husten die Stille. Der Abstieg zog sich auf eine bizarre Art und Weise hin. Kaugummimäßig, ja das traf es eher, wenn man einen Vergleich ziehen wollte. Die Zeit schien still zu stehen, der Weg unendlich. Kam er mir gestern schon lang vor, war der Rückweg dagegen noch schlimmer, wie ich fand. Jeden Stein, Wurzel, Pflanze oder Baum, an dem wir vorübergingen, schaute ich mir genau an und listete in Gedanken die Namen und Arten auf. Ich tat alles, um mich abzulenken und nicht zu meinem Bruder schauen zu müssen, während wir talabwärts gingen. Zudem musste ich höllisch aufpassen, unter keinen Umständen auf dem Weg auszurutschen, da er noch matschig vom geschmolzenen Schnee und ich nicht ganz sicher auf den Beinen war. Inständig hoffte ich, dass mir mein Körper nicht versagte und ich nicht vor Darian zusammenbrechen würde. Daher zwang ich mich, tapfer zu bleiben, versuchte weiterhin die Contenance zu wahren, den Schmerz zu unterdrücken, wie auch die Wut auf ihn. Richtig Rast, außer einer Pinkelpause, machten wir in der Zeit nicht, auch wenn einer von uns vielleicht was essen wollte oder eine kleine Verschnaufpause benötigte, führten wir unseren Weg unweigerlich fort. Darian machte auch keinerlei Anstalten, zu fragen, ob ich überhaupt Hunger hätte oder ich eine kleine Pause bräuchte. Er lief einfach weiter. Zwar in einem gemächlichen Tempo, doch die Art, die er mir gegenüber hatte, störte mich. Die Kälte, die zwischen uns war, wurde mit jedem Schritt stärker. Neben den vielen anderen Gedanken, die ständig präsent waren, fiel mir erneut das Handygespräch ein, das er mit seiner Freundin geführt hatte. Sofort ging es mir nahe und die Traurigkeit nahm zu. Wie konnte man nur so verlogen sein und seine Freundin hinters Licht führen? War Darian vielleicht schon immer so gewesen und ich hatte es vor lauter Schwärmerei nicht wahr haben wollen? Ich war völlig durcheinander, was das Verhalten von Darian anging. Die Wut kehrte verstärkt zurück, als ich an seine beiden Ohrfeigen zurückdachte. Unbewusst griff ich daher an meine Wange, bildete mir ein, den Abdruck darauf noch fühlen zu können. Darian merkte von all meinen Gefühlen nichts, lief stetig voraus. Er hatte sich bis jetzt kein einziges Mal zu mir umgedreht, wenn ich mir laut die Nase schnäuzte oder husten musste, so sah er nicht, wie schlecht es mir ging. Er fragte auch nicht nach. Warum redete er nicht mit mir? Warum gab er mir das Gefühl, ich hätte an allem Schuld? Ich wollte dem Ganzen ein Ende setzen, dass unsinnige Schweigen, was zwischen uns herrschte, unterbrechen. „Darian!“ Ich hielt an, in der Hoffnung, er würde es merken und ebenfalls stehen bleiben. Doch Darian lief konstant weiter. Da rief ich ihm erneut hinterher: „Darian! Bleib doch stehen! Wir müssen reden! Weißt du eigentlich, wie es mir geht?“ Mir geht’s beschissen!, fügte ich gedanklich als Antwort hinzu. Meine Aufforderung fand Gehör, denn endlich hielt Darian an und drehte sich um. Seine Augen sahen mich kalt und abschätzend an. Seine Körperhaltung war ablehnend und steif. Aber hinter seiner Stirn arbeitete es gewaltig. Er hatte sie in Falten gelegt. „Wir sollten weitergehen … Es ist alles gesagt.“ Sein Gesicht hatte sich dabei verdunkelt. Alles gesagt? Nichts war gesagt! Gar nichts! Darian setzte tatsächlich seinen Weg fort, hielt nicht an, während ich ihm mit weit aufgerissenen Augen hinterher starrte und kein weiteres Wort mehr über die Lippen brachte. Jedoch verlangsamte mein Bruder seine Schritte, als er merkte, dass ich nicht gleich nachkam. Um den Abstand zwischen uns nicht zu groß werden zu lassen, setzte ich mich endlich in Bewegung und starrte verbittert auf seinen Rucksack. Sollte ich nun dankbar sein, dass er indirekt auf mich wartete? Warum wollte er nicht mit mir reden? Schließlich gab ich es auf, es weiter probieren zu wollen und trottete, mit einem Chaos an Emotionen in mir, hinter ihm her. Nach gefühlten Stunden kamen wir endlich auf unseren ursprünglichen Weg zurück. Wie ich vermutet hatte, war Darian an der falschen Abzweigung abgebogen und hatte uns so in die Irre geführt. Ich wünschte für mich, man könnte die Zeit zurückdrehen und wir hätten gestern den richtigen Pfad gefunden, dann wäre all dies zwischen uns bestimmt nicht passiert. Zwar wäre meine Sehnsucht weiterhin beständig gewesen, aber es wäre bei einer geblieben und ich würde mich nicht schmutzig und ausgenutzt fühlen. Wir setzen unseren Weg unbehelligt fort, der langsam abtrocknete und begehbarer wurde. Einzelne Zweige knackten unter unseren Sohlen. Irgendwann hatten wir unser Ziel vor Augen. Ein Parkplatz unten an der Berg- und Talbahn, der gestern auch unsere Startposition der Wanderung gewesen war. Die Bahn war nicht in Betrieb und stand still. Sie fuhr wegen Revision nicht und wurde für den Winterbetrieb vorbereitet. November war nun mal keine Urlaubszeit. Noch sah man das Ganze als kleines Bildchen. Ein Auto parkte einsam mitten auf dem Platz, daneben zwei Frauen, die sich unterhielten. Ich erkannte Darians Freundin und Susan, auch wenn sie noch sehr winzig aussahen. Da wusste ich, wir wurden erwartet und dass das Darians Werk war, uns abholen zu lassen. Die Frage hatte ich mir eh vor wenigen Minuten gestellt, wie wir nach Hause hätten kommen sollen, wurden wir gestern schon von Stefanie gefahren. Der rote Peugeot 207 SW, der neben ihnen stand, stach mir zudem ins Auge. Doch was wollte Susan hier? Noch sahen die beiden eher wie zwei Ameisen aus, die alleine neben dem Auto standen. Aber umso mehr wir an Höhe und Distanz hinter uns ließen, umso größer wurden sie. Stefanie und Susan winkten uns, als sie uns entdeckten. Ich grübelte immer noch, warum Susan mitgekommen war. Dann schüttelte ich den Kopf. Sie waren Freundinnen, daher hatte Stefanie sie bestimmt angerufen. Kaum waren wir unten, empfing Stefanie sofort meinen Bruder mit einem Strahlen im Gesicht. Auf mich wartete Susan mit einem misstrauischen Blick in ihren Augen. Als sie mich umarmte, versteifte ich mich ungewollt. Sie ließ mich erstaunt darüber los, ging auf Abstand und wollte etwas sagen, da wurde sie von Stefanie abgelöst. „Ich weiß gar nicht, was ihr habt, das Wetter ist doch super.“ Das Wetter heute war wirklich klasse, ganz im Gegensatz zu gestern, wenn auch immer noch kühl. Doch passte es nicht zu meiner Weltuntergangsstimmung. Ich hätte mir lieber wieder einen Schneesturm herbeigewünscht, der mich in eine andere Zeit, eine andere Welt oder in den Tod davonwehte. Meine Gedanken blieben düster. „Ich hatte einfach Sehnsucht nach dir, Stefanie“, säuselte Darian in üblicher Manier. Er strich sich über seine blonden Haare und machte einen äußerst verliebten Eindruck, was mir sofort übel aufstieß. Seine Stimme, die ich seit über vier Stunden das erste Mal wieder zu hören bekommen hatte, verursachte zudem noch eine Unruhe und eine unbefriedigende Sehnsucht, wie auch Hass. Ich wandte mich angewidert ab, wollte hier nur noch weg. „Ich will nach Hause“, sagte ich, drehte meinen Kopf in deren Richtung. Dabei versuchte ich so ruhig und sachlich zu wirken, wie es nur ging, doch war ich alles andere als das. Das Wetter war für meine Laune einfach nur noch widerlich. Denn die Sonne schien mir voller Enthusiasmus ins Gesicht, als würde sie sagen wollen: „Schwamm drüber, er ist dein Bruder, er musste so reagieren, er hat dies alles nicht so gemeint. Jetzt genieße meine Sonnenstrahlen.“ Ich hätte kotzen können. Das war noch lange kein Grund, mich zu vergewaltigen – mir so weh zu tun. Vergewaltigt? Ja, das hatte er getan. Die ganze Zeit über hatte ich noch nicht einmal über das Wort nachdenken, geschweige denn es aussprechen können. Eine Tatsache, die ich seit dem Abstieg einfach verdrängt hatte. Ich wurde ungewollt blass um die Nase herum. Mein Kreislauf sackte beinahe in den Keller. „Jaden, du siehst etwas blass aus, hat dich dein Bruder doch herumschikaniert?“ Stefanie erschreckte mich mit ihrer Frage und knuffte dann Darian in den Bauch, der theatralisch versuchte, mit seinem schweren Rucksack diesen erfolglos abzuwehren. „Du hast mir versprochen ...“, wandte sie sich an ihn, der sich daraufhin mit einem schmollenden Gesicht seine Seite rieb, „... dass euer Verhältnis besser werden würde.“ „Ich hab nichts versprochen und es ist alles in Ordnung“, verteidigte sich Darian sofort, als er merkte, dass ich immer noch nicht darauf geantwortet hatte. „Ach ja?“ Seine Freundin beäugte mich mit Misstrauen und Darian gefiel es ganz und gar nicht. Ich sah ihn mit glasigen Augen an. Ich wollte was sagen, doch blieben meine Lippen versiegelt. Denn lügen konnte ich nicht und darum überließ ich das Ganze meinem Bruder. Denn der konnte es immer besser. „Wessen Idee war es denn? Doch deine und die von Susan“, sagte er nochmals mit Nachdruck. „Na und“, warf Stefanie ein. „Euer Verhältnis …“ „Ach was“, ging mein Bruder dazwischen. „Zwischen Jaden und mir … stimmt alles.“ Er räusperte sich, brach den Blickkontakt zwischen uns ab. Ich hingegen hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Denn etwas überraschte mich an seinen Lügengeschichten, dass seine Stimme dabei nicht mehr ganz so gefestigt klang. Konnte dies bedeuten, er zeigte Reue und es würde ihm leidtun? Ach was! Ich klammerte mich wirklich an jeden Strohhalm und das ärgerte mich. „Stimmt das, Jaden?“ Stefanie lächelte gekünstelt, überspielte das Ganze, als ich nicht sofort antwortete. „Eine Erkältung, mehr nicht“, sagte ich schließlich und sofort stellte sich wie auf Kommando der Husten ein und meine Nase lief, sodass ich von Susan sofort ein Taschentuch bekam. Dankbar darum nahm ich es entgegen, konnte ihr aber nicht in die Augen sehen. Das musste ich nicht vorspielen, das andere hingegen … „Stef, siehst du, sag ich doch, er hat sich was eingefangen in den Bergen. Es war gestern wirklich ein schreckliches Wetter“, meinte Darian einen Tick zu freundlich und setzte ein Lächeln auf, das charmanter nicht sein konnte. Ich sah zu ihm und verstand nicht, wie man so sein konnte. Wenn ich noch gedacht hatte, er hätte doch Gefühle für mich, so wurden sie mit dieser Mimik und der Verliebtheit gegenüber Stefanie mit einem Schlag vernichtet. Meine Sinne hatten mir einen schlimmen Streich gespielt. Susan, die noch kein Wort gesprochen hatte, sah mir gleich an, dass mit mir etwas nicht stimmte und es nicht die Erkältung war. Ich sah es in ihren Augen. Doch wollte ich ihr dieses Mal nichts erzählen. Ich ließ mir eine Lüge einfallen und erzählte ihr nur, als wir kurz alleine waren und die beiden schon im Auto saßen, dass ich mich in den Gefühlen für Darian geirrt hätte. Sie fragte leise nach und ich antwortete ihr. „Wir haben alles geklärt, ich bin froh, mich geirrt zu haben“, sagte ich zum Abschluss und legte meinen Rucksack in den Kofferraum und schlug ihn unsanft zu. Ich war total überfordert von meiner Lüge. Ich habe mich nicht geirrt, ich liebe ihn immer noch. Und dennoch kann ich ihm nicht verzeihen. Ich hasste Lügen, aber in diesem Fall musste es sein. Nein, es war genau richtig, Susan anzulügen. Doch forderte es seinen Tribut. Ob sie mir die Geschichte allerdings abgekauft hatte, stand auf einem anderen Blatt. Dieses Mal konnte ich keine Rücksicht nehmen. „Ich glaub dir nicht. Du warst so in ihn verliebt“, zischte sie leise, damit die anderen nichts mitbekamen. Sie spürte, dass sie bei mir nicht weiterkam, denn ich presste fest meine Lippen aufeinander, versuchte mir nichts anmerken zu lassen, um nicht doch die wahren Worte zu sagen. „Können wir nun endlich losfahren“, murrte Darian und hatte die Scheibe heruntergekurbelt. „Ja“, antwortete ich. Wir stiegen hinten ein und fuhren nach Hause. Susan wohnte in der gleichen Straße. Die ganze Autofahrt über redete Stefanie am laufenden Band. Ja, reden, das konnte sie gut.   „Kopf hoch, er ist es nicht wert, es gibt noch andere Männer. Ich wäre da auch noch und nicht nur als Alibi“, sagte Susan, als wir alleine am Auto standen. Sie hatte ihren Blick gesenkt, die Wangen waren gerötet, die Haare nach vorne gefallen. Arme Susan, wenn ich doch nur könnte! Sie tat mir leid, aber ich konnte keine Bindung mit ihr eingehen, auch wenn ich wusste, dass sie mehr für mich empfand. Ich stand nicht auf Frauen. Das war das Einzige, was ich noch immer wusste, doch konnte ich mich auf Männer noch einlassen? Konnte ich das wirklich, nachdem mir das passiert war? Susan sah mich merkwürdig an. Ihre graugrünen Augen erforschten mich. Ich seufzte und strich ihr mit meiner Hand über die Wange und ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Sollte ich ihr vielleicht doch sagen, was vorgefallen war? Wäre es nicht besser, darüber zu sprechen? Kurz haderte ich mit mir, dann entschied ich mich dagegen. Ich wollte sie nicht noch mehr damit reinziehen. Susan war auch mit Stefanie befreundet und sie hatte ihr gegenüber schon genügend Geheimnisse wegen mir. Zwar mochte ich den Brummer nicht, doch unfair war Darians Freundin nie zu mir gewesen. Ich war nun mal eifersüchtig auf sie. Und die Konkurrenz durfte man nicht mögen, nicht in meinem Fall. „Es wird schon, ich werde über ihn hinwegkommen, versprochen.“ Ich umarmte sie, drückte sie an mich. Susan wollte noch mit zu mir, ich konnte aber nicht, wollte alleine sein und verneinte, schob Müdigkeit, aber auch berechtigterweise die Erkältung, die ich mir wirklich eingefangen hatte, vor. „Melde dich, ja?“ Die Sorge war weiterhin in ihrer Stimme zu hören. „Ja, mache ich.“ Schließlich ließ sie mich schweren Herzens alleine. Gedankenversunken sah ich ihr nach. Der Gang zur Wohnung fiel mir schwer. Die Tür stand offen. Darian war sich anscheinend umziehen gegangen, nur Stefanie sah mich nachdenklich an, als ich sie noch im Flur antraf. „Wollte Susan nicht mit?“ Ich schüttelte den Kopf. „Es war keine gute Idee, stimmt’s?“, fragte sie leise. Wieder nur ein Kopfzeichen, dieses Mal ein Nicken, dann hustete ich wie auf Kommando, um nicht sprechen zu müssen. Ich wollte ihr einfach nicht antworten. „Dusch erst einmal heiß, ich mach einen Tee für dich.“ Sie war freundlich, zu freundlich, um sie ganz zu hassen. „Den kann ich mir schon selbst machen, danke!“ War alles, was ich darauf erwiderte. Ich wusste, ich war unfair, klang schroff und ablehnend. „Bemuttere ihn doch nicht, er kann das alleine“, mischte sich Darian ein, als er sich frisch umgezogen zu uns gesellte. Sein Blick war mir gegenüber verschlossen, als ob ich nicht da wäre. Die Hände waren in der Hosentasche vergraben, eine Eigenschaft, die er oft machte, wenn er weg wollte. „Lass uns ausgehen“, wandte er sich Stefanie zu und ich hatte recht behalten. War er denn nicht müde? Ich spürte jeden einzelnen Knochen und der Muskelkater, den ich gut verdrängt hatte, kam mit voller Wucht zurück, als ich den Gedanken daran zuließ. Galant nahm mein Bruder Stefanie in die Arme, die mit ihrer lila Chiffonbluse und ihren engen dunklen Jeans alle Sinne auf sich zog. Ich aber hatte nur Augen für meinen Bruder, der mich immer noch keines Blickes würdigte. Stefanie bemerkte meine brennenden Blicke zum Glück nicht. „Lass uns hier endlich abhauen“, sagte er mit aller Deutlichkeit und küsste sie vor meinen Augen. Ich stand nur da und sah zu. Mein Herz zerbrach nun endgültig. Musste ich mir das wirklich antun? Ich ließ die beiden Turteltäubchen einfach stehen, schlurfte mit meinem Rucksack in mein Zimmer und schmiss ihn wütend in die Ecke, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Ich konnte das rote Teil nicht mehr sehen. Als ich in die Küche gehen wollte, sah ich, dass sie immer noch im Flur standen und herumknutschen. Stefanie sah mich kommen und hielt Darian auf. Sie musterte mich von oben bis unten. Dass ich mich noch immer nicht umgezogen hatte, missfiel ihr. Noch nicht mal die Stiefel hatte ich ausgezogen und die waren nicht gerade sauber, hinterließen weitere braune Abdrücke auf dem Laminat. Stefanie verzog das Gesicht, doch dann wurde ihr Blick weicher. „Du solltest aus den Sachen raus“, bemutterte sie mich. Nun verzog ich das Gesicht. Ich wollte einfach meine Ruhe haben. Was war da so schwer zu verstehen? Sie konnte im Prinzip nichts dafür, doch gab ich ihr die Mitschuld an meinem Leid. Warum waren die beiden überhaupt noch hier? Um mich zu ärgern? Bald würde ich die Fassung nicht mehr wahren können. Es fiel mir immer schwerer. „Ja, Mum“, sagte ich gehässig, sodass Darian endlich zu mir schaute. Meine Hände verkrampften sich unter seinen Blicken. Seine Freundin verlor keinen Ton mehr, doch wunderte sie sich immer mehr über mich. Ich fuhr mir angestrengt über das Gesicht. Das war nicht mein Problem. Warum hatte Stefanie hier einziehen müssen? Warum gab es überhaupt Darian? Sie sah zu ihrem Freund, schüttelte verwundert den Kopf. Mein Bruder hingegen hatte nichts Besseres zu tun, als abzuwinken und mit den Schultern zu zucken. „Lass uns gehen. Jaden braucht jetzt Ruhe.“ Dann wandte er sich zu mir. „Du solltest wirklich aus den Sachen raus.“ Warum konnte er mich nicht einfach ganz in Ruhe lassen, als einen auf ‚normal‘ zu spielen? Ich wollte, dass er sich entschuldigte, dass es ihm leidtat, dass ich ihm dennoch was bedeutete. „Geht einfach, ich bin kein Kind.“ Dann ging ich in die Küche, um mir, bevor ich duschte, doch erst einen Tee zuzubereiten. Dabei sah ich aus der Küche heraus, wie sie gerade aufbrechen wollten. Stefanie zog sich ihre Jacke über, öffnete die Tür und ging voraus. Ehe Darian ihr folgte, drehte er sich zu mir in Richtung Küche, in der ich nun angewurzelt stehen geblieben war. Meine Augen waren groß auf ihn gerichtet. Voller Hoffnung. Was kam jetzt? Kam er zu mir, für eine Aussprache, eine Entschuldigung? Darian kam tatsächlich in die Küche, blieb vor mir stehen. „Ich werde Stefanie heiraten. Das, was zwischen uns passiert ist, hatte nichts zu bedeuten. Gar nichts!“ Kalt und entschlossen hatte er mir die Worte ins Gesicht geschleudert, kein Zucken, kein Bedauern war zu erkennen. Die Wucht dieser wenigen Sätze konnte ich kaum in mir abbremsen. Ein Schlag in den Magen traf es wohl eher. Was hatte ich denn eigentlich verbrochen. Was hatte ich ihm denn überhaupt getan, dass ich so schlecht behandelt wurde? Darian kam mir wie ein Fremder vor. Ich erkannte ihn nicht wieder. So nicht. Ich antwortete ihm nicht, weil die Stimme mir versagen würde, wenn ich meinen Mund öffnete. So blieb ich stumm, schluckte den Kummer runter, fühlte mich leer und nickte nur. Meine Augen brannten. Doch vor ihm in Tränen ausbrechen, das wollte ich nicht. Nein, ich zwang mich dazu, es nicht zu tun, obwohl ich sie kaum zurückhalten konnte. Die Wut in mir war zu schwach, um an die Oberfläche zu gelangen, der Seelenschmerz überlagerte alles. Ich sah ihm nur fest in die Augen, das war das Einzige, zu was ich noch in der Lage war. Ein letztes Mal in deine grünen Augen schauen. Unsere Blicke trafen sich kurz. Er blinzelte, sah dann entschlossen weg, drehte sich um und ging. Dann schloss Darian die Tür mit einem kräftigen Laut. So laut, dass ich zusammenzuckte.               ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 6: -----------   ~°~6~°~    Mir war sämtliches Zeitgefühl abhandengekommen. Ich starrte Sekunden, Minuten, keine Ahnung, wie lange, auf einen nicht vorhandenen Fleck vor mir auf die tapezierte Wand. Neben mir vernahm ich ein leises Surren. Mein starrer Blick löste sich von der Tapete und fokussierte das fliegende Objekt. Ein Nachtfalter hatte sich verirrt und schwirrte im Gang umher. Während ich den Flattermann beobachtete, merkte ich, wie ich krampfhaft meine Hände zu Fäusten geballt hatte. Erst als sich meine Fingernägel schmerzhaft in die Handballen bohrten, lockerte ich sie. Zielstrebig ging ich an eines der Fenster und öffnete beide Flügel, um das Insekt in die Freiheit zu entlassen. „Komm kleiner Flattermann, flieg in die große weite Welt hinaus. Lass dich nicht unterkriegen … Und verlieb dich niemals, das Herz wird einem zu schnell gebrochen.“ Ich sah dem Falter zu, wie er sich freudig über die neu gewonnene Freiheit den Weg nach draußen bahnte. Dann erst schloss ich das Fenster. Meine Miene verdüsterte sich, als es wieder totenstill im Zimmer war. Die künstlich aufrechterhaltene Fassung brach nun endgültig zusammen. Ich fing wie Espenlaub an zu zittern und hustete. Die Wand hinter mir gab mir den nötigen Halt, um nicht umzukippen, denn meine Knie hielten mich nicht mehr. Langsam rutschte ich an der Wand herunter, bis ich den kühlen Laminatboden unter mir spürte. Mein Herz schlug schnell und der Kopf brummte, fühlte sich auf einmal schwer an, als ob er mit Blei gefüllt wäre. Daher lehnte ich meine Stirn auf meine angewinkelten Knie. Die Emotionen, die in mir schlummerten, kochten nun über; den lang zurückgehaltenen Tränen ließ ich freien Lauf. Ich musste nun niemandem mehr etwas vorspielen. Einsamkeit kam zu meiner Trauer hinzu und ich kam mir verlassener vor, als jemals zu vor, zudem noch wie ein Stück Dreck, weggeworfen. „Du verfluchter Mistkerl“, brüllte ich meine Wut hinaus und steigerte mich weiter hinein. „Du hast mich wie einen Gebrauchsgegenstand, dem man überdrüssig geworden ist, fortgeworfen. Wie kannst du mir so emotionslos die Nachricht von der Heirat ins Gesicht schleudern? Wie kannst du mich nur derart verletzen? Wie kannst du meine Liebe, die ich für dich empfinde, so mit Füßen treten? Du warst es doch, der mit mir geschlafen hat, nicht umgekehrt!“ Ich verfiel in ein Schluchzen, mein Körper zitterte. Es war der seelische Schmerz, der wehtat, nicht mein Körper, denn der konnte heilen. Darian wollte heiraten. Ich war für ihn nur ein Stück Dreck gewesen, den man benutzt hatte, weil die Freundin nicht parat war. Also, was machte ich hier noch? Während unseres gemeinsamen Abstiegs hatte ich die winzige Hoffnung gehabt, es würde sich noch alles zum Besseren wenden, aber mit Darians Entschluss, zu heiraten, war der letzte Funke erloschen. Ich weinte eine ganze Weile, verbarg mein Gesicht zwischen den Beinen, dachte über alles nach und fasste einen Entschluss. Den Gedanken hatte ich auch schon in der Hütte – einfach zu verschwinden, alles hinter mir zu lassen. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, wollte ich nur noch unter die Dusche, mich reinwaschen. Ich stand vom Boden auf. Meine Nase lief, und ich benutzte meinen Handrücken, statt ein Tempo zu verwenden. Selbst für meine Tränen! Was spielte es für eine Rolle, wie erbärmlich ich aussah. In meinem Zimmer holte ich aus dem Schrank frische Klamotten und ging ins gegenüberliegende Bad. Mein erster Blick fiel dann doch automatisch auf den großen Wandspiegel, der bis auf den Boden reichte und damit das kleine Bad als Hingucker dekorierte. Ich stellte mich davor. Mein Spiegelbild blickte mich traurig an. Ich sah in verquollene Augen, die gerötet waren und stumpf und glanzlos wirkten. Meine Nase war ebenso rot und wirkte in meinem ziemlich blassen Gesicht viel zu groß. Ich strich mir über die Haare, die völlig zerzaust aussahen, seufzte resigniert und begann, mich vor dem Spiegel auszuziehen. Mein Körper sah ausgemergelt aus, die spitzen Hüftknochen stachen hervor. Ich gab ein erbärmliches Bild ab. Als ich auf meine Schenkelinnenseite schaute, entdeckte ich noch immer die Spuren von getrocknetem Blut, welches ich nicht ganz weggemacht hatte. Mein After brannte. Ich stieg unter die Dusche. Der erste Wasserstrahl traf mich eiskalt. Nach und nach erwärmte es sich. Ich duschte lange und ausgiebig, wollte mich reinwaschen von allem. Reinwaschen von meinen immer noch verbotenen Gefühlen, weinte, weil Darian so viel in mir kaputtgemacht hatte. Wenn er doch nur ein bisschen zärtlicher gewesen wäre? Wenn er nicht diese abscheulichen Worte gesagt hätte. Ich wusste nicht, was schlimmer war. Die Vergewaltigung oder die Worte von ihm. „Du bist nur ein Loch“, der Satz der mich am schmerzlichsten getroffen hatte und alles übertraf, spukte immer wieder in meinem Kopf herum. Ich sackte alleine bei der Erinnerung in der Dusche zusammen, heulte abermals, bis nichts mehr kam, außer dem Wasser von oben. Keine Nacht würde ich hier überstehen können, das wusste ich genau. Die Erinnerungen an die Wanderung, an den Schmerz, seine Anwesenheit überhaupt, würden mich immer verfolgen. Ich musste hier raus, fort von ihm, und weg aus der Stadt. Doch immer noch haderte ich mit mir und mein Entschluss, zu gehen, geriet ins Wanken. Um mich abzulenken, widmete ich mich meinem Körper, trocknete mich ab und versorgte anschließend mein After mit einer Wundsalbe, die wir immer vorrätig im kleinen Apothekerschrank hatten. Ich hatte noch Glück im Unglück, wie ich feststelle, als ich mit meinem Finger über den kleinen Riss fuhr, der am Anus nicht so tief war wie zuerst befürchtet. Es würde ohne ärztlichen Eingriff heilen. Nur den Toilettengang traute ich mich nicht. Mir fiel ein, dass auch zu dieser Sache mein Bruder nicht einmal nachgefragt hatte, ob ich Schmerzen hätte. Ich zog mich an, dann kämmte ich mir die Haare und föhnte sie trocken. Hin und wieder spürte ich das unangenehme Kratzen im Hals. Ich betete darum, dass mir die Dusche geholfen hatte, und nahm mir aus dem Arzneischrank noch Hustensaft und Halstabletten heraus, was wir ebenfalls immer vorrätig hatten. Mein Bruder war stets bedacht, immer alles zuhause zu haben. Du hast nicht an meine Gefühle gedacht. Das hast du nicht vorrätig, dachte ich und schniefte. Ich nahm noch was gegen Schnupfen aus dem Schränkchen, da mich gerade eine Niesattacke überfiel. Ich ging mit den Sachen auf dem Arm in die Küche, um mir endlich einen Tee aufzugießen, den ich mit Honig süßte. Auf den Gedanken, mir vielleicht auch was zu essen zu machen oder eine Fertigsuppe zuzubereiten, kam ich nicht. Der Hunger blieb weiterhin aus. Ich setzte mich schließlich auf einen der vier mit rotem Stoff überzogenen Küchenhocker, die angereiht an der weiß-grau karierten Theke standen. Einen normalen Küchentisch hatten wir nicht – Darians Idee. Er wollte, dass es aussah wie in einer Cafébar mit langer Theke und allem Drum und Dran. Mir war egal, wie die Küche aussah, sie sollte nur ihren Zweck erfüllen. Ich nahm einen Schluck von meinem Kamillentee. Heiß und wohlig rann er meine Kehle hinunter, als ich dauernd auf die tickende Uhr schaute. Es war mittlerweile sehr spät, draußen war es stockfinster und mein Bruder war mit Stefanie noch nicht zurück. Stefanie – seine Braut! Er wird sie heiraten … heiraten … heiraten … Mein Magen zog sich zusammen. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken als immer nur daran, doch ich schaffte es nicht. Sein Blick, die Kälte, die darin gelegen hatte – alles kam wie ein Bumerang zurück. „Schht, gleich ist es vorbei“, hatte er zu mir gesagt. Hatte Darian auch mit Männern geschlafen? Auf jeden Fall war es nicht sein erster Analverkehr, davon war ich überzeugt. Oder, er nimmt seine Freundin … Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Zumindest war das nicht sein erstes Mal, dass er so mit jemandem geschlafen hatte. Ich wollte mir nicht weiter den Kopf darüber zermartern. Der Gedanke, dass er jetzt in diesem Augenblick mit seiner Freundin Sex haben würde, bereitete mir zusätzlich Übelkeit. Die Vorstellung, dass er zu ihr zärtlich war, was bei mir gefehlt hatte, machte das Ganze nicht viel besser, im Gegenteil. Darian behandelte seine Stefanie nicht so. Die Übelkeit nahm so stark zu, dass ich es gerade noch zur Toilette schaffte. Ich spuckte so lange, bis nur noch Gallensaft herauskam. Die Sterne vor meinen Augen tanzten auf und ab, mein Kreislauf spielte verrückt. Nachdem ich meinen Mund ausgespült hatte, trank ich ein paar Schlucke Wasser aus dem Wasserhahn. Mein Kreislauf stabilisierte sich. Ich ging auf mein Zimmer zurück, legte mich aufs Bett und hörte eine Weile Musik, die laut aus den Boxen drang. Düstere Klänge begleiteten mich in meiner Trauer. Zeitweise wechselte ich zu fröhlicherer Musik, vielleicht würde das helfen. Fehlanzeige! Dieses Mal konnte sie mich auch nicht auf andere Gedanken bringen. Ich war in meiner eigenen Hölle gefangen. Als es weit nach Mitternacht und Darian mit seiner Freundin immer noch nicht zurück war, fiel mein Entschluss nun endgültig. So beschloss ich, meinen Weggang auch wirklich in die Tat umzusetzen, meinen Bruder und all das hier hinter mir zu lassen und tatsächlich abzuhauen. Wenigstens mir wollte ich beweisen, dass ich von meinem Bruder loskommen konnte. Ich wollte nicht mehr auf ihn angewiesen sein, nicht weiter als Fußabtreter dienen. Aber um abzuhauen, fehlte mir das nötige Kleingeld. Mir kam eine Idee! Ich wusste, wo das Haushaltsgeld aufbewahrt wurde – nämlich in einer Spardose, die sich zwischen den Marmeladengläsern befand. Ich hatte in diesem Punkt keine Skrupel mehr und nahm die darin befindlichen 500 Euro an mich. Als Entschädigung für den Schmerz, den er mir innerlich wie äußerlich zugefügt hatte. Damit rechtfertigte ich es. Nun zögerte ich wirklich keinen Moment länger, packte die nötigsten Sachen in meinen alten Koffer. Vieles würde ich zurücklassen müssen, das war der Preis für einen neuen Start in ein frisches Leben. Als ich fertig war, stellte ich den geschlossenen Koffer neben das Bett und ging davor in die Hocke, holte darunter eine kleine Schachtel hervor. Eine schöne alte Zigarrenschachtel, die man heute nicht mehr zu kaufen bekam. Ich hatte sie auf einem Trödelmarkt für einen Euro einem Jungen abgekauft. Mir wurde schwer ums Herz, als ich den Deckel der Schachtel öffnete und mir Dutzende Bilder von Darian entgegen sprangen. Ich schniefte geräuschvoll, als ich wehmütig darauf schaute – doch dann wurde ich wütend. Ohne zu zögern, nahm ich eine Fotografie nach der anderen heraus und zerriss sie, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Als ich das letzte Foto ebenfalls zerreißen wollte, konnte ich mich rechtzeitig in meinem Zorn auf Darian stoppen. Ich starte auf das Bild. Sein strahlendes Lächeln weckte Erinnerungen an letztes Weihnachten, an dem das Foto geschossen wurde. Ich nahm es an mich und legte es mit in den Koffer, verschloss ihn, dann zog ich mir eine Jacke über und nahm den Koffer in die Hand. Zum Schluss ließ ich meinen Blick über mein Zimmer gleiten. Viel besaß ich nicht, doch das wenige, was ich noch besaß und nicht mitnehmen konnte, musste ich zurücklassen. Sollte sich doch mein Bruder mit seiner zukünftige Frau darum kümmern, was scherte mich das noch, genauso wie sein blöder roter Rucksack, der ungeöffnet in der Ecke stand und mir ins Auge stach. Angewidert wendete ich den Blick ab. Aber dann dachte ich an Susan, die nichts getan hatte und womöglich vor den Kopf gestoßen sein würde, wenn sie erfuhr, dass ich nicht mehr da war. Ich hoffte, sie machte sich keine Vorwürfe deswegen, hatte sie es doch nur gut mit der Wanderung gemeint. Betrübt darüber, dass ich eine gute Freundin zurückließ, verabschiedete ich mich still von ihr. Gerne hätte ich ein Foto von ihr mitgenommen, doch ich hatte keines, wo sie alleine drauf war. Daher schwor ich mir, sie so in Erinnerung zu behalten, wie sie heute ausgesehen hatte. Ich war entschlossen, ein Lebenszeichen von mir zu geben, sobald ich irgendwo untergekommen war, damit Susan wenigstens meinen Eltern Bescheid geben konnte. Vielleicht per Brief. Per Telefon konnte ich es mir nicht vorstellen. Ihre Stimme würde ich nicht verkraften. Doch ob ich meiner Freundin in einem Brief die Wahrheit schreiben konnte, stand auf einem anderen Blatt. Ich griff nach meinem Schlüsselbund, der stets neben meiner Tür hing, und legte ihn demonstrativ auf die einzige Kommode im Gang, sodass er jedem sofort ins Auge stechen musste, wenn man den Flur betrat. Ich brauchte die Schlüssel nicht mehr. Alles hier brauchte ich nicht mehr. „Leb wohl, Darian.“ Bitterkeit lag in meiner Stimme. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, um meine roten Augen zu verdecken, auch wenn es dunkel draußen war, und verließ mit nur einem Koffer in der Hand die Wohnung. Zielstrebig setzte ich einen Fuß vor den anderen in Richtung Bahnhof; das endgültige Ziel: noch unbekannt! Ich ließ mein bisheriges Leben einfach zurück.           ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 7: -----------   ~°~7~°~   Ein Jahr später … Trist und grau war dieser November, der mich noch trauriger werden ließ. Ein Jahr war seit der Wanderung vergangen. Eines, das mich veränderte – und nicht im positiven Sinne. Es hatte mich nach Hamburg verschlagen. Seitdem las ich keine Bücher, aß keinen meiner heiß geliebten Donuts, hörte keine Musik – Nichts. Ich vegetierte eher vor mich hin, als das ich richtig leben würde. Seit Monatsbeginn dachte ich mehrmals täglich an Darian, an unsere Wanderung, an die Schmerzen, daran wie ich mich hinterher gefühlt hatte. Stück für Stück fiel ich tiefer in ein Loch. Ich sah meinen eigenen Aufprall und konnte mich nicht wehren. Alles kam unaufhaltsam zurück und riss mich in die Tiefe. Es war Freitag und seit Langem stand mir ein freies Wochenende bevor. Die Euphorie über die viele Freizeit, die ich somit haben würde, verspürte ich nicht. Mir waren die vielen Überstunden und eng gestrickten Dienstpläne, besonders an den Wochenenden, eindeutig lieber. Sie lenkten mich gekonnt von meinen Sorgen ab. Doch heute sollte es kein ruhiger, von Arbeit angereicherter Tag werden. Nein, im Gegenteil! Es lief alles schief, was schief laufen konnte und es wurde für mich regelrecht zu einem Fiasko. Alles fing damit an, dass mein Wecker aufgrund leerer Batterien stehen geblieben war, und ich wachte eine Stunde zu spät auf. Wie in einem Zeitraffer war ich aus meinem Bett aufgesprungen, ins Bad gehechtet und anschließend übereilt und mit schlecht rasiertem Gesicht auf dem Weg zur Arbeit. Dabei hatte ich eine rote Ampel deutlich missachtet. Gerade in diesem Moment, wie hätte es anders, in meinem vom Pech verfolgten Morgen, sein können, stand ein Streifenwagen in unmittelbarer Nähe, und hatte die Kreuzung überwacht. Einen Monat Führerscheinentzug und 200 Euro Bußgeld waren das Endresultat. Was mich schmerzlich traf, denn das war exakt die Miete für die WG gewesen. Bis meine Daten von der Polizei erfasst wurden, dauerte es nochmals über eine Stunde. Ich musste das Auto, welches ich vor drei Wochen für 500 € durch eine Kreditaufnahme gekauft hatte, auf einem Parkplatz stehen lassen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln weiterfahren. So fuhr ich mit der Bahn zur Arbeit. Dort kam ich mit insgesamt drei Stunden Verspätung an, worauf man mich gleich zum Chef beorderte. Ausgerechnet heute wäre meine Arbeitsvertragsverlängerung gewesen. Auch hier verließ mich das Glück und die Pechsträhne hielt weiter an. Man verlängerte nicht. Der Grund war nicht mein ‚zu spät Kommen‘, wie ich anfänglich befürchtete, sondern man müsse Personal einsparen. Zu hoher Kostenfaktor, hieß es. Ich vermutete, dass das der übliche Weg war, Personal somit nicht weiter beschäftigen zu müssen. Dabei hatte ich mich in diesen Job reingekniet. Er war für mich eine Ablenkung von meinen eigentlichen Problemen gewesen. Es war frustrierend. Abermals würde ich nach einer Arbeitsstelle Ausschau halten. Es war die dritte innerhalb eines Jahres. Ein Gefühl von Minderwertigkeit, wie ich es damals auf der Hütte verspürte, überfiel mich. Dieselben Gedanken, die gleichen Empfindungen, verloren zu haben – und das in allen Lagen. Ich fiel in ein mentales Loch. Ohne eine richtige Zukunft, ausgebrannt und sich wesentlich älter fühlend, hatte ich die Arbeitsstelle verlassen, den Chef stehen gelassen, als dieser sich freundschaftlich von mir verabschieden wollte. Ohne Führerschein, ohne Auto und ohne Arbeit, sah die Zukunft düster aus. Ich hatte die Hände tief in meine Hosentaschen vergraben, und lief in niedergeschlagener Haltung ziellos durch die Gassen von Hamburg. Mein Blick war stur auf den Boden gerichtet. Ich nahm keinerlei Notiz am bunten Treiben der Leute, ging an dekorativen Schaufenstern, Einkaufsmärkten oder den wie nach Fritten stinkenden Imbissbuden emotionslos vorbei. Als ich einen Mann aus Versehen anrempelte, bekam ich das nur mit, weil er mich auf übelste Weise beschimpfte. Ich ignorierte die aufgebrachte Person daraufhin, lief teilnahmslos weiter, schlug aber den Nachhauseweg ein. Kaum hatte ich die Wohnungstür aufgeschlossen, wurde ich sofort von meinen zwei Mitbewohnerinnen Ina und Sabine begrüßt, die in der Küche standen und mich im Flur sehen konnten, da die Tür fehlte. Eigentlich hatte ich keine Lust, mich zu ihnen zu gesellen, mich an einem 08/15 Gespräch zu beteiligen und wollte ihnen den Rücken kehren, um auf mein Zimmer zu gehen, als Ina lauthals rief: „Jaden!“ Frauen! Mit hängenden Schultern schlurfte ich in die Küche. Ina, eine quirlige, junge Rothaarige, knetete gerade einen Brotteig. Der Teig klebte halb an ihren Fingern, halb auf der bemehlten Tischplatte, zwischen geraspeltem Käse und getrockneten Tomaten. Ich vermutete, dass sie eines ihrer italienischen Brote backen wollten – im Pizzastil. Sabine, der blonde Gegenpart, war am Gemüse schnippeln. Es sah chaotisch aus. Wie gut, dass ich keinen Aufräumdienst hatte. Ich seufzte. „Hi“, grüßte ich mit leiser Stimme, hob die Hand dann zum Abschied und war im Begriff, den Rückzug anzutreten. Mir war weder nach Essen oder nach Gesellschaft zumute – auch nicht nach Beethovens kleiner Nachtmusik, die ständig, wenn die beiden zusammen kochten, leise im Hintergrund spielte. Die Frauen merkten sofort, dass mit mir was nicht stimmte. Meine trübe Stimmung verriet mich. Die ausstrahlende Traurigkeit, die ich zwar stets an den Tag legte, war heute noch ausgeprägter als sonst. „Jaden, was ist los?“, fragte mich Ina vorsichtig. „Mmh“, war alles, was ich darauf erwiderte. Ich wollte meine Ruhe haben, daher schüttelte ich den Kopf, mir war nicht nach Reden zumute. „Mensch, was hast du? Sag!“ Es war Sabine, die den zweiten Angriff startete. Erneut schüttelte ich den Kopf. Sie blieb beharrlich. „Hat es mit deiner Arbeit zu tun?“ „Hatte zu tun“, mehr sagte ich nicht. Die Frauen verstanden sofort, waren beide nicht auf den Kopf gefallen. „Komm, erzähl.“ Ina versuchte, mich mit sanfter Stimme zu trösten, geschickt Informationen aus mir herauszulocken. Aber ich wollte meine Ruhe. Ich haderte kurz mit mir, gab dann aber nach, als ich zwei brennende Augenpaare auf mir spürte. In groben Zügen erzählte ich die Geschehnisse und dass ich die Miete erst später zahlen könnte. Dass ich meinen Führerschein verloren hatte, verschwieg ich, beließ meine Geschichte bei einer Geldstrafe, was nicht gelogen war. „Jaden, das wird wieder, okay. Es ist nicht die letzte Arbeit. Du findest eine neue Tätigkeit. In der heutigen Zeit ist das fast normal. Die Firmen verlängern die Arbeitsverträge nicht, selbst wenn du gut im Job bist.“ Ina hatte ihren Brotteig in eine Kastenform gedrückt, deckte ihn mit einem sauberen Küchentuch ab und ließ ihn aufgehen. Sie wusch sich ihre Hände und kam kauend, mit einer Apfelsine, die im Obstkorb auf dem Kühlschrank gestanden hatte, in der Hand, auf mich zu. Stumm sah ich ihr kurz zu, wie sie ihren zweiten Bissen zu sich nahm. Ich mochte Ina, mochte sie beide, doch konnte ich es nicht richtig zeigen. Darian hatte jeden sozialen Kontakt in mir zerstört. War ich damals schon eigenbrötlerisch – konnte man dieses Leben, was ich führte, nicht mehr toppen. Es saß nun tief in mir verankert. Ich konnte nicht aus meiner Haut, wirkte distanziert. Was sollte ich auf Inas Aussage antworten? Sabine, der eine lange blonde Strähne ins Gesicht gefallen war, blies sie aus dem Gesicht, wirkte ernst dabei. Sie hatte mich stumm betrachtet, widmete sich aber ihrer Aufgabe, als sie merkte, dass ich nicht auf sie einging. Ich schaute den beiden kurz zu. Sie waren nun mitten in der Vorbereitung für ihren Tomatensalat. Die dünnen silbernen Armreife an Sabines Handgelenken spielten leise ihre eigene Musik, als sie bei jedem Schnitt in eine Tomate, die sie viertelte, aneinander rieben, und mir im Ohr klingelten. „Ich brauch meine Ruhe“, meinte ich ehrlich. „Wir sagen Bescheid, wenn das Essen fertig ist.“ Sabine hatte kurz zu mir gesehen. Als ob ich, seit ich hier wohne, richtig mitgegessen hätte? Richtig gegessen hatte ich schon lange nicht mehr. Mir fehlte der Appetit. Keiner wusste wirklich, wie es in mir drinnen aussah. Ich nickte den beiden stumm zu, ließ meine Hände tief in den Hosentaschen verschwinden, atmete tief durch, als ich die Tür zu meinem Zimmer hinter mir geschlossen hatte. Endlich Ruhe. Um mich zu sammeln, schloss ich die Augen und öffnete sie dann erst, als ich ihr Stimmengemurmel leise durch die Tür registrierte. Was hatten sie zu tuscheln? Aus reiner Neugierde heraus öffnete ich lautlos einen Spaltbreit meine Zimmertür. Ihre Stimmen waren zwar immer noch leise und gedämpft und ich musste mich anstrengen, um etwas zu verstehen. Ein Wort fiel zwischen den beiden und ließ mich erstarren, denn das hatte ich klar und deutlich herausgehört: „Schwuchtel!“           ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 8: ----------- ~°~8~°~   Mit Tränen in den Augen und einem schweren Kloß im Magen schloss ich die Tür hinter mir. So war das also. Ich war auch für Ina und Sabine eine Schwuchtel. Ein Homophiler, nicht gesellschaftsfähig, minderwertig – Abschaum eben. Um mich abzulenken und meine Enttäuschung darüber nicht Herr werden zu lassen, sah ich auf meine Unordnung. Ich ließ meinen Blick über die Dinge schweifen, die auf dem Boden verstreut herumlagen. Was mich früher nicht störte, störte jetzt. Automatisch begann ich aufzuräumen, ohne mich vorher umzuziehen, noch nicht einmal der Jacke oder der Stiefel entledigte ich mich. Es war ein Zwang, wie wenn mich jemand leiten würde, es tun zu müssen. Ich fiel weiter mental in ein Loch, während ich aufräumte. Als ich damit fertig war, wurde der Entschluss, mir etwas anzutun, immer größer, gewaltiger. Die Todessehnsucht war heute ganz besonders stark. Wie hatte ich täglich dagegen angekämpft. Durch die Arbeit war ich abgelenkt gewesen, doch gerade in diesem Augenblick spürte ich, ich würde den Kampf verlieren. Einfach so. Unterstrichen wurde das Ganze noch mit dem Wissen, was ich für die beiden Frauen war, die weiter in der Küche werkelten. Ich war ein Nichts. Vor allem fühlte ich mich zu schwach, um positiver zu denken oder mich nicht zu sehr in das schwarze Loch reinziehen zu lassen. Die düsteren Gedanken, die nun komplett in meinem Kopf herrschten, übernahmen die Funktion, sich schwermütig, traurig und ohne Hoffnung zu fühlen. Ich bekam einen Tick, denn zwar war jetzt mein Zimmer ordentlich und doch war ich noch nicht zufrieden. Der Zwang, es perfekt machen zu wollen, jeden Gegenstand von Staub zu befreien, nahm überhand, sodass ich zusätzlich ein Mikrofasertuch zur Hand nahm, dass ich in meiner Schublade verstaut hatte. Ich fing an, alles abzustauben, was ich in die Finger bekam. Polierte alles auf Hochglanz. Dabei hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren und zuckte daher zusammen, als es an der Tür klopfte. Sabine rief mich zum Abendbrot. Widerwillig legte ich den Putzlappen weg, als es ein weiteres Mal klopfte. „Ja, schon gut!“ Ich machte einen Spaltbreit auf, steckte die Nase heraus. „Ich hab keinen Hunger“, kam ich ihrer Frage zuvor, als sie zum Sprechen ansetzte. Ich wusste auch so, was sie sagen wollte, von daher. Zudem schockierte es mich noch immer, was sie über mich dachte – was beide dachten. „Komm, lass dich nicht hängen.“ Sie sah mich mitfühlend aus ihren blauen Augen an, was mich irritierte. Schaute man einen wirklich so an, wenn man Abschaum war? Ach egal! „Danke, ich habe in der Stadt gegessen“, log ich, dabei hatte ich die Tür unbeabsichtigt ganz geöffnet. Als ich meinen Fehler bemerkte, postierte ich mich ihr breit in den Weg, als Sabine rein wollte. Neugierig stellte sie sich auf die Zehenspitze und wollte über meine Schulter hinweg in das Zimmer spicken, da hielt ich sie entschieden davon ab. „Lass das, du weißt, ich mag so etwas nicht.“ „Okay, schon gut“, winkte sie schließlich ab. „Hast du wirklich keinen Hunger?“ Sie betrachtete mich argwöhnisch von oben bis unten, spielte auf meine Magerkeit an. „Wirklich.“ Ich sah ihr fest in die Augen, ließ mir auf keinen Fall anmerken, wie das Wort ‚Schwuchtel‘ immer noch nachwirkte. „Wenn was ist …“ Sie stoppte, zuckte dann mit der Schulter, als sie sah, wie ich den Kopf schüttelte. Was hätte meine Mitbewohnerin auch machen sollen? Man konnte mich schlecht zum Essen zwingen, war ich doch ein eigenständig frei denkender Mensch. „Danke!“, sagte ich nur. Sie sagte nichts mehr und ging, während ich hinter mir die Tür schloss und mich weiterhin trübsinnig fühlte, die Selbstmordgedanken zunahmen und immer konkreter wurden. Eine Zeit lang starrte ich auf einen Punkt mitten im Raum. Wenn ich von der Welt gehe, dann in Würde – sauber und rein. Eine Schwuchtel fällt keinem zur Last. Ich begann, dort weiterzumachen, wo ich unterbrochen worden war, putzte, wo eigentlich nichts mehr zum Reinigen war. Das Zimmer war längst vom Staub befreit. Als ich fertig war und völlig ausgepowert, schälte ich mich aus den verschwitzten Sachen und holte mir frische Klamotten heraus. Ich wählte meine Lieblingsstücke aus, betrachtete sie liebevoll, streichelte sanft über den glatten Stoff. Das einzige Glücksgefühl, was ich noch hatte, war das hier und hielt weiterhin an, als ich sie mir anzog. Ein Jahr war vergangen, seit ich die das letzte Mal getragen hatte, die Hose mit den vielen silberfarbenen Schnallen. Den schönen, langen, schwarzen Mantel, den ich vorne nicht verschloss, da mir nicht kalt war. Zuletzt zog ich mir meine Stiefel über, die in einem tiefen Schwarz glänzten. Ich hatte sie erst vor drei Wochen gekauft. Meine Alten waren von der vielen Arbeit abgenutzt gewesen. Man sah den Schuhen nicht an, dass sie ein Sonderangebot gewesen waren. Ich trat an den großen Wandspiegel, der im Zimmer hing und bis zum Boden reichte. Das einzige Utensil, was die weißen Wände im Raum hier schmückte. Keine Bilder hafteten an ihnen – als wäre ich nie richtig eingezogen. Die Einrichtung war noch genauso, wie sie mein Vorgänger hinterlassen hatte. Seitdem war von mir nichts verändert worden. Nur jetzt war es sauber. Ich betrachtete mich im Spiegel, als ob das nicht ich wäre, sondern jemand anderer, mit seinen schwarzen Klamotten, die eine Nummer zu groß an ihm wirkten. Seine Hüftknochen traten sogar unter dem Leder hervor. Den Gürtel an der Hose konnte man bis auf das letzte Loch zuziehen. War das wirklich ich? Damals hatten mir die Sachen besser gepasst. Auch wenn ich immer schon mager war, war das hier kaum mehr zu toppen. Der Blick fiel zu guter Letzt auf mein Gesicht. Die Nase wirkte lang, zu groß für das gesamte Erscheinungsbild. Meine Wangen waren noch mehr eingefallen und die Augen lagen in dunklen Höhlen, der Glanz darin seit einem Jahr verschwunden. Die Haare, die mit einem schwarzen Band zusammengehalten wurden, waren lang und reichten mir über die Schultern. Ich hatte mich gehen lassen. Ich will sterben – wegen dir, Darian. Angewidert von meinem Selbstmitleid, weil ich es nicht geschafft hatte, von meinem Bruder loszukommen, wandte ich den Blick von meinem Spiegelbild ab. Ein Feigling, ein Schwächling, ja, das war ich. Ich konnte und wollte nicht mehr. Also, was wollte ich noch auf dieser Welt, die mir immer sinnloser erschien. Der Griff in meine Manteltasche, routiniert. Dort fischte ich mein Feuerzeug und eine halb volle Packung Zigaretten heraus, die ich immer als Vorrat hier versteckte. Ich setzte mich an meinen kleinen Schreibtisch und zündete mir einen von den Glimmstängeln an, nahm sofort einen tiefen Zug. Die Packung legte ich vor mich hin, während ich den Aschenbecher in meine Reichweite zog. Seit einem Jahr qualmte ich, der einzige Trost: Bruder Nikotin. So rauchte ich eine Weile vor mich hin – weinte dabei still. Sah ab und an meiner ausgestoßenen Rauchwolke zu. „Ich kann nicht mehr!“ Dabei dachte ich wieder an Darian. An sein Gesicht, die Augen, seinen Mund. Der überlegene Ausdruck, wenn er was erklärte. Wie er jetzt wohl aussah? Ein kleiner Teil in mir hatte gehofft, er hätte nach mir gesucht. Ich schwelgte in Erinnerungen, erinnerte mich daran, wie ich alles hinter mir gelassen hatte.   … Ich saß in der Bahnhofshalle. Seit über zwei Stunden war ich dort und wartete auf den ersten ICE. Zuerst hatten mich die Sicherheitsbeamten nicht hereinlassen wollen, da ich keine Bahnkarte vorweisen konnte. Doch glaubten sie mir schließlich, als ich sagte, ich wollte nach Hamburg und ich würde mir vorher ein Bahnticket am Automaten lösen. Meine Reise dorthin war mir spontan eingefallen. Zumal ich mit meinem Koffer wie ein Reisender und nicht wie eine Bedrohung aussah. Trotz schwarzer Kleidung machte ich auf sie eher einen hilflosen Eindruck und meine rot verquollenen Augen erzählten eine ganz eigene Geschichte, unterstützten mein gesamtes Auftreten, als ich die Sonnenbrille von meinen Augen nahm und einsteckte. Die Beamten ließen mich rein. Als ich meine Bahnkarte schließlich hatte und mir klar wurde, dass ich München wirklich hinter mir ließ, kämpfte ich mit weiteren Tränen. Um 5:12 Uhr kam endlich der Zug. Ich setzte mich in den hinteren Bereich, in die zweite Klasse. Es waren einige Plätze leer – nicht reserviert. Somit hatte ich keine Probleme, einen Sitzplatz zu bekommen. Fast sechs Stunden Fahrt lagen vor mir, doch an Schlaf war nicht zu denken. Immer wieder schweiften meine Gedanken zu Darian. Sehnsucht und Schmerz wechselten sich ab. In Augsburg stieg ein zweiter Fahrgast dazu, ein älterer Herr in Anzug und Aktenkoffer, setzte sich neben mich. Ich roch seine Zigarette, die er kurz zuvor geraucht haben musste, war aber dankbar, dass er, wie ich, ein sehr schweigsamer Fahrtgenosse war …   Das war das erste Mal, dass ich verspürte, auch rauchen zu wollen. Ab da hatte ich es angefangen.   … Mir war das recht, dass mein Sitznachbar schweigsam war, so konnte ich über meine Zukunft nachdenken. Ja, die Zukunft, nur was für eine? Pünktlich 10:53 Uhr in Hamburg angekommen, suchte ich mir sofort eine Bleibe in einem Motel. Ein gutes Hotelzimmer konnte ich mir nicht leisten, von daher! Als ich eine halbe Stunde später einchecken durfte, kaufte ich mir am Kiosk die Wochenzeitung mit den Wohnungs- und Stellenangeboten und begann sofort mit der Suche. Meinen Ordner mit den ganzen Unterlagen hatte ich zum Glück mit in den Koffer gepackt. Das Glück schien tatsächlich auf meiner Seite zu sein, denn am nächsten Tag durfte ich mich wegen eines Zimmers in einer Wohngemeinschaft vorstellen. Es war eine große, geräumige, wenn auch etwas dunkle Wohnung im Erdgeschoss in einer Wohnsiedlung. Sie war für sechs Personen ausgerichtet und die Miete war für eine Großstadt, wie Hamburg es war, recht erschwinglich. Ein Student, der einen Studienplatz in Amerika für Sprachwissenschaften bekommen hatte, zog diese Woche noch aus. So musste ich nur ein paar Tage in meinem Motel ausharren, während ich nebenbei nach einem Job suchte. Ich war froh, bald einziehen zu können, mit nur einem Koffer, und dem, was ich auf dem Leib trug. Mein Geld war mittlerweile auf ganze zehn Euro geschrumpft. Meine fünf Mitbewohner, Ina, Sabine, Benjamin, Daniel und Hagen, waren die meiste Zeit über unterwegs auf Arbeit oder bei ihren Freunden und gaben mir für die Miete einen Aufschub, als ich ihnen grob meine Situation erklärte. Klar, war die Begeisterung nicht groß. Die Männer der WG fragten mich nicht weiter aus. Bei den beiden Mädels sah die Sachlage anders aus. Da ich aber über mein Privatleben nichts erzählen wollte, erfand ich einfach eine Geschichte und warum ich gegangen war. Ich war von meiner Freundin getrennt und wollte neu anfangen. Die Lüge kam mir leichter über Lippen, als mir lieb war. Mein Schwulsein verbarg ich. Sie hielten mich für einen, der in einer Gothic-Szene lebte. In einer eigenen Welt eben, in meiner. Sie ließen mich mit Fragen in Ruhe und zeigten mir mein Zimmer. Es war spartanisch eingerichtet, für meine Bedürfnisse reichte es. Jeder war für sein Zimmer selbst verantwortlich, und es gab einen Plan, wer, wann, was in den Gemeinschaftsräumen, wie die Küche und das Bad, das wir uns teilten, sauber zu machen hatte. Der Kühlschrank wurde einmal in der Woche von jedem anteilsmäßig gefüllt. Ich selbst musste mich erst nächsten Monat beteiligen, da ich frisch bei einem Getränkehandel angefangen hatte und man mir nur einen geringen Vorschuss gegeben hatte. Es war zwar ein schlecht bezahlter Aushilfsjob, aber besser als gar nichts. Die Mädels bereiteten meistens das Abendessen zu, bei dem ich so gut wie nie anwesend war. Lieber zog ich mich in mein Zimmer zurück und anstatt anständig zu essen, rauchte ich lieber. Ich lebte zurückgezogen, mochte die Einsamkeit. Ein Lebensstil, den ich mir so niemals hätte vorstellen können, war eingetreten. Wir waren im Prinzip ein bunt gewürfelter Haufen. Eigentlich hätte ich mich unter meinen WG-Bewohnern wohlfühlen sollen, doch konnte ich nicht aus meiner Haut. Zu oft musste ich an meinen Bruder denken. Ob er schon verheiratet war? Vielleicht wurde er bald Vater. Konnte man so schnell ein Aufgebot bekommen. Darian und Vater? Die Vorstellung daran versetzte mir ungewollt einen Stich. Dass ich oft alleine in der Wohnung war, war für mich nicht schlimm. Ich wollte es so. Der Nachteil aber war, dass ich zu oft nachgrübelte. Anfänglich versuchten meine Mitbewohner, einen kleinen Kontakt zu mir herzustellen, weil sie merkten, wie ich mich abschottete. Sie luden mich ein, mit ihnen fortzugehen, wie etwa ins Kino, in Pubs, oder Discos. Doch lehnte ich stets dankend ab, zeigte Desinteresse, bis sie es sein ließen. Ina und Sabine waren noch die Hartnäckigsten gewesen, aber auch sie scheiterten. Ich wollte tatsächlich meine Ruhe. Zu dem Schmerz mit Darian kam Stück für Stück das Vermissen von Susan dazu. Das schlechte Gewissen, mich niemals von ihr verabschiedet zu haben, nahm überhand, sodass ich nach einem Monat endlich anrief. Zu einem Brief hatte ich mich dann doch nicht durchringen können. Lesen wie schreiben – das war der alte Jaden gewesen. Der Neue rauchte nur, hatte keine Hobbys mehr. Ich hatte heute frei und mein erstes Gehalt hatte ich gestern ausbezahlt bekommen. So hatte ich sofort meine Schulden in der WG begleichen können. Da ich außerdem mit Einkaufen dran war, hatte ich alles heute Früh besorgt. Den ganzen Morgen über hatte ich mir den Kopf zerbrochen, was ich genau Susan sagen wollte, schob es somit immer vor mich hin. Als keiner mehr zuhause war, alle auf Arbeit oder auf der Uni, entschloss ich mich, Susan endlich ein Lebenszeichen von mir zu geben. Die WG besaß ein Haustelefon mit Flat ins deutsche Festnetz, Auslandsgespräche wurden extra berechnet. Es hing im Flur und konnte von jedem benutzt werden. Die meisten jedoch riefen von ihren Handys aus an. Ich hatte keins und wollte auch keins besitzen. Als ich ihre Nummer wählte und Susan nach dreimal Klingeln dran ging, war sie völlig aufgewühlt, nachdem sie meine Stimme erkannt hatte. „Oh Gott, Jaden!“ Sie weinte am Telefon. Mir ging’s nicht anders. Doch konnte ich mich beherrschen. „Hallo Susan, ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut geht.“ „Wirklich?“ Wie mies ich mir vorkam, konnte man sich kaum vorstellen, als ich ihr zudem erklärte, dass ich nie mehr wiederkommen wollte und ich mir ein anderes Leben aufgebaut hatte. Susan war mit ihren Nerven völlig am Ende. Auch wenn mir selbst das Herz blutete, so hart zu ihr zu sein, konnte ich nicht anders. Die Frage nach meinem Bruder Darian verkniff ich mir, obwohl meine Neugierde mich schier auffraß und mich verzweifeln ließ, blieb ich mir gegenüber hart – ich fragte nicht nach, wie er auf mein Verschwinden hin reagiert hatte. Ich erkundigte mich nur, wie es meine Eltern aufgenommen hatten. Susan berichtete nicht viel darüber. Dass mein Weggang nicht als Flucht, sondern als Auszug anerkannt wurde und man nicht nach mir suchte, wie ich schmerzlich bei ihrer Berichterstattung weiter erfuhr, setzte mir zu. Hatte Darian das veranlasst? Er musste es gewesen sein. Aber was hatte ich denn erwartet? Ich war so aus dem Leben getreten. Und doch! Das Leben war bei meinen Eltern wie auch bei Darian weitergegangen. Als Susan mich fragte, wie meine Nummer wäre, und ob sie mich ab und an anrufen könnte, schwieg ich eisern. Bewusst hatte ich die Rufnummer unterdrückt. Auch wollte ich nicht, dass sie mich besuchen kam. So sehr ich eigentlich sie als Freund gebraucht hätte, so sehr musste ich sie loslassen, damit wenigstens ihr Leben weitergehen würde. Mein Weggang hatte sie sehr getroffen, wie sie mir immer wieder unter Tränen sagte. Ich gab ihr zum Schluss die Anweisung, meinen Eltern Bescheid zu geben, dass es mir gut ginge und ich ein völlig neues Leben begonnen hatte. Auch wenn sie meinen Weggang nicht als Flucht ansahen, wollte ich, dass sie sich wirklich keine Sorgen zu machen brauchten – auch wenn es eine Lüge war. Nach einer Weile guten Zuredens versprach Susan es mir, wenn auch widerstrebend. „Bitte komm zurück, wenn es wegen Darian …“ „Nein“, schnitt ich ihr das Wort ab. Ja, es ist wegen ihm! „Jaden, bitte!“, bettelte sie zum Schluss, flehte mich regelrecht mit weinerlicher Stimme an, sich dennoch weiterhin zu sprechen. Auch wenn es mir schier das Herz brach, konnte ich darauf keine Rücksicht nehmen, spürte ihre große Enttäuschung, denn außer einem „Oh“ kam keine weitere Reaktion. Verübeln konnte ich ihr das nicht. Nein, wäre ich an ihrer Stelle gewesen, hätte ich wahrscheinlich aufgelegt. „Leb wohl“, sagte ich. Ich selbst versuchte, so gefestigt wie möglich zu klingen. Es fiel mir so unsagbar schwer. „Das war es dann wohl. Du auch!“ Sie klang nun kühl und verständlicherweise distanziert. Susan legte auf und ich lauschte eine Weile dem Besetztzeichen, bevor auch ich auflegen konnte. Mir ging es nach dem Telefonat nicht gut. Deprimiert ging ich auf mein Zimmer zurück, wo ich mich sofort für den Rest des Tages in mein Bett verkroch. Ich hatte Susan endgültig verloren. Die Tage plätscherten nur so an mir vorbei, ich nahm sie nicht wirklich wahr. Wenn ich gedacht hatte, nach dem Anruf würde es mir besser gehen, so trat das Gegenteilige ein, es wurde mit mir schlimmer. Darian! Der Name hämmerte unaufhörlich in meinem Kopf, er war mein ständiger Begleiter, auf der Arbeit, zu Hause. Jeder weitere Tag wurde für mich eine Herausforderung. Kamen mir die Tage schon lang vor, waren die Nächte weitaus schlimmer geworden. Ich war innerlich zerrissen. Meine Gefühle für ihn waren immer noch präsent und hatten sich keinen Tag geändert. Mein Laster, das Rauchen, wurde stärker. Ich rauchte ab da fast zwei Schachteln täglich. Die billigen Sorten von Lidl, denn Markenzigaretten konnte ich mir nicht leisten. Es war mein einziger Trost in dieser Zeit. Nur so lebte ich irgendwie weiter. Meine Bedürfnisse schrumpften, bis ich dann einen Job in einer Firma annahm, der besser bezahlt wurde. Meine Aufgabe war, Pakete für den Versand vorzubereiten und Bestellungen am Computer entgegenzunehmen. In dem Job interessierte sich keiner für mein Aussehen und was ich war. Hier zählte nur eines: Arbeiten, arbeiten, arbeiten und so viel wie möglich von den Bestellungen zu bearbeiten. Fließbandarbeit, in der man gefordert wurde. Genau richtig für mich. Ich wollte zu keinem hier groß Kontakt aufbauen und erstickte alles schnell im Keim, wenn man versuchte mich näher kennenzulernen. Auch hatte ich keine Bedürfnisse, mich zu verlieben oder eine Beziehung zu beginnen. Keinen Mann ließ ich an mich ran. Und von den Frauen wollte ich schon zweimal nichts wissen. In meinen Pausen rauchte ich für mich alleine, stand abseits von meinen Arbeitskollegen. Etwas zu essen nahm ich nie mit. Ich wurde dünner und dünner. Meine Nerven lagen blank, als ich auf einmal Albträume bekam. Erst unregelmäßig, dann wurden sie zur Tagesordnung. Immer wieder dachte ich vorm Schlafengehen an meinem Bruder. Ich wachte regelmäßig aus einem Traum auf, in dem Darian erst zärtlich zu mir war und dann mich hinterher brutal verprügelte. Dabei wollte ich mich in meinen Fantastereien nur an ihn schmiegen. Ihm all meine Liebe schenken, ihn spüren lassen, wie viel er mir trotzdem bedeutete. Immer öfter schreckte ich mitten in der Nacht auf, weil ich merkte, dass ich ins Bett gemacht hatte. Ich schämte mich, ekelte mich vor mir selbst. Danach, wenn ich das Bettlaken gewechselt hatte, saß ich meistens stundenlang wach und rauchte, im Schneidersitz den Aschenbecher auf meinem Schenkel abgelegt, eine Zigarette nach der anderen, bis die Augen schwer wurden und ich wieder schlafen konnte, ohne erschreckt aufzuwachen.   „Jaden, du siehst nicht gut aus.“ Immer diese gleiche Leier. Immer dasselbe Geschwätz von meinen Mitbewohnern. Ich wusste, sie meinten es gut, doch wollte ich nur in Ruhe gelassen werden. Ich ließ mich immer mehr gehen, nahm weiter ab, hatte schon Kindergröße. Wenn ich mir neue Klamotten kaufte, dann in der Kinderabteilung. Wie viel Kilos ich noch wog, ich wusste es nicht. Meine Haare sahen stumpf und glanzlos aus. Mein Pony hing mir lang in das Gesicht und ich musste mir einen Seitenscheitel machen. Geschminkt war ich schon lange nicht mehr. Für wen noch? Für mich? Mein Leben war zu einer Farce geworden. „Es geht schon wieder“, war mein Standardspruch, der sich anhörte wie eine Schallplatte, die einen immerwährenden Sprung hatte. „Das sehen wir langsam nicht mehr so.“ Allmählich machten sich alle Sorgen um mich. Scheiße. Auch Benjamin, der immer dreimal die Woche seine Dosenmakrelen aß, und die Wohnung hinterher nach Fischtran stank. Nur, wie kann man den Schmerz eindämmen, wenn man so sehr in seinen Halbbruder verliebt war? Die Zeit hatte leider meine Wunden nicht geheilt und so verging das Jahr, in dem ich immer mehr in mich kehrte, ich immer weniger wurde. Meinen 25. Geburtstag hatte ich schon nicht gefeiert. Weihnachten gab es nicht für mich. Und in einem Monat würde ich 26 werden – wie Darian. Nein, ich wollte so nicht mehr weitermachen. Ich war gealtert …   Ich rauchte meine fünfte Zigarette zu Ende, stand vom Stuhl auf und leerte den vollen Aschenbecher in meinen kleinen Mülleimer. Dann zog ich die Vorhänge zu, machte das Bett. Als ich sicher sein konnte, dass jeder schlief, verließ ich die Wohnung auf leisen Sohlen, dabei verschloss ich nun meinen Mantel, den ich beinahe zweimal herumwickeln konnte. Dieses Mal jedoch nahm ich den Hausschlüssel mit. Mein Weggang sollte nicht alarmierend wirken. Der Wind war eisig, es schneite und mich fror es. Doch ignorierte ich die Kälte. Ich lief zügig die Straße entlang, bis ich an meinem Ziel angekommen war. Eine einsame Brücke, und keiner war mehr unterwegs. Mein Blick fiel auf die Alster. Ich sah den Fluss vor mir. Dunkel und kalt wirkte er auf mich. Es würde schnell gehen. Mein Herz würde bei dieser Kälte, wenn ich in den Fluss spränge, zu schlagen aufhören. Meine Hände krallten sich am kalten, nassen Geländer fest. Ich atmete tief durch, sog die Luft in mich auf. Die Haare hatten sich bei dem stürmischen Nordwind geöffnet, wehten mir ins Gesicht. All diese Dinge waren unwichtig. All diese Dinge nahm ich nicht wahr. Ich kletterte über das Geländer, stellte mich auf den schmalen, leicht rutschigen Absatz. Unter der Sohle knirschte der Dreck. Die Schuhspitzen ragten darüber hinaus und ich musste das Gleichgewicht halten. Dann taxierte ich erneut unter mir auf den Fluss, der unruhig in seinem Bett lag und darauf wartete, dass ich springen würde. Darian, warum? Um mein Herz legte sich ein eisiger Mantel. Ich wollte nur deine Liebe, ich wäre auch nur mit freundschaftlichen Gefühlen zurechtgekommen, aber nicht mit deinem Hass. Nein, Darian, mit dem kann ich einfach nicht leben. Leb wohl, Bruder. Ich schloss die Augen, spürte die Luft und den Schnee auf meiner Haut, fühlte die Kälte, dann ließ ich los …           ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 9: ----------- ~°~9~°~     Irritiert schlug ich die Augen auf. Der Schnee war mittlerweile in Regen übergegangen und prasselte zusammen mit dem eisigen Wind vermischt weiterhin auf mich herab. Was ist passiert? Ich war inzwischen völlig durchnässt, doch lag ich nicht wie erwartet in den Fluten und kämpfte mit dem Tod, sondern wurde von zwei starken Händen festgehalten. Mir wurde langsam bewusst, was passiert war: Man hatte mich gerettet. Über diese Erkenntnis zuckte ich erschrocken zusammen, auch weil ich angesprochen wurde. „Um Himmels willen, was machen Sie denn für Sachen?“ Eine kräftige, männliche, tiefe Stimme, mit einer Spur von Panik gewürzt, aber akzentfrei, drang in mein Bewusstsein ein. Ich klapperte am ganzen Körper, war einem Kollaps nahe. Ich war mir sicher gewesen, alleine auf der Brücke gestanden zu haben. Doch bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, spürte ich, wie ich über das Geländer – auf die sichere Seite - gezogen wurde. Von meiner Seite kam keine Gegenwehr, war ich noch viel zu geschockt darüber und begriff erst nach und nach die Situation. Zudem, ein Handtuch, wie ich eines war, hätte jeder halbwegs kräftige Kerl mich hochheben und rüberziehen können. Ich spürte seine starken Arme, die um meinen Körper geschlungen waren und mich weiterhin festhielten. Die erste Berührung, seit Darian, kam mir dabei in den Sinn. Was gibt es Schlimmeres, als zu überleben? Nur wegen dir. Ich kann deinen Hass nicht ertragen, Darian! Und warum nicht? Viele Gedanken, zum Teil wirre, die mit Darians Stimme gespickt waren, spukten in meinem Kopf herum und schimpften auf mich ein. Doch ganz nebenbei schlich sich eine fremde Stimme in mein Denkzentrum und gewann die Oberhand. „Ich bringe Sie in ein Krankenhaus. Sie stehen noch unter Schock. Können Sie überhaupt alleine stehen? – Sagen Sie doch etwas? Ich hole Hilfe!“ Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich brachte keinen einzigen Ton über die Lippen. Alles war für mich so unwirklich: Irreal! Die Rettung! Er! Mein Retter ließ mich los, spürte aber sofort, wie wackelig ich auf den Beinen war, und hielt mich dann mit einer Hand am Rücken fest, sodass ich nicht umfallen konnte. Ich spürte die Kraft, die von seiner Hand ausging. Der Laternenmast in meiner unmittelbaren Nähe war eine zusätzliche Stütze, an der ich mich mit beiden Händen festhalten konnte, was ich dann auch tat. Auch wenn ich meine Finger wegen der Kälte nicht spürte, hielt ich mich eisern fest. „Sie müssen in ein Krankenhaus!“ Wieder diese Stimme, die mir helfen wollte. Krankenhaus? Ich will in kein Krankenhaus. Nein, nicht dorthin. Ich wollte nicht. Nein! Mir fehlte körperlich nicht wirklich etwas, abgesehen von meiner Psyche und dass ich etwas ausgemergelt aussah. Dies hatte jedoch einen Grund und der hieß: Darian. Und in eine Zwangsjacke wollte ich auch nicht. Jeder Suizidgefährdete würde in einem Krankenhaus in so einer enden. Was ich wollte: Ich wollte einfach nur sterben. Ja, das war mein Bestreben – mein Ziel. Ich drehte meinen Kopf zu der Person, mit dieser Stimme. Nur einen Fixpunkt vor mir, ohne zu wissen, was ich tatsächlich sehe. Die ganze Zeit über hatte ich ihn nicht wirklich wahrgenommen, nicht angesehen. Meine Augen waren noch unscharf wie bei einer Lupe, doch allmählich klärte sich die Sicht. Ich wusste nicht, wie der Mann vor mir überhaupt aussah. Also sah ich ihn richtig an. Durch den Schneeregen waren seine Haare ebenso durchnässt wie meine. Sie klebten wie eine zweite Haut an seinem Kopf, hingen ihm aber nicht strähnig herunter oder verdeckten die Augen, wie es bei mir zum Teil der Fall war. Er hatte kurze Haare. Doch konnte ich die Haarfarbe nicht hundertprozentig erkennen. Es war zu dunkel dafür. Warum war das so wichtig wie er aussah? Warum? „Können Sie mich überhaupt verstehen?“, fragte er weiter. Dann nahm ich mich endlich zusammen und ich nickte mechanisch. Registrierte dennoch nebenbei, wie er kopfschüttelnd ein Handy hervorholte, während ich mich kraftlos an die Laterne angelehnt hatte und nach einer Lösung suchte, wie ich mich aus der Situation herausretten konnte. Der Mann war tatsächlich im Begriff, Hilfe zu holen, also musste ich handeln und schritt dazwischen. Ich versuchte einen gefestigteren Eindruck zu machen, in dem ich nun alleine vor ihm stand, ohne mich weiter am Mast anzulehnen. Meine Beine drohten abzuknicken, doch schaffte ich es irgendwie, stehen zu bleiben, während ich ihn endlich ansprach. „Bitte nicht, ich will in kein Krankenhaus. Bitte, ich will nicht dorthin. Man wird mich einweisen.“ Ich bettelte den Mann regelrecht an, spürte aber, wie er mit sich rang und ich geriet in Panik, als ich weiter versuchte, ihn davon abzubringen und das Gefühl hatte, es nicht zu schaffen. Schließlich brach ich in Tränen aus. Und als mir zusätzlich bewusst wurde, dass mein Selbstmordversuch total gescheitert war, schlug meine Panik rasch in eine Wut um. Den Zorn, der sich das ganze Jahr über angestaut hatte, erwachte zum Leben und kam nun ungefiltert an die Oberfläche. Ob ich wollte oder nicht, ließ ich es an dem Mann aus, der mich eigentlich gerettet hatte. Obwohl er nichts für meine Situation konnte, war ich ihm für die Rettungsaktion böse. „Warum haben Sie mich nicht sterben lassen? Warum muss jeder denken, es wäre gut, weiterleben zu wollen, in dem man sich einmischt? Es macht keinen Sinn, den Samariter zu spielen, wenn man einfach nicht mehr will und kann. Es ist eine pure Qual, eine schreckliche Hölle, in der ich mich befinde.“ Ich weinte, war völlig neben der Spur. „Ich kann so nicht mehr weiterleben, mein Leben hat keinen Sinn. Es macht keinen Nutzen. Mir ist dadurch nicht geholfen. Kapier es doch!“ Stellenweise hatte ich den Fremden angeschrien, während ich mich wieder am Laternenmast festhalten musste. „Ich will nicht mehr … Hau ab, geh weg …“ Was ich ihm im Endeffekt tatsächlich alles an den Kopf geworfen hatte, wusste ich selbst nicht mehr genau. Und irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich hatte aufgehört zu brüllen und zum Schluss den Laternenmast komplett umarmt, mein Gesicht an die raue Metalloberfläche gedrückt, während meine Tränen langsam versiegten und mein Gesicht trotzdem nicht trocknete, da Regen und Schnee die Tränen ersetzten. Doch anstatt mit mir zu schimpfen, oder mich links liegen zu lassen, wurde ich von ihm in die Arme gezogen. Er umarmte mich, einfach so! Anfangs ließ ich es zu, drückte mich sogar automatisch an ihn. Dann aber übermannte mich die Angst, ich versteifte mich und versuchte mich aus der Umarmung zu befreien. „Nicht, tun Sie mir nichts“, stammelte ich, als ich weiterhin festgehalten wurde. Die Panik, geschlagen zu werden, nahm überhand. Es war paradox, aber ich sah auf einmal Darian vor mir, wie er mich aus seinen kalten grünen Augen herablassend ansah. Mich verurteilte für die verbotenen Gefühle, die ich hegte, für die Liebe zum gleichen Geschlecht. Der Fremde spürte mein Unbehagen überdeutlich und ließ mich nun los. Er entfernte sich aber nicht von mir, als wenn er Angst hatte, ich würde mich umdrehen, um meine Tat zu vollenden, wovor er mich gerettet hatte: nämlich ins Wasser zu springen. „Keine Ahnung, was mit Ihnen wirklich ist und wer Ihnen solch ein Leid zufügte, dass sie in dem Alter nicht mehr wollen, aber so einfach kann ich Sie nicht zurücklassen. Auf keinen Fall. So nicht!“ Die Stimme klang ruhig und einfühlsam, aber bestimmend. „Wenn Sie nicht in ein Krankenhaus wollen, dann kommen Sie bitte mit mir mit. Wobei mir das Erstere lieber wäre. Sie sind beileibe in keiner guten Verfassung.“ Konnte ich ihm vertrauen? Konnte ich einfach so mit ihm gehen? Ich sah ihn an. Er schaute mich an. Lange sahen wir uns in die Augen, in denen wirklich nichts Böses lag. Hatte er grüne oder blaue Augen? Ich konnte es bei dem Licht nicht richtig erkennen. Doch sprachen aus ihnen tatsächlich Wärme und Hilfsbereitschaft. Ich sah ihn mir genauer an. Er hatte einen langen Mantel an und war größer als ich. Einsachtzig, vielleicht auch mehr. Ich war so durcheinander, wusste nicht, was ich machen sollte. „Und wenn ich einfach nicht mehr leben möchte, nicht mehr kann?“, startete ich den letzten, eher kläglichen Versuch, ihn davon zu überzeugen, mich einfach gehen zu lassen. Wusste aber im Gegenzug, dass ich von einem Mann, der mir gerade das Leben gerettet hatte, nicht erwarten konnte, dass er die Augen verschloss und sich einfach umdrehte und verschwinden würde, als wenn niemals etwas passiert wäre. „Sie sind noch jung. Es gibt immer einen Ausweg.“ Mit dieser Antwort hatte ich gerechnet. Ich schüttelte verneinend den Kopf. Weitere Tränen liefen stumm die nassen Wangen herunter. Der Schneeregen war inzwischen wieder in Schnee übergegangen. Die Straße begann weiß zu werden. „Egal, was Sie dazu bewogen hatte. Geben Sie mir eine Chance, Ihnen zu beweisen, dass es auch schöne Dinge im Leben gibt.“ Er bot mir seine Hand. „Bitte! Kommen Sie mit mir mit. Ich will Ihnen nichts Böses antun. Hätte ich Sie sonst gerettet, wenn ich Ihnen wehtun wollte? Es wäre eine Chance für Sie. Nutzen Sie sie!“ Eine zweite Chance? Sollte ich sie wirklich nutzen – ergreifen? Immer noch herrschte das reine Chaos in meinem Kopf. „Wie heißen Sie?“, fragte er mich, als er merkte, dass er auf der Schiene bei mir nicht weiterkam. Mein Gefühl, das er mit Leuten umgehen konnte, bestärkte sich. Die Art, wie er mit mir redete, so sanft, so beruhigend, nicht ärgerlich oder gar nervend, war für mich ausschlaggebend, ihm doch zu vertrauen, aber noch haderte ich mit mir. Dann aber gab ich schließlich nach und verriet ihm meinen Namen. „Jaden. Jaden Müller“, stellte ich mich mit leiser, dünner Stimme vor. „Jaden, was für ein schöner Name. Nehmen Sie meine Hand, Jaden. Ich möchte Ihnen wirklich helfen.“ Dabei sah er mir lange in die Augen, in denen ich mich verlor, weil sie so schön hell waren. Überhaupt hatte dieser Mann wunderschöne Augen. Dann gab ich mir einen Ruck. Die letzte Möglichkeit, mein Leben in den Griff zu bekommen. Den letzten rettenden Anker für mich und ich griff danach. Ich streckte meine dünne Hand langsam aus und nahm seine geduldig auf mich wartende. Er umschloss sofort die meine. Sie fühlte sich warm an, trotz der Kälte, und kräftig. Meine Hand verschwand komplett unter seinen Fingern. „Ich heiße übrigens Carsten. Carsten Engel“, stellte sich nun mein Retter ebenfalls vor.       ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 10: ------------   ~°~10~°~     Ich war jemandem begegnet, dem Ich nicht egal zu sein schien. Wenn das kein Zeichen war. „Herr Engel?“, fragte ich nach, so, als ob ich mich verhört hätte. Er hatte meine Hand kurz gedrückt, ließ sie aber zu meinem eigenen Bedauern los und nickte als Bestätigung. Die Wärme seiner Finger, die kurz eine Welle der Wohltat bei mir verursacht hatte, verschwand. „Ein passender Name für einen Retter“, fügte ich schnell hinzu, um etwas Nettes zu sagen. Meine Stimme zitterte. Sie kam kaum gegen den Wind an, doch hatte er es verstanden, denn er nickte abermals. Mir wurde anders zumute. Fremdartige Gefühle durchströmten meinen Körper. War ich rot geworden? Bei der Kälte konnte ich das nicht mit Sicherheit bestimmen, es war nur ein Gefühl. „Ja“, antwortete er nach einer kurzen Pause. „Auch wenn ich kein richtiger Engel bin, so habe ich vielleicht eine Art von Schutzengel in mir?“ Er hielt mich an beiden Armen fest, ließ nicht los und ich klammerte mich buchstäblich an ihn, auch aus Angst, einen Rückzieher zu machen, oder ihn von mir zu stoßen. Die Befürchtung, wenn ich losließ, würde es für mich keine Rettung mehr geben. „Danke, Herr Engel“, flüsterte ich an seine Brust gelehnt. „Ich bin mit dem Auto da“, sprach er einfühlsam, als er merkte, dass ich mich nicht rührte, sondern mich weiter an ihn klammerte, folgte aber seinem Blick. Mein Retter deutete auf den drei Meter vor uns stehenden, schief parkenden, schwarzen BMW – die Fahrertür stand noch offen. Ich sah zu dem Fahrzeug, dass eine eigene Sprache sprach, und konnte mir denken, wie ich auf ihn gewirkt haben musste – ein junger Mann, der in die Fluten springen wollte, um zu sterben. Er ließ meine Hand erst los, als er die Beifahrertür aufmachen musste. „Im Übrigen kannst du mich Carsten nennen und nicht Herr Engel.“ Carsten drehte sich zu mir und war automatisch zum ‚Du‘ übergegangen. Dann befühlte er meinen Puls, was mich noch mehr überraschte, vor allem so fachmännisch. Ich ließ ihn gewähren, entzog ihm nicht meine Hand. Dennoch sah ich ihn unsicher an, hüllte mich enger in meinen nassen Mantel, der absolut keinen Wärmeschutz gab. Meine Finger waren steif, meine Zehen spürte ich in meinen Stiefeln schon lange nicht mehr. „Dein Puls rast, das ist aber normal. Du bist noch durch den Wind“, fügte er hinzu. „Okay“, kam es leise von mir. „Schwindelig?“ Kurz wollte ich bejahen, doch dann schüttelte ich den Kopf. Klar fühlte ich mich nicht kräftig, aber schwindelig war mir nicht mehr. Eher würde ich erfrieren, wenn ich nicht bald aus den völlig durchnässten Klamotten kommen würde. Der Wind nahm zu. Die Wetterlage war alles andere als angenehm. Es erinnerte mich an einen Tag vor einem Jahr, mit Darian in den Bergen, damals hatten wir so ein ähnliches Wetter gehabt. Danach hatte sich alles geändert. Ein Zeichen, ein Omen etwa? Ich war nicht wirklich gläubig, aber so etwas stimmte mich nachdenklich. „Ich wohne außerhalb von Hamburg“, sprach Carsten weiter. Ich nickte stumm, als er mich auf der Beifahrerseite seines BMWs einsteigen ließ. Der lederne Sitz gab quietschende Geräusche von sich, als er Kontakt mit meinem nassen Ledermantel bekam. Ich zuckte erschrocken. Schnell warf ich Carsten einen entschuldigenden Blick zu, der mich daraufhin beruhigte. „Nicht schlimm, ich bin auch nass. Die Sitze halten einiges aus. Und jetzt fahren wir zu mir. Du musst dringend aus deinen durchnässten Sachen raus.“ Hätte er mich nicht einfach nach Hause fahren können?, stellte ich mir die Frage. Doch hielt mich etwas davon ab, ihn direkt danach zu fragen. Ich fühlte mich nicht stabil genug, mich meinen Mitbewohnern zu stellen, die berechtigterweise mit Tausenden an Fragen gekommen wären. Und eines wusste ich mit Sicherheit auch, ich hätte am nächsten Tag an der gleichen Stelle gestanden und die gleiche Todessehnsucht gehabt wie heute. Wenn ich ehrlich zu mir war, hatte ich sie immer noch, wenn auch nicht mehr ganz so stark. Carsten hatte die Heizung fürsorglich aufgedreht, als ich neben ihm schlotterte. Das warme Gebläse ließ die Innentemperatur schnell ansteigen. Nun fror ich nicht mehr ganz so heftig wie noch vor einigen Minuten, während im Gegenzug draußen der Sturm zunahm und Schnee und Regen abwechselnd gegen die Windschutzscheibe prasselten. Ich beobachtete meinen Retter von der Seite. Er selbst sah nicht zu mir, sondern konzentrierte sich auf die Straße. Carsten kam mir wirklich wie ein Engel vor, als ich ihn kurz von der Seite her betrachtete. Nicht nur, dass er den Namen trug, nein, es musste Schicksal sein, dass Er gerade da war, als ich mich in die Fluten stürzen wollte. Ich sehnte mich nach einer Zigarette, doch traute ich mich nicht, nach einer zu fragen, zumal es überhaupt nicht nach Rauch im Auto roch. Daher war ich mir ziemlich sicher, dass Carsten Nichtraucher war. Ich beschloss für mich, auch keine mehr anzurühren. Aber ob ich das schaffen würde? Mein Verlangen nach Nikotin war groß, daher versuchte ich mich abzulenken, um nicht ständig daran denken zu müssen und wendete meinen Blick von ihm ab. Ich starrte aus dem Fenster des Autos auf die fast menschenleeren Straßen. Ab und an lungerten Typen herum, die entweder gerade von ihrer Kneipentour kamen oder Obdachlose, die sich vor der Kälte einen sicheren Schutz in einem Hauseingang suchten, anstatt ein Obdachlosenheim aufzusuchen. Die Armut war hier in Hamburg besonders hoch, höher als in München. Doch von der Stadt selbst kannte ich nicht wirklich viel mehr als andere, die nicht dort wohnten, wie ich bitter feststellte, als wir durch die Stadt fuhren. Vieles war mir noch immer fremd – selbst die Reeperbahn, von der man hörte, dass sie gar nicht mehr ganz so verrufen war, seit einige Theater Einzug hielten. Ich kannte nur das Rathaus, und das zur Genüge, oder den Hafen der Elbe. Ein Jahr lebte ich bereits hier und wusste von der Speicherstadt so gut wie nichts. Noch nicht einmal in die Miniaturwelt war ich gegangen, als ich von meinen Mitbewohnern eine Eintrittskarte zu meinem Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ich hatte sie nie eingelöst. Das wussten sie aber nicht …   Wir fuhren nach Schenefeld, wie mir Carsten mitteilte, als ich danach gefragt hatte, da ich bemerkte, wie wir aus Hamburg heraus gefahren waren. Es war inzwischen stockfinster, die Straßenlaternen lange aus. Nur die Scheinwerfer von seinem Auto beleuchteten die Schilder und die Straßen vor uns. Irgendwann bogen wir in den Krähenhorst, wie ich zufällig auf dem Straßenschild lesen konnte. „Hier wohne ich“, unterbrach er die Stille. Die ganze Zeit über hatten wir geschwiegen. Wir hielten am Ende der Straße vor einem großen Haus an. Nachdem er dann per Fernbedienung das Garagentor geöffnet hatte, fuhren wir in seine Garage. Ich sah die vielen Bäume, die sich auf den Weg dorthin erstreckten. Mein Retter wohnt ziemlich im Grünen, dachte ich, als wir ausstiegen. Wie am Ende der Welt. Wir betraten sein Haus, in dem mich gleich ein großer kläffender Schäferhund begrüßte und ich erschrocken zusammenzuckte. „Hey, mein Kleiner, du erschreckst unseren Gast“, tadelte er sofort seinen Hund. Kleiner?  „Entschuldige, ich hätte erwähnen sollen, dass ich einen Hund habe“, entschuldigte er sich bei mir. Ich hatte noch nie einen Hund, also war ich erst einmal passiv dem Vierbeiner gegenüber, zumal er wirklich groß war und nickte nur, während ich beschnuppert wurde. Er bellte noch zweimal, dann ließ er mich in Ruhe. „Er beißt nicht, er beschützt mich nur. – Basta, begrüße Jaden.“ Basta gehorchte nun aufs Wort, stellte seinen Schwanz auf und wedelte freudig. Mein Herz jedoch klopfte wie verrückt. Bewundernd stellte ich aber schnell fest, wie liebevoll der Mann mit seinem Hund umging, als dieser ihn umarmte und streichelte. Die beiden in dieser harmonischen Zweisamkeit zu sehen, da wusste ich, ich hatte die richtige Entscheidung, mitzugehen, getroffen. Um meine Angst vor dem Tier wegzubekommen, streichelte ich ihn vorsichtig am Rücken. Sein Fell war dicht und weich. Basta hob seinen Kopf, sah mich an, gähnte und trottete schließlich ins Innere des Hauses, wo er verschwand. Es wurde ruhig. Keine weitere Begrüßung. Ich wurde stutzig, hätten doch vom Lärm her die restlichen Hausbewohner wach werden müssen und schaute mich nun verstohlen um. Vielleicht machte ich auch ein fragendes Gesicht, denn Carsten erriet meine Gedanken. „Mein Hund ist die einzige Begrüßung“, kam es fast schon entschuldigend von ihm. Er kratzte sich am Kopf. „Ich lebe seit meiner Scheidung alleine im Haus. Nur Basta ist geblieben.“ Ich sah ihn nur an, als er weiter erzählte, wunderte mich etwas, dass er ziemlich offen mir gegenüber war. „Ich hänge zu sehr daran, um auszuziehen, oder es gar zu verkaufen. Es ist nur ziemlich groß für einen Alleinstehenden.“ „Warum Basta?“, fragte ich nach, weil ich so eine Betitelung für einen Hund noch nie gehört hatte. „Ein seltener Name für einen Hund“, fügte ich rasch hinzu. Ich war neugierig, wie man auf so einen Namen kam. Mein Retter lächelte mich an, als ob er mir damit sagen wollte: ‚Du bist nicht der Einzige, der danach gefragt hatte.‘ „Ich hatte einen Film gesehen, wo ein Hund namens Basta mitspielte. Mir gefiel der Name so sehr, dass ich mir innerlich schwor, wenn ich einen Hund haben würde, würde ich ihn ebenso nennen.“ „Mhm“, mehr sagte ich nicht. Ich spürte seine Musterung. Wir standen uns immer noch im hell erleuchteten Flur gegenüber. Was die Dunkelheit verschluckte, kam hier zum Vorschein. Als ich ihn mir ebenso genauer betrachtete, fiel mir auf, dass Carsten wesentlich älter war – vielleicht 10 Jahre. Im Schätzen war ich noch nie gut, aber er war älter, soviel stand fest. Nun konnte ich die Farben seiner Augen richtig erkennen – sie waren blau. Und wie sie das waren - wie der Himmel. Als ich ihn mir weiter betrachtete, stellte ich noch andere Sachen fest, wie ein markantes Kinn und einen leicht zu breiten Mund mit schmalen Lippen, was keinesfalls hässlich wirkte. Nun kam auch die Haarfarbe zum Vorschein. Er war blond. Die Haare waren fast trocken und wellten sich leicht um sein Haupt. Den freundlichen Gesichtsausdruck unterstrich seine sympathische Erscheinung. Als er ebenfalls meine Begutachtung registrierte, wurde ich verlegen, weswegen ich schnell den Blick von ihm abwendete und auf seine Einrichtung schaute. Ich war überwältigt von der Sauberkeit und vor allem von den edlen Gegenständen, die meine Augen nun erfassten. Obwohl ich bis jetzt nur den Flur kannte, konnte ich mir ausmalen, dass der Rest der Wohnung geschmackvoll eingerichtet war. Eine peinliche Stille war zwischen uns entstanden. Carsten räusperte sich: „Du wirst bestimmt duschen wollen und ich bereite uns inzwischen einen Tee zu. Außerdem sollten wir dringend aus unseren nassen Sachen heraus, wenn wir nicht krank werden wollen.“ Er hatte sich aus den Schuhen befreit und wies mich an, dasselbe zu tun. Ich schlüpfte etwas schwierig aus meinen vollgesaugten Stiefeln und die schwarzen Socken hinterließen sofort auf den hellen Fliesen eine Pfütze. Da aber der Boden angenehm warm war, zog ich die Strümpfe ebenfalls aus. Zum Schluss nahm mir Carsten meinen Mantel ab, als ich mich aus diesem etwas umständlich herausgeschält hatte, und hängte ihn über einen Bügel. Die restlichen nassen Sachen behielt ich vorerst an. Ich war von seiner Fürsorge fasziniert. Barfuß folgte ich ihm in ein großes Zimmer. Sofort erkannte ich den Wohn-Essbereich. Beeindruckt sah ich mich um. Hinten links in der Ecke stand ein großer schwarzer Flügel. Ich blieb vor dem Instrument stehen, bewunderte das Teil, während Carsten in einem Nebenraum verschwand. Wow! Meine Augen blieben förmlich daran kleben – er war riesig. Ich hatte nicht gleich bemerkt, wie Carsten an mich herangetreten war und mir einen grauen Bademantel reichte, als ich mich zu ihm umdrehte und meinen Namen sprechen hörte. Dankbar nahm ich ihn an. Ein Satz nagelneuer Unterwäsche hatte er mir ebenfalls in die Hand gedrückt, doch passten sie mir? „Morgen sind deine Sachen wieder trocken.“ „Danke.“ Zwischen uns entstand wieder eine peinliche Stille, bis er sie durchschnitt. „Du siehst dir gerade mein Herzstück an?“ Er deutete auf den Flügel und ich nickte. „Kannst du spielen?“, fragte er sichtlich daran interessiert. „Nein, nicht wirklich, vielleicht den Flohwalzer.“ Ich erinnerte mich, wie ich in der ersten Klasse auf dem Klavier von meiner Lehrerin spielte, dabei hatte sie mir dann das Lied beigebracht, als mein Interesse wuchs, ein Lied auf die Schnelle lernen zu wollen. Ich blendete meine Erinnerung daran aus. „Danke für die Unterwäsche.“ „Komm, ich zeig dir das Bad.“ Carsten wies mich an, ihm zu folgen. Eine breite Wendeltreppe, deren Geländer aus massivem Messing bestand, führte in den ersten Stock. Er zeigte mir das Badezimmer und ließ mich dann alleine. Ich blendete auch hier die tolle Einrichtung aus meinem Kopf, während ich mich aus den restlichen Sachen befreite. Als ich in die Dusche stieg, wo ich mich über das warme Wasser freute, das meinen Körper freudig begrüßte, kehrte kurz das Leben zurück, wie auch meine Niedergeschlagenheit. Ich duschte lange und ausgiebig, während ich meinen Gedanken hinterher hing. Wie würde meine Zukunft jetzt wohl aussehen? Ich fühlte mich eigenartigerweise in seinem Haus geborgen, als ich nach dem Duschen und einer Tasse heißen Lindenblütentee, den wir in der Küche zu uns nahmen, Kräfte hatte sammeln können. In der ganzen Zeit fiel kein Wort. Ich war dankbar um dieses Schweigen. Carsten zeigte mir, als wir den Tee ausgetrunken hatten, das Gästezimmer. Sofort fiel mein Blick auf ein großes Bett im japanischen Stil. Die passenden Möbel dazu schmückten den Raum. Ich fand es schön hier und wunderte mich in meiner doch depressiven Stimmung, dass ich mich daran erfreuen konnte. Auf dem Bett lag ein grüner Schlafanzug aus Satin. Gewöhnlicherweise schlief ich in Unterwäsche. Doch hatte ich unter meinem Bademantel nichts darunter an, weil mir Carstens Unterwäsche zu groß gewesen war. Ich hatte sie im Bad zurückgelassen. Mir wurde bewusst, wie wenig ich anhatte, fühlte mich nackt und schloss daher den Mantel enger um mich. Als Carsten mich betrachtete, errötete ich, dann sah ich erstaunt auf seine Hände. Carsten hatte ein Glas Wasser und eine Tablette und ich sah fragend auf die beiden Sachen. „Nimm sie bitte, es ist Donormyl, sie soll dir helfen, besser einschlafen zu können. Dein Körper braucht Erholung.“ Ich spürte, dass er mir wirklich nur helfen wollte und nickte. Dankbar nahm ich die Pille entgegen, schluckte sie mit etwas Wasser, welches Carsten mir reichte, herunter. „Gute Nacht, bis morgen!“ Seine Worte waren einfühlsam, als ich ihm das leere Glas zurückgab. „Bis Morgen“, sagte ich, schon leicht benommen, aber nicht zu schläfrig. Zudem war ich dankbar, dass er mich bezüglich meines Selbstmordversuchs heute Nacht nicht mehr ausgefragt hatte. Die Tür schloss sich. Nun war ich alleine in dem Zimmer. Ich nahm die Sachen, die auf dem Bett lagen, und zog mich um. Erwartungsgemäß war mir das Oberteil wie auch die Hose zu groß und ich musste sie an ihren Enden umkrempeln, als ich in sie hineingeschlüpft war. Dann gähnte ich, hielt mir aber die Hand vor den Mund, merkte, wie das Schlafmittel seine volle Wirkung entfaltete. Ich schlüpfte unter die Bettdecke, streckte meine Beine aus und gähnte ein weiteres Mal herzhaft, dabei fiel mein letzter Blick auf die Uhr, die auf der Kommode stand. Es war bereits fünf Uhr. Bevor mich der Schlaf völlig übermannte, meinte ich, im Hintergrund leise Pianoklänge zu hören, konnte mich aber auch irren. Ein schwarzer Vorhang brach über mich herein.         ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 11: ------------ ~°~11~°~     Am nächsten Tag wachte ich spät am Mittag auf. Schon lange hatte ich nicht mehr so gut geschlafen, vor allem traumlos, was man sicherlich auf das Schlafmittel zurückführen konnte. Zwar tat mir jeder einzelne Knochen bei jeder Bewegung weh, sonst aber war so weit alles in Ordnung, wenn man von meinem Seelenheil absah. Der Blick auf die Uhr bestätigte – es war tatsächlich weit in den Mittag hinein. Gähnend kroch ich aus dem weichen, warmen Bett, was ich am liebsten nicht verlassen hätte und suchte nach meinen Klamotten. Da ich meine Kleidungsstücke nicht vorfand, zog ich mir den Morgenmantel von gestern über meinen Schlafanzug und ging auf die Toilette, um mich zu erleichtern. Dabei hörte ich, dass unten leise Radiogeräusche liefen und Carstens summende Stimme dazu. Sie kam aus der Küche. Ein flaues Gefühl breitete sich aus, als ich daran dachte, warum ich hier war und wie ich gerettet wurde. Alles war so surreal. Die Selbstmordgedanken jedoch, die waren verschwunden. Doch wie sollte es weitergehen? Das mulmige Gefühl im Bauch nahm zu, als ich den Weg zur Küche herunterschritt. Der Flor dämpfte meine Schritte. Basta hatte mich allerdings gewittert. Ich sah, wie er die Ohren aufrichtete. Er lag auf einer Hundedecke und hatte ein Mittagsschläfchen gehalten, stand aber nicht auf, gähnte und legte seinen Kopf auf seine Vorderpfoten ab. Fauler Hund! „Ausgeschlafen?“, fragte mich Carsten, als ich die Küche betrat. „Danke, ja.“ Ich stand etwas verloren in der Tür und sah ihm verstohlen zu, wie er ein Tablett mit Wurst, Käse, Butter, Marmelade und Brot, sowie Geschirr und Besteck drapiert, mitten auf dem Tisch platzierte. Dann deckte er den Tisch, obwohl die Zeit für ein Frühstück schon lange vorbei war. Er wirkte verschlafen, in seinem blauen Hausanzug. Die Haare standen leicht wirr vom Kopf ab. Ich ließ meinen Blick kurz über die gedeckte Tafel schweifen. Alleine vom Anblick der vielen Lebensmittel wurde mir ein wenig übel und ich griff instinktiv nach meinem Bauch, der daraufhin leise vor sich hin gluckerte. Doch verspürte ich keinen Hunger, aber auf etwa anderes – Nikotin. Der Nikotinentzug machte sich bemerkbar, meine Hände zitterten ein wenig. Carsten sah auf meine Hände, sagte aber nichts. Ich unterdrückte den Drang, mich zurückziehen zu wollen. „Setz dich!“, bat er milde. Ich nickte, setzte mich an den Tisch. „Ich habe uns Tee gemacht. Kaffee finde ich für die Tageszeit nicht passend.“ Ich schon!, dachte ich wehmütig, nickte aber ein weiteres Mal. Carsten schenkte mir Tee ein. Als er bemerkte, dass ich nichts anrührte, sah er mich besorgt an: „Du solltest was essen – zu Kräften kommen.“ Er selbst hatte sich ein Vollkornbrot mit Butter beschmiert und mit Käse belegt. Alleine der Anblick davon und ich wusste, ich konnte keinen Bissen herunterbringen. „Ich habe keinen Hunger“, war daraufhin meine ehrliche Antwort. „Jaden, bitte!“ „Sorry … ich kann nicht.“ Ich senkte meinen Blick, fühlte mich hilflos. Er sah mich lange an, dann seufzte er. „Na gut! Dann trink wenigstens deinen Tee.“ Wieder diese warme und weiche Stimme, die weder bedrohlich noch beängstigend auf mich wirkte. Ich nickte und trank an meinem schwarzen Tee. Zwischen uns entstand eine Stille. Ich fühlte mich zwar fremd in seiner Umgebung, und doch wollte ich irgendwie hier nicht weg. Würde ich jetzt gehen müssen? War das gestern, dass ich mit ihm gegangen war, nur für eine Übernachtung gewesen? Fragen über Fragen häuften sich. Ich entschloss mich nach langem innerem Kampf, ihn zu testen und unterbrach unser Schweigen, was mir nicht leicht fiel. „Ich müsste heute in meine Wohnung – brauche ein paar frische Klamotten.“ Die Worte waren gesagt. Mein Herz klopfte schnell und hart gegen die Brust, als ich ihn ansah. Wie würde er reagieren? Carsten, der zwischenzeitlich in die Tageszeitung geschaut hatte, klappte sie zu und fuhr sich über sein blondes Haar. „Eine gute Idee.“ Er klang offensichtlich zufrieden. „Ich werde dich begleiten. „Ja?“ Ich ließ sie absichtlich als Frage klingen. „Ja! Und du wirst so lange hier bleiben, bis es dir wieder besser geht. Also pack ruhig ein paar Sachen mehr ein. Ich versprach dir einen Ausweg, einen Neuanfang, daran halte ich mich auch.“ Wenn mein Herz bereits schnell schlug, so raste es nun bei seinen Worten. Ich war sprachlos.  Hatte Carsten meine Gedanken erraten? Stand mir meine Hilflosigkeit so sehr ins Gesicht geschrieben? Ich konnte ihn kaum ansehen. Was wusste Carsten Großartiges von mir? Außer meinem Namen rein gar nichts. Wenn ich so recht überlegte, wusste ich von ihm auch nicht viel. Doch war ich es gewesen, der sich umbringen wollte. Ich wusste in diesem Augenblick nur, dass von Carsten nichts Böses ausging. Aber aus was für einem Grund wollte er mich bei sich wohnen lassen, ohne richtige Informationen über mich zu besitzen, oder gar nachzufragen, was der eigentliche Grund meiner Misere war? Ich widmete mich weiter dem Tee, der mir gut bekam, und vergaß ganz, dass Carsten auf eine Antwort wartete. Das warme Gebräu füllte weiterhin angenehm meinen Magen, während ich in meiner ganz ureigenen Welt verschwand. In die, seit Darian in mein Leben getreten war. Darian! „Jaden?“ Ich schreckte auf, sah ihn beinahe verängstigt an, doch sein warmer Blick beruhigte mich sofort. Überhaupt strahlte er Ruhe und Gelassenheit aus. „Alles in Ordnung?“ Ich stellte die Tasse auf den Unterteller und nickte – schüchtern. Mir wurde bewusst, dass ich auf ihn wie ein Häufchen Elend wirken musste. Ich konnte meine Magerkeit nicht ganz vor ihm verbergen, und was gestern im dunklen Licht geschickt zu verbergen war, kam nun ans Tageslicht. Doch anstatt mir einen Vortrag zu halten, nahm er von meinem Aussehen keinerlei Notiz oder er versteckte seine Gefühle darüber sehr gut. Ich trank meinen Tee leer. Carsten war ebenfalls fertig mit seinem Frühstück, stand auf und ich folgte ihm. Er überreichte mir meine getrockneten und vor allem sauber gewaschenen Klamotten, die im Keller in einem kleinen Raum aufgehängt waren. Der Raum war warm beheizt und komfortabel. Man hätte auch darin wohnen können. Dankend nahm ich das Bündel entgegen und ging auf mein Zimmer zurück. Eine halbe Stunde später war ich umgezogen, Carsten hatte auf mich im Flur gewartet. Wir fuhren nach Hamburg in meine WG, die ich zu meiner Erleichterung leer vorfand. Die ganze Zeit über hatte ich während der Fahrt darüber nachgegrübelt, was ich ihnen hätte sagen sollen. „Ich hätte jetzt keinen ertragen können“, sagte ich schließlich zu ihm, obwohl er nicht danach gefragt hatte. Wir gingen den Flur entlang und blieben vor meinem Zimmer stehen. Carsten nickte verständnisvoll. „Das wird schon wieder und ich bin auch noch da, um die Situation zu klären.“ Ich öffnete die Tür, zu meinem Zimmer, das vor Sauberkeit nur so glänzte. Carsten sagte zu meinem spartanisch eingerichteten Zimmer nichts. Ob er meine Armut erahnte? Spielte das eine Rolle? Ich wusste es nicht; ich machte mich an die Arbeit, holte einige meiner Klamotten aus dem Schrank und packte sie in meinen alten Koffer. Carsten hatte ich die ganze Zeit über ausgeblendet. Während des Packens fiel mir das Bild von Darian in die Hände. Nun wurde mir die Anwesenheit von meinem Retter schnell bewusst. Ich sah verstohlen zu ihm, doch Carsten war ans Fenster getreten und hatte die Situation nicht mitbekommen. Dennoch war ich rot angelaufen. Weiterhin hochrot im Gesicht, versteckte ich rasch das Bild zwischen meiner Unterwäsche. Dabei kam ich mir wie ein Verbrecher vor. Mein Herz raste. Seit dem Einzug hatte ich niemals mehr das Bild in den Händen gehalten. Ein innerer Zwang wollte, dass ich das Bild erneut herausholte und ansah – es betrachtete, was ich dann auch tat. Wut und Trauer kamen und gingen, als ich sein Gesicht vor mir sah. Eigentlich hätte ich es einfach zerreißen sollen. Doch aus welchen tieferen Gründen auch immer, ich brachte es nicht über das Herz. Auch wenn mein Halbbruder mir so viel Leid zugefügt hatte in jener schrecklichen Nacht, waren die Gefühle immer noch sehr stark für ihn. „Jaden, alles in Ordnung?“ Carsten war an mich herangetreten. Schnell legte ich die Fotografie zurück, versteckte sie im Koffer. Ob Carsten das Bild nun doch gesehen hatte, konnte ich nicht erkennen. Irgendwann würde ich ihm, wenn die Gelegenheit sich ergab, davon erzählen müssen, wenn ich überhaupt über meinen Bruder erzählen konnte. Mir fiel Susan ein. Meine einzige wahre Freundin, und ich hatte sie vor den Kopf gestoßen. Ich fühlte mich plötzlich schlecht, als ich wieder an sie dachte. Warum hätte ich mich nicht einfach in sie verlieben können? Sie hätte mich glücklich gemacht. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich sah meinen Retter an und nickte, schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. Er fragte nicht weiter, als er trotzdem meinen weinerlichen Ausdruck im Gesicht erkannte. Wieder ein Pluspunkt für ihn. Mit zittrigen Händen packte ich zu Ende. „Fertig?“, fragte er mich. „Ja, fertig. Ich habe alles.“ Meinen Mitbewohnern hinterließ ich einen Zettel mit einer Nachricht, dass ich für einige Zeit bei jemand anderes wohnte. Zum Schluss bat ich um Aufschub der Miete. Als Carsten den Zettel liegen sah, nahm er ihn einfach unter schwachem Protest meinerseits an sich, las den Betrag, den ich für die Miete noch schuldete. Er hob seine Augenbrauen, dann sah er mich an. Ich konnte sein Mienenspiel nicht deuten, ob er wütend war oder einfach besorgt, dazu kannte ich ihn zu wenig. Er zückte ohne zu zögern seinen Geldbeutel und legte schließlich 200 Euro neben den Zettel. Strich den letzten Satz mit einem daneben liegenden Kugelschreiber durch. „Carsten, ich kann das nicht annehmen.“ Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Zumal er mit mir nur Unkosten hatte. Ich biss mir auf die Lippen, sah ihn an, verlor mich in seinen Augen. Sie waren so klar wie das Meer, so rein. Ich machte mir meine eigenen Gedanken um ihn, warum er wirklich so viel für mich tat? „Das regeln wir alles noch. Erst einmal sollten dich solche Dinge nicht belasten“, sagte er schlicht und ich verließ wie in Watte gepackt, mit meinem Koffer in der Hand, die Wohnung. Weit kam ich nicht, denn fürsorglich, so wie ich ihn bis jetzt kennengelernt hatte, nahm er ihn mir ab. Beschämt ließ ich es zu, meiner Schwäche bewusst und stieg in den BMW. Ich betrachtete Carsten von der Seite her. Seit ich ihm richtig in die Augen geschaut hatte, nahm ich ihn anders wahr. Die Art der Kleidung, wie er sich bewegte, in seiner Jeans und seinem weißen, aber edlem Hemd. Dass er Geld hatte, war nicht zu übersehen. Aber warum interessierte es mich auf einmal, was er anhatte? Schnell verscheuchte ich die Gedanken über ihn und kam auf meine Mitbewohner zurück. Was würden sie nur sagen, wenn sie den Zettel mit dem Geld vorfanden? Ich musste zumindest Ina oder Sabine Bescheid geben. Mit ihnen war ich doch enger in Kontakt. Als wir losfuhren, Carsten hatte sich geschickt in den Verkehrsfluss eingefädelt, konnte ich auf einmal meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich konnte es selbst nicht ganz begreifen, aber es war so. Als Carsten meinen Zustand sofort bemerkte, fuhr er an die Seite, sah mich kurz an und dann gab er mir ein paar Tropfen – Johanniskraut las ich als Wirkstoff, was meinen Kopf schnell leer werden ließ. Ich fühlte mich danach in Watte gepackt, als ich zehn davon auf einem Stückchen Zucker eingenommen hatte. Ich wurde stutzig. Hatte Carsten die immer auf Vorrat? Was war Carsten von Beruf? Irgendwann würde ich ihn fragen. Doch nicht heute. Das schwermütige Gefühl wurde besser. „Danke.“ „Geht’s nun besser?“ Ich nickte, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich war Carsten dankbar, dass er auch da nicht nachgefragt hatte. Als wir ankamen, zog ich mich für den Rest des Tages zurück. Zwar bat mich Carsten, mit ihm Abend zu essen, weil ich immer noch nichts gegessen hatte – ich verneinte, versprach aber am nächsten Morgen zum Frühstück zu erscheinen. Das Einzige, worauf ich Hunger hatte, waren Zigaretten. Doch ganz ohne alles wollte mich Carsten nicht gehen lassen. Und so überredete er mich, wenigstens eine Kanne Kräutertee mit Zucker mit aufs Zimmer zu nehmen. Als ich für mich war, packte ich meine Sachen in den Schrank. Wieder fiel mir das Bild in die Hände, als ich bei der Unterwäsche angekommen war. Um nicht wieder in ein mentales Loch zu fallen, schob ich es unter die Wäsche. Die Wirkung der Tropfen half mir schnell, die Gedanken an Darian zu verbannen. „Nein, heute wirst du mich in Ruhe lassen!“ Ich lenkte mich ab, sah das Telefon auf meinem Zimmer stehen, und bevor ich groß nachdachte, hatte ich schon die Nummer von der WG gewählt. Ich war über mich selbst erstaunt. Lag es wirklich an der Wirkung der Johanniskrauttropfen? Sabine nahm das Gespräch entgegen. „Hallo?“ „Hi, hast du meine Nachricht gelesen?“, fragte ich, ohne groß um den heißen Brei zu reden. „Ja, habe ich – danke, aber warum wohnst du nun woanders und wo überhaupt? Die Nummer ist keine Hamburger Nummer.“ Ich seufzte – manchmal war die Technik nicht immer optimal platziert. „Ich brauche einfach Abstand …“ Ich erzählte ihr nicht mehr, nur, dass ich jemanden kennengelernt hatte. Als sie nachfragte, ob auch wirklich alles in Ordnung sei, versuchte ich sie davon zu überzeugen. Frauen hatten einfach die feineren Antennen, vielleicht lag es an meiner nicht sehr festen Stimme, dennoch bohrte sie nicht weiter und wünschte mir eine gute Zeit. Als ich auflegte, fühlte ich, dass ich richtig gehandelt hatte. Wovor hatte ich so viel Angst gehabt?         ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 12: ------------   ~°~12~°~   Am nächsten Morgen, es war die zweite Nacht in diesem Haus, hatte ich erneut durchgeschlafen, noch ohne schlecht geträumt zu haben und vor allem ausgeruht, und das, ohne ein Schlafmittel vorher genommen zu haben. Sogar mein Magen meldete sich zum ersten Mal zu Wort und ich verspürte so etwas wie einen winzigen Hunger. Ich stand auf, streckte mich, bis einige Knochen knackten, und sah dann auf den Wecker. Es war fast zehn Uhr, doch lange nicht so spät wie gestern. Mein Weg führte mich zielstrebig unter die Dusche. Wohlig ließ ich mir das warme Wasser auf meinen Körper prasseln. Ich genoss es, ausgiebig zu duschen. Danach zog ich meine schwarze Leggins an und ein ‚The Cure‘ Shirt. So lief ich auch privat herum, wenn ich meinen freien Tag hatte und ich nicht vor die Tür musste. Ich fühlte mich in den Klamotten einfach wohl und war dankbar, dass Carsten mich nicht wegen meiner schwarzen Sachen ausgefragt hatte. Wobei, er kannte mich gerade mal zwei Tage! Vielleicht würde das noch kommen. Die Morgentoilette beendet, betrat ich dann doch verschüchtert die Küche, in der bereits richtiges Leben herrschte. Das Radio dudelte das Lied von Bon Jovi ‚Bed of Roses‘ – Carsten hörte Rockmusik? Basta lag vor der Tür und ich musste über ihn drübersteigen. „Guten Morgen, Jaden!“, wurde ich sofort von ihm begrüßt. „Morgen“, nuschelte ich als Antwort und war mir nicht sicher, ob er mich überhaupt gehört oder verstanden hatte. Ich kam mir etwas verloren vor, und kurz war ich sogar gewillt, umzudrehen und mich in mein Zimmer zurückzuziehen, war es für mich eine richtige Zufluchtsstätte geworden. Aber undankbar wollte ich auch nicht erscheinen, indem ich einfach wieder ging. Bevor ich weiter darüber grübelte, hatte Carsten eine Aufgabe für mich. „Würdest du bitte mithelfen, alles für die Terrasse draußen mitzunehmen, um dann den Tisch zu decken.“ Carsten schien schwer beschäftigt, doch strahlte er an diesem Sonntag eine Ruhe aus, die mich ansteckte. Die kurze Nervosität verschwand. „Hast du gut geschlafen?“, fragte er aufrichtig. Ich hörte im Hintergrund den Kaffeeautomaten laufen und nickte nur, als Carsten mich wartend ansah. Ich hatte ihm keine Antwort gegeben und holte es schnell nach. „Ja, danke, hab gut geschlafen.“ „Freut mich.“ Der Duft des Kaffees war angenehm, roch herrlich nach Röstaroma. Ich beobachtete ihn, wie er an der Anrichte stand in seiner ausgebeulten, blauen Sporthose, die bestimmt mindestens 20 Jahre auf dem Buckel hatte. Mein Blick wanderte nach oben und blieb auf dem weißen, engen Shirt haften. Dies sah wesentlich besser an ihm aus. Carsten bereitete in der großen, geräumigen Küche das Frühstück zu, bemerkte meinen Blick und musterte mich ebenfalls, zwar nur kurz, sagte aber nichts zu meinem Erscheinungsbild. Warum ich ihn aber weiterhin anstarrte, war mir ein Rätsel. Mir schoss kurz die Röte ins Gesicht, denn mir wurde klar – Carsten war nicht schwul. Und dennoch fand ich ihn auf eine gewisse Art und Weise attraktiv. Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in mir aus. Irritiert darüber schaute ich weg und konzentrierte mich auf das Bereitstellen des Tabletts und füllte es mit Geschirr, Besteck und das, was mir Carsten an Unmenge an Lebensmitteln reichte. Wer sollte das denn alles essen, als ich auf die vielerlei Sorten Käse, Wurst und Marmelade blickte? Als ich fertig war das Tablett damit zu bestücken, überkam mich der Drang, Carsten erneut anzuschauen. Meine Augen blieben automatisch auf seiner Figur hängen. Er hatte wirklich eine tolle, athletische, äußere Erscheinung, wie ich fand. Ich konnte seinen flachen Bauch unter seinem Shirt erkennen. Wow! Wie alt er wohl ist? Die Hose allerdings bekam von mir nur einen Punkt – sie sah an ihm aus wie ein Sack. Auch beim zweiten Mal hinsehen wurde es nicht besser. Meine Gedanken wanderten ungewollt zu meinem Bruder, rief mir seine Erscheinung ins Gedächtnis. Wie Darian jetzt wohl aussieht? Ich wurde auf mich ärgerlich. Warum schlich er sich immer in meinen Kopf, wenn ich mich an was erfreute? Hatte er mir doch nur Unglück gebracht. Ich sollte nach vorne schauen. Schmerzlich verscheuchte ich den Gedanken an ihn. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, wurde nachdenklich, schämte mich, wie ich mich doch hatte gehen lassen. Sie waren zu lang, ich musste zu einem Friseur. Sobald ich einen Job hatte, würde ich mir wieder meine Haare schön tiefschwarz, und an den Spitzen blau färben lassen. Mein Aussehen fehlte mir, was mir das eine Jahr egal war, kam nun Stück für Stück zurück. Abermals zitterten meine Hände und erneut registrierte es Carsten. Die Sehnsucht nach einer Zigarette nahm kurz überhand, ich seufzte und versuchte, mir nicht meine Sucht nach dem Glimmstängel anmerken zu lassen. Es fiel mir schwer. Carsten ging mit einem voll bestückten Tablett mit Köstlichkeiten auf die große Winterterrasse und ich lief hinter ihm her. Ich hatte schon gestern diese Tropenvielfalt kurz gesehen, konnte es aber nun richtig bewundern, als ich mich mitten unter den Palmen wiederfand. Wir deckten gemeinsam den Tisch und schwiegen in der Zeit. Ich war dankbar um so viel Stille. Minuten später hatten wir einen tollen Frühstückstisch zusammenbekommen. Er erinnerte mich an früher, als ich noch zu Hause war. Ich sah mir die schmackhafte Auswahl an, setzte mich hin und betrachtete weiterhin den Tisch. Basta hatte sich zu uns gesellt und riss sein Maul zu einem Gähnen auf. Entweder war er immer noch müde oder gerade wieder. Eines wusste ich, seit ich seinen Hund kannte – er war zwar ein faules Haustier, doch mochte ich ihn immer mehr. Ich streichelte meinen neuen Freund am Kopf. Carsten kam mit einer Thermoskanne Kaffee zurück und betrachtete uns kopfschüttelnd. „Basta, du hattest doch schon was!“, begrüßte er seinen Vierbeiner, der daraufhin zu ihm tapste, um sich ebenfalls streicheln zu lassen. Carsten schickte ihn weg. „Er hätte ruhig bleiben können, mich stört er nicht.“ „Nicht, wenn wir essen. Ich muss nachher mit ihm raus, du kannst mitkommen, dann kann ich dir die Gegend zeigen“, schlug er vor. Raus, ich? Ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte. Hier fühlte ich mich geborgen. Ich antwortete ihm nicht. Carsten setzte sich nun ebenfalls, saß mir gegenüber und nahm die Kanne in die Hand, war gerade im Begriff, mir einzuschenken, da ruderte er zurück. „Ich habe dich nicht gefragt, ob du lieber Tee möchtest.“ „Nein, Kaffee ist toll.“ Mir war Kaffee lieber als Tee. Carsten schenkte jedem von uns eine Tasse ein. Als er sich ein Brötchen nahm, und bemerkte, wie ich zögerte, weil mein Magen nur vom vielen Hinsehen schon satt war, legte er sein Brotmesser beiseite und sah mich ernst an. „Jaden, wenn du nicht möchtest, dass ich dich wirklich in ein Krankenhaus einweisen soll, dann iss wenigstens einen kleinen Happen und vor allem, ab heute trinkst du deinen Kaffee oder schwarzen Tee mit Milch und Zucker.“ Er taxierte mich eindringlich. Ich, nein! „Carsten, ich trinke den nie so“, beklagte ich mich und verzog meinen Mund. „Keine Widerrede!“ Er fuhr mich nicht gerade an, das nicht, aber seine Tonlage war bestimmend. Ich konnte mich kaum dagegen wehren, da war schon ein Löffel Zucker und etwas Milch in meinem Kaffee gelandet. Angewidert verzog ich das Gesicht. „Bitte.“ Seine blauen Augen hafteten auf mir und so bettelnd, wie er mich ansah, konnte ich kaum ablehnen. Ich sah nun auf meinen Milchkaffee. „Na gut“, gab ich mich geschlagen und war mir sicher, dass er mir so, wie er war, nicht schmecken würde. Als ich jedoch einen Schluck trank, war ich sofort vom Gegenteil überzeugt und angenehm überrascht. „Dein Körper braucht langsam wieder mehr Kalorien. Du musst zunehmen. Du bist magersüchtig, das weißt du. Ich kann dich nicht zu großen Portionen zwingen, das wäre auch der verkehrte Weg, aber ich kann deine Getränke etwas gehaltvoller gestalten, sodass dein Körper langsam wieder aufbauen kann. Du wirst mit kleinen Mahlzeiten anfangen, dein Magen muss sich an feste Nahrung gewöhnen.“ Er wollte mir wirklich helfen. Eine Wärme an Dankbarkeit durchflutete meinen Körper. Seit Langem hatte ich nicht mehr so gefühlt. „Warum tust du das?“, stellte ich ihm die Frage, die ich eigentlich hätte längst stellen sollen. „Warum? Vielleicht war ich mal in der gleichen Lage, vielleicht aber auch, weil ich selbst Menschen mit Depressionen um mich habe, sie therapiere.“ „Du bist Arzt?“ Das erklärte einiges, warum er mir keine Fragen am ersten Tag nach meinem Selbstmordversuch stellte, und mich nicht untersuchte – bis auf den Puls. „Psychologe, um es genauer zu sagen. Kein Arzt, der operiert oder gar Medikamente verschreibt, ich therapiere die Menschen.“ „Oh … dann …“ Ich biss mir auf die Unterlippe, bevor ich weitersprach. „Du weißt nicht  wirklich, warum ich diesen Schritt machte, was mich zu dieser Tat bewogen hatte.“ Meine Stimme war leise und zittrig geworden, ich hielt meine Finger krampfhaft um die heiße Tasse, während ich nach draußen blickte. Ich hatte ihm, als ich dies gesagt hatte, nicht in die Augen schauen können. Einzelne Flocken tanzten am Glas des Wintergartens. Es schneite wieder. Die Straßen waren weiß und mir fiel ein, dass ich keine richtig warmen Winterklamotten hatte. Mir wurde einiges bewusst, was ich nicht hatte: Geld und eine Zukunft. Die Lage war nicht gerade toll. Mein Auto stand immer noch auf dem Parkplatz, wo ich es vor über zwei Tagen hatte stehen lassen müssen. „Missbrauch!“, riss mich Carsten aus meinen Gedanken und ich wandte meinen Blick weg von der Glasfront und zu ihm hin. Er hatte inzwischen sein Brötchen auf den Teller zurückgelegt und nahm sich einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, sah mir dabei forsch in die Augen. „Woher, ich meine ...?“ Ich zitterte, als sich unsere Blicke trafen. Dann erinnerte ich mich, wie ich ihn vor zwei Tagen auf der Brücke angebrüllt hatte, aber was ich alles zu ihm gesagt hatte, daran erinnerte ich mich nicht mehr. „Ich sah es in deinen Augen“, klärte er mich ohne einen Vorwurf auf. Ich hatte es ihm also nicht gesagt, als ich ihn wie von Sinnen angeschrien hatte. „An den Augen?“, fragte ich erstaunt. „Ja, sie spiegeln die Seele wieder. Egal, wie es geschah. Ich täusche mich da selten.“ „Ich ...“ Meine Stimme klang belegt. Ich brach ab, konnte nicht darüber reden. Noch nicht! Carsten bemerkte meinen inneren Konflikt. „Schon gut, irgendwann öffnest du dich mir, dann weißt du, dass einer zuhören wird. Komm, lass uns weiter frühstücken. Ein halbes Brötchen? Mhm?“ Er lächelte. Es war das erste Mal, dass er lächelte oder ich es überhaupt registrierte. Dabei entblößte er einen schiefen Eckzahn, was ihn unglaublich jung aussehen ließ. Die anderen Zähne hingegen waren gerade und in einem Zahnpastaweiß. Eigenartig, dass genau der Zahn aus der Reihe tanzte. Ich nickte nur als Antwort, nahm mir eines der Sonntagsbrötchen. Es war noch lauwarm und duftete lecker, als ich es aufschnitt. Ich hatte durch den Kaffeeduft vorhin die Brötchen nicht gerochen. Überhaupt erstaunte mich das alles hier, dass ein Mann ganz alleine einen sauberen Haushalt führen konnte. Die Neugierde über ihn wuchs. „Carsten, darf ich dich etwas fragen?“ Er sah kauend zu mir und schluckte dabei seinen Bissen hinunter, legte den Rest des Brötchens, das mit Marmelade geschmiert war, zurück auf den Teller. Dann wischte er sich mit der Serviette über den Mund. Ich starrte kauend auf mein angebissenes Halbes. Selbst hatte ich mir nichts drauf getan, es schmeckte aber auch so. „Ja, was willst du wissen?“ „Wie alt du bist?“, erkundigte ich mich. „Ich bin 41 ... wieso?“, erwiderte er, und sah mir in die Augen. Ich verschluckte mich an meinem Bissen. 41? „Oh, du siehst aber jünger aus.“ Ich war verblüfft. „Dankeschön“, sagte er mit weicher Stimme und sah mich freundlich an. Ich wurde rot, spürte, wie sich die Hitze auf meinen Wangen ausbreitete. Ja, ich hatte ihn wesentlich jünger geschätzt, doch niemals auf 41, eher auf 31! Zehn Jahre jünger! Er musterte mich. „Wie alt bist du? Man kann dich schlecht schätzen. Da du so dünn bist, wirkst du vielleicht sogar älter“, entschuldigte er sich schon beinahe. Seine blauen Augen fixierten mich weiterhin. „Ich werde im Dezember 26 Jahre alt.“ Ich war ihm nicht böse. In der ganzen Zeit hatte ich mich wirklich gehen lassen. Früher war mein Aussehen mein Ein und Alles gewesen. Das sollte ich ändern. Ein neuer Lebenswille kam in mir hoch. Ein kleiner Funken an Hoffnung, der sich wie eine zarte Pflanze durch die Erde wühlte, um an die Oberfläche zu kommen, um die ersten Sonnenstrahlen zu genießen. Genauso fühlte ich mich gerade. Er lächelte erneut. Wieder stach sein schiefer Zahn dabei hervor. Ich knabberte weiter an meinem halben Brötchen herum. Auch wenn es mir schmeckte, war ich längst satt, doch zwang ich mich, es ganz aufzuessen, auch wenn mein Bauch sich voll anfühlte. Verstohlen betrachtete ich dabei Carsten, der sich nun seiner Sonntagszeitung widmete. Er sah wirklich gut aus. Nicht der Traumtyp, den man in Katalogen fand, das bestimmt nicht. Aber er gefiel mir. Sogar viel zu sehr, wie ich immer mehr feststellte. Aber er war, wie Darian – nicht schwul. Die Gedanken stimmten mich traurig und ich ließ meinen Blick über den Wintergarten schweifen, um mich abzulenken. An einem Nebentisch war ein Laptop aufgebaut – ein Apple, weißes Design, kabellos und mit einem Internetstick versehen. Ich seufzte innerlich. Auch das hatte ich alles schleifen lassen. Kein Internet, kein Smartphone, kein Fernseher, nichts! Das Geld hätte ich auch nicht dafür gehabt. Ich sag ja, ich war im Prinzip schon seit einem Jahr tot. Wir frühstückten schweigend zu Ende.   Carsten hatte sich die ersten Tage freigenommen. Er wollte mich in meinem Zustand auf keinen Fall alleine lassen. Ich wusste immer noch nicht so recht, warum er so viel für mich tat. Gab es wirklich noch diese Menschen, die sich für jeden aufopferten? Am Montag kam seine Putzfrau. Eine Russin und wirklich nette Frau. Als sie mich sah, lächelte sie mit ihren drei goldenen Zähnen. Ich musste grinsen, war sie doch das typische Klischee. „Ах, які добры Бурш ... там будуць радыя, але мой Гасподзь.“, (Oh, was für ein nettes Bürschchen ... da wird sich aber mein Herr freuen.) hatte sie gesagt, doch verstand ich überhaupt nichts und lächelte nur, als sie auch mein Zimmer sauber machte. Sie kam zweimal die Woche, wie mir Carsten erzählte, um zu putzen, als ich ihn danach fragte. Den Rest erledigte er selbst, doch erst nach der Arbeit. Da wusste ich meine zukünftige Tätigkeit, damit ich nicht ganz unnütz war. Ich zeigte bereits am nächsten Tag, dass ich auch was beisteuern konnte. Ich räumte die Wäsche zusammen und schaltete die Waschmaschine ein, oder goss seine Pflanzen. Seitdem ich eine Aufgabe hatte, war ich auch wieder mehr auf mein Aussehen bedacht, trug Kajal auf und etwas von der schwarzen Wimperntusche, welche ich noch auf Vorrat von früher hatte. Auch richtete ich meine Haare ordentlich, föhnte sie und ließ sie offen. Ich wollte für ihn schön und nett aussehen. Konnte es sein, dass ich was für Carsten empfand? Oder verwechselte ich Dankbarkeit mit Gefühlen? Ich wurde traurig darüber, presste meine Lippen fest aufeinander. Carsten wusste noch nicht einmal, dass ich homosexuell war. Was ich wollte, war nur die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Ich sehnte mich nach einer Umarmung, nach einem verzehrenden Kuss, nach ein wenig Glück … Ab Mittwoch musste Carsten die Praxis dann wieder öffnen und ich war tagsüber alleine, suchte immer mehr nach Aufgaben. Dann aber gab ich mir freitags einen Ruck. Schließlich hatte er mich gerettet, was konnte Schlimmeres passieren, als dass er mich hinauswerfen würde. Noch hatte ich das Zimmer in der WG, wo ich bald wieder hin musste. War das hier doch nur eine Übergangslösung. Mir ging es besser – doch wollte ich hier wirklich weg? „Carsten“, fing ich vorsichtig am Frühstückstisch an. Carsten hatte noch eine halbe Stunde Zeit, dann musste er zur Arbeit aufbrechen. Mittlerweile aß ich ein ganzes Brötchen und abends was Leichtes in Form von Salaten oder Putensteaks mit Gemüse. Ich meinte sogar ein Kilo zugenommen zu haben, vielleicht auch mehr. Doch war ich immer noch dürr. Carsten sah von seiner Zeitung auf. „Ja?“ Mir klopfte das Herz, weil mir eines bewusst wurde: Konnte ich wirklich noch eine Niederlage einstecken, egal welche es sein würde? Irgendwie kroch die Angst in mir hoch und mein Mut, ihn zu fragen, wandelte sich in Feigheit um. Daher schüttelte ich den Kopf und starrte auf meinen halb vollen Kaffeebecher, der immer noch mit Milch und Zucker bestückt war. Carsten bestand drauf. „Jaden, was ist los?“ Ich verfiel in einen Schweigemodus. „Sieh mich an … hm, willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt?“ Ich schüttelte mit dem Kopf. Carsten sah mir tief in die Augen, wobei ich errötete. Registrierte er, dass ich geschminkt war? „Ich weiß, dass du schwul bist“, fing er an und sein Blick hatte was Hypnotisches an sich. Mir brach kalter Schweiß aus: „Was?“, rief ich völlig entsetzt. In dem Moment klingelte sein Handy …     ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 13: ------------   ~°~13~°~     Noch nie kam ein Telefonanruf in diesem Moment so ungelegen. Woher wusste er es? Woher nur? Hatte ich ihn angemacht? Waren meine Blicke zu eindeutig gewesen, oder sah ich wirklich offensichtlich schwul aus? Ich bekam Panik. Carsten musste meine Beklemmung gespürt haben, denn er gab mir ein Zeichen zu warten und auf keinen Fall aufzustehen, während er weiter telefonierte. Den Tränen nahe war ich trotzdem aufgesprungen und wollte hier raus. Weglaufen, einfach davonlaufen, vor ihm, vor mir, vor der gesamten Menschheit – vor Darian! Manchmal fragte ich mich, warum ich so geboren worden war. Ich sah es schon als einen Fluch an, auf Männer zu stehen oder so auszusehen, als ob es auf meiner Stirn geschrieben stand. Vielleicht sollte ich mich komplett umstylen? Aber was wäre dann noch von mir übrig? War ich nicht jetzt schon nicht mehr ich selbst und total in mich gekehrt? Carsten hatte meine Flucht nach draußen bemerkt und mich an der Hand gepackt. Ich zuckte unter seiner unvorhergesehenen Berührung zusammen. „Jaden, es ist alles okay?“ Ich gab ihm keine Antwort. Weder ein Nicken noch sonst was. „Warte bitte, ich bin gleich für dich da“, sprach Carsten sanft zu mir, dann telefonierte er weiter. Ich hingegen wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, blieb aber dann doch da und lauschte seinem Gespräch. „Ich rufe Sie zurück“, teilte er dem Gesprächsteilnehmer mit. „Ja … Genau … Machen Sie nichts Unüberlegtes und denken Sie immer daran: Es geht immer weiter ... vergessen Sie nicht ihre Entspannungsübungen.“ Carsten beendete das Gespräch und atmete tief durch, während ich ihn weiterhin wie ein aufgeschrecktes Reh anschaute. Was würde auf mich zukommen? Würde er mich nun hinauswerfen, mich wie Abschaum behandeln? Er wandte sich mir zu. „Jaden!“ Ich bebte, versuchte die Fassade aufrechtzuerhalten. Carsten klang sehr ernst. Es war keine Belustigung in seiner Stimme zu hören, aber auch kein Zorn, er klang einfach nur ernst. „Es ist mein Beruf, Menschen zu helfen“, entschuldigte er sich und fuhr sich über seine kurzen Locken. „Okay.“ Meine Lippen bebten. Das war jetzt nicht das, was ich erwartete, daher ging ich in die Offensive. Was hatte ich zu verlieren? Im Prinzip gab es nichts mehr zu verlieren. Immer noch war ich dem Tod näher als dem Leben, auch wenn ich mich hier wohlfühlte, merkte ich, wie dünnhäutig doch alles war. Alles konnte in einer Minute aus sein. „Aber woher wusstest du, dass ich …? Ich meine, ich …“ Ich brach ab. Meine Fassade bröckelte und ich fühlte, wie ich blass wurde und einige Sterne vor meinen Augen auf und ab tanzten. Mein Kreislauf spielte verrückt. Ich hielt mich am Stuhl fest, bis es besser wurde, dann atmete ich tief durch, bevor ich weitersprechen konnte. Carsten ließ mir die Zeit. „Sieht man mir das so an?“ Carsten seufzte. Kurz war er gewillt, den Kopf zu schütteln, ließ es aber bleiben. „Ich habe es gespürt. Man wird einen Tick länger als gewöhnlich angesehen, intensiver.“ „Wirklich?“ Ich sah weiter erschrocken zu ihm und schämte mich. „Keine Angst, es steht dir nicht auf deiner Stirn geschrieben“, versuchte er mich zu beruhigen und auf seine Art aufzumuntern. „Du hast keine Ahnung, du weißt nicht, wie schlimm das ist.“ Meine Knie schlotterten, ich war innerlich immer noch sehr aufgewühlt. Er hatte mich praktisch in Panik versetzt gehabt, und davon runterzukommen fiel mir nicht leicht. Ich ließ mich fast schon auf den Stuhl zurückfallen und sah ihn weiterhin an, befürchtete schon das Allerschlimmste, doch erkannte ich in seinen Augen die sich darin widerspiegelnde Wärme. Genau diese, die er mir vor zwei Tagen entgegenbrachte. Als ich auf seinen Mund schaute, sah ich ein Lächeln. Du lächelst? „Schön“, sagte er nur, „dann haben wir beide etwas gemeinsam.“ Bis die Offenbarung richtig zu mir vordrang und ich diese Nachricht verdauen konnte, verstrichen allerdings einige Minuten. Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Danach wusste ich nicht, wer sich mehr freute, ich, mein Herz oder beide zusammen. „Du?“ „Ja, ich auch!“ Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht mit so etwas. Ein Stein fiel von meinem Herzen. Endlich hatte ich eine positive Reaktion auf mein Outing erfahren. Dass Carsten ebenfalls homosexuell war, dies wollte nicht so recht in meinen Schädel, zumal er doch vorher mit einer Frau zusammen war, daher wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen. Aber darauf würde ich später zurückkommen. Auf jeden Fall sah ich heute ein kleines Licht am Himmel für mich – etwas Positives.   Die Tage vergingen, in denen ich mich erholte. Es ging mir gesundheitlich immer besser. Und da lag mein Problem. Ich wusste, es würde bald der Zeitpunkt kommen, an dem ich wieder gehen musste, meine Zufluchtsstätte verlassen sollte und das stimmte mich irgendwie traurig. Zudem brauchte ich dringend einen Job, wenn ich wieder auf eigenen Beinen stehen wollte. Aber war ich wirklich so weit? Jedes Mal stellte ich mir die Frage. Dann sah ich mich im Spiegel, der mir einen wesentlich erholteren Jaden präsentierte. Mir gefiel die Entwicklung, und doch, wie sah es in meiner Seele aus? Der dunkle Punkt, den ich, seit ich Carsten begegnet war, einfach eingeschlossen hatte. Und seitdem ich nun wusste, dass Carsten auch schwul war, sah ich ihn mit anderen Augen. Ertappte mich dabei, wie ich ihn heimlich beobachtete, wenn er gerade in Gedanken versunken schien. Ob er meine Blicke bemerkte? Ich achtete immer darauf, nicht erwischt zu werden, denn schließlich waren es meine Blicke, die mich verraten hatten. Kurzum, ich fühlte mich wohl bei ihm und wollte nicht wirklich gehen. Zudem liebte ich seinen Hund, der mir oft Gesellschaft leistete, wenn Carsten arbeiten musste. Carsten ließ mich überall hingehen und einmal zeigte er mir seine Büchersammlung, weil ich ihm erzählt hatte, dass ich gerne las. Da ich mich im Haushalt weiterhin nützlich machte, während er arbeitete, erledigte ich die anfallenden Tätigkeiten wie Saugen, das Geschirr in den Geschirrspüler stellen, das Bett zu überziehen, sogar die schmutzige Wäsche zu waschen. All diese Dinge machte mir als Mann nichts aus und die Putzhilfe war dankbar über die Abnahme, konnte sie somit andere Sachen in dieser Zeit erledigen, die liegen geblieben waren. Ich atmete tief durch, als ich das Wohnzimmer betrat. Wie immer stach mir zuerst der Flügel ins Auge, der mit seiner schwarzen Schönheit aus hoch poliertem Material und exquisiter Verarbeitung glänzte. Ab und an spielte er mir auf seinem Klavier etwas vor, und ich lauschte andächtig den Klängen der Stücke von Chopin, Brahms und vielen anderen großen Komponisten. Mein Lieblingsstück war aber von Richard Clayderman – Pour Adeline. Das ging mir sehr unter die Haut. Doch heute fand ich Carsten auf seiner Couch vor, wie er die Sportnachrichten im Ersten schaute. Er hatte sich für diese Woche Urlaub genommen – wegen mir? Das war es auch, was mich so alarmierte. Er wollte sicherlich, dass ich gehe. Carsten blickte von der Couch auf, als er mich kommen sah. Was für schöne Augen er doch hat! Doch kamen diese an Darian nicht ran. Immer wieder verglich ich Carsten unbewusst mit meinem Bruder. Schnell verbannte ich den Gedanken an ihn. Was kümmerte es mich, wie Darian aussah. Er war ein Ekel. Ja, ich hasste ihn. Ich musste lernen, ihn zu hassen, um mich endlich von ihm zu lösen. „Jaden, komm, setz dich, es kommt gleich ein spannender Western.“ Er hatte mich bemerkt und winkte mich zu sich. Western? Carsten lachte, weil ich das Gesicht verzogen hatte. Ich ignorierte es, denn ich wollte mit ihm was Wichtiges bereden, darum hatte ich ihn aufgesucht, oder etwa nicht? „Du“, fing ich an, als ich mich zu ihm hinsetzen wollte. „Halt, sag nichts. Ich sehe es dir an: Du magst keine Western!“, lenkte er sofort ein und ich blieb vor ihm stehen, schaute irritiert zu ihm runter. Hilflos hob ich die Schulter an, dann seufzte ich. „Ähm, das ist es nicht gerade, aber um deine Frage zu beantworten, stimmt, ich mag sie wirklich nicht,  sie sind für mich langweilig. Männer mit Pistolen auf Pferden, die sich immer wichtig machen müssen und am Ende gibt’s eine Frau als Belohnung.“ Theatralisch rollte ich mit den Augen. „Wenn du den aber gesehen hast, dann nicht!“ Carsten lächelte weiter, war sich seiner Sache sicher. Ich seufzte abermals und ließ mich nun neben ihm auf der Couch nieder. In seinen Augen sah ich, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, mit ihm zu reden. Er würde wegen des Programms keine Kompromisse eingehen, obwohl ich eigentlich was anderes von ihm wollte, als mit ihm einen Fernsehabend zu verbringen. Aber da mir sein Strahlen so an ihm gefiel, gab ich nach. Wehleidig sah ich dennoch auf seine stattliche DVD-Sammlung. Sogar Titanic hätte ich mir lieber angesehen … aber einen Western? „Also, was für ein Film ist das?“, fragte ich darum wenig begeistert. Meine Stimme war ungewollt bei dem letzten Wort in den Keller gerutscht. „Oh Gott, es wird schon nicht der Weltuntergang werden. So schlimm ist er nicht. Ich hole uns einen Wein. Welchen magst du, roten oder weißen?“, überging er noch mein wehleidiges Seufzen. Sein Lächeln blieb dennoch weiterhin bestehen. Ich trank eigentlich immer Bier. Und wenn ich schon einen Western anschauen musste, dann mit einem schönen kühlen Bier. „Hast du ein Bier da?“, fragte ich darum. Er nickte, dann zuckte er mit der Schulter. „Warum nicht. Ich trinke dann auch ein Bier, passt besser zu einem Western.“ Sag ich doch! Mist, dabei sollte ich mit ihm reden! Der Abend verlief ganz gegen meine Erwartungen – toll! Und der Film war wirklich nicht schlecht. Ein alter Schinken zwar mit Gary Cooper und Grace Kelly. Dennoch fand ich den Schwarz-Weiß-Film super. Basta war zwischendurch erschienen und legte sich vor unsere Füße, irgendwann war er zu müde geworden und trottete in seinen Hundekorb. Wir hatten inzwischen jeder von uns drei Bier intus. Carsten jedoch merkte man das Bier nicht an, während ich ununterbrochen wegen jedem Ding lachte. Ich bemerkte auf einmal, wie er mich nachdenklich ansah, und ich hörte auf zu lachen. „Schön, dich mal richtig lachen zu sehen, ich glaube, das hast du nicht getan, seit du bei mir bist“, sagte er plötzlich ernst. Ich legte meinen Kopf schief, betrachtete ihn und wurde ebenfalls nachdenklich. „Nein, hab ich wirklich nicht.“ Der Alkohol ließ mich melancholisch werden. Verlegen nahm ich den letzten Schluck aus der Flasche und stellte sie zurück auf den Glastisch. Zwischen uns entstand eine peinliche Stille. Der Alkohol hatte mich wirklich gelöst, doch nun knubbelte ich verlegen an meinen Fingern. Mein Kopf war leer, und doch … Irgendetwas sagte mir, dass Carsten Antworten von mir wollte. Ich sah es in seinen Augen, die vielen Fragen, über die er so lange geschwiegen hatte. Und ich behielt recht damit. Er räusperte sich. „Willst du mir nicht den wahren Grund nennen, warum du dich umbringen wolltest, du so verzweifelt warst, dass du von einer Brücke springen wolltest?“ Carstens Gesicht kam dabei meinem immer näher und ich wich automatisch ängstlich zurück.       ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 14: ------------   ~°~14~°~     Mein Herz klopfte wild in meiner Brust. Ich fühlte mich in die Enge getrieben. Carsten spürte mein Unbehagen und nahm etwas Abstand zu mir, wenn auch nicht viel. „Wir haben nie richtig darüber gesprochen.“ Er sprach so einfühlsam wie möglich mit mir, doch ich rutschte nervös auf meinem Platz hin und her. „Hab keine Angst. Ich will dir wirklich nur helfen, all dies zu verarbeiten. Vertraue mir!“, sagte er mit erstaunlich weicher Stimme und legte seine linke Hand auf meine rechte Schulter. Sollte ich mich ihm anvertrauen, konnte ich das überhaupt? Ich haderte mit mir, suchte nach einem Ausweg. Ein Teil von mir wollte sich an ihn schmiegen und ihm alles gestehen, der andere Teil hatte immer noch Angst. Bevor ich allerdings in einen Konflikt geriet, fiel mir ein, warum ich überhaupt Carsten aufgesucht hatte. Vielleicht war es auch nur eine Schutzmauer, die ich schnell aufbaute, als ihm den wirklichen Grund dafür zu nennen, warum ich von der Brücke springen wollte. Zumal ich spürte, dass ich noch nicht darüber sprechen konnte. Er merkte meinen inneren Zwiespalt, erkannte, dass ich mich ihm nicht öffnen würde, denn ein Schatten huschte über sein Gesicht. Ich rückte ein wenig von ihm ab, schüttelte sogar seine Hand etwas ruppig von der Schulter, was nicht ganz meine Absicht war, aber da war es schon zu spät. Carsten missverstand meine ablehnende Körperhaltung komplett und stand auf. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ein schlechtes Gewissen kam in mir hoch. Das wollte ich nicht! Ich wollte Carsten nicht enttäuschen und kam mir in dem Moment mies vor. „Warte!“, sagte ich schnell und unterdrückte ein Zittern in der Stimme. Der Alkohol war wie weggeblasen und ich kam mir vollkommen nüchtern vor. „Kann ich dich zuerst etwas fragen? Und setz dich bitte. Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ...“ Ich brach ab und schaute zu ihm auf. Carsten setzte sich tatsächlich wieder und wartete geduldig wie immer. Die Frage: Wie es mit mir weitergehen wird und ob ich noch bleiben kann?, verschwand in meinem Kopf und etwas anderes machte sich ganz automatisch breit. „Seit wann weißt du, dass du schwul bist?“ Bevor ich überhaupt drüber nachdachte, was ich da machte, war mein Herz schneller gewesen als mein Verstand. Ich wurde nervös, biss mir auf die untere Lippe. Verflucht, warum brachte ich nicht einmal etwas Richtiges zustande? „Ach, das wolltest du fragen? Nun, ich weiß es erst seit fünf Jahren. Wie ich dir schon erzählte, hatte ich geheiratet und die Ehe lief ganz gut, aber irgendwie fehlte mir was. Meine Frau wollte zudem Kinder.“ „Hattest du nicht in deiner Kindheit was gemerkt?“ Ich war sichtlich irritiert über diese Aussage. Denn eigentlich hatte ich immer gedacht, dass man das sofort an sich merkte, spätestens in der Pubertät sollte es klar sein. „Nein, du etwa?“ Er überraschte mich, wirkte er auf mich jetzt doch erstaunt darüber. Ich nickte nur als Antwort. Carsten gab sich vorerst zufrieden, holte ein Bier für sich und mich, doch ich winkte ab, ich hatte genug. Dann setzte er sich wieder zu mir und erzählte locker über sich. Neidisch hörte ich jedes seiner Worte von seiner Kindheit bis zu seinem jetzigen Leben. „… Irgendwann, ein Freund von mir schmiss eine Party, meine Frau hatte Migräne und blieb zu Hause. Ich war also allein auf dieser Party. Und da war er, ein Mann, der mich immer nur anstarrte.“ Er trank etwas hastig einen Schluck, sodass ein wenig Bier an seinem Kinn herunterlief. Schnell wischte er es weg, wirkte ein wenig unruhig. Das erste Mal, seit ich ihn kannte, dass er sich nicht ganz unter Kontrolle hatte. Etwas hatte ich in ihm wach gerufen. Etwas, dass genauso in ihm schlummerte, wie in mir. Ich wurde lockerer, legte meine Beine auf die Couch zog sie zu mir ran und verharrte in der gemütlichen Position. „Es hat dich bestimmt nicht nur ein Mann angestarrt. Ich denke, einige Männer werden dich bis jetzt in deinem Leben angestarrt haben. Du siehst nicht schlecht aus mit deinen 41 Jahren.“ Ich senkte beschämt den Kopf. Bis jetzt hatte ich noch nie jemandem ein Kompliment gemacht. „Du findest mich attraktiv?“, fragte er, ließ seine Stimme beiläufig langweilig erscheinen, doch merkte ich selbst seine Unsicherheit darin. „I-Ich wollte sagen … ähm, du weißt schon.“ Meine Atmung ging etwas hektisch, mein Puls raste. Was war nur mit mir los, noch vor wenigen Tagen wollte ich mir das Leben nehmen, um Darian endlich vergessen zu können und jetzt? Jetzt fand ich auf einmal diesen Mann richtig interessant. „Danke!“ Er fixierte mich mit seinem Blick und ich errötete, blieb aber stumm. Mein Kopf arbeitete auf Hochtouren, während er mich weiterhin ansah. Mir wurde ziemlich warm. Und ein Gefühl im Magen, das ich schon lange nicht mehr hatte, kam auf – Schmetterlinge. „Wo waren wir stehen geblieben?“, fing Carsten nach einer Weile an. Er wollte die peinliche Stille überbrücken, die sich zwischen uns eingeschlichen hatte. „Du hast von diesem Mann auf der Party, der dich anstarrte, gesprochen.“ Wie ich meine Stimme fand, war mir schleierhaft, aber mich interessierte Carstens Leben immer mehr. Ich wollte seine ganze Lebensgeschichte erfahren inklusive seinem Outing. Mein Hemd klebte mir am Rücken. Warum war mir nur so heiß? Carsten nickte, ließ mich jedoch keine Sekunde mehr aus den Augen, während er mir seine ganze Geschichte erzählte. Und so berichtete er mir, wie er verführt wurde und er an nichts mehr anderes als an den Mann denken konnte, mit dem er sein erstes Mal verbrachte. Dass Carsten so viel von sich preisgab, schmeichelte mir. So viel Vertrauen einem entgegen zu bringen war für mich auch ein neues Gefühl. Eine Frage lag mir noch auf der Zunge. Und ich hoffte, ich hörte die richtige Antwort, wünschte mir, dass er keinen festen Freund hatte. „Seid ihr noch zusammen? Ich habe noch nicht …“ Ich brach ab, wurde nervös und rutschte mit meinen Füßen runter von der Couch, setzte mich anständig hin und legte meine inzwischen rastlosen Finger in den Schoß. Wie kann ich nur so etwas Intimes fragen?, schalt es in meinem Kopf. „Nein, ich bin Single“, sagte Carsten und ich konnte nur lächeln. Es überkam mich einfach so. Warum freute mich das? Freute mich, dass er noch zu haben war. Hatte ich mich etwa in ihn verliebt? „Und du?“, fragte er jetzt, seine Stimme klang dabei anders, fast ängstlich. Ich schüttelte leicht mit dem Kopf, errötete abermals. „Nein, da gibt’s … keinen mehr.“ „Gab es denn einen?“ Jetzt kamen wir an einen Punkt, wo ich über meinen Bruder reden müsste. Doch die Mauer blieb bestehen. Ich wollte, doch konnte ich nicht, auch wenn es der beste Zeitpunkt wäre. Ich wendete das Gespräch in eine andere Richtung ab, kam auf den Punkt, über den ich eigentlich, bevor wir den Film angesehen hatten, mit ihm reden wollte. „Ich muss mir einen Job suchen, ich habe kein Geld mehr.“ Das war es doch, warum ich hier war, oder nicht? „Das ist das kleinste Problem, aber du hast gekonnt das Thema gewechselt.“ Konnte es sein oder war er wirklich enttäuscht? Ich sah Carsten an, las in seiner Mimik. Ja, er war enttäuscht, denn unmerklich hatte sich sein Gesicht verfinstert und er sah ernst aus. Das schlechte Gewissen plagte mich. „Irgendwann erzähle ich dir, warum ich mich umbringen wollte, nur nicht heute, bitte!“, versuchte ich mich halbwegs zu entschuldigen. Er nickte. „Ich habe dafür Verständnis, ich dachte nur, weil ich so viel von mir erzählte … und wir so locker miteinander umgehen, dass …“ Er räusperte sich. „Du brauchst Zeit, die bekommst du. Und das mit der Miete … das übernehme ich weiterhin, bis du einen neuen Job hast. Was schwebt dir denn vor?“ Er hatte mich am Arm gedrückt, wollte mir damit signalisieren, dass ich keinen Fehler gemacht hatte. Dankbar darüber brachte ich ein kleines Lächeln hervor. Doch dann wurde mir wieder einmal bewusst, wie wenig ich doch aus meinem Leben gemacht hatte. „Ich habe nichts gelernt. Bis jetzt schlug ich mich mit Gelegenheitsjobs herum. Keine Ahnung.“ Ich schämte mich. Er war so gebildet – wie Darian und ich ein Versager. „Es ist niemals zu spät, von vorne anzufangen. Niemals.“ Carsten war ein Stück näher gerutscht. Er spürte, wie ich es zuließ, mich nicht sträubte, im Gegenteil. Dann kam er noch ein wenig näher und ich verlor mich in seinen Augen, während mein Herz laut und schnell in der Brust pochte. Carsten rutschte so langsam zu mir, bis sich unsere Nasenspitzen berührten. Die ganze Zeit über war ich nicht zurückgewichen, keinen Millimeter. Meine Augen wanderten runter zu seinen Lippen, die nicht üppig waren, doch unheimlich einladend aussahen. Ich roch sein teures Aftershave, gewürzt mit dem über den Tag angesammelten Körperschweiß. Er roch so gut. Mir wurde richtig schwindelig. „Darf ich dich küssen, Jaden?“, fragte er mich rau. Ich nickte leicht, was für ihn völlig ausreichte. Er legte seinen Kopf etwas schräg und seine Augen brannten direkt auf meinen bebenden Lippen. Bevor ich darüber grübelte, was wir hier überhaupt taten, küsste er mich sanft, fast schon jungfräulich auf die Lippen. Unsere Münder öffneten sich fast gleichzeitig und unsere Zungen trafen sich auf halbem Wege. Der leichte Biergeschmack, den wir beide hatten, störte mich nicht im geringsten, ganz im Gegenteil. Ich ertrank regelrecht in meinen Emotionen. Mittlerweile lag ich in seinen starken Armen und um mich herum drehte sich alles. Jedoch viel zu schnell wurde der Kuss beendet und ich war im Rausch, im Taumel. Es war mein erster richtiger Kuss seit Langem überhaupt. Schnell wurde mir bewusst, so einen hätte ich mir immer von Darian gewünscht. „Ich bin froh, dass ich dich vorher gefunden habe.“ Carstens Stimme bebte vor Erregung. „Ich bin froh, dass du mich gerettet hast.“ Das war ich und wie. Sein Atem streifte meine Wange. „Ich auch, oh Gott, du weißt nicht, wie froh ich darüber bin.“ Dann legte er fordernd seinen Mund auf meine Lippen und unsere Zungen vereinigten sich erneut.       ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 15: ------------ ~°~15~°~     Der Fernseher lief im Hintergrund. Was gerade an Unterhaltung kam, war uns ziemlich egal. Basta lag friedlich in seinem Hundekorb und schien sich nicht daran zu stören, dass wir unweit stöhnende und schmatzende Geräusche von uns gaben. Carsten war ein erfahrener Küsser und hatte mich angeheizt – keine Frage. Auch ich war aus mir herausgegangen, erwiderte seine Küsse mit jedem Mal fordernder und hungriger. Seine Hände waren überall und verursachten mir einen Schauer nach dem anderen. Wie lange war es her, dass ich so viel Zärtlichkeiten erhielt? Zu lange, denn ich konnte mich nicht erinnern. Darum war mein Körper ausgehungert und schrie nach mehr. Aber wie schafft man es, Verstand und Herz zusammenzuführen? Ungewollt hatte sich das Gesicht meines Bruders dazwischen geschoben und es wäre gegenüber Carsten nicht fair gewesen, da weiter zu machen, zumal ich psychisch nicht stabil genug war. Mein Verstand blockte Darian ab, während mein Körper sich nach Carsten verzehrte. Es war zum verrückt werden. Wie alt war ich denn? Sechzehn? Und warum hatte mein Bruder, den ich über ein Jahr nicht mehr gesehen hatte, so eine Macht über mich? Sollte das mit Carstens Rettung nicht endlich abgeschlossen sein? Innerlich fluchte ich. Ich war erregt, spürte die Verhärtung in meiner Hose ganz deutlich, fühlte, wie mein Penis pochte, sich dagegen auflehnte und den inneren Druck loswerden wollte, doch konnte ich nicht. Carsten war gerade dabei, mir das Hemd auszuziehen, und mich nach unten auf die Couch hinunter zu drücken, da stoppte ich ihn sanft, aber bestimmend in seinen Bewegungen. Mein Hemd rutschte in die gleiche Position zurück, als er losließ. Ich lag verschwitzt und außer Atem unter ihm. Er sah mich an. Ich sollte Carsten reinen Wein einschenken. „Nicht, ich bin noch nicht soweit“, gab ich atemlos zu verstehen. Mein Puls raste, mein Herz schlug im Stakkato. Dennoch kam Enttäuschung wie auch Frust auf und breitete sich wie ein Lauffeuer im Innern aus. Traurig sah ich ihn an. „Es tut mir leid.“ Doch die Worte hatten noch eine größere Bedeutung für mich, ich kam mir nun wie ein halber Mensch vor. Mies und kleinlich. „Ich werde nichts tun, was du nicht auch willst“, lenkte er schnell ein, als er meine Unzufriedenheit spürte. „Mein Körper hat auf dich reagiert, wie schon lange nicht mehr. Ich habe mich zu entschuldigen, nicht du. Du bist einfach noch nicht so weit und bereit dazu, den Schritt zu gehen, und ich war zu stürmisch.“ Er sah mir in die Augen, die tief in mich eindrangen, sah das Verständnis sich in ihnen widerspiegeln. Seine Worte mit Tiefenwirkung hatten ins Schwarze getroffen. Beschämt drehte ich mich zur Seite weg. Konnte ich mich einem Mann wirklich hingeben, war ich überhaupt dazu in der Lage? Würde ich dann nicht immer Darian in mir spüren, wie er in mich eingedrungen war und Schmerzen verursacht hatte? Ich konnte nicht weitergehen. Ich konnte noch nicht mit Carsten schlafen, weil es für mich einfach zu früh war, und doch brauchte und wollte ich seine Nähe. Ich richtete meinen Oberkörper auf, während Carsten Abstand genommen hatte. Er setzte sich neben mich und fuhr sich durch die zerzausten Haare. Die ganze Zeit über war Carsten ruhig geblieben, doch spürte ich seine Beobachtung. Ich straffte meinen Rücken und drehte mich komplett zu ihm, sodass unsere Augen kurz aufeinandertrafen. Er legte seine Hand über meine, die verkrampft zwischen uns lag – die andere war im Schoß zur Faust geballt, und tätschelte sie. Dann war die kleine, aber aufmunternde Berührung, weg. Er würde mir die Zeit geben – dies holte ich mir immer wieder in Erinnerung hervor und beruhigte mich auf eine Art und Weise, die selbst für mich Neuland war. Vielleicht auch, weil er Therapeut war und den richtigen Knopf traf? So konnte ich tatsächlich die aufkommenden, zweifelnden Gefühle für kurze Zeit verdrängen. Unbewusst schaute ich nun auf seinen Mund. Ein schmales Lächeln zog sich über meine Lippen, das breiter wurde, als ich unentwegt auf dieses Paar starren musste. Und als er begann mit seiner Zungenspitze die Lippen zu befeuchten, die danach einen schimmernden Glanz hatten, da war es wieder um mich geschehen. So als ob er genau wusste, welche Wirkung das mit sich brachte. Ich schluckte, während ich kaum meine Blicke davon lösen konnte. Eines war sicher, der Mann brachte mein Blut in Wallung – und wie. Die Gier nach seinem Mund hatte überhandgenommen und überrollte mich wie eine Lawine. Seine schmalen Lippen kamen mir gar nicht mehr schmal vor und sein Mund war für mich in dem Moment der schönste auf Erden. „Danke!“, sagte ich mit krächzender Stimme, und setzte gleich nach. „Aber einen Kuss will ich trotzdem noch von dir.“ Und das wollte ich unbedingt – und wie ich das wollte. „Mehr nicht?“, fragte er daraufhin zärtlich und zog die Mundwinkel etwas nach oben. Er spürte meine Sehnsucht nach einem Kuss, doch wartete er. Worauf nur? „Was ist deine Lieblingsspeise?“, erkundigte er sich überraschenderweise und ich zog erstaunt die Brauen nach oben. „Donuts, alle Arten davon“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Wieso?“ Ich wusste nicht, lag das jetzt am Alkohol, denn ihm merkte man kaum etwas an, eher mir, sonst würde ich nicht so etwas Bescheuertes wollen. „Dann weiß ich, was ich dir Morgen zum Frühstück machen werde.“ Ich errötete. Ein warmes Gefühl machte sich breit. „Darf es noch etwas sein?“ Seine Stimme wurde dunkler und rauer. „Nur ein Kuss“, hauchte ich. „Mmh, also ein Kuss, ein Donut ... noch einen Wunsch vielleicht?“ Ich schüttelte errötend mit dem Kopf, als mir klar wurde, dass ich so widersprüchlich auf ihn wirken musste. „Nein, nur ein Kuss“, wiederholte ich mein Verlangen. Als ich ihm erneut in die Augen schauen wollte, drückten sich seine Lippen auf meinen Mund, forderten ihr Recht, mich zu besitzen, bis ich mich willig für ihn öffnete. Schließlich schob Carstens seine Zunge in mich, eroberte mich und suchte das Gegenstück, welches genauso mitmachte in einem einzigen Tanz der Gefühle. Somit hatte Carsten mir den Wunsch erfüllt. Ich versank in eine warme geborgene Welt, in der es nur ihn und mich gab. Verdrängte unstete Gedanken, als ich fest in die Arme gezogen wurde, und spürte, wie erregt er selbst war – ich nicht minder. Doch hatte ich meinen Körper völlig unter Kontrolle und vertraute ihm. Dabei schämte ich mich zugleich, weil ich einfach nicht weitergehen konnte und wusste, dass er mich so sehr in dem Moment haben wollte. Der Sex lag direkt in der Luft wie eine schwere Süße. Die Endorphine spielten eine große Rolle. Doch Carsten blieb tapfer, er rieb sich weder an mir, noch tat er etwas, außer mich mit seinem Mund in den Himmel zu katapultieren. Er holte sich durch unseren Kuss die oberflächliche Befriedigung. Dann griff er in meine Haare und bog den Kopf nach hinten, als er an meinem Kinn zärtlich entlang knabberte und mit kleinen Küssen bedeckte. Schließlich zog er uns beide nach oben. Sein Stöhnen und seine Sanftheit waren Grund genug, dass sich alles richtig anfühlte. Wir schmusten eine Weile herum, bis wir völlig außer Atem unsere küssende Liaison beendeten und uns dann ansahen und lachten. Warum wir lachten? Weil wir mit unseren Haaren so verstrubbelt aussahen, bei eingehender und gegenseitiger Musterung, es sah ulkig aus. Nachdem der Lachflash abgeebbt war, schob ich verlegen eine Strähne hinters Ohr, die gleich wieder vorfiel, da sie zu kurz war. Carsten hingegen stand die Liebe, die er für mich hatte, ins Gesicht geschrieben. Er brauchte nicht viel zu sagen, die Augen sprachen Bände. Lange war ich nicht mehr in solch einem schönen Zustand der Glückseligkeit gewesen wie jetzt. Langsam spürte ich einen Durst und sah auf meine leere Bierflasche. Da entschloss ich mich, nach einem weiteren Bier zu verlangen, was Carsten mit einem Lächeln quittierte und mir das mitgebrachte von vorhin öffnete und mir zuschob. „Hier, bitte!“ An diesem Abend war es egal, ob ich leicht betrunken ins Bett gehen würde. Ich wollte nur bei ihm sein und hier so neben ihm sitzen. Ich kuschelte mich sofort eng an ihn. Er erhob seine Flasche, während sein Arm warm um mich lag. „Auf dich und dass ich dich rechtzeitig gefunden habe“, sagte Carsten erneut. Ich wusste, wir wiederholten uns und wirkten vielleicht für manch einen, der uns hätte beobachten können, lächerlich. Doch das war egal! So losgelöst war ich schon lange nicht mehr. Vielleicht brauchte ich gerade jetzt den Kitsch. Vielleicht gefiel es Carsten selbst, dass er sich so präsentieren konnte und möglicherweise waren wir beide auch ein wenig zu betrunken, um richtig rational darüber nachdenken zu können, was wir sagten und machten. Die Situation war grotesk und wunderschön. „Auf dich … mein Engel.“ Der Satz war lallend ausgesprochen, aber von Carsten verstanden, denn er nickte mir grinsend zu. „Hört, hört.“ Wir stießen an und leerten unsere Flaschen ziemlich rasch. Ein leichtes Karussell war im Anmarsch und Carsten fing mich geschickt ab, als ich mich vorbeugen wollte, warum auch immer und ich es nicht schaffte, mich selbst abzufangen. Mein Gesicht fiel auf seine Brust. Nicht schlecht! Dabei atmete ich seinen Duft ein und fühlte, wie er seine Arme fester um mich legte. „Du bist so süß, besonders wenn du leicht betrunken bist, da wirkst du einfach unbeschwert.“ Er strich mir die Haare aus dem Gesicht. „Du wirst wieder viele solcher Tage haben, dafür werde ich sorgen“, murmelte er in mein Haar und ich seufzte selig. Oh ja, das wäre schön! Ich antwortete ihm nicht, wollte die Situation nicht zerstören. Und alles wäre so schön perfekt, wenn sich nicht immer ganz kurz eine dunkle Wolke aufbaute und aus ihr der Name ‚Darian‘ regnete. Doch durch den Alkohol lichteten sich die Gedanken immer sofort und ließen mich in eine Schwerelosigkeit treiben. Ich sollte es genießen. Ich sollte! Carsten ließ mich kurz alleine, nachdem er sich vergewissern konnte, dass ich mich auf der Couch eingelümmelt hatte und ihm nicht folgte. Wie ein eingerollter Kater lag ich da in einer hellen Decke eingewickelt und versuchte, mich auf ein Programm zu konzentrieren. Schwierig, wenn der Flachbildschirm ab und an doppelt vorhanden war, da der Schwindel in meinem Kopf sich ab und zu dazu meldete. So lag ich still da, wartete auf ihn und berührte dabei immer mal wieder meine Lippen, konnte kaum glauben, wie toll sich doch ein Kuss anfühlen konnte und wie klasse er überhaupt küsste. Eine viertel Stunde später, vielleicht auch etwas länger, kam er vollgepackt mit verschiedenen Köstlichkeiten auf einem silbernen Tablett drapiert zurück. Er hatte uns ein paar Brotschnitten mit Wurst und Käse gemacht – als Mitternachtssnack angepriesen. Ich setzte mich leicht wankend auf und sah erstaunt auf die Mahlzeit. Wer sollte das alles essen? Ich merkte jedoch sehr schnell, wie mein Magen zu knurren anfing. So laut, dass sogar Carsten es mitbekam. Er lachte heiter. „Siehst du, dein Körper meldet sich zu Wort, hör auf ihn.“ Ich wusste, er war froh um jeden Bissen, den ich zu mir nahm. „Jep.“ Ich griff wirklich zum ersten Mal unter Alkoholeinfluss beherzt und mit Appetit zu. Es schmeckte und bald war mir nicht mehr ganz so schwindelig. Carsten hatte jedem von uns zusätzlich ein Wasser eingeschenkt, das er aus der Küche geholt hatte. Alles war reichlich vorhanden. Eine ganze Weile sprachen wir kein einziges Wort und aßen die Brotplatte fast auf, tranken Wasser dazu. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, während im Fernsehen ein Mitternachtskrimi lief, der uns beide nicht interessierte, da wir den Anfang verpasst hatten. „Jaden.“ „Mmh?“, die letzten Reste meines Brotes verschlang ich schnell und sah ihn dann fragend an. Carsten sah mich ebenfalls an, die Hände lagen unruhig auf dem Schoß. „Was ist?“, fragte ich nun. „Ich möchte, dass du hier bleibst.“ Meine Augen wurden größer. „Ich bleibe ja hier, solange ich noch keine Arbeit habe und ich noch nicht stabil bin. Hatten wir doch so ausgemacht, oder nicht?“ „Nein, das meinte ich nicht. Ich meinte richtig bei mir wohnen, für immer, verstehst du?“ „Für immer?“ Hatte ich mich verhört oder wurde gerade eben ein Traum für mich wahr. „Das Haus hat wieder Leben und Basta mag dich auch und ich ...“ Er brach ab, schaute weg und im richtigen Moment kam auch noch sein Hund zu uns, als Carsten seinen Satz beenden wollte, und beließ es dabei. Basta hatte eine wirklich gute Schule genossen, denn bei manchen Hunden, wenn sie Essen rochen, war es mit der Gemütlichkeit zu Ende. Doch er kam nie und belästigte einen. Erst beschnupperte der braun gescheckte Schäferhund sein Herrchen, dann kam ich an die Reihe. Und da meine Finger noch nach Salami und anderen leckeren Sachen rochen, wurde ich abgeleckt. Ich musste schmunzeln, hatte er sich doch nicht ganz zurückhalten können. „Blöder Hund“, sagte ich, meinte aber liebevoll das krasse Gegenteil. Ich streichelte ihn, merkte jedoch, wie Carsten auf seine Antwort wartete, und schickte Basta in seinen Korb zurück. War Carsten noch vom Bier benebelt?, fragte ich mich. Doch hatten seine Worte so klar wie Bachwasser geklungen. Seine Augen fixierten mich. An diesem Abend konnte ich nicht darauf antworten, auch wenn ich so gerne gewollt hätte, hätte ich es nicht für richtig empfunden. Ich wollte das auf den nächsten Morgen verschieben, wenn wir wirklich wieder nüchtern waren, daher blieb ich ihm eine Antwort schuldig. Die Enttäuschung hingegen stand ihm ins Gesicht geschrieben, auch wenn er es vor mir zu verbergen versuchte. Darum versiegelte ich rasch seine Lippen zu einem verführerischen Kuss, in den er locker einwilligte. So schnell konnte man also einen Carsten Engel um den Finger wickeln. „Morgen, versprochen“, versprach ich ihm rasch und seine Augen leuchteten.       ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 16: ------------ ~°~16~°~     Carsten hatte sich an dem Abend brav von mir verabschiedet. Der letzte Kuss, bevor jeder in sein eigenes Bett ging, hatte ihn zwar besänftigt, aber das Tier im Manne geweckt. Ich sah es an seinen hungrigen Augen. Ich hatte die Nacht ruhig durchgeschlafen und musste am nächsten Morgen nicht einmal über seine Worte nachgrübeln. Ein gutes Zeichen, wie ich fand. Alles fühlte sich weiterhin richtig an. Zuvor aber brauchte ich dringend etwas gegen meinen Kater, der sich beim Aufstehen sofort und unbarmherzig meldete. Mein Kopf fühlte sich wie ein ausgefüllter Bienenstock an, als ich mich an den bereits gedeckten Frühstückstisch setzte. Ich war den Alkohol nicht mehr gewohnt. „Guten Morgen“, begrüßte mich Carsten. Er wirkte gut gelaunt. Ich hingegen hob nur die Hand, um sie schnell um die Tasse Kaffee zu schlingen, die vor mir stand. Der Duft stieg mir in die Nase und ich nahm einen kräftigen Schluck. Carsten stellte mir zusätzlich ein Glas Wasser hin, in dem er ein Aspirin aufgelöst hatte. Dankbar nahm ich es an und trank es in einem Zug aus. Keine fünf Minuten später zeigte sie schon die Wirkung. „Besser“, gab ich von mir. Als Antwort bekam ich ein Lachen. Nach einer weiteren Tasse Kaffee, die wir schweigend zu uns nahmen, sah ich endlich von meiner auf, die ich mit beiden Händen umschlossen gehalten hatte. Mein Salamibrötchen hatte ich längst gegessen und nur die Krümel zierten den Frühstücksteller. Ich wusste, nein spürte, dass Carsten auf eine Antwort auf die gestrige Frage, wartete. „Carsten.“ „Ja?“ Erwartungsvoll sah er von seiner Zeitung auf, faltete sie zusammen und legte sie auf die Seite. Ich räusperte mich. Meine Finger hatte ich ineinander geschlungen auf meinen Schoß gebettet, um über meine Nervosität Herr zu werden, als ich ihm endlich antwortete: „Du hast mir gestern eine Frage gestellt und ich möchte dir darauf antworten.“ „Ja!“, sagte er nur und ich konnte die Aufregung in seiner Stimme hören. „Ich möchte bei dir bleiben, und zwar für immer.“ Mit ihm würde ich es schaffen. Ganz bestimmt und mir war es nicht schwergefallen, sie auszusprechen, im Gegenteil. Ein Ballast fiel von meinen Schultern. Carsten sagte nichts, aber seine Augen leuchteten und ein warmes Lächeln lag um seine Mundwinkel. Ein schönes Gefühl durchströmte mich und ich fühlte mich in diesem Moment geborgener, wie niemals in meinem Leben zuvor. Ich wusste genau, dass dieser Mann mir guttat – von dem Tag meiner Rettung an war es so. Dennoch blieb Carsten rücksichtsvoll und ging keinen Schritt weiter, indem er aufsprang, um mich zu erdrücken, oder sonst was. Seine freundlichen Augen, die vor Freude schimmerten, waren Reaktion genug für mich. Die zarte Annäherung, die Küsse, das alles reichte mir vorerst. Ich wollte und musste es langsam angehen, zu meiner eigenen Gesundheit und auch, um nicht wieder jemanden zu verletzen. Das war ich Carsten schuldig, denn falsche Hoffnungen, indem ich Mitgefühle mit Zuneigung verwechseln würde, wollte ich ihm nicht machen. Wenn wir zu schnell vorgehen würden, könnte ich womöglich alles zerstören. Ich war ihm dankbar über die stille Übereinkunft. Basta kam an den Frühstückstisch. Doch bettelte er auch jetzt wieder nicht, sondern legte sich vor meine Füße, schnüffelte dran und legte den Kopf auf die Seite. Ich hob meine Augenbrauen, tat empört. „Willst du mir sagen, dass meine Füße stinken?“, zog ich Carstens Hund auf. Als Antwort hob er den Kopf und gähnte laut, so nach dem Motto: „Hey Mann, du hast vielleicht Probleme, was interessieren mich deine Füße, wenn ich noch müde bin.“ „Wir waren etwas zu lange für ihn auf, denke ich. Also keine Stinkfüße.“ Carsten lächelte. „Na, ich habe auch frisch geduscht“, verteidigte ich mich und grinste. Wir frühstückten zu Ende, die Stimmung war gelöst, und wir witzelten noch eine kleine Weile herum. Ich fühlte mich großartig und daher beschloss ich, noch heute meinen WG-Mitbewohnern Bescheid zu geben, dass sie ab sofort mein Zimmer frisch vermieten konnten, und rief sie am gleichen Tag an. So vereinbarte ich mit Ina einen Zeitpunkt, zu dem ich alle antreffen würde. Sie klang überrascht und wollte nach dem Grund fragen. Ich hielt mich aber bedeckt, verblieb mit ihr, dass ich am nächsten Tag gegen 18 Uhr vorbeischaute. „Willst du mir nicht den Grund verraten?“, ließ sie zum Schluss nicht locker. Ich lachte leise. „Nein, aber du wirst es morgen erfahren.“ Keine Ahnung, warum ich es ihr nicht gleich am Telefon gesagt hatte, vielleicht wollte ich einen Überraschungseffekt starten, ihnen zeigen, dass es mit mir aufwärtsging. Ich verabschiedete mich von ihr, ging dann beschwingt auf mein Zimmer zurück, welches jetzt mein Zuhause war, sah es als mein schützendes Rückzugsgebiet und nun wirklich mein Eigen an. Mein neues Heim! Carstens Haus hatte alles, was man sich nur wünschen und erträumen konnte, da machte ich mir nichts vor. Neulich hatte er mir im Keller einen weiteren Raum gezeigt, der neben dem Trockenraum lag, und einen kleinen Fitnessbereich beinhaltete inklusive einer Sauna. Bald würde ich den in Anspruch nehmen, wollte ich mehr für Kondition sorgen und auch, um meinen Körper zu formen.   Ich hatte im Schneidersitz auf meinem Bett gesessen und ein Buch aufgeschlagen, als es an der Tür klopfte. „Komm rein.“ Carsten trat ein. Er hatte sich umgezogen, war sportlich gekleidet, wie ich feststellte, als ich von meinem Roman von Killhjas „Der Mond“ aufsah. Ich hatte mich nicht wirklich auf den Roman konzentrieren können, wo die Mondmenschen die Erde angriffen. Auf Fantasy stand ich nicht unbedingt. „Und, alles geregelt?“, fragte er mich sanft, sodass es mich jedes Mal von Neuem erstaunte, wie friedlich seine Stimme klang. „Ja, alles geregelt. Morgen treffe ich sie alle an.“ „Schön.“ „Machst du Sport?“, wollte ich interessiert wissen und klappte mein uninteressantes Buch zu. „Ja.“ Ich musterte ihn. Wie gut er doch aussah! Wie gut würde Darian in den Sachen wohl aussehen? Warum dachte ich überhaupt immer wieder an diesen Mistkerl? Ich ärgerte mich über meine eigenen Gedanken. Carsten setzte sich zu mir auf das Bett und hatte meine finsteren Wolken, die aufgezogen waren und mir die Stimmung kurz verdarben, nicht bemerkt. Schnell hatte ich mich im Griff und versuchte, zu lächeln, was nur halbwegs gelang. „Wir werden es hier schön haben. Du und ich!“ Er hob die Hand, berührte mich kurz an der linken Wange, streichelte mich. Wie zärtlich er dabei vorging, versetzte mir einen Schauer nach dem anderen. Dann sah er mir in die Augen, und ich verlor mich in seinem Blick. Unsere Lippen fanden einander. Wir küssten uns. Es war schön, mehr konnte ich nicht dazu sagen, als dass mir Carsten guttat. Er ließ mich los. „Ich geh dann mal, hast du nicht Lust mitzukommen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nicht heute, aber das nächste Mal schon.“ „Na dann.“ Er ließ mich alleine, und ich hörte im Flur, wie er mit Basta kurz spielte. Ich lächelte. Noch am gleichen Tag schlug ich Carsten vor, wenn ich wieder Geld verdienen würde, dass ich ihm den größten Teil zurückzahlen wollte. Ich hatte es mir fest vorgenommen und würde mich auch nicht von der Idee abbringen lassen. Er war mit dieser Idee sofort einverstanden. Es wäre wichtig für mich, in die Selbstständigkeit zurückzukehren, meinte er. Und so waren wir uns einig, was für mich sehr wichtig war.   Am nächsten Tag verbrachte ich eine halbe Ewigkeit vorm Spiegel. Ich stylte mich, wollte für meinen Abschied besonders hübsch aussehen und Carsten stand angelehnt am Türrahmen und betrachtete mich wohlwollend. Ich konnte förmlich seine Blicke auf meiner Haut fühlen. Ein Schauer nach dem anderen rann über den Rücken, sodass meine Hände zu zittern anfingen und ich mich einen Narren schalt und mich zwang, ruhiger zu werden. So blendete ich ihn für einen kurzen Moment aus, damit ich mich besser auf mich und das Schminken meiner Augen konzentrieren konnte. Ich setzte den letzten Kajalstrich, danach ging ich ein wenig auf Abstand und besah mich im Spiegel. Mir gefiel, was ich sah – erholt. Zwar war ich immer noch sehr schlank, aber ich sah nicht mehr ganz so ausgemergelt aus. Meine Haare glänzten in einem schönen Schwarz und meine Augen waren dezent geschminkt und kamen vollständig zur Geltung. Sie blickten nicht mehr stumpf und glanzlos aus ihren Höhlen, sondern aus ihnen strahlte das erneuerte, frische Leben. Meine Lebensgeister waren zurückgekehrt und aktiviert worden. Ob es meine Mitbewohner ebenfalls sahen? „Schwarz oder dunkle Farben überhaupt stehen dir wirklich gut“, meinte er anerkennend und ging auf mich zu. Da drehte ich mich zu ihm um und lächelte. „Danke. Lass uns gehen! Sie werden schon warten.“ Ich wollte es hinter mich bringen und war nun aufgeregt. Carsten hatte ich nicht fragen müssen, ob er mitkommen wollte, das war selbstverständlich. „Ja, bringen wir es hinter uns.“ Carsten beugte sich vor und gab mir wie immer einen sanften Kuss auf die geschlossenen Lippen, die mit leichtem Lipgloss versehen waren. Es erstaunte mich jedes Mal aufs Neue, wie einfühlsam er küssen konnte und das es ihm nichts ausmachte, wie ich aussah, vor allem geschminkt! Ob wir jetzt richtig zusammen waren, konnte ich noch nicht einschätzen. Auf jeden Fall war er vorerst ein Freund, ein guter – und darüber hinaus, denn ich ließ mich gerne von ihm küssen. Sehr gerne sogar. Wir fuhren mit seinem Wagen. Carsten hatte vor Tagen mein Auto zu sich geholt, wenn auch mit einem gewissen Schmunzeln auf den Lippen, als er sich über den Zustand und das Alter wunderte, vor allem, dass es diese Strecke zu ihm nach Hause ohne eine Reifenpanne oder einem Motorschaden überstanden hatte. Ich persönlich freute mich über mein Auto und dass ich in einer Woche meinen Führerschein wieder zurück bekam. Es gab mir eine gewisse Selbstsicherheit, so konnte ich in die Stadt und brauchte nicht mit dem Bus oder Zug fahren. Während der ganzen Fahrt über hatte ich Herzklopfen und das wurde nicht ruhiger, je näher wir an Hamburg kamen. Carsten legte seine Hand über meine, drückte sie kurz, nahm sie dann wieder zurück, um in einen höheren Gang zu schalten. Die ganze Zeit über schwiegen wir. Wir kamen zehn Minuten früher in der WG an, fanden auch gleich unweit von der Wohnung einen Parkplatz. „Das wird schon, sie werden Augen machen, wenn sie dich sehen.“ Carsten legte kurz den Arm um mich. „Meinst du?“ Natürlich hatte ich mich verändert, aber würde es denen wirklich auffallen? Meine Mitbewohner staunten nicht schlecht, als sie mich sahen. „Hallo!“, grüßte ich in die Runde und alle Augenpaare waren auf mich gerichtet. Von Carsten nahm keiner Notiz, noch nicht. „Wow, Jaden, du siehst …“ Ina hatte als Erste gesprochen und brach baff ab. „… und du siehst nicht mehr ganz so abgemagert aus, überhaupt, viel besser, was ist passiert?“ Die letzten Worte waren von Sabine. Die beiden Frauen waren sprachlos, die drei Männer hingegen begrüßten mich normal und hielten sich mit ihren Kommentaren dezent zurück. Eine mir unangenehme Stille brach herein, als Carsten und ich so verloren im Flur standen. Carsten hatte sich sehr zurückgehalten. Auch wurde er nicht gefragt, wer er ist. Vielleicht waren sie schon mit mir überfordert. „Ich ziehe hier aus und will schnell meine Sachen zusammenpacken, dann kommen wir in die Küche. Das ist übrigens Carsten“, stellte ich ihn endlich den anderen vor. Carsten hob die Hand, begrüßte jeden förmlich. Ja, da merkte man sein Alter. „Carsten, sind Sie …“   ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 17: ------------ ~°~17~°~     „Später“, lenkte ich ein, da ich nicht wusste, als was ich Carsten vorstellen sollte und mich auch nicht traute. So zog ich ihn spontan in mein Zimmer und schloss hinter mir die Tür. Er sah mich nur an, sagte aber nichts dazu. Ich hingegen, was mir durchaus bewusst war, hatte meine Mitbewohner einfach mit fragenden Gesichtern stehen gelassen. „Jaden, alles klar bei dir?“, fragte er mich dann doch nach einer Weile, da er beobachtet hatte, wie ich ziemlich aufgeregt die wenigen Sachen zusammenpackte. Alles in Ordnung? Nein, ich war alles andere als in Ordnung; ich war durcheinander, zudem weil ich wusste, dass mein Verhalten eben nicht richtig war. Darum war ich Carsten auch dankbar, dass er vor meinen Bewohnern nicht nachgefragt hatte, warum ich so wenig von uns preisgab. „Nein, nichts ist klar, ich hätte ihnen sagen sollen, wer du bist“, gab ich nervös als Antwort. Der Drang nach einer Zigarette war wieder allgegenwärtig. Einfach an einem Glimmstängel ziehen und das Nikotin auf sich wirken lassen. Zwar rauchte ich nicht mehr, aber manchmal überkam es mich und ich wünschte mir eine her, aber davon wusste Carsten nichts. „Du wirst noch den richtigen Zeitpunkt dafür finden. Lass uns weitermachen, okay!“, wirkte er beruhigend auf mich ein und erreichte es tatsächlich immer wieder bei mir, dass ich mich besser fühlte. Dankbar nickte ich. „Okay.“ Als wir fertig waren, stellte Carsten die kleine beigefarbene Tasche, die er extra dafür mitgenommen hatte, im Flur ab, während ich mich ein letztes Mal in meinem ehemaligen Zimmer umsah. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich auf einmal. Mein Jahr in Hamburg mit einem gewissen Abstand zu betrachten, mich an die Stunden vor meinem Selbstmord zu erinnern, oder wie Sabine und Ina sich unterhalten hatten und das Wort ‚Schwuchtel‘ zwischen ihnen gefallen war, all diese Dinge strömten auf mich ein. Warum ausgerechnet ich mich jetzt an all das Negative erinnern musste – keine Ahnung? Meine Gedanken führten ein Eigenleben. Ich konnte es nicht steuern, es war einfach so. Meine Laune sank auf den Nullpunkt, und ich wollte hier weg, raus aus dem Zimmer, fort aus der Wohnung. Die innere Unruhe nahm zu. Carsten, der ins Zimmer reinkam, hielt mich auf. „Was ist los?“, fragte er sofort. Sorge lag in seiner Stimme. Ich wollte schon den Kopf schütteln, doch er ließ es nicht zu. „Du bist so weit gekommen? Was ist los?“ Er hatte die Tür hinter sich geschlossen, damit die anderen nichts mitbekamen. Sie waren zwar alle in der Küche versammelt und tuschelten, doch Carsten wollte sichergehen, schließlich wussten sie nichts von meinem gescheiteren Selbstmordversuch. Ich vertraute mich Carsten schließlich an, als ich seine warme Hand auf meiner Schulter spürte, gab sie mir gewissen Halt. „Ich hatte etwas mit angehört, an dem Tag, du weißt schon. Das hat mich gekränkt. Ich hab es die ganze Zeit aus meinem Gedächtnis verbannt gehabt. Keine Ahnung, warum es gerade jetzt an die Oberfläche kommt. Warum erst jetzt, und nicht schon beim letzten Mal, als wir hier waren?“ „Du beginnst langsam, all das zu verarbeiten.“ „Meinst du?“ „An was hast du dich erinnert?“, hakte er nach. „Ach, nichts Wichtiges“, wollte ich schon abwenden, aber Carsten ließ nicht locker. „An was, Jaden?“ Er blieb beharrlich. „Ina … Sabine ... an ihr Gespräch, was ich zum Teil belauscht hatte.“ „Und?“ Ich schluckte. „Da war unter anderem das Wort ‚Schwuchtel‘ gefallen. Sie hatten mich gemeint“, gab ich traurig von mir. Carsten sah mich zuerst ernst, dann nachdenklich an. „Glaubst du das wirklich?“, meinte er. Ich hob die Schultern als Antwort. „Vielleicht hatten sie das aus einer ganz anderen Situation heraus gesagt und es hatte noch nicht einmal etwas mit dir zu tun. Sie wissen doch nicht, dass du homosexuell bist, oder?“ „Nein, wissen sie nicht.“ „Siehst du!“ „Aber wen sollten sie gemeint haben?“, fragte ich schärfer als beabsichtigt. Carsten schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht, schau dir die beiden einmal an, sie waren kurz vorm Weinen, als du gesagt hast, dass du ausziehst. So etwas bekomme ich sofort mit. Ich denke nicht, dass sie dich in ihrem Gespräch damit gemeint hatten. Was hast du denn wirklich gehört?“ Carsten hatte, für mich unverständlicher Weise, die Tür geöffnet. Und als ob er es geahnt hatte, standen Sabine und Ina plötzlich im Flur neben der abgestellten Tasche und unterhielten sich leise. Ich sah, wie sie ihre Köpfe drehten und in unsere Richtung schauten. Ihre Gesichter wirkten tatsächlich traurig. Da wurde mir erst richtig bewusst, dass ich damals vielleicht doch etwas in den falschen Hals bekommen hatte. Was hatte ich denn wirklich von dem Gespräch mitbekommen? Carsten hatte recht. Beschämt wandte ich den Blick von ihnen ab. „Sorry, ich neige anscheinend dazu, einiges falsch zu verstehen“, sprach ich im Flüsterton zu Carsten, da ich nicht wollte, dass sie mir zuhörten. „Nein, bei dir ist nur so viel Angriffsfläche gewesen, das ist alles“, flüsterte er genauso leise. Dann küsste er mich flüchtig auf die Wange, als die Frauen weiter in ihrer Unterhaltung vertieft waren. Kurz blühte eine Hitze auf meinem Gesicht und mein Herz schlug schnell. Es war ein Gefühl, als ob Carsten und ich etwas Verbotenes getan hätten. Rasch sah ich mich um. Sabine und Ina wirkten nicht so, als hätten sie uns beobachtet, sondern waren weiter in ihr Gespräch vertieft. „Komm, lass uns gehen“, überspielte Carsten das Ganze. Ich nickte und versuchte, nicht mehr ganz so erhitzt zu wirken. Ina und Sabine drehten sich zu uns, als sie merkten, dass wir zu ihnen kamen. „Jaden, hast du fertig gepackt?“ In Inas Augen las ich aufrichtige Traurigkeit und abermals kamen Schuldgefühle auf. Wie konnte ich beide nur so verdächtigen? „Ja, habe ich.“ Beschämt senkte ich mein Haupt und wir gingen in die Küche zu den Anderen. Carsten ließ die Tasche weiterhin im Flur stehen. Sabine bestand drauf, uns zum Abschluss einen Kräutertee zuzubereiten. Wie konnte ich da ablehnen. „Na gut“, sagte ich schließlich, als wir in der Küche Platz nahmen. So tranken wir einen Kräutertee. Jeder hing seinen Gedanken nach. Keiner traute sich so recht zu fragen, was wirklich passiert war. Warum ich hier mit einem Mann auftauchte, oder woher ich die Miete zahlen konnte? Warum ich darauf verzichtete, bis Ende des Monats noch hier zu wohnen. All diese Fragen jedoch standen in ihren Gesichtern geschrieben, auch bei den Männern, Benjamin, Daniel und Hagen. Auch sie sahen mich nur stumm an. Carsten und ich standen von unseren Plätzen auf, als wir den Tee ausgetrunken hatten. „Danke für den Tee“, bedankte sich Carsten höflich in die Runde. „Willst du schon gehen, ohne uns eigentlich zu sagen, was los ist?“, fragte endlich einer der Männer. Erstaunt sah ich zu Hagen. „Ich würde es auch gerne wissen, Jaden“, sprach Ina so leise, dass man sie kaum verstand. Auf widersprüchliche Art und Weise empfand ich Glücksgefühle, dass ich meinen Mitbewohnern doch nicht egal war. Betroffen sah ich sie alle an. Ina wandte ihr Gesicht ab. Sie hatte Tränen in den Augen. Am Telefon war es ihr nicht anzumerken gewesen, doch hier und jetzt war es deutlich zu sehen. Sabine nahm Ina in den Arm und in diesem Moment konnte ich nicht anders und trat auf Ina zu. Sie war sprachlos über die Nähe, die ich zuließ, als ich sie spontan umarmte, sogar an mich drückte. Gerade ich, der die Nähe die ganze Zeit gemieden hatte, weil ich mir wie ein Stück Dreck vorgekommen war. Ich konnte es auf einmal, weil ich es wollte. „Ina … ich …“ Meine Stimme versagte. Wir ließen uns los und sie rückte etwas von mir ab. „Jaden, wir wissen gar nichts über dich! Ein Jahr warst du bei uns und keinen hast du an dich herangelassen“, meinte sie traurig. „Du warst und bist ein Buch mit sieben Siegeln.“ „Da muss ich Ina recht geben, Alter, keiner weiß wirklich was über dich und nun tauchst du auf und willst aus heiterem Himmel ausziehen“, sprach nun Benjamin und wieder erstaunte mich die Reaktion. Mich überkam das Gefühl, reinen Tisch machen zu müssen, das Gefühl, zu sagen, wer ich wirklich war – mich nicht zu verstecken. Ohne darüber nachzudenken, was für Konsequenzen es hätte, outete ich mich schließlich. „Ich bin schwul“, sagte ich gradeheraus. „Das war ich schon immer. Ich kam nur selbst nicht damit zurecht, und darum band ich es keinem auf die Nase.“ Dass ich mich in diesem Moment so stark fühlte, hatte ich Carsten zu verdanken, der neben mir stand und mir mit warmen Blicken Mut zugesprochen hatte. Der Spruch: Blicke sprechen Bände!, war hier angebracht und traf voll auf den Nagel. Das Überraschende daran war, es war nicht abgesprochen gewesen, das musste es auch nicht. Ich sah es an seinen Augen, dies hier war richtig. Der richtige Zeitpunkt. Ich sah meinen Retter an, dann in die Runde, in ihren sprachlosen Gesichtern entdeckte ich hier und da gewisse Gefühlsregungen, aber keine negativen. „Das nenne ich eine Überraschung“, sagte Ina, aber nicht im Bösen. „Wo wirst du wohnen, bei ihm?“, meldete sich nun Sabine zu Wort, die bis jetzt nicht viel gesagt hatte und an ihren blonden Haaren verlegen herumspielte.  „Ja, ich ziehe zu ihm – zu meinem Retter.“ Nur warum er mein Retter war, darüber konnte ich noch nicht reden. Das war eine andere Baustelle und hatte mit meinem Outing nichts zu tun. Carsten lächelte die beiden Mädels und die verdutzten Männer an, die uns weiterhin ansahen, als wenn wir von einem anderen Planeten hierher geschickt worden wären. Besonders als mich Carsten kurz in den Arm nahm, was wir in der Öffentlichkeit bis jetzt vermieden hatten. Ich nahm Carstens Hand, als er mich losgelassen hatte, und drückte sie. „Also, das freut uns, ähm wirklich – ähm hatte das schon so im Verdacht … Wir bleiben doch in Kontakt?“ Ina sah mich erstaunt aus ihren großen Augen an. Ja, Frauen konnten einen tatsächlich überraschen, auch wenn aus ihren Mündern immer der Satz: „Ich hatte das alles gewusst“ kam, da waren sie alle gleich und doch war ich mir sicher, dass sie es nicht geahnt hatten, denn dazu waren ihre Gesichter doch zu verblüfft. „Würde uns freuen, wenn du ab und an mal anrufst und so?“, schloss sich Hagen dazu und beide Männer nickten als Bestätigung und hoben nun die Hand zum Abschied. „Das bleiben wir.“ Wer hätte das gedacht, dass ich wirklich Kontakt halten würde. Ausgerechnet mit Hagen, der mir nun die Hand schüttelte, mit seiner stattlichen Größe musste ich ziemlich zu ihm aufschauen. Ich drückte noch kurz Sabine, die immer noch ziemlich mitgenommen aussah. Carsten gab jedem still die Hand, hatte sich bewusst dezent zurückgehalten. Wir verließen meine ehemalige Wohngemeinschaft. Ich hatte ein gutes Gefühl, auch wenn ich ein klein wenig traurig war, so wenig von meinen Mitbewohnern zu wissen. Was habe ich eigentlich ein Jahr lang gemacht, dass ich nicht merkte, dass ich so etwas wie Freunde hatte? Ich war wirklich tot gewesen. Verdammter Darian, du hast mir so viel kaputtgemacht. Auf der Straße nahm mich Carsten sofort in den Arm. Er hatte keine Hemmungen mehr, es zu tun. Es sah für Außenstehende eher nach einer freundschaftlichen Umarmung aus. Man musste nichts heraufbeschwören, die Umwelt reagierte immer noch sehr verhalten darüber, das war auch mir klar. „Es ist besser gelaufen, als ich dachte“, sprach ich freudig zu Carsten und fühlte mich in seiner Umarmung sehr wohl. Wir ließen uns los und stiegen ins Auto. Ich hatte das Gefühl, in Watte gepackt zu sein. Einerseits war alles noch so unrealistisch, auf der anderen Seite fühlte ich mich super, und gestärkt. „Dass du dich geoutet hast, obwohl du ausgezogen bist, war ein richtiger Schritt. Ich bin sehr stolz auf dich.“ „Danke, ohne dich ...“ Carsten ging dazwischen, wehrte ab. „Viele Menschen bekommen eine zweite Chance. Man muss sie nur ergreifen.“ Er startete den Wagen und ich sah nur in seine blauen Augen und lächelte.     ©Randy D. Avies 2012   Kapitel 18: ------------ ~°~18~°~     Ich lebte mich bei Carsten ein. Er hatte mir alsbald eine Lehrstelle als Einzelhandelskaufmann besorgt, den Kredit für meine Starthilfe in mein zweites Leben übernommen und mit mir Ratenzahlungen vereinbart, sodass ich alles bequem zurückzahlen konnte. Mir war es wichtig, meine Selbstständigkeit zu behalten. Und so konnte ich ein kleines bisschen zur Haushaltskasse beisteuern. Ich wusste, dass es ihm lieber gewesen wäre, er hätte am Anfang alles bezahlt, aber ich blieb in diesem Punkt beharrlich. Bei der Firma Bollinger war ich untergekommen, Carsten hatte dort gute Connection zu denen durch einen Patienten. Eine dreijährige Lehre zum Einzelhandelskaufmann hatte ich vor mir. Doch dieses Mal wollte ich sie packen, mein Ehrgeiz war gestiegen. Meine reelle zweite Chance wollte ich nicht aufs Spiel setzen – schon vor Carsten beabsichtigte ich nicht zu versagen. Ich hatte inzwischen weitere drei Kilo zugenommen, was Carsten wohlwollend mitverfolgte. Doch nun war Schluss. Ich wollte meine schlanke, knabenhafte Figur behalten und fing mit Sport an. Meine Haare hatte ich mittlerweile schön tiefschwarz gefärbt und trug wieder einen modisch durchgestuften Haarschnitt, was meine hohen Wangenknochen zur Geltung brachte. Auch wenn ich vorgehabt hatte, wieder blau gefärbte Haarspitzen zu wollen, ließ ich die vorerst weg, gerade wegen meines neuen Arbeitsplatzes. Privat trug ich immer dunkle Sachen, auf der Arbeit eher Unauffälligeres. Ich passte mich meinen Mitschülern an, sah mein Outfit als wichtige Arbeitskluft, aus der ich mich nach Dienstende sofort herausschälte und mich umzog, um in meine Wohlfühlsachen zu schlüpfen. Carsten mochte, dass ich privat anders herumlief. „Ich habe dich so kennengelernt und hey, dir steht auch der schöne Rock“, hatte er geantwortet, als ich in meinen Nietenrock geschlüpft war und mich ihm dann noch deutlich geschminkt präsentierte. Auch wenn ich mich bei Carsten sehr wohlfühlte, spürte ich mit der Zeit, dass er mehr wollte als nur Küssen und Streicheln. Ich fühlte seine brennenden Blicke auf mir, oder bemerkte die Gier in seinen Augen, wenn ich hautenge Sachen anhatte. Auch wenn mein Körper sich nach ihm verzehrte, wagte ich einfach nicht den nächsten Schritt zu unternehmen.   Es klopfte an der Tür, als ich gerade dabei war, den Stoff für Morgen in der Berufsschule zu lernen. Anfänglich war ich mir komisch vorgekommen unter all den Jüngeren, aber da ich nicht übermäßig groß war und selbst jugendlich aussah, hatten sie mich irgendwie akzeptiert. „Es ist offen.“ Ich legte mein Schulmaterial beiseite und sah von meinem Schreibtisch auf. Carsten kam langsam auf mich zu. Blieb aber dann doch mitten im Raum stehen. Er war bis jetzt nicht oft in mein Zimmer gekommen, das nun über und über mit Postern von The Curé und schönen Männern geschmückt war. Ich hatte mich mit meinem ersten Lehrgeld und Carstens Starthilfe dann doch anders eingerichtet. Der asiatische Stil war zwar nicht schlecht, aber er war nicht meiner. Gerade heute früh kam ein Poster von Amazon von dem schönen Sänger Adam Lambert, das ich sofort mit Reißnägeln über mein Bett gehängt hatte und ihn, wenn ich Zeit hatte, anhimmelte. „Schön hast du es ... so …“ Er stockte, als er das überdimensionale Bild hängen sah, und zog seine Brauen nach oben. „… schräg meinst du.“ Ich lachte über seinen Gesichtsausdruck. Tja, daran merkte man den Altersunterschied. „Das passt zu dir, nun ja, sieht aus wie ein Jugendzimmer.“ Dann wurde seine Stimme traurig. Er hatte seine Hände in seine Stoffhose gesteckt und wirkte nachdenklich. So hatte ich ihn selten gesehen. Nur dann, wenn er abends geschafft von seiner Arbeit nach Hause kam. „Hast du was?“ Ich war aufgestanden und ging zu ihm, stellte mich auf die Zehenspitzen, da ich barfuß einfach doch erheblich kleiner war, und küsste ihn auf seinen geschlossenen Mund. Carsten atmete tief durch, erwiderte den Kuss nur zum Teil und nahm seine Hände, legte sie auf meine Schultern und drückte mich von sich. Er schüttelte den Kopf. „Jaden Müller, von dem ich nicht viel weiß, woher er stammt – außer aus Bayern“, sprach er. „Aha. Und ich dachte, mein Dialekt wäre nicht so deutlich zu hören“, versuchte ich spaßig zu klingen. Ich war mir nicht sicher, auf was er hinaus wollte. „Man hört ihn eigentlich nicht, nur wenn wir was zusammen getrunken haben, dann kommt er durch.“ Oh je, das war mir nicht bewusst gewesen … „Im Prinzip weiß ich immer noch nicht sehr viel über dich. Außer, dass du dich umbringen wolltest, und dass du stark nach Zigarettenrauch gerochen hast, als ich dich damals fand. Du warst Raucher, nur sehe ich dich niemals mit einer Zigarette. Auch nicht heimlich, das würde ich riechen.“ Ich sah ihn entsetzt an. Klar hatte ich geraucht – wie ein Schlot sogar. Die Zigaretten waren mein Nahrungsersatz. Seit ich Carsten kannte, wollte ich das nicht mehr und ich war mir sicher, es auch geschafft zu haben. Ich hatte nach dem Einzug nicht mehr daran gedacht oder gar Gelüste danach verspürt. „Wäre für mich aber kein Drama gewesen“, fügte er schnell hinzu. „Ich habe vor meinem Selbstmordversuch geraucht, ja das stimmt, jetzt nicht mehr“, gab ich erschrocken zu. Carsten stand immer noch vor mir, wirkte verschlossen und ernst. Noch ernster, wie ich fand, als ich das mit dem Rauchen gestanden hatte. „Willst du dich nicht setzen?“ Ich deutete auf mein Bett, eine andere Sitzgelegenheit hatte ich nicht außer meinem Schreibtisch und dem Schreibtischstuhl. Er schaute mich mit großen Augen an. Ich betrachtete ihn mir nun auch genauer. Da fiel mir seine Veränderung auf. Seine Haare waren ordentlich gekämmt. Nun sah er wirklich wie ein Therapeut aus. Und doch war er für mich hübsch geblieben. Zudem hatte er sich herausgeputzt. Eine schicke Hose mit einem hellen, beigefarbenen Polo-Shirt – das er bewusst eng trug? Ich runzelte die Stirn und fuhr mir dann übers Haar, wollte mich vergewissern, nicht zerzaust auszusehen. Carsten setzte sich endlich nach langem Zögern auf mein Bett. „Willst du ausgehen?“, fragte ich zaghaft. Etwas, was wir nie machten. Wir gingen niemals aus. „Jaden“, fing er an. Seine Hände wirkten nervös und er hatte sie auf seinem Schoß abgelegt. Dann knetete er jeden einzelnen Finger durch, was mich wiederum nervös machte. „Ich will ehrlich sein? Ich will mehr von dir als dich nur küssen, verstehst du?“ Das hatte ich schon befürchtet. Automatisch fing mein ganzer Körper wohlig zu kribbeln an, als ob er sagen wollte: „Dieser Mann will dich, nicht so wie Darian, der dich wie den letzten Dreck behandelte. – Gib ihm und dir endlich die Chance, verbaue dir nicht den Weg, du stehst immer noch auf Männer – du stehst auf ihn.“ „Ich weiß.“ Ich ging zu ihm, blieb vor ihm stehen, sah ihn an, atmete tief durch, bevor ich weitersprach. „Ich glaube, es wird Zeit, dass ich dir von mir mehr erzähle. Alles erzähle.“ Es war die Zeit gekommen, wie mir schien, der richtige Zeitpunkt. Carsten hatte genug gewartet, hatte auch angedeutet, mich seinem Vater irgendwann vorzustellen. Komisch, dass er kaum über seine Mutter sprach. Überhaupt waren seine Eltern ein kleines Tabuthema. Carsten und ich waren zusammen. Das war mir durchaus bewusst. Es fehlte nur noch der entscheidende Schritt. Ich setzte mich zu ihm, nahm seine nervösen Hände in meine, sah ihn warm an und nach anfänglichen Holpersteinen fand ich meinen Faden und erzählte ihm so ziemlich alles von meinem Leben. Ließ aber Details, wie meine Eltern mit Vornamen hießen und wo ich genau gewohnt hatte, aus. Meine Augen füllten sich nach kurzer Zeit mit Tränen. Es schmerzte immer noch, darüber zu sprechen, doch befreite es mich gleichzeitig – schaffte Platz für einen anderen Menschen – Carsten, den ich vollständig in mein Leben und in mein Herz lassen musste und der schon fast mit beiden Beinen drin stand. Doch weinte ich nicht, die Tränen hielt ich gekonnt zurück. Still hörte Carsten mir zu, da war er ein wirklicher Therapeut. Er hatte heute auf den richtigen Knopf gedrückt und mich zur richtigen Zeit gefragt, auch wenn er nervös war. Gestern oder noch vor einer Woche wäre ich vielleicht nicht so weit gewesen. Und Morgen hätte die Stimmung evtl. auch nicht gepasst. Wer weiß. Als ich fertig war mit meiner Geschichte, stand Carsten plötzlich auf. Er war wütend geworden, ich konnte es in seinem Gesicht ablesen und ging vor mir auf und ab. Ich sah sein wutverzerrtes Gesicht und wie es hinter seiner Stirn auf Hochtouren arbeitete. Für einen kurzen Moment schlich sich der Gedanken ein, doch falsch gehandelt zu haben. Ich wurde unsicher. „Carsten?“ Ich nagte aufgewühlt auf meiner Unterlippe. „Was ist das nur für ein Bruder? Dich zu vergewaltigen und dann noch so etwas Schreckliches zu dir zu sagen? Ich könnte ihn umbringen. Ich wusste, dass ein Missbrauch dahinter steckte, von Anfang an, aber dass dein eigener Bruder so etwas ...“ Er konnte, sich kaum beruhigen. „Carsten bitte, ich will das nicht noch einmal durchmachen“, versuchte ich ihn zu besänftigen und drückte auf die Tränendrüse. Er setzte sich zu mir, sah mich durchdringend an. „Willst du ihn ungestraft davonkommen lassen? Möchtest du das wirklich? Du solltest ihn anzeigen. Wie ist sein Vorname, damit ich diesen Bastard anzeigen und aufsuchen kann. Hast du deswegen in deiner Erzählung die Vornamen und deinen Wohnort weggelassen? “ Anzeigen? Nein, das wollte ich nicht, auch seinen Namen wollte ich nicht sagen. Ich nickte. „Ich will einen Neuanfang, verstehe doch.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es nicht.“ „Das musst du nicht, aber sieh es doch mal von der Seite, wäre er nicht, würden wir uns nicht kennen.“ Zwischen uns wurde es still. Ich musste zugeben, dass ich zu zittern angefangen hatte. Emotionen, die heraussprudelten, konnte ich kaum mehr im Zaum halten. Carsten sah die Verfassung, in der ich war, und nahm mich einfach in den Arm. Da bröckelte meine Fassade, ich fing zu weinen an. Jetzt hatte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten können – ein zweites Mal überhaupt seit dem Selbstmordversuch. „Was ist mit deinen Eltern?“, sprach er nun beruhigend auf mich ein. Ich schniefte. „Sie wissen nicht, dass ich anders bin – meine Eltern sind geschieden.“ „Schht, kein Wunder, dass du da nicht mehr konntest. Weglaufen war wohl deine einzige Notlösung. Mmh? Wenn Eltern nicht zu einem stehen. Ich glaube, das machen viele Homosexuelle durch.“ Mir wurde bewusst, dass er recht hatte. Mein Vater hätte mir nicht einmal geglaubt. Er hätte Darian sofort in Schutz genommen. „Lass gut sein. Du bist hier, das ist alles, was zählt. Ich blicke nicht mehr zurück, ich blicke nach vorne. Doch hab Geduld, es war das erste Mal überhaupt für mich. Ich … Ich denke, ich werde mich nie so einem Mann … Nicht sofort.“ Ich errötete. Es war etwas Intimes. Etwas, was für mich hätte Schönes bedeuten können. „Öffnen? Das ist das kleinste Problem. Mit der Zeit spielt sich das ein.“ Carsten sprach in Rätseln. Hatte er mich nicht verstanden? „Passiv zu sein, meinte ich“, versuchte ich es ins richtige Bild zu rücken, doch Carsten schmunzelte nur. „Ich habe dich schon verstanden. Sich öffnen ist auch passiv zu sein. Die Führung seinem Partner zu überlassen und dich voll und ganz hingeben zu können. Das beweist volles Vertrauen und Hingabe dem Liebsten gegenüber. Und wenn die Liebe so inzestuös war und nur einseitig bestand, war es für dich doppelt so hart. Du wolltest ihn und er sah in dir nur einen Nutzen.“ „Ich hätte mich nicht in ihn verlieben dürfen“, gestand ich schwach. Die Verzweiflung war in meiner Stimme zu hören. „Für die Liebe kann man nichts. Auch wenn Geschwisterliebe eine Grauzone ist, gibt es nicht gerade wenige, die das tun. Schlimmer ist es unter Geschwistern verschiedener Geschlechter, wenn daraus dann Kinder entstehen.“ Er küsste mir die Stirn, dann die tränenreichen Augen. „Ich verstehe, wenn du am Anfang nicht kannst. Solange werde ich mich von dir verführen lassen.“ Ein absurder Gedanke, wenn man unsere Körper sah. Ich war so viel schmaler als er. Konnte Carsten wirklich akzeptieren, dass ich nicht den passiven Part spielen wollte? „Läufst du deswegen in Schwarz oder in dunklen Sachen herum, schminkst dich – ist er der Grund?“ Er hielt mich ganz fest und ich roch sein Aftershave, spürte seine starken Arme um mich. War er der Grund – war Darian der Grund für mein Aussehen? Nein, nicht für alles. „Ich liebe mein Outfit, kann sein, dass er mich dennoch geprägt hat, dass ich deswegen Schwarz trage, aber es ist ein Teil von mir. Der gehört zu mir – schon so lange.“ „Ich bin vielseitig und schwul und ich sagte ja, Schwarz steht dir … Nur ist das bei uns immer ein Zeichen von Trauer oder man verbindet etwas Religiöses. Darum fragte ich.“ Er versuchte ein Lächeln und entblößte seinen schiefen Eckzahn, der ihm eigentlich diesen unverkennbar netten Ausdruck verlieh. „Ich gehöre keiner Szene an. Noch nie.“ Ich schmiegte mich eng an ihn. Nach einer Weile nahm er mein Gesicht zwischen seine Hände. „Aber im Ernst, du solltest ihn anzeigen. Ich würde dir dabei helfen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Wer würde mir glauben, nach einem Jahr.“ „Ich glaube dir.“ „Du bist Therapeut, du müsstest es besser wissen, dass Inzest auch noch schwer verurteilt wird. Ich will das einfach hinter mir lassen. Okay?“ Er zog mich nach oben. „Ich wäre ein schlechter Psychologe, wenn ich dir nicht alle Türen öffnen würde.“ „Du bist mein Therapeut – aber rechne nicht so hart mit mir ab.“ „Das werden wir sehen. Lass uns deine Vergangenheit begraben und neu anfangen mit dir und mir.“ Er küsste mich und wir versanken stürmisch in einen Kuss, der mich sehr schnell erregte. Aber er ließ mich los und ich taumelte in seine Arme. „Ich hatte nach meiner Frau nur zwei Männer, aber die waren nur auf Abenteuer aus. Nichts Festes. Mit dir könnte ich mir ein Leben vorstellen. Außerdem möchte ich mich um dich kümmern. Ich habe mich vom ersten Augenblick, als ich dich dort auf der Brücke stehen sah, in dich verliebt. Ich liebe dich, Jaden.“ Carsten liebte mich, das wusste ich schon länger, hatte es gespürt. Aus seinem Mund klang es nochmals anders. Mein Herz klopfte laut. Herzklopfen – dies bekam man, wenn man sich auch verliebte. Ich sah in Carsten keinen Freund mehr, sondern ich wollte ihn. Fühlte mich umsorgt und geliebt, das war das Wichtigste, oder? „Ich dich auch.“ Meine Wangen glühten. Immer war es Darian, den ich geliebt hatte. Konnte man es als Liebe sehen? „Wann fängt deine Schule an?“, fragte er, als wir uns ausgiebig geküsst hatten. „Morgen um neun Uhr, wieso?“ „Egal“, murmelte er und ich fragte nicht nach. Inzwischen waren wir auf meinem Bett gelandet. Ich war mit meiner Hand unter den Bund seines Shirts gerutscht. Er legte sich auf mich und begann mich zu bearbeiten. Seine Hände waren überall und er zog mich Stück für Stück aus. Wie war das mit passiv?, dachte ich, als ich nur noch in Unterwäsche und schwer atmend in seinen Armen lag. Seiner ging ebenfalls schwer. Als ob er es spürte, ließ er mich los. „Keine Angst, ich hätte schon rechtzeitig aufgehört. Ich sollte erst um dich werben.“ „Werben?“ Entsetzt sah ich ihn an. „Nun, ja … Nenn es bitte nicht altmodisch. Ich bin älter als du und da geht man erst einmal miteinander aus.“ „Wieso?“ Ich sah alte Schwarz-Weiß-Filme vor meinem geistigen Auge und schüttelte mit einem Schmunzeln auf den Lippen den Kopf. „Weil ich mit dir zuerst ausgehen möchte?“ Jetzt lag ich erregt in meinem Bett, hatte eine Mordslatte, die er definitiv bemerkte, denn er hatte seine Hand darüber gelegt, und ich wollte wirklich mit ihm schlafen und er wollte ausgehen? Nicht mit mir! Ich legte nun meine Lippen nochmals auf seine, öffnete meinen Mund. Zog ihn über mich, dann ließ ich seine Zunge in mich gleiten und genoss den süßlichen Schwindel im Magen, den ich bekam. Dabei konnte ich mich nicht zurückhalten und musste ihn einfach überall berühren. Ich zog ihm geschickt das Poloshirt über den Kopf – dann sein Hemd. Ich fühlte seinen entblößten, immer noch attraktiven Oberkörper. Sah seine leichte Behaarung. Es störte mich nicht. Dieses Mal kannte ich keine Hemmungen, ich war … Meine Wangen waren gerötet, meine Augen glänzten vor Glück. Jetzt fühlte ich mich als Mann. Und eines wusste ich ganz genau. Essen gehen würden wir danach. „Wie war das mit aktiv?“, keuchte ich erregt. „Verdammte Jugend – alles werft ihr über Bord“, knurrte er, lachte aber gleich und versuchte, mich auszuziehen. Ich legte mich auf ihn – da hatte er keine Chancen mehr. Carsten wollte es auch nicht.       ©Randy D. Avies 2015 Kapitel 19: ------------ ~°~19~°~     Die Sonnenstrahlen hatten mich wach gekitzelt. Ich stand von meinem Bett auf, streckte mich leise und blickte seitlich aus dem leicht geöffneten, breiten Fenster. Die warme Luft, die von Südwesten herkam, wehte mir in das Gesicht und umhüllte meinen nackten Körper. Die Brise tat gut. Der Sommer hatte den Frühling abgelöst und die Vögel zwitscherten munter in den Baumkronen der Obstbäume, die vereinzelt im Garten von Carsten standen. Alles wirkte hier friedlich und man war für sich. Keine Nachbarn, die einen beobachteten oder hier und da Bemerkungen losließen, wenn Carsten und ich auf der Terrasse saßen und uns unterhielten. Jeder blieb für sich. Freundlich, aber unter einer anonymen Decke der Privatsphäre. Heute hätte ich eigentlich Berufsschule, beschloss aber einen Krankentag einzulegen. Zwar war es noch sehr früh am Tag und ich wäre nicht zu spät gekommen, aber ich wollte nicht. Der gestrige Tag war viel zu schön gewesen, um sich nun anziehen zu müssen und in die Schule zu gehen, nur um die trockenen Thematiken rund um die Betriebswirtschaft zu lernen. Leise schlich ich mich aus meinem Zimmer. Ich hörte das Ticken einiger Uhren. Besonders die im Flur schien mir in der Frühe sehr laut. Aber davon abgesehen war es still, als ich mich nach unten schlich, um mir das Telefon zu holen. Ich wollte den Hund nicht wecken. Dabei wurde ich augenblicklich von Basta begrüßt, der mich sofort aus seinem Körbchen heraus registriert hatte. „Psst, leise“, versuchte ich sein erneutes Bellen einzudämmen, was auch half. Der Schäferhund hörte auf jedes Wort und sein Begrüßungsgebell verstummte. Mittlerweile nahm er auch die Befehle von mir entgegen. Ich ging auf das Tier zu, das schon schwanzwedelnd dastand und darauf wartete, was ich weiteres sagte. Ich streichelte zuerst kurz über sein weiches, dichtes Fell, dabei sah mich Basta schief an. „Hast du noch nie einen nackten Mann gesehen?“, schmunzelte ich leise und lächelte. Vor einem Hund schämte ich mich nicht, war aber auch nicht auf den Gedanken gekommen, dass er mich immer anders gesehen hatte und nicht so unbekleidet, wie Gott mich schuf. Der Vierbeiner gähnte als Antwort, was so viel hieß wie: „Ist mir egal, wie du aussiehst“, und rollte sich zufrieden in seinem Körbchen zusammen. Basta mochte ich wirklich, wandte mich aber nun dem zu, was ich vorhatte. Ich nahm das ovalförmige, schwarze Designer-Telefon von der Station und rief schließlich im Sekretariat an, das um diese Zeit, bevor die Berufsschule losging, besetzt war. Als heutigen Ausfall schob ich eine Magen-Darm-Sache vor und würde Morgen garantiert wieder in die Schule können. Die Dame, der es eigentlich egal war, ob sich jemand krankmeldete oder nicht, wünschte mir gute Besserung – das übliche Schema eben. Gelassen ging ich zurück auf mein Zimmer, schaute dann verliebt auf die schlafenden, äußerst zufrieden aussehenden Gesichtszüge meines Freundes, der leise in meinem Bett schnarchte. Carsten hatte tatsächlich die ganze Nacht bei mir geschlafen und nicht in seinem Zimmer. Es schien ihm wichtig zu sein, dass wir es bei mir gemacht hatten. Zum Essen gehen waren wir allerdings nicht mehr gekommen, so sehr hatten wir uns geliebt und hatten uns dann dafür entschieden, zu Hause zu essen. Mit Glücksgefühlen im Bauch schlüpfte ich zu ihm unter die Decke. Sofort bemerkte er schlaftrunken meine Anwesenheit, begrüßte mich aber nicht, sondern gähnte nur und zog mich dann zu sich ran. Seine Augen blieben weiterhin geschlossen, was ich schmunzelnd zur Kenntnis nahm. Eng schmiegten sich unsere Leiber aneinander. Carsten legte zusätzlich seinen Arm um mich und schlief tief und fest weiter. Zufrieden blieb ich in dieser herrlichen Umarmung und dachte glücklich und mit Schmetterlingen im Bauch an den gestrigen Tag zurück. Mein erstes Mal mit Carsten war wundervoll gewesen – und es war mein erstes Mal als aktiver Part überhaupt. Ich hatte mich wirklich auf einen Mann, seit das mit Darian passiert war, einlassen können. Das erfüllte mich mit Stolz. Mit jeder Faser meines Daseins verliebte ich mich mehr und mehr in Carsten. Denn mein Retter und mein persönlicher Schutzengel war aus Fleisch und Blut und er lebte. Konnte man da mehr wollen?   Carsten und ich hatten uns gestern lange auf dem Bett gestreichelt, bevor wir wirklich richtig zur Sache gekommen waren. Ich war mutiger geworden und hatte nach Carstens Männlichkeit gegriffen. Ich umfasste seinen Schaft, rieb ihn, wollte seinen Schwanz fühlen, endlich meinen Sehnsüchten nachgeben, dass ich auf Männer und nicht auf Frauen stand. Er war gut bestückt und nicht beschnitten. Das gefiel mir. Sofort entlockte ich ihm dadurch ein Stöhnen, während meine Hand den Handjob weiterführte und ich spielerisch an seiner Vorhaut zog, was ihn noch mehr aufheizte. Er versuchte, mich nach wenigen Minuten zu stoppen. „Was ist?“ Ich rollte mich ein wenig von ihm runter, sah erstaunt zu ihm. „Nun ja“, fing er an, runzelte dabei seine Stirn. „Es ist eine Weile her bei mir und wir sollten es auch am Anfang nicht ohne machen, sondern mit Kondom und Gleitmittel!“ Ich Idiot! Das wäre meine Aufgabe gewesen, murrte ich in Gedanken, und schaute ein wenig dümmlich aus der Wäsche. Carsten schmunzelte bei meiner Mimik. „Du hast dadurch mehr die Kontrolle, denn es ist schon etwas anderes, mit einem Mann zu schlafen als mit einer Frau.“ Ich errötete weiterhin. Darüber nachgedacht hatte ich nur einmal, als Darian kein Kondom und Gleitmittel verwendet hatte – hinterher. Ich verscheuchte das aufkommende Gefühl von Wut und Trauer und widmete mich voll und ganz Carsten. Er überraschte mich auf eine Art und Weise, die mir gefiel, weil er unbekümmert all diese Dinge sagte, als wäre es das Normalste auf der Welt. Carsten gab mir einen Kuss. „Ich komme gleich wieder, lauf nicht weg.“ Ich schüttelte grinsend den Kopf. Er stand auf und ging, so wie Gott ihn schuf, raus aus dem Zimmer. Mein Blick folgte seinen Bewegungen, intensivierte sich sogar, als ich auf seinen knackigen Hintern starrte. Carsten sah mit seinen 41 Jahren verdammt scharf aus, fand ich. Als er aus meinem Blickfeld verschwunden war und ich an mir herunterblickte, war meine Erregung nach wie vor geblieben. Das gefiel mir. Ich wollte den Mann so sehr in dem Moment, spürte meine eigenen Bedürfnisse, die ich so lange unterdrückt hatte. Es vergingen keine fünf Minuten und Carsten kam mit den besagten Sachen in der Hand zurück. Er legte sich wieder zu mir, und ich nahm ihm die Utensilien aus der Hand und platzierte sie neben mich. Wir machten da weiter, wo wir unterbrochen hatten. Ich hatte keine Hemmungen mehr, die Führung zu übernehmen, denn Carsten blieb so herrlich passiv, dass ich bald das Gefühl bekam, explodieren zu müssen. Nicht vorher zu kommen, bevor ich überhaupt aktiv wurde, forderte von mir Höchstleistung. Ich konzentrierte mich nun auf meine Aufgabe. Eine Anleitung brauchte ich keine. Ganz unerfahren war ich in der Theorie nicht, obwohl ich selbst noch nie diesen Part spielte. Aber es gab Hefte, in denen ich es in allen Stellungen erklärt bekommen hatte. Wie gut, dass man lesen konnte! Ich grinste innerlich. Wir küssten und streichelten uns ausgiebig. Dann drehte ich ihn auf den Bauch, dies schien mir die beste und schmerzärmste Stellung. Schmierte dann seinen Eingang großzügig ein, stülpte mir das Kondom über und drang ohne lange Wartezeit in ihn ein, da ich ihn vorher ausgiebig vorbereitet hatte. Was für ein Gefühl. Diese Enge, die Hitze. Carsten musste sich anfänglich auf mich konzentrieren und ich versuchte, so langsam und sanft zu sein, wie es mir nur möglich war, vor allem wollte ich nicht zu schnell kommen. Es war nicht einfach, und es war wie gesagt: Mein erstes Mal. Ich hoffte, nicht allzu grob zu werden, wie Darian es bei mir gewesen war. Darian! Schnell verbannte ich den Gedanken an ihn. Ich war in Carsten und es fühlte sich unbeschreiblich an. Carsten stöhnte nun lustvoller und ich begann, ihn rhythmisch zu nehmen. Mit jedem Stoß wurde ich mutiger, fasste ihn an seinem Becken, hielt ihn mit meinen schlanken dünnen Fingern in Schach. Carsten hatte sich inzwischen vorne selbst angefasst und holte sich zu meinen Stößen einen runter. Ich brauchte nicht lange, da explodierten meine Sinne im Kopf, stöhnte die Lust heraus und kam, während er kurz darauf selbst einen Orgasmus hatte. Völlig erschöpft fiel ich auf ihn. Mann, ist das schön! Unsere erhitzten Leiber beruhigten sich nur langsam, und ehe ich mich versah, lag ich angeschmiegt in seinen Armen, während er mir das Kondom abstreifte. „Danke“, murmelte er zärtlich, ließ mich los, während er das Präservativ in ein Tuch wickelte. Dann stand er auf, entsorgte es und machte sich am Bauch sauber, während ich immer noch auf Wolke sieben schwebte, weil es so schön war. Doch dann huschten ungewollt dunkle Darianwolken in meine Gedanken. Ich verscheuchte sie. Carsten war nun mein Leben. Carsten schlüpfte zu mir unter die Decke, strich lange Strähnen aus meinem Gesicht. „Es war wundervoll“, gab ich von mir und dann küssten wir uns noch einmal intensiv, bevor wir in das Reich der Träume abdrifteten.   „An was denkst du?“ Carsten war inzwischen richtig wach geworden und ich drehte mich zu ihm herum, sah in seine blauen Augen, in sein verknautschtes Gesicht, lächelte über seine zerzausten Haare und über seine fortgeschrittene Jugend. Dass wir keinen Zahnpastageruch an uns hatten, störte mich nicht. Es war ganz normal, so einen Geruch am Morgen zu haben. „An gestern. Du hast mir mein Leben zurückgegeben, weißt du das!“, zärtlich schaute ich ihn weiter an. „Ich liebe dich, Jaden. Ich werde dich niemals mehr hergeben.“ Carstens Augen leuchteten mit meinen um die Wette. Hurra, ich hatte mein Leben wieder, und das war gut so.     ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 20: ------------ ~°~20~°~     München, einen Tag nach Jadens Verschwinden!   „Jaden?“, rief Darian in die recht stille, dunkle Wohnung. Er hatte für sich und Stefanie ein Hotelzimmer für die Nacht gemietet gehabt und sie hatten sich die ganze Zeit über geliebt – mehr oder weniger war er seinen Trieben nachgegangen. Zudem hatte er mit seiner Stefanie ordentlich gefeiert. Etliches an Bier und Schampus war dabei geflossen. Sein Kopf brummte wie ein ganzer Bienenstock. „Trink nächstens nicht so viel“, ermahnte ihn Stefanie jetzt. „Ja, ja“, gab er brummig von sich. Die Wahrheit war aber eine ganz andere; er hatte sich ablenken müssen und da war ihm der Alkohol ganz recht gewesen, wenn nicht immer der Kater am nächsten Morgen so schlimm wäre. Er wollte nicht daran erinnert werden, wie weich Jadens Körper gewesen war. Wie gut er geduftet hatte, wie geschwungen und einladend seine Lippen ausgesehen hatten und wie es gewesen wäre, ihn in dieser Hütte zu küssen? All das beschäftigte ihn seitdem und der Alkohol hatte ihn etwas vergessen lassen. Doch jetzt, wo er zuhause war, kamen die Gefühle zurück. Und noch etwas kam zurück, eine Sehnsucht, die er vorher nicht gekannt hatte. Ja, er hatte Jaden küssen wollen, doch hatte er sich das nicht erlaubt. Er war doch ein Mann. Männer küssten sich nicht, durften das nicht, nicht so jedenfalls. „Jaden?“ Warum antwortete Jaden ihm nicht? Schlief sein Bruder noch? Um diese Zeit? Darian sah auf seine Uhr, es war weit nach 12 Uhr. Er drehte sich achselzuckend zu seiner Verlobten, als diese ihm etwas sagte: „Darian, schau mal, da liegt Jadens Schlüsselbund?“ Stefanie deutete auf die Schlüssel und klimperte dabei mit ihren langen Wimpern. „Den legt er nie dahin“, gab sie ihm verwundert zu verstehen. Daraufhin gab er ihr keine Antwort, sondern starrte wie versteinert auf den verwaisten Schlüsselbund. Stefanie hatte Recht, Jaden legte seinen Schlüsselbund niemals so offen hin. Er hatte ihn immer bei sich im Zimmer. Darians Miene verfinsterte sich merklich. Das kann nicht sein, nein Jaden, bitte nicht, dachte er und geriet in Panik. Dann stürmte er an Stefanie vorbei und rannte ins Zimmer seines Bruders. Im Zimmer war es dunkel, der Rollladen noch unten. Es war zu dunkel, um etwas sehen zu können und auch sehr still. Keine Atemzüge waren zu hören, die darauf hindeutete, dass jemand im Zimmer war. Er schaltete das Licht, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, an. Was er sah, war das, was er befürchtet hatte: Jaden war nicht hier. Dabei öffnete er aus einem Instinkt heraus Jadens Kleiderschrank. Wie er nach einem kurzen Check feststellte, hatte Jaden nicht alles an Klamotten mitgenommen. Doch beruhigte ihn das keineswegs, im Gegenteil. Alles sah nach einem überhasteten Auszug aus, als er die Unordnung im Schrank sah. Von seinem schwarzen Koffer, den er bei seinem Einzug hier dabei gehabt hatte, fehlte ebenfalls jede Spur. Warum? Er schloss, innerlich aufgewühlt, den Kleiderschrank und sah auf den Boden, entdeckte Fotoreste, die verstreut herumlagen. Er bückte sich und griff sich eines der zerrissenen Bilder und erkannte sich darauf. „Oh mein Gott.“ Seine Stimme zitterte, dabei ließ er das Foto aus seinen Fingern gleiten und griff sich ins Haar, unterdrückte die Tränen, die mittlerweile in seinen Augen standen. Er wollte sich nicht vor Stefanie erklären müssen, die jetzt stumm hinter ihm ins Zimmer gekommen war. Den Drang, sich bei Jaden entschuldigen zu wollen, nahm schier überhand. „Es tut mir leid, das hatte ich nicht gewollt“, flüsterte er so leise, dass seine Verlobte die Worte nicht hören konnte. Darian wusste genau, dass seine Einsicht zu spät kam, dass sie von Jaden nicht mehr gehört werden konnten. Stefanie wollte ihre Hand auf die Schulter ihres Verlobten legen, ihn trösten, da wandte er sich von ihr weg. „Lass mich alleine“, sagte er nur. Dabei bedacht, seine Stimme nicht weinerlich klingen zu lassen, doch merkte er, dass er ihr nichts vormachen konnte. „Was war in der Hütte los?“, fragte sie scharf nach. „Nichts!“, blaffte er sie an, wurde aber dann sanfter, als er ihren verletzten Gesichtsausdruck sah. Was konnte sie dafür. „Entschuldige meine schroffe Art. Es ist zwischen uns nicht so gelaufen, wie es sollte“, fügte er hastig hinzu, fasste sie kurz sanft am Arm. „Habt ihr euch doch nicht vertragen?“ Sie schien erstaunt darüber. „Nein.“ Er seufzte, wenn Stefanie nur den wahren Grund wüsste. Jaden war fort. War fort, wegen ihm. Jaden hatte ihn verlassen. Der Schmerz darüber saß tief. Tiefer als er sich jemals eingestehen wollte. Was hatte er angerichtet? Sollte er ihn suchen, sich entschuldigen? Den Drang, hinauszulaufen und sich an einem Strohhalm zu klammern, ihn wenigstens überall zu suchen, nahm überhand, doch spürte er im Gegenzug: Jaden wollte das nicht. Er wollte ihn nicht mehr sehen und er konnte es ihm nicht einmal verübeln. Für alles, was er ihm an Gemeinheiten gesagt hatte, war diese Reaktion verständlich. „Loch ist Loch!“ Das hatte er ihm an den Kopf geworfen, und eigentlich das Gegenteil gemeint. Warum hatte Jaden den Status ändern müssen? Warum konnte es nicht zwischen uns so bleiben? Warum bist du nicht mehr in meiner Nähe? Darian verstand die Welt nicht mehr. Er verstand sich nicht mehr. Ihm fehlte die Nähe zu Jaden jetzt schon immens. Er atmete tief durch. „Es ist besser so. Wir werden heiraten, mein Bruder hätte so oder so irgendwann ausziehen müssen. Es legt sich wieder, er braucht nur Abstand, das ist alles.“ Glaubte er diesen Mist tatsächlich, was er da von sich gab? „Wenn du meinst? Er kam mir nur sehr bedrückt vor? Vielleicht ist er bei seiner Freundin?“ „Nein, denn dann hätte dich Susan schon angerufen. Es ist besser so? Für uns alle.“ War es das? Jaden hatte nie ein Wort darüber verloren oder erwähnt, dass er in ihn verliebt war – und er, er war Jaden ausgewichen, all die Jahre über. Er hatte es die ganze Zeit immer gut unter Kontrolle gehabt, seine Zuneigung geleugnet. Schon beim ersten Aufeinandertreffen hatte er gewusst, dass er mehr für Jaden empfand. Als seine Mutter noch lebte, wurde er so erzogen, dass die gleichgeschlechtliche Liebe etwas Unrechtes und Perverses war. Daher hatte er sich diese Gefühle gegenüber seinem Bruder verboten, gar unterdrückt. Doch auf der Hütte, da konnte er nicht mehr anders. Jaden war nun mal mehr für ihn, als er sich wirklich eingestehen wollte und konnte. Niemals hatte er geglaubt, dass Jaden so ähnlich fühlen würde – Niemals! Und jetzt? Jetzt war er einfach verschwunden, aber wohin, und das ohne Geld? Ohne Geld hatte er keine Chance. Da kam ihm ein Gedanke. Mit einer Vorahnung im Bauch ging er in die Küche überprüfte das Haushaltsgeld und sein Verdacht, dass sein Bruder für immer gegangen war, bestätigte sich. Jaden hatte das ganze Geld an sich genommen – für einen Neustart etwa? Ja, so musste es sein, alles andere hätte keinen Sinn ergeben, denn Jaden war keiner, der ohne Grund jemanden bestehlen würde. Darian war gefrustet und Stefanie war für seinen Geschmack zu schweigsam. Ahnte sie vielleicht etwas von seinen Gefühlen? „Warum hat uns Jaden bestohlen?, fragte sie, aber Darian blockte ab. „Komm“, sagte er schließlich. „Jaden macht einen Neustart, und dazu brauchte er Geld und wir machen auch einen. Wir sagen allen, dass wir bald heiraten wollen.“ Er setzte ein trügerisches Lächeln auf und Stefanie fiel auf seine Scharade herein. „Morgen wird gleich ein Termin dafür angesetzt.“ Dann küsste er sie, worauf sie sich willig in seinen Armen anschmiegte. „Schön“, meinte sie wenige Minuten später, nachdem Darian sie aus seinen Fängen entließ. Sie nahm beschwingt das Telefon an sich und war binnen weniger Sekunden im Nebenzimmer verschwunden, um die Neuigkeiten all ihren Freunden mitzuteilen, wie auch ihren Eltern. Sie rief auch Susan an, fragte aber nicht nach, ob Jaden vielleicht doch bei ihr war. Stefanie war sich sicher, ihre Freundin hätte gefragt, warum er dann bei ihr mit einem Koffer aufgetaucht wäre. Sie verschwieg ihr jedoch Jadens Verschwinden, wollte sie sich nicht ihre gute Laune verderben lassen. Sie mochte zwar Jaden, doch die Streitereien zwischen ihrem Verlobten und ihm waren in letzter Zeit zu häufig aufgetreten. Vielleicht war es wirklich besser so, dass Jaden einen Neuanfang startete. Ihre Freundin freute sich wie erwartet mit ihr mit und sie plauderten über die bevorstehende Hochzeit. Darian wollte alleine sein. An diesem Tag, gegen Abend, hatte Darian Stefanie endlich überzeugen können, zu ihren Freundinnen zu gehen, um die Neuigkeit mit ihnen zu feiern. Anfänglich wollte sie ihn nicht alleine lassen, da sie kein gutes Gefühl dabei hatte. Wirkte er doch recht niedergeschlagen und zum Teil abwesend, wenn sie ihn was fragen wollte. Irgendetwas stimmte hier nicht, dessen war sie sich sicher, doch kam sie nicht dahinter, was es genau war. Auf das Thema Bruder ging er jedoch nicht mehr näher ein, als sie es noch einmal von sich aus anschneiden wollte. Als Stefanie endlich weg war und Darian nun alleine in der Wohnung stand, überrollte ihn der Schmerz auf grausamste Art und Weise. Er krümmte sich, hielt sich seinen Bauch und schlug leicht mit dem Kopf gegen die Wand. „Verdammt Jaden, wo bist du nur?“ Natürlich bekam Darian keine Antwort. Die Wohnung blieb totenstill, nur sein eigener Atem war zu hören. Als der erste innere Schmerz weg war, ging er ins Wohnzimmer. Den Kater von gestern vergessen, fiel sein Blick sofort auf die Bar. Er nahm sich zielgerichtet eine volle Flasche Whiskey heraus. Gierig trank er in großen Schlucken und die scharfe Flüssigkeit entfaltete schnell ihre Wirkung. Er betrank sich im Stehen. Irgendwann ließ er die halb volle Flasche fallen, die nun mit einem dumpfen Schlag über den Teppich rollte und die restliche Flüssigkeit in die Auslegeware sickern ließ. Doch davon nahm Darian keine Notiz, auch den Gestank, der einem sofort in die Nase stieg, ignorierte er. Schwankend ging er schließlich in Jadens Zimmer zurück, besah sich noch einmal die Schnipsel, schmiss sie im betrunkenen Zustand weg. Er wollte nicht, dass Stefanie sie in die Hände bekam. Danach legte er sich schwerfällig und wie ein eingerollter Kater in das Bett seines Bruders, atmete noch den schwachen Duft von ihm ein. „Verzeih mir Jaden – ich konnte nicht anders“, murmelte er immerzu, während die Tränen seine Wangen hinabliefen. Irgendwann, der Alkohol hatte ihn genügend beruhigt und träge werden lassen, schlief er ein. Er bemerkte nicht, dass Stefanie doch früher zurückkam und ihn verwundert und in Sorge betrachtete, als sie ihn nach kurzer Suche im Zimmer seines Bruders vorfand. Sie fragte sich, warum er dort lag, und nicht in ihrem gemeinsamen Bett. Darian selbst bekam die Anwesenheit seiner Verlobten nicht mit, schlief tief und fest und träumte von seinem Bruder.   ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 21: ------------ ~°~21~°~     Einige Monate später heiratete Darian seine Stefanie. Es war richtig so, sagte er sich immer wieder, obwohl er in dieser Zeit nicht mehr ganz so unbeschwert war. Jaden fehlte mit jedem Tag mehr und mehr. Stefanie bemerkte die Launen ihres Mannes zunehmend. Sein Vater wie auch Jadens Mutter verstanden nicht, warum sein Halbbruder alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, als sie von Susan erfuhren, dass es Jaden gut ging, er aber ein völlig neues Leben anfangen wollte. Erwartungsgemäß waren sie enttäuscht, begriffen seine Beweggründe nicht wirklich. Auch Susan verbarg ihre Enttäuschung darüber nicht und zog sich komplett von der Familie zurück. Besonders Vater war enttäuscht von Jaden, nannte ihn einen missratenen Jungen. Ließ es Darian spüren, wenn der in der Werkstatt vorbeikam, um seinem Vater zu helfen. Darian musste sich immerfort mehr Unsinn über seinen Halbbruder anhören, wie enttäuscht er über ihn war, während er selbst immer mehr in den Himmel gelobt wurde. Daher ergriff er des Öfteren Partei für ihn, wurde wütend, wenn sein Vater nicht damit aufhören konnte, unter anderem auch hasserfüllt über Schwule und Andersgeartete, wie er sie zu nennen pflegte, zu reden. Sein Vater war ein Homophober, wenn der wüsste, dass Jaden ebenfalls schwul war! Ab da konnte Darian nachvollziehen, warum sein Bruder niemals darüber ein Wort in diese Richtung verloren hatte. Er hingegen schämte sich immer mehr wegen seines eigenen unprofessionellen Verhaltens seinem Bruder gegenüber und begriff langsam, was er damals auf der Hütte angerichtet hatte. Wenn er könnte, würde er die Zeit zurückdrehen, aber dafür war es zu spät. Jadens Mutter ertrank in der Zwischenzeit im Kummer und ihr Lebensgefährte hatte alle Hände voll zu tun, um sie aufzubauen, was er nicht immer schaffte, und schob daher auf ihren Sohn einen Hals. Darian bekam es mit, daher besuchte er sie ab und zu, was er früher nie getan hatte. Das schlechte Gewissen nahm stetig zu, war er doch schuld an der Misere. Zwischen der Mutter und ihm wurde das Verhältnis besser, aber noch nicht so, dass man da eine dicke Freundschaft hätte ausmachen können. Und wenn er alleine war, hatte er viel zu viel Zeit zum Nachdenken, hörte dabei immer öfter die Musik seines Bruders, stellte mit Entsetzen fest, wie wenig er von ihm eigentlich wusste. Das stimmte ihn traurig, hätte er doch nur früher gewusst … Hätte es was geändert? Es war doch nicht rechtens, oder? Nein, er war noch nicht so weit. Nicht so weit, sich etwas Gewisses einzugestehen. Manchmal fragte er sich, ob es Jaden besser ginge als ihm, ob er inzwischen Freunde gefunden hatte, die um ihn herum waren und ihn so akzeptierten, wie er war, oder noch schlimmer, einen Freund – einen Lebensgefährten. Eifersucht kam hoch und bohrte sich in sein Herz, doch schalt er sich zugleich einen Narren. Er hatte doch den Weg gehen wollen und niemals den anderen. Die Zeit verging. Darian stürzte sich immer mehr in Arbeit und kam daher oft spät abends nach Hause, was seiner Frau sehr missfiel. Sein Privatleben ging langsam den Bach hinunter. Das Eheleben hatte ihn im Griff und Darian stumpfte immer mehr ab, ließ keine Emotionen zu, wurde mürrisch. Mit Stefanie schlief er immer weniger, bis gar nichts mehr zwischen ihnen lief. Der Kinderwunsch seiner Frau blieb somit unerfüllt. Die Ehe wurde für ihn zu einer Hölle und Stefanie wandte sich ebenfalls von Darian ab. Sie ging immer öfter alleine mit Freundinnen aus, erzählte ihnen, wie unglücklich sie über ihre trostlose Ehe war. Zu Hause bei ihrem Mann, wenn sie das Thema Jaden in Angriff nehmen wollte, blockte er harsch ihre Versuche ab. Er schloss sich, als Flucht vor einem weiteren Gespräch, oft in Jadens Zimmer ein, was immer noch unverändert geblieben war. Nicht einmal ein Kinderzimmer hatte er daraus machen wollen, geschweige denn, dass es einer betreten durfte. Seine Frau war nicht dumm, zählte sie schon lange eins und eins zusammen. Ihre Vermutungen verdichteten sich und eines Tages fragte sie ernst nach, als sie es nicht mehr aushielt, was damals wirklich auf der Wanderung passiert war. „Sag endlich die Wahrheit, Darian, das bist du uns, nein, mir schuldig.“ Sie saßen in der Küche bei einer Tasse grünen Tee. Stefanie beobachtete die Reaktion ihres Mannes genau, der nun gedankenversunken an seinem Gebräu nippte. Schließlich stellte er seine Tasse auf den Tisch. Ihre Blicke trafen sich und er nickte schließlich. Er war es leid, sich ewig zu verstecken und platzte endlich mit der Wahrheit heraus. Seine Augen waren dabei mit Tränen angereichert, als er anfing, zu erzählen. „Ich habe damals in der Hütte meinem Bruder was Furchtbares angetan.“ Seine Finger hielten krampfhaft die Tasse. „Was angetan?“, hakte sie nach, als sie merkte, wie er dichtmachen wollte. „Ich habe mit meinem Bruder geschlafen.“ Jetzt war es heraus und Stefanie wurde merklich blasser. Ihre Vermutung hatte sie nun bestätigt bekommen. Sie hörte ihm dennoch still, aber entsetzt weiter zu. „Es war einfach über mich gekommen. Mit seiner verletzbaren Art sah er so anders aus, so schön. Es provozierte mich irgendwie.“ Seine Stimme bekam einen weinerlichen Unterton. „Ich war nicht gerade zärtlich zu ihm. Das ist der Grund, warum er nun weg ist.“ Darian verschwieg jedoch seiner Frau wichtige Details, wie die, dass Jaden ihm seine Liebe gestanden hatte und er danach ausgerastet war. Ihn geschlagen hatte, ihn in dem Sinne vergewaltigte. Es war ohnehin schwer genug, ihr das zu beichten. „Ich bin schuld, dass er fort ist.“ Die schwere Last fiel teilweise von ihm ab, dennoch blieb die Schuld daran bestehen. Obwohl seine Frau es lange geahnt hatte, war es für sie trotzdem ein Schock. Sie rang nach Fassung. „Ich habe es vermutet, du … kein Wunder, dass Jaden es nicht ausgehalten hatte. Du hast uns beide belogen … Du hast mich betrogen, benutzt …“ Sie stand auf, ließ ihre Tasse stehen und stürmte in Tränen aufgelöst aus der Wohnung. Darian ging ihr nicht hinterher, er konnte nicht. Wem sollte er etwas vormachen? Seine Gefühle für Jaden konnte er nicht mehr verleugnen. Sie schlummerten und waren erst herausgebrochen bei der Wanderung. Ab da war er sich sicher gewesen, dass er mehr auf Männer stand als auf einen weiblichen Körper. Nur sein Verstand und sein Herz, die fochten stets einen Kampf. Doch nun hatte er es seiner Frau gebeichtet. Stefanie kam erst am nächsten Morgen zurück. Ihre Augen waren gerötet. Sie hatte die ganze Nacht bei einer Freundin verbracht und von ihrem Liebeskummer erzählt, aber nicht, was ihr Mann angestellt hatte. Sie hatte eigentlich zu Susan gewollt, die immer noch ihre Freundin war, wenn auch nicht mehr so eng, seitdem Jaden fortgegangen war. Sie wollte zu ihr, um über Jaden etwas zu erfahren und ob sie davon schon früher gewusst hatte, schließlich waren Jaden und sie zusammen gewesen. Waren sie das wirklich gewesen? Stefanie wusste nicht mehr, was sie noch glauben sollte, daher entschied sie sich dagegen, zu ihr zu gehen. Vielleicht auch aus Angst, dass sie eine weitere Enttäuschung anhören musste, dass Susan ihr auch etwas verschwiegen hatte. Armer Jaden, dachte sie. In diesem Moment tat der Schwager ihr leid. Als sie Darian sah, flüchtete sie erneut aus der Wohnung, konnte seinen Anblick nicht ertragen und lief stundenlang umher. Ihre Ehe, sie bestand wirklich nur noch auf einem Stück Papier. Darian war zu Hause geblieben und starrte auf den schwarzen Fernseher. Ihm ging so vieles durch den Kopf. Seine Frau wie auch er waren nicht zur Arbeit erschienen, der Anrufbeantworter blinkte. Er hatte danebengestanden und mit angehört, wie man versuchte hatte, seine Frau wie auch ihn zu erreichen. Gegen Abend kehrte Stefanie zur Wohnung zurück, wo Darian bereits auf sie gewartet hatte. Sie war ziellos durch die Gegend gelaufen, bis sie erschöpft den Rückweg angetreten hatte. Mit keinem ihrer Freunde hatte sie darüber reden wollen. Galt doch bei den meisten von ihrem Freundeskreis ihre Ehe als Vorzeigebild. Bitter stellte sie fest, dass sie sich selbst etwas vorgemacht hatte. Dass sie in einer rosa Wolke leben wollte und all die Signale ignoriert hatte, die sie hätte sehen müssen. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Als Darian und sie in die Küche gingen, um zu reden, bereitete er einen Tee für sich und Stefanie zu, die schweigend am Tisch Platz genommen hatte. Er kam mit dem fertigen Kräutertee an den Tisch und stellte eine Tasse vor seine Frau, dann nahm er gegenüber Platz. Er sah sie eine Weile an. Darian wollte Stefanie als gute Freundin weiterhin behalten, doch wusste er genau, dass er dies nicht von ihr erwarten konnte. Ihm wurde klar, dass er sie von Anfang an nicht genug geliebt hatte. Tief atmete er durch und umklammerte den heißen Becher so lange, bis er es nicht mehr aushielt vor Hitze und endlich das Schweigen von sich aus brach. „Es tut mir leid, kannst du mir verzeihen?“, flüsterte er sehr leise und doch von ihr hörbar. Stefanie sah auf. „Verzeihen?“ Sie schüttelte ihren blonden Haarschopf. „Warum?“ „Warum?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich hatte es doch erklärt.“ Sie schnaufte. „Stehst du auf Männer generell?“, fragte sie schrill. Ihre Nerven lagen blank. „Ich weiß es nicht genau.“ Darian wusste es tatsächlich nicht. Er konnte es ihr nicht erklären, was er selbst nicht wirklich verstand. Warum er mit Jaden geschlafen hatte? Er in Jaden etwas anderes sah als in ihr, da hatte er eher eine Ahnung. Nur begriff er die Gefühle für seinen Bruder nicht. Manchmal glaubte er es zu wissen, hatte für sich eine plausible Erklärung, aber dann trat die Erziehung seiner Mutter in den Vordergrund, die ihn bis zu seinem 12. Lebensjahr geprägt hatte. Jaden war doch sein Bruder, verdammt. Stefanie sah ihn ernst an, dann sprach sie das aus, was er befürchtete: „Ich will die Scheidung.“ Damit hatte er gerechnet, alles andere wäre nur noch eine Aufrechterhaltung einer Fassade gewesen, nur um dem Umfeld etwas vorzuspielen.   Stefanie hatte so viel Anstand besessen, keinem davon zu erzählen. Nicht mal seinem Vater oder Jadens Mutter. Sie fand, dass es nicht mehr ihr Kampf war und er genug bestraft war mit dem Wissen, dass er falsch gehandelt hatte. Sie tröstete sich rasch und lernte bald einen anderen Mann kennen und lieben ... das Scheidungsjahr wurde parallel eingereicht. Darian legte keinerlei Einwände ein. Seine Freunde, die wenigen, die er noch hatte, seine Familie, sie alle verstanden ihn jedoch nicht. Er war jetzt der Böse und Stefanie die Verlassene. Man munkelte hinter seinem Rücken, dass eine andere Frau der Grund für ihre gescheiterte Beziehung wäre. Die Gerüchteküche brodelte. Darian nahm kaum Notiz von seiner Umwelt, trank immer mehr über den Durst, als Stefanie bereits schon ausgezogen war und zu ihrer neuen Beziehung zog. Was hätte er leugnen sollen, was er selbst nicht mehr verstecken konnte und auch wollte. Die Liebe zu seinem Bruder – sie kam zum Vorschein und er wünschte sich die Zeit zurück, in der er in seiner Nähe war. „Wo bist du?“       ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 22: ------------ ~°~22~°~     Ein Jahr später nach Jadens Verschwinden, als die Sehnsucht überhandnahm, sprang Darian endlich über seinen Schatten und fing an, seinen Bruder auf eigene Faust zu suchen. Er hatte es satt, sich so hängen zu lassen, vom Alkohol ganz zu schweigen. Er ging dabei akribisch vor und begann zuallererst bei Susan, von der er wusste, dass sich Jaden telefonisch bei ihr als Letztes gemeldet hatte. Als er bei ihr unangekündigt klingelte, war ihre Haltung ihm gegenüber kühl, distanziert und ablehnend. Konnte man ihr das verübeln? „Hallo Susan.“ „Verschwinde.“ Kein Gruß, nichts. Als sie die Tür vor ihm verschließen wollte, ging Darian in die Offensive und stellte den Fuß dazwischen, sah sie ernst dabei an. „Warte, ich muss dir etwas erzählen“, sprach er weiter, und als von ihr keine Gegenwehr kam, nahm er den Fuß von der Tür weg. „Da bin ich aber gespannt.“ „Darf ich reinkommen?“, bat er sie eindringlich. Er wollte keinen Rückzieher machen, auch wenn alles in ihm danach schrie, musste er bei ihr anfangen. Wo sonst könnte er mit der Suche starten? Susan schaute Darian genauer an. Betrachtete sein Gesicht. Er hatte abgenommen. Seine blonden Haare wirkten nicht mehr so glänzend, wie früher. Genau genommen wirkte er auf sie sehr niedergeschlagen. Sie gab sich einen Ruck und bat ihn schließlich herein. Sie waren inzwischen in ihrem Wohnzimmer, hatten auf ihrer Couch Platz genommen und Susan hatte Kräutertee und etwas Prinzengebäck auf einen kleinen Beistelltisch gestellt. Auch wenn Stefanie und Susan schon lange befreundet waren, kannte Darian die Wohnung nicht. Ihre Wohnung war zwar klein, zwei Zimmer, aber gemütlich im japanischen Stil eingerichtet. Aber all diese Eindrücke rückten in den Hintergrund. Darian konnte nichts anrühren, als Susan einen kleinen Teller mit Keksen vor ihn hinstellte. Er starrte auf die süße Knabberei, hatte dabei einen Kloß im Magen. Nach Essen war ihm nicht wirklich zumute. „Trink doch wenigstens etwas vom Tee, den habe ich ganz frisch aufgebrüht“, bat sie ihn dennoch höflich, als sie merkte, dass er nichts anrührte. Er schüttelte nur den Kopf. „Nein danke!“ Seine Hände waren ineinander gefaltet. Auch wenn Susan die Höflichkeitsform wahrte, war sie sauer auf ihn. Erstens wegen seiner gescheiterten Ehe, Stefanie hatte sich seitdem von ihr zurückgezogen, was sie bedauerte und zweitens wegen seines Bruders. Sie vermisste Jaden schmerzlich, war sie insgeheim immer in ihn verliebt gewesen, doch wusste sie um ihre Chance. Aus irgendeinem Grund ahnte sie, dass genau Letzteres der Grund für seinen Besuch war – Jaden! „Es geht um deinen Bruder, nicht wahr?“ Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Vielleicht wusste Darian inzwischen, wo er steckte. Nach dem Telefonat von Jaden war sie oft gewillt gewesen, Darian gründlich den Kopf zu waschen, aber dadurch, dass sie so sauer nach dem Telefongespräch war, hatte sie es unterlassen und sich geschworen, selbst neu anzufangen. „Ja“, sagte Darian nur, was sich in ihren Ohren ziemlich traurig anhörte. „Weißt du, wo er steckt?“ Ihre Augen waren groß und fragend auf Jadens Bruder gerichtet, sie hatte den Keks, den sie eigentlich essen wollte, halb zwischen ihren Fingern zerkrümelt. Darian sah sie schon beinahe verklärt an, dann schüttelte er deutlich den Kopf. „Nein, was meinst du, warum ich hier bin?“ Da wusste er, er suchte an der verkehrten Stelle. Dennoch bewahrte er Haltung, er war hier, hatte mit dem Thema angefangen, nun sollte er es auch zu Ende bringen. „In der Hütte, da ist doch was passiert? Verdammt, Jaden war so komisch danach.“ Susan war total aufgelöst und hatte Darian, der ganz in seinen Gedanken versunken war, damit überrascht. Er zuckte, schlichtete. „Ich erzähle es dir, okay“ Sie gab sich vorerst ruhig und sah ihn aufmerksam und mit wachen Augen an. Darian räusperte sich, fühlte sich in seiner Haut nicht unbedingt wohl, dann fing er mit seiner Erzählung an. Aber auch hier ließ er die Details, wie gemein er zum Schluss zu Jaden war, aus. „Wie konntest du nur?“ Susan war aufgesprungen und wanderte auf und ab. Sie war aufgebracht. So war das also, darum war Jaden abgehauen. Sie hatte also Recht behalten. Verdammt! Als Darian sich dafür entschuldigte, sie ansah und Tränen in den Augen hatte, brach bei ihr das Eis. Sie schüttelte bedauernd ihren Kopf. „Oh, Darian. Weißt du eigentlich, wie lange Jaden dich schon liebt? Und du hast ihm das angetan“, platzte sie heraus. Ab da wusste Darian, dass sie von Anfang an von Jadens Homosexualität wusste. „Woher?“, fragte er dennoch. In seinem Kopf summte es. „Woher? Du kannst Fragen stellen, ich war seine Alibifreundin. Er lag mir mit dir immer in den Ohren. Warum wohl, war ich so dafür, dass ihr beide endlich mal alleine für Euch sein konntet? Eine Wanderung schien mir die ideale Lösung.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Jaden ist so sensibel. Wie konntest du nur?“ „Ich hatte nicht die leiseste Ahnung“, versuchte er sich herauszureden. „Ich hatte doch Stefanie?“, kam die schwache Ausrede und sie war schwach. „Ja, die hattest du, man sieht ja, was jetzt dabei herausgekommen ist.“ Er versuchte sich zu verteidigen. „Jaden war stets in sich gekehrt. Dann seine Klamotten, die Art wie er herumlief.“ Das Gespräch verlief verkehrt, denn sie schnaufte verächtlich. „Spielt das eine Rolle? Er ist abgehauen und hat mich einfach sitzen gelassen. Unsere Freundschaft wegen dir gekündigt – wegen dir, Darian!“ Man hörte nicht nur den Zorn aus ihrer Stimme heraus, nein, man sah ihr die Wut auch an. Ihre Stirn lag in Falten, die Lippen waren fest aufeinandergepresst, sodass sie weiß wurden und das Gesicht war gerötet. Er senkte den Blick. Nach so einer langen Zeit und alles brach auf, als wäre er erst gestern mit Jaden in dieser Hütte gewesen. „Ich war zudem sehr gemein zu ihm.“ Darian erzählte aber nicht, wie gemein er wirklich gewesen war, die Feigheit siegte auch hier, sogar Stefanie hatte er nicht alles erzählt. Er schämte sich. „Wenn ich es doch nur ungeschehen machen könnte.“ Er saß wie ein Häufchen Elend da und hatte den  weiterhin Blick gesenkt. Da bekam Susan Mitleid. „Du siehst nicht gut aus ... die Scheidung, etwa?“ Sie hatte das Thema gewechselt, wobei das nicht stimmte. War doch alles miteinander verwoben. „Es wäre mit uns nicht gut gegangen. Jetzt hat Stefanie die Chance, neu anzufangen und das hat sie ja“, erklärte er im ruhigen Ton. Er nahm sich nun doch einen Keks, knabberte aber eher lustlos daran und legte ihn schließlich auf den Teller vor sich. Er atmete tief durch, besann sich auf das Wesentliche, warum er gekommen war. „Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?“ Er sah sie aus seinen grünen Augen an. „Du meinst es ernst, nicht?“ „Ich möchte wissen, wo er ist, das ist alles und ob es ihm gut geht.“ Ja, mehr wollte er nicht, oder? „Ich habe keine Ahnung, als ich ihn danach fragte, machte er dicht“, gab sie bedauerlicherweise zu. Die Aussage erstickte jede Hoffnung, ihn jemals zu finden, war es doch nur ein einziger Anruf gewesen, der unikale Anhaltspunkt, den er überhaupt hatte. „Wir könnten doch die Telefongesellschaft anrufen und fragen, woher der Anruf kam?“, kam ihm eine spontane Idee. „Es war eine unterdrückte Nummer und selbst wenn, Jaden will nicht gefunden werden. Wenn es dir leidtut, dann respektiere seine Entscheidung, ich muss es auch. Ob es mir gefällt oder nicht, er lebt nun sein Leben.“ Susans Worte waren tief zu ihm vorgedrungen, klangen aber traurig und endgültig, brachte ihn aber zu einem Entschluss. Sie hatte recht, man sollte loslassen. Wenn Jaden gewollt hätte, wäre er zurückgekommen. Darian trank dann doch seinen Tee und aß den Rest Keks auf. Dann verabschiedete er sich von ihr – nicht im Bösen. Doch glücklich sahen beide nicht aus. Susan sah ihm hinter der Gardinenscheibe nachdenklich hinterher, bis er nicht mehr zu sehen war. Wenn doch Jaden nur gewusst hätte, was Darian wirklich für ihn fühlte, dachte sie traurig. Darian hatte sich zwar nicht geoutet, doch spürte sie, dass er seinen Bruder liebte und selbst nicht genau über seine Gefühle Bescheid wusste. Noch nicht! Sie seufzte. Konnte sie etwas ändern? Nein, es war nicht mehr ihre Sache, doch war ihr Kopf voller Gedanken um ihren ehemaligen Freund. Susan lag abends in ihrem Bett noch lange wach, und grübelte über das Gespräch zwischen Darian und ihr. Obwohl heute ihr neuer Freund vorbei kommen wollte, hatte sie sich nicht wohlgefühlt und ihm abgesagt.   Darian hingegen beschloss nach Susans Besuch, sein Leben weiter zu leben. Egal wie. Nur keine Lügen mehr schwor er sich.       ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 23: ------------ ~°~23~°~     Drei Jahre später   Seit drei Jahren waren wir nun ein Paar. Ich war bereits 29 Jahre. Wie die Zeit verging. Vor einem Jahr hatte Carsten sich endlich seinen Wunsch verwirklicht und sich selbstständig gemacht und eine eigene Praxis eröffnet. Ich half seit Kurzem in seiner Praxis aus und machte mich nicht schlecht darin. Meine Lehre hatte ich absolviert, war aber nicht übernommen worden. Es war kein Drama für mich, wusste ich schon länger, welche Pläne mein Partner mit mir hatte. Ich stieg mit in die Buchhaltung ein, den ganzen Verwaltungskram eben, wozu er keine Zeit, vielleicht auch nicht die Lust dazu hatte, denn unrecht war es ihm nicht, dort unterstützt zu werden. In Abendkursen hatte ich mir das Wissen angeeignet, so konnte mich Carsten einstellen. Der Job gefiel mir. Zudem war ich ganz in Carstens Nähe, auch wenn wir uns nicht wirklich oft sahen, reichte es, zu wissen, dass wir uns im gleichen Gebäude befanden. Ich saß in einem kleinen Raum, welches sich ein Stockwerk über seinen Therapieräumen befand. Und wenn ich mal so gar keine Lust hatte, aus dem Haus zu gehen, erledigte ich seine Finanzen von zu Hause aus, wenn es nicht allzu viel war. Carsten hatte zusätzlich eine Sprechstundenhilfe angeheuert – Beate, eine Aushilfskraft, Mitte fünfzig, die seine Telefonate entgegennahm und Termine mit Patienten vereinbarte, wenn er gerade in einer Sitzung war und sich nicht loseisen konnte. Ich hingegen sah seine Patienten niemals und war dankbar, dass er mich damit nicht konfrontierte. Nein, seine Patienten wollte ich nicht wirklich sehen. Ich denke, es hätte mich heruntergezogen. Menschen mit Vergangenheit, Leute mit einer traurigen Lebensgeschichte – am Rande des Abgrundes stehen zu sehen, soweit war ich noch nicht und dennoch … Mein Leben hatte ich, dank Carsten, schon lange im Griff. Er hatte es tatsächlich geschafft, meine Dämonen zu besänftigen. Eigentlich hatten wir eine perfekte Beziehung. Doch manchmal wurde ich schwermütig, wenn ich an meinen Bruder zurückdachte. Die stillen Momente, wenn ich für mich alleine war und Zeit zum Nachdenken hatte. Es kam nicht oft vor, doch waren die Augenblicke da und wurden intensiviert, wenn ich an das Bild denken musste. Ich hatte den Koffer behalten, in dem das Foto von Darian lag. Ab und zu nahm ich das Foto an mich, weinte still in mich hinein, und mein Herz zog sich schmerzvoll zusammen, wenn ich die Fotografie betrachtete. Das Lächeln, diese Augen – mein Darian! Dann aber kamen Momente auf, in denen ich wütend wurde. Wütend auf mich, auf Darian, auf das, was niemals zwischen uns passierte – Liebe und Zuneigung. Viel zu sehr hing ich an dem Teil, der mir quasi als Erinnerung an mein früheres Leben geblieben war. Ich hatte das Foto von Darian weder aufgestellt oder jemals Carsten gezeigt. Seinen Namen hatte ich ihm noch nicht verraten. Ich wollte es auch nicht, war er immer noch nicht gut auf meinen Bruder zu sprechen. Dennoch war ich unsagbar dankbar um Carstens Liebe, die Fürsorge, einfach alles. Denn er liebte mich wirklich, so wie ich war. Und ich schenkte ihm so viel Liebe, wie ich nur konnte. Er tat mir gut. Warum alte Wunden aufreißen? Für wen sollte es gut sein? Denn mir ging es gut – uns ging es zudem finanziell überhaupt nicht schlecht. Auch wenn ich bei Weitem nie so viel Geld wie Carsten verdienen würde, konnte ich doch mit zur Haushaltskasse beisteuern, was mich mit gewissem Stolz erfüllte. Das war für mein Selbstbewusstsein sehr wichtig. In meiner Freizeit, wenn Carsten auf Lehrgänge musste oder irgendwelche Seminare abhielt, schrieb ich übers Internet Artikel, für die ich ein wenig Geld bekam. Reiseberichte, Werbung, bis hin zu kleineren Biografien. Irgendwann waren meine Artikel so gut, dass man mich sogar unter Vertrag genommen hatte, den ich von mir aus jederzeit kündigen könnte, wenn ich wollte. Mein Leben war ausgefüllt, alles in dem Sinne perfekt.   „Jaden, weißt du, wo meine Unterhose geblieben ist?“ Ein Szenario der herrlichsten Art spielte sich gerade in unserem Schlafzimmer ab. Carsten hatte die beige Decke aus Satin, auf der mit roter Schrift: ‚Guten Morgen, liebe Sorgen‘ stand, nun schon zum dritten Mal umgedreht, auf der Suche nach seiner Unterhose, die ich ihm sehr oft in der Nacht auszog, wenn wir unseren Trieben nachgaben. Ich kicherte, hielt mir kurz die Hand vor den Mund. Dann räusperte ich mich, versuchte etwas ernsthafter zu wirken, was mir nicht wirklich gelang.  „Meinst du etwa die?“ Ich hielt das monströse Etwas, das die Frechheit besaß, sich Herrenhotpants zu nennen, hoch und wedelte damit vor seiner Nase herum, schüttelte den Kopf, und warf sie ihm quer über das Bett zu. Carsten setzte einen wehleidigen Blick auf. „Das sind meine Lieblingsunterhosen“, mokierte er den Beleidigten. Manchmal hatte Carsten wirklich keinen Geschmack, worüber sich ständig streiten ließ. „Wenn es nur deine Unterhosen sind.“ Ich krabbelte über das Bett und griff nach dem linken Arm meines Partners, bevor dieser sich wegdrehen konnte, und zog ihn zu mir runter. Sofort, als er unter mir lag, verschloss ich seine Lippen zu einem alles verzehrenden Kuss. Als Carsten versucht war, sich zu wehren, machte ich ihn mit meiner Zunge gefügiger und hielt ihn mit meinem Körper in Schach. „Dann kann ich das schmerzlich verkraften.“ Ich war stärker geworden, nicht mehr ganz so mager, aber immer noch sehr feminin und schlank. Das sollte auch so bleiben. „Du, na warte.“ Carsten versuchte, mich unter sich zu bekommen. Wir rangelten im Bett umeinander, was schließlich dazu führte, dass wir beide sehr erregt waren und ich mir die Tube schnappte, die stets vorrätig in meiner Schublade verstaut war. Getestet waren wir beide schon lange und es verstand sich von ganz alleine, es ohne Kondom zu machen. Es war zwar nur ein kurzes Intermezzo, aber jeder war befriedigt und Carsten musste mit einem erhitzten Gesicht in seine Praxis fahren. Ich war nicht weniger erhitzt, konnte mich aber im Gegenzug abkühlen, was Carsten zum Schmunzeln animierte. „Das ist nicht fair“, hatte er mir noch gesagt, mich ein letztes Mal geküsst, bevor er verschwand. Basta saß am Fußende. „Na du? Du hast uns doch nicht wieder gestalkt. Böser Hund“, scherzte ich mit ihm, dann stand ich selbst auf, duschte ausgiebig. Ich kam eine halbe Stunde später an, und nahm Basta mit. Ich ließ selten den Hund alleine zurück.   „Jaden.“ Carsten stand von seinem Sitz auf. „Mmh.“ Ich tippte gerade den Bericht über Norwegen und seine Gezeiten und war in deren Recherchen darüber vertieft. Dabei saß ich konzentriert vor meinem PC, während Basta zu meinen Füßen lag und sich nicht rührte. Fauler Hund. „Ich geh mal die Post holen.“ „Mmh.“ Ich ließ mich nicht herausbringen und war weiter in meinem Bericht über Norwegen vertieft. Mein früheres Zimmer war inzwischen zu einem kompletten Arbeitszimmer umgestaltet worden, seitdem Carsten und ich nun zusammen ein Schlafzimmer hatten, war meines als solches unnötig geworden. Wir hatten beschlossen, es gemeinsam zu gestalten, wo jeder seine Ecke besaß. Der Raum war nun mit schwarzen Lackmöbeln bestückt. Die Wände waren weiß geblieben. Schwarze Jalousien, ohne Gardinen und einem übergroßen Gummibaum als Farbtupfer, der zudem für gute Luft sorgte. Auch Carsten hatte sich hier eine Ruheecke eingerichtet, mit einem Gesundheitssessel, ebenfalls dunkel gehalten, sodass es zu der übrigen Einrichtung passte. Mit einem rundlichen kleinen Glastisch daneben, auf dem sich Zeitschriften und Rätselhefte stapelten, rundete es das ganze Ambiente ab. Wir fühlten uns beide richtig wohl und waren hier öfter als im Wohnzimmer. „Jaden.“ Carsten kam mit der Post in der Hand zurück und Basta war nun doch aufgesprungen, als er das zweite Mal meinen Namen hörte. Er lief schwanzwedelnd zu seinem Herrchen. Ich nahm am Rande wahr, wie Carsten mit seinem Hund spielte, ihn aber nach kurzer Zeit herausschickte. „Hast du endlich mal ein wenig Zeit für mich. Jaden, bitte!“ In seiner Stimme lag eine gewisse Bitte. Ich wurde hellhörig. „Ja?“ Ich blickte von meinem roten Laptop auf, nahm dabei meine unscheinbare, rahmenlose Brille ab, die ich seit einem halben Jahr brauchte, wenn auch nur zum Lesen und Schreiben, rieb mir kurz über die Augen, da sie zu tränen angefangen hatten. Der Beitrag forderte einen. Mir fielen ein paar längere Strähnen in die Augen, die ich mir zurückstrich. Ich sah immer noch nicht zu Carsten, sondern war wieder in meinem Beitrag vertieft, auch ohne Brille, die ich in der linken Hand hielt. „Jaden, schau doch mal.“ Carsten klang nun etwas ungeduldig. „Hat das nicht Zeit, ich bin gerade in Norwegen.“ Gedanklich war ich total integriert in dieses Land und seine Gepflogenheiten. Ich brauchte nur noch einen Satz, dann wäre ich fertig gewesen. „Nein, hat es nicht.“ Ich seufzte, legte die Brille nun doch auf die Seite und sah ihm ins Gesicht. „Ist es wichtig?“ „Ja.“ Carsten blieb beharrlich. War es etwas Schlimmes? So schnell sich die düstere Wolke vor mich schieben wollte, verschwand sie auch schon wieder, als ich Carsten lächeln sah. „Peter und Inge heiraten“, jauchzte er beinahe, wedelte mit einem geöffneten Brief und wippte auf seinen Fersen auf und ab. Dieser Anblick ließ mich schmunzeln. Aha Inge heiratet, na endlich und unheimlich wichtig, dass es nicht warten kann, ja, ja. Inge war Carstens Ex-Frau. Sie hatten seit zwei Jahren wieder ein gutes Verhältnis, vor allem seit Carsten mich vorgestellt hatte und ich denke, das war der wichtigere Aspekt. Waffenstillstand war nun angesagt, seitdem sie selbst wieder liiert war – mit Peter. Ich mochte Inge eigentlich sofort, erinnerte sie mich stark an Susan und ich wurde traurig, dass ich mich in dem Punkt Susan gegenüber nicht fair verhalten hatte. Ein wenig vermisste ich sie, und wenn ich ehrlich war, auch meine Eltern – meine Mutter und … „Ja und?“, fragte ich nun. Rückblickend gesehen waren die Anzeichen schon vor Wochen zu erkennen. Die letzten Zeilen meines Beitrages waren endlich getippt – als ich automatisch die Brille wieder aufgesetzt hatte und weitermachte – Carsten kurz ausblendete, als er vertieft in diesen Brief schien. „Jaden, kannst du nicht mal deinen Beitrag lassen und mir zuhören.“ „Ich höre dir doch zu“, motzte ich. Nun ja, fast. Inge und Peter würden heiraten. Den anderen Teil hatte ich nicht mehr mitbekommen – hatte er denn noch etwas anderes gesagt? Ich versuchte nun, meine volle Aufmerksamkeit meinem Partner zu widmen und sah ihn an. „Also – sie heiraten, schön für sie.“ „Für mich kommt das ein wenig überraschend.“ Er hatte seine Augenbrauen hochgezogen. Mein Blick wandte sich ab von Carsten und wanderte zu meinem Bildschirm. „Verflucht“, schimpfte ich laut. Die ganzen Tippfehler stachen mir rot unterstrichen ins Auge. „Was ist denn, mein Schatz?“ Carsten war sofort an Ort und Stelle, hatte die Post auf den Glastisch geschmissen und stolperte schon beinahe über seine eigenen Füße. Das war etwas, womit ich nie ganz zurechtkam – seine übertriebene Fürsorge. „Nichts, ich schreibe immer nur wahllos und hinterher habe ich dann die Arbeit“, motzte ich pikiert über meine Konzentrationsschwäche. „Ach, mein Schatz, dafür hat man doch ein Korrekturprogramm.“ Er küsste mich kurz auf den Mund, den ich zu gerne erwiderte, strich mir dann sanft über die Schulter, bemerkte meinen steifen Nacken. Er stellte sich hinter mich und begann, mich zu massieren. Dabei fing er am Nacken an und arbeitete sich dann abwärts. Sofort reagierte mein Körper auf seine recht fordernde Behandlung. Etwas, was mir immer gefiel. Mann, tut das gut. Ich stöhnte, worauf ich sofort einen weiteren Kuss von Carsten erhielt. Da war seine übertriebene Fürsorge angebracht, doch hörte ich ein Seufzen, das sich aus seinem Mund nicht gerade fröhlich anhörte. Ich atmete tief durch, fühlte, wie seine Hände wieder sanfter wurden. Seit einigen Tagen spürte ich, dass er nicht mehr ganz so glücklich über unser Sexleben war. Nicht, dass es ihm nicht gefallen würde, das nicht. Ich war immer noch der Aktive von uns. Carsten wollte auch mal, das merkte ich, verübeln konnte ich es ihm nicht. Aber war ich schon so weit? Ein wenig horchte ich in mich hinein. Sofort fing mein Herz schneller zu klopfen an. Ich lenkte mich ab und kam auf das eigentliche Thema zurück. „Also, was ist mit der Heirat?“ „Inge und Peter, ich fasse es immer noch nicht. Gerade die beiden, die so auf ihre Unabhängigkeit gepocht hatten.“ „Freu dich doch, sie sind ein schönes Paar.“ „Wir sind eingeladen. Wird groß aufgezogen.“ Ich verzog das Gesicht. Auch wenn ich die beiden mochte, mied ich gewisse Dinge. „Du weißt, wie ich Menschenmengen meide, ja?“ Ich seufzte theatralisch. „Ich weiß. Wir gehen dorthin und bleiben nur so lange wie nötig. Mmh. Ich bin so froh, dass ich mit meiner Ex-Frau ein gutes Verhältnis habe, habe ich auch dir zu verdanken. Du hättest von uns der Therapeut werden sollen.“ „Ach was. Bei seiner eigenen Familie ist es immer besser, auf Fremdeinfluss zu hören.“ Ich wusste, Carsten litt unter der Trennung von seinen Eltern, die ihm niemals verziehen hatten, dass er sich damals von Inge hatte scheiden lassen. Ich selbst hatte sie noch nicht kennengelernt. Jedes Mal, wenn ich das Thema anschneiden wollte, winkte er ab. Und so ließ ich es bleiben. Nur einmal bekam ich seine Mutter ans Telefon, als sie ihrem Sohn zum Geburtstag gratulierte. Sie wirkte kühl. „Fremdeinfluss … von wegen. Tze, du gehörst zu mir.“ Er lächelte. „Stürzen wir uns auf die Hochzeit?“ Hoffnungsvoll wartete Carsten auf meine Reaktion. „Klar, wir gehen hin, sagen Inge und Peter: Alles Gute, blabla, schmeißen den beiden Turteltauben ein Päckchen zu und verschwinden wie der Heilige Geist.“ Guter Plan! Ich lachte. „Aham, ein wenig länger müssen wir schon bleiben. Im Übrigen wird es eine Strandhochzeit. Romantisch mit Kerzen und so …“ Ich drehte mich abrupt in meinem Drehsessel herum: „Wirklich?“ Jetzt war ich es, der staunte.     ©Randy D. Avies 2012   Kapitel 24: ------------ ~°~24~°~     Zwei Wochen später.   „Ich hab nichts zum Anziehen?“, maulte ich, als ich meine ganzen Sachen durchwühlt hatte. „Und Schminke habe ich auch keine mehr.“ Die Diva in mir kam zum Vorschein. Carsten seufzte theatralisch in sich hinein und ich konnte ihn sogar verstehen. Es stimmte nämlich nicht, denn ich hatte genügend von allem zur Verfügung. Doch jetzt wurde ich nervös und ließ es an ihm aus. Mit dem rechten Fuß aufstampfend ging ich vor ihm auf und ab. „Zieh dir doch den schönen Rock an, der dein Lieblingsteil unter all deinen Klamotten ist. Wir alle akzeptieren deinen Kleiderstil, außerdem gefällt es mir, wenn du nichts darunter anhast, wie bei einem Kilt etwa.“ Er kam knurrend zu mir, schnappte mich im Vorbeigehen, als ich nicht vor ihm stoppen wollte, und warf mich mit einem Ruck aufs Bett. Dann, bevor ich mich großartig wehren konnte, saß er rittlings auf mir und nahm sofort meinen Mund in Beschlag. Irgendwann rang ich nach Luft, da ließ er von mir ab. Er strich mir einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht und fuhr mit der Hand zum Schluss über den frisch gestutzten Nacken, dabei ließ er mich nicht aus den Augen. Seit einer Woche trug ich meine Haare anders. Im Nacken kurz, doch vorne lang und noch immer etwas verrückt. Carsten war sofort in meine Frisur verliebt gewesen und noch in etwas anderes. Vor wenigen Tagen hatte ich mir zudem heimlich ein Nippelpiercing stechen lassen. Meine rechte Brustwarze war daher etwas wund, aber es ging und nun zierte ein silberner Ring meine Vorderseite. Dabei hatte es ihn vor wenigen Tagen rasend geil gemacht, als ich ihm das Teil frisch präsentiert hatte. Der Sex hinterher war schnell und effizient, und derart gut. „Du sollst mir helfen, nicht mich vernaschen“, keuchte ich begehrlich, als sich seine Augen zunehmend verdunkelten. Die Leidenschaft, dass er mich wollte, war kaum zu übersehen. „Na, ich muss dich doch erst einmal ausziehen, um zu wissen, was dir wirklich steht“, knurrte er leise und sehr erregt. Ich hatte zwar nur meine Leggins an und ein übergroßes Shirt, aber eindeutig zu viel, da gab ich ihm recht. Außerdem spielte er, durch das Shirt, an meinem Piercing verdächtig lange herum. Oh Gott, hatte ich schon einmal erwähnt, dass Carsten ein Nimmersatt war und darum wurde ich selbst ungeduldig. Endlich, weil ich es kaum mehr erwarten konnte, wurde ich von ihm ausgezogen und jeder frei gewordene Zentimeter Haut ausgiebig von seiner geschickten Zunge gekostet. Beide Brustwarzen wurden gründlich bearbeitet, mit den Fingern an dem Ring gezogen, dass sich ein schöner ziehender Schmerz ausbreitete. Dass ich mich am Körper haarlos hielt, hatte mein Partner nur anfänglich gestört, aber nun nicht mehr. Im Gegenteil, Carsten fand es sogar mit der Zeit ziemlich antörnend, wie er mir irgendwann versichert hatte. „Du schmeckst so gut.“ Carsten konnte nicht genug bekommen und mein Körper reagierte sensibel und dennoch … Ungewollt schob sich auf einmal Darian in meine Gedanken, wie er neben Carsten lag und mich ebenfalls streichelte. Darian, der bestimmt längst fünf bis sechs Kinder hatte. Glücklich war mit seiner Stefanie und glücklich mit seinem Leben! Verdammt. Warum dachte ich an ihn, ich hatte Carsten und ihn wollte ich. Trotz meiner unsteten Gedanken schob sich noch etwas anderes über sie, etwas, was ich Carsten schon länger anbieten wollte. Ich war erregt und schob schnell meine aufkommenden Bedenken beiseite. Ich horchte in mich und genau hier und jetzt sprach ich es, aus: „Carsten, ich will, dass Du mit mir schläfst.“ Erwartungsvoll drückte ich mein Becken gegen seines. Provokant rieb ich mich an seiner Härte. Mein Herz klopfte dabei laut und rasch. Dieses Mal sogar beabsichtigte ich, dass er mich wollte und ich konnte spüren, wie er mich wollte. Ich schluckte hart, da er, ich wusste es ja, gut bestückt war, anders als ich. Er hörte sofort mit den Liebkosungen auf, sah mich an. „Was hast du gesagt?“ „Brauchst du eine Gebrauchsanweisung, Doc?“ Meine Stimme zitterte und ich versuchte meine Aufregung darüber nicht ganz so offenkundig zu legen und lächelte, dabei fühlte ich seine Finger an meinen Haaren. „Schlaf mit mir, ich bin soweit“, forderte ich ihn ein weiteres Mal auf, als er nicht geantwortet hatte. „Ich möchte, dass du mit mir schläfst. Ich will dich endlich voll und ganz spüren.“ Mein Herz schlug mir bis zum Hals hoch, als ich seinen verlangenden Blick erhaschte. Seine blauen Augen verdunkelten sich, als ich mir provokant und langsam mit der Zunge über die Lippen leckte. Ich wusste, er wollte mich. So oft hatte er gefragt. Ich wartete keine Antwort mehr ab. Noch lag ich auf dem Rücken, dann aber drehte ich mich in seiner Umarmung auf den Bauch und präsentierte mich ihm. „Jaden“, hauchte er schließlich in mein Haar. „Schht, ich will es.“ Ich schloss die Augen, lauschte den darauf folgenden Geräuschen einer aufgemachten Schublade, der Klang einer mir bekannten Tube Gleitcreme, deren Kappe aufklappte, und tauchte entspannt, aber völlig erregt in unser Liebesspiel ein. Es war besser. Zärtlich, fast schmerzfrei. Carsten nahm sich sehr viel Zeit für die Vorbereitung. Anders als Darian nahm er mir die Angst vor meinem ersten Mal. Als er in mich eindrang, fühlte ich mich geborgen und verstanden. Die Wiedervereinigung, die ich mir so lange gewünscht hätte, wurde mir nun erfüllt. Aktiv zu sein war schön, passiv zu sein ebenso. Ich war dankbar um diese wundervollen Gefühle. Und dennoch, zum ersten Mal war Darian mit dabei, wie er imaginär mit Carsten zusammen in mich eingedrungen war … die Vorstellung brachte mir einen gewaltigen Orgasmus ein. Ich verschwieg Carsten gegenüber meine immer noch verbotenen Gefühle für meinen Halbbruder, der neben mir nach unserem Höhepunkt ermattet und unsagbar glücklich ein paar Minuten weggedöst war. Irritiert darüber drehte ich mich auf die Seite, woraufhin Carsten sofort beschützend seinen Arm um mich legte. Wie konnte das passieren? Hatte ich es nicht selbst gewollt? Ich liebte doch meinen Carsten und er vergötterte mich; ich sollte diesen Teil Gefühle für Darian niemals mehr zulassen. Schließlich schob ich es auf mein erstes, richtiges Mal und kam zu der Überzeugung, dass ich daher Darian und Carsten zusammen verinnerlicht hatte. Es hatte also nichts zu bedeuten. Das beruhigte mich etwas. Eine halbe Stunde später zogen Carsten und ich uns an. Ich hatte mich doch für den Rock entschieden und stand herausgeputzt vor ihm, der mich bewundernd ansah und immer noch strahlte wegen des genialen Sexes zwischen uns. Das Geschenk für das Brautpaar, einen Roboterrasenmäher namens Tobi, so hatten wir ihn heimlich genannt, lag wenige Minuten später verpackt auf dem Rücksitz unseres neuen Cabriolets. Wie ich das Auto liebte – und ich durfte fahren. Mein Glück schien perfekt!       ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 25: ------------ ~°~25~°~     Ich brauste mit 210 Sachen über die Autobahn, schnalzte dabei mit der Zunge zum Takt der Toten Hosen: ‚Hier kommt Alex.‘ Die Geschwindigkeit hatte seinen Grund. Schließlich hatten wir zwei Stunden Autofahrt zu bewältigen. Und wir waren viel zu spät dran. Daher musste ich gewaltig aufs Gaspedal treten. Außerdem gefiel mir mein Fahrstil und wenn sich der Wind in meinen Haaren verfing, die Sonne mir ungefiltert ins Gesicht scheinen konnte. Ja, das alles mochte ich. Ich war keinesfalls mehr so ängstlich, was mich anging. Carstens hasenfüßiger Seitenblick, der mir nicht entgangen war, war hingegen zu köstlich. Noch hatte er nichts gesagt von wegen: „Fahr etwas langsamer, du weißt doch ganz genau, ich mag schnelle Autofahrten nicht.“ Ich wartete auch nicht ab, bis es so weit kommen würde und mein Mitleid überwog. So trat ich langsam auf die Bremse, drosselte die Geschwindigkeit und fuhr brave 100 Stundenkilometer weiter. „Danke! Lieber zu spät kommen“, hörte ich neben mir die Erleichterung und wagte einen kurzen Blick zu Carsten. Mein Freund saß nun wesentlich entspannter auf dem Beifahrersitz, hatte seine Staturhaltung abgelegt, und streckte seine Beine locker von sich. Er seufzte, unterstrich damit das Ganze, dass er sich jetzt wesentlich wohler fühlte, sah mich nun freudig an. „Ich bin halt doch älter und gehe nicht gerne Risiken ein.“ Ich schenkte ihm einen kurzen verliebten Seitenblick. Niemals würde ich das auf den etwas größeren Altersunterschied schieben. Aber Carsten war wirklich übervorsichtig. Eine Vaterfigur eben! Meine Augen waren wieder konzentriert auf die Straße gerichtet, während meine Gedanken jedoch zu ihm rüberwanderten, und dabei ein heißes Magengefühl hinterließen, als ich an unseren kürzlich stattgefundenen Sex zurückdachte. Carsten war die Wucht gewesen. Ich liebte ihn noch ein wenig mehr, gerade, weil ich mich bei ihm endgültig hatte fallen lassen können. Darian gab’s nicht mehr, er war mit diesem Sex nun endlich von mir gegangen. Davon war ich der festen Überzeugung. Ich konnte meinen Freund noch in mir fühlen – spürte seine feurigen Küsse auf mir. Ja, ich war ein glücklicher Mann. „Dort drüben müsste es sein“, vernahm ich Carsten wenig später. „Ja, ich sehe es auch. Wir sind dennoch zu spät.“ Ich zog kurz die Mundwinkel nach unten. Wir hörten die übliche kirchliche Musikzeremonie, die aus einer kleinen Kapelle dröhnte. Die Hochzeit war bereits zugange. „Meinst du etwa wie das kleine weiße Kaninchen?“, zog er mich auf. Ich wusste sofort, auf welche Geschichte er anspielte. „Haha, sind wir hier auf dem ‘Alice-im-Wunderland-Trip‘?“, unkte ich mit. Letzte Woche erst hatten wir uns den Klassiker angesehen. Carsten grinste über beide Wangen und mimte die Grinsekatze: „So irre und so geistesgestört …“, sang er ausgelassen. „Du bist wirklich irre?“, schritt ich dazwischen und lachte ebenfalls. „Ich bin irre in dich verliebt“, gab er miauend zu verstehen. Wir sahen uns kurz verliebt an, dann musste ich mich wieder aufs Fahren konzentrieren, als ich verzweifelt einen Parkplatz suchte, was sich nicht einfach gestalten ließ. So viele Autos, wie hier herumstanden, musste unser Brautpaar halb Deutschland eingeladen haben. Man sah so etwas eigentlich nur auf Konzerten oder auf Messen. Nun ja, ein wenig übertrieb ich. Carsten hatte mir zwar die Hochzeitsliste vorgelesen, bei der Hälfte aber war ich schon wieder in meine Artikel vertieft gewesen. „Oh Mann. So viele Menschen werden da sein, hätte ich doch nur mal nachgefragt, wie viele Inge denn eingeladen hat.“ Ein flaues Gefühl breitete sich aus. „Ich hatte doch erwähnt, dass viele kommen.“ Carsten drückte kurz meine Hand. Er wusste genau, wie ich Menschenansammlungen hasste. Ganz weit hinten, schon auf einer Rasenfläche befindend, fand ich endlich eine Lücke, in der ich mit akrobatischer Einparkleitung und Carstens Hilfe eine Parkmöglichkeit fand. Endlich, ich seufzte. Ich ließ das Verdeck offen, denn keine einzige Wolke krönte den Himmel – eben ein Traumtag. „Hat deine Ex-Frau das Wetter auch mitorganisiert?“, fragte ich schmunzelnd. „Sie kann zwar vieles, aber das nicht, es sei ihr gegönnt.“ Mein Freund schenkte mir ein Lächeln. „Vergiss Tobi nicht.“ Wir stiegen schließlich aus dem Auto, und Carsten nahm das Brautpaargeschenk unter den Arm, das auf dem Rücksitz lag. Ich atmete nochmals tief durch und beäugte die Kapelle von Weitem. Sie wirkte von hier aus ziemlich unheimlich. „Können wir?“, wollte er vorsichtig wissen. Ich nickte und seufzte. „Auf in den Kampf!“, sagte ich und wir schritten zuerst zum Hochzeitstisch, welcher davor aufgebaut war. Hochzeitstisch konnte man es nicht mehr nennen. Vielmehr waren unzählige Tische aneinandergestellt worden, und baten so eine überaus großzügige Fläche, damit die ganzen Gaben auch drauf passten. Wir legten unseres zu den anderen Geschenken. Ich betrachtete erstaunt den Tisch. Niemals hatte ich so viele Präsente auf einmal gesehen. „Ich glaube, die brauchen eine Zweitwohnung“, meinte ich mit einem Schmunzeln auf den Lippen. „Wieso? Tobi kann das vielleicht auch gleich mit beseitigen.“ „Er ist ein Rasenmähermann.“ „Na und?“ Carsten war heute wirklich ein Komiker. „Komm Grinsekatze, sonst kommen wir mehr als nur zu spät und verpassen das Beste.“ „Eye, eye, Hase!“   Inge und Peter waren mittendrin in ihren Trauungsschwüren füreinander, als wir endlich die Kapelle betraten. Sogleich wurden wir von bestimmt über 500 Augenpaaren beäugt, da die Tür im knarrenden und quietschenden Laut aufgesprungen war. Die einzelnen Scharniere hätte man dabei aufzählen können. Wo draußen eine Hitze war, war es hier drinnen angenehm kühl. „Na klasse“, flüsterte ich Carsten zu, der sich bemühte, die Tür leiser hinter sich zu schließen. Auch mein Outfit wurde in Augenschein genommen. Super! Doch ganz gegen meine Erwartungen, noch länger begafft zu werden, wendeten sich die meisten Köpfe wieder dem Brautpaar zu. Ich konnte zwar mit hochrotem Kopf, aber sichtlich erleichtert die Luft, die ich kurz angehalten hatte, ausstoßen. Der Blick, den ich Carsten seitlich zuwarf, bestätigte, dass er ebenfalls im Gesicht rot angelaufen war. Immerhin war ich nicht alleine puterrot geworden. Wir setzten uns in die letzte Reihe. Da aber die meisten Leute standen, standen auch wir wieder von unseren Plätzen auf, um wenigstens etwas von dem Brautpaar sehen zu können. Inge sah in ihrem weißen, sehr gewagten Hochzeitskleid umwerfend aus. Ihr Rücken war freigelegt und das Kleid symmetrisch geschnitten. Ein kurzer Schleier unterstrich das Ganze. Peter hingegen hatte die übliche langweilige, schwarze Bräutigammode an, die man standardmäßig überall sah. So wollte ich nicht aussehen. Die Gäste waren in üblicher Manier hingerissen und die beiden Trauzeugen standen stumm wie eine Statur herum und warteten, bis der Prediger endlich seinen Segen gab. Der Pfarrer predigte das Übliche: Blabla, mit der gewürzten Langeweile eines Handkäses. Inge hatte eigentlich Carsten als ihren Trauzeugen gewollt. Doch Carsten hatte Nein gesagt - ein Ex als Trauzeuge … Irgendwann war die für meinen Geschmack etwas zu steife Zeremonie herum. Das Paar wurde mit Gratulationswünschen überhäuft. Nach gefühlten Stunden, die wir anstanden, kamen wir an die Reihe, zu gratulieren. Ich wurde überschwänglich von Inge und dann etwas ruhiger angehend von Peter gedrückt. Carsten schmunzelte nur, als er seiner Ex-Frau und ihrem frisch angetrauten Mann alles Gute wünschte. „Aller guten Dinge sind für gewöhnlich aber drei“, witzelte Carsten und ich gab ihm einen Klaps leicht auf den Bauch. „Verzeih, er meint es nicht so. Ausrangierter Ehemann, du verstehst.“ „Hey, was heißt hier ausrangiert?“, mokierte er gespielt. „Schon gut. Ihr seht beide so strahlend aus?“, meinte Inge wenige Sekunden später und betrachtete uns von der Seite. Ich sah nur Carsten an, der in sich hineingrinste. Bevor ich aber antworten konnte, war das Paar schon von anderen in Beschlag genommen. Was für ein Stress. Wir entfernten uns ein wenig. Mir wurde das zu eng hier. „Im kleineren Kreise wäre es viel schöner gewesen.“ Ich zupfte eine Fussel an meinem Rock weg. „Ja, so ist Inge, immer die First Lady sein.“ Er zog mich nach draußen und die heiße Luft wehte uns sofort und unangenehm entgegen. Dann ging man zum gemütlicheren Teil über. Buffet und Bar waren unweit, fünf Minuten Gehzeit, am Strand an einer seitlichen Bucht der Ostsee prunkvoll aufgebaut, wo sich alsbald die hungrigen und durstigen Gäste darüber hermachten. Trotz der aufgebauten großen Festzeltschirme, die für Schatten dienen sollte, brannte die Sonne unbarmherzig auf unsere Köpfe, wenn man einen Schritt nach draußen in die ungefilterte Hitze wagte. Zwar wehte ein leichter Wind, doch war es diesen Sommer extrem ungewöhnlich – selbst für die Ostsee. Ich stellte fest, ich war zu warm und zu dunkel angezogen und schwitzte in meinem schönen Rock. Die Verzierungen und Nieten blitzen in der Sonne auf und zogen einige Blicke auf sich. Wie sagt man so schön: Wer schön sein will, muss leiden. Für mich wurden es auch dort langsam zu viele Menschen, die sich um uns herum scharten wie die Ameisen. Um den ganzen Überblick zu behalten, zupfte ich an Carstens Jackett. „Gehen wir ein Stückchen?“ Ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut. „Mmh.“ Carsten hielt Ausschau nach unseren Bekannten und Freunden. Bei all dem Trubel hatten wir noch keinen entdeckt, was sich schnell änderte. Einige standen an der Bar und wir gesellten uns zu ihnen. „Na, da seid ihr ja endlich“, sagte sofort ein Bekannter von uns. „Es lag an Carsten!“ Ich zog einen belustigenden Schmollmund. Ich hatte mir eine Margarita von einem Kellner geben lassen, während Carsten sich zu einigen seiner Bekannten und Freunde gesellte. Gedankenverloren nippte ich an meinem kühlen und äußerst leckeren Getränk. Mein Blick streifte zu meinem Partner, der sich angeregt unterhielt. Er hatte sich nichts zum Trinken geholt. Da wusste ich, dass er heute fahren würde. Was für ein Vorbild! „Hey Jaden, was machen deine Artikel?“, fragte mich Timo, ein Freund von Carsten – ich hingegen zählte ihn nicht zu meinem Kreis. Er war arrogant, wusste alles besser. Eigentlich störte mich alles an ihm. Mit seinen rotbraunen Haaren, die er zu einem Seitenscheitel streng nach hinten gekämmt trug, war es zudem kein Wunder, dass er keine Freundin bekam, von der schwulen Welt ganz zu schweigen. „Artikel?“ Ich wusste, auf was er hinaus wollte, und hatte so gar keine Lust auf Konversation. „Die Schwedenfreunde fragen sich schon, warum du nicht mal wieder über sie schreibst.“ „Ja, ja ... die kommen schon nicht zu kurz“, meinte ich süffisant und trank nun einen großen Schluck, um mein Unwohlsein zu überspielen. Konnte er sich nicht einen anderen suchen, den er vollsülzen konnte? Schweden war ein Thema für sich. Letzten Sommer war ich mit Carsten dort gewesen, unser erster gemeinsamer Urlaub überhaupt – und so schön. Also was ging Timo das überhaupt an. Ich trank einen weiteren Schluck, um ihn irgendwie aus meinem Gedächtnis zu verbannen – überhaupt neben ihm zu stehen. „Hey, hey, mach langsam. Nicht, dass du mir noch umkippst. An dir ist immer noch nicht so viel dran und denk an die Hitze.“ Carsten kam auf mich zu und verfiel prompt in eine Vaterrolle, die ich hier sehr unpassend fand. Vor allem vor unseren Leuten fand ich das unmöglich, die uns jetzt alle anstarrten. Timo verzog das Gesicht und wandte sich einem anderen Gesprächspartner zu. Endlich, den war ich los. „Ich kippe nicht um“, meldete ich mich daher empört zu Wort, spürte aber mächtig den Drink, da meine Zunge locker saß. Somit hatte Carsten nicht ganz unrecht. „Da kommt halt der Arzt aus ihm heraus“, milderte ich es ab, da wir immer noch angestarrt wurden. Ich nahm ihn in den Arm, küsste ihn, um ihm zu zeigen, dass ich ihm ganz schnell seine Fürsorge verzieh. Carsten hatte keine Probleme damit, sich vor anderen von mir küssen zu lassen und die meisten unserer Freunde auch nicht. Für sie war es normal. Wir waren für sie normal. „Ich passe auf mich auf, okay.“ „Ich weiß, entschuldige bitte.“ Dann gab mir Carsten einen Kuss zurück, der es in sich hatte. Wow! Simon, Carstens alter Studienkollege, unterbrach das Ganze, klopfte uns auf die Schulter, wandte sich dann aber meinem Partner zu. „Man könnte manchmal auf euch neidisch werden, Carsten.“ Und manchmal wurde man wirklich an der falschen Stelle unterbrochen. „Wieso? Ich gebe ihn nicht her, wenn du das meinst“, gab Carsten ihm schmunzelnd zu verstehen. „Lass mal, ich habe mich nun mal nur dem weiblichen Geschlecht verschrieben.“ Kaum hatte Simon das gesagt, schnappte er sich Ute, die neben ihm stand. Ute hatte wie Simon auch mit Carsten zusammen studiert. „Hey, nicht so stürmisch“, prustete sie daraufhin empört los und legte aber sofort ihren Arm um ihn. „Na, das will ich auch schwer hoffen!“, meinte mein Freund zu Simon und zog mich dabei enger an sich. „Jaden teile ich mit niemandem.“ Stolz präsentierte er mich weiterhin im Arm und ich wurde rot. Es wurde ein ausgelassener Nachmittag und die Hochzeitfeier war doch nicht so schlecht, wie ich fand. Aber zum Tanzen war ich nicht gemacht und ich war froh, dass ich auch nicht aufgefordert wurde, als die Musikkapelle spielte. Aber dennoch brauchte ich ein paar Minuten für mich alleine, das spürte auch Carsten, als er sah, wie unruhig ich wurde. Zuvor brachte er mir aber noch meinen Drink. Zwischendurch hatte ich Wasser getrunken und immer mal wieder von den köstlichen Lachs-, Schinken- und Kaviarhäppchen probiert, was das Ganze dann verdünnte. Das hatte ihn milde gestimmt. Zudem … ich war erwachsen. Auch wenn ich ab und an Panikattacken hatte, wenn gerade so viele Menschen um mich herum waren. Oft hatte Carsten mir daher vorgeschlagen, doch mal zu einem Therapeuten zu gehen. Ich wollte nicht und schließlich gab er sich geschlagen und hatte mir von sich aus ein paar Tipps und Tricks beigebracht. Nein, Carsten war mein Therapeut und er tat mir gut. „Na gut, bis später, und nicht flirten.“ Er drückte mir mein Getränk in die Hand und gab mir einen Kuss. „Danke! Ich brauche ein wenig meine Ruhe und möchte das Meer genießen“, sagte ich, und aß den letzten Bissen von meinem Lachshäppchen. Carsten nickte und ich sah ihm noch hinterher, wie er sich wieder zu seinen Freunden gesellte, die ihn lachend empfingen. Das Brautpaar tanzte derweilen den Hochzeitstanz. Schmunzelnd lief ich mit meinem Drink in der Hand ein wenig den Strand entlang. Schaute auf das Wasser und blickte in die Abendsonne. Ich blieb aber ganz in der Nähe. In guter und ausgelassener Stimmung, dem ganzen Trubel aus gewissem Abstand nun verfolgen zu können. Mein Getränk hatte ich leer und auf einer Bank unweit abgestellt, da fasste mich plötzlich einer an der Schulter. „Hallo Jaden?“ Ich erkannte die Stimme sofort. Sie klang dunkel und mit einem südländischen Akzent gewürzt. Es war Miguel. Ein Bekannter von Carsten und mir. Ihn lernten wir auf einem Spieleabend kennen. Er war Südländer und eigentlich ganz nett, wenn er nicht immer bei unseren Spieleabenden verlieren würde. Dann kam seine arrogante Art zum Vorschein. Und doch passte er in unseren Freundeskreis. Ich hatte mich nur seit einiger Zeit gefragt, warum es so still um ihn geworden war und er nicht mehr zu unseren Abenden kam. Daher war ich überhaupt überrascht, dass er hier auftauchte. Carsten hatte ihn auf der Gästeliste unter unseren Freunden nicht erwähnt. „Darf ich dir meinen Freund vorstellen?“ Miguels Hand lag immer noch auf meiner Schulter. Mit seinem Freund? Jetzt wurde mir einiges klar. Miguel hatte endlich einen Partner gefunden. Er war wie wir homosexuell. Miguel war ziemlich gut aussehend, hatte eine sportliche Figur und doch immer Pech in der Liebe. Ich drehte mich freudig herum, um ihn zu begrüßen. Mein Gesichtsausdruck erstarrte, nicht wegen ihm, sondern wegen des anderen Mannes, der an seiner Seite stand. Ich stand stocksteif und blass vor ihm und konnte nicht mehr meine Augen von Miguels Partner lassen. „Jaden, ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte Miguel nun sichtlich irritiert von meinem seltsamen Verhalten. Kurz schaute ich auf ihn, dann wieder zu dem anderen – zu Darian, meinem Bruder.       ©Randy D. Avies 2012   Kapitel 26: ------------ ~°~26~°~     Die vier Jahre Trennung waren wie weggeblasen, als ob der Tempus der Gezeiten dazwischen keinerlei Bedeutung mehr hatte und die Zeit auf der Hütte, die Wanderung in den Bergen – sie fühlten sich für mich an, als ob es erst gestern gewesen wäre. Ja, die Jahre waren vergangen und hatten Spuren hinterlassen. Schmerzlich erinnerte ich mich an meine Flucht. Ein langes Jahr, wo ich innerlich wie tot gewesen war. In dem ich wie ein Zombie umher wandelte, durch die Straßen streifte – ohne Sinn und Verstand, bis mich Carsten rettete, und nun das hier. Jetzt, wo ich es geschafft hatte, losgelassen hatte, tauchte Darian auf. Einfach so. Und was machte ich? Ich stand da und konnte nur in die grünen Augen meines Bruders stieren, der wie ich zu einer Salzsäule erstarrt war. Oh, seine wundervollen Augen. Wie hatte ich sie einst so sehr geliebt, alles an ihm geliebt, aber gerade diese Augen waren immer was ganz besonderes für mich gewesen. Sie konnten einem bis ganz tief in die Seele blicken – so wie jetzt. Mein Herz zog sich bei diesem Anblick so fest zusammen, dass ich meinte, innerlich erdrückt zu werden. Unbewusst griff ich mir an die Brust, riss meinen Blick von seinen Augen und scannte ihn schließlich wie eine Ware. Mein Bruder sah verändert aus. Er sah viel besser aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Die Haare trug er lang und zu einem Zopf gebunden. Seine Kleidung, ein dunkler Anzug – im Armani Stil, unterstrich sein edles Erscheinungsbild, was auch sein sonnengebräuntes Gesicht besser zur Geltung brachte. Und doch … irgendetwas störte mich an dem Bild, was sich mir präsentierte, nämlich, Darian, mit einem Mann so zu sehen. Miguel und er hatten sich im Arm, waren sehr vertraut miteinander. Mein Bruder war nicht nur ein Freund für ihn, er war sein Freund – sein Partner. Aber als Darian spürte, wie ich ihn weiterhin anstarrte, nahm er seinen Arm vom Südländer herunter. Miguel schien im ersten Moment irritiert darüber, sagte aber nichts, was mich mehr als erstaunte. Die Situation war grotesk. Doch darauf nahm ich keine Rücksicht. Fassungslos und geschockt begriff ich nur sehr langsam die Gegebenheit. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Warum tauchte Darian wie aus dem Nichts hier auf? Und ausgerechnet auf dieser Hochzeit. München lag nicht neben Hamburg. Mir stellte sich zudem die Frage: Was machte er überhaupt hier – an der Ostsee? Wo war Stefanie? Meine Gedanken wurden wirr. Weiß Darian, dass ich mit einem Mann geschlafen habe? Hatte er gespürt, dass ich davor mit Carsten geschlafen hatte, dass ich zugelassen hatte, dass ein anderer mich nehmen durfte? Mich, seinen Bruder. Die Hirngespinste blieben. Die Zeit schien still zu stehen, in denen sich kein Lüftchen regte, sich kein Laut an mein Ohr schlich. Ich nahm nichts mehr um mich herum war - außer ihn. Miguel schien was zu sagen, doch hörte ich seine Worte nicht. Ich registrierte meine Umgebung erst wieder, als Carsten sich zu uns gesellte und ich seine warme Hand auf meiner Schulter spürte. Erst dann war ich zusammengezuckt und merkte, wie ich immer noch zu dem Mann starrte, der mein Bruder war. Waren nur Minuten vergangen? „Jaden, geht’s dir nicht gut? Du siehst blass aus. Hast du dir doch einen Sonnenstich geholt?“ Carsten sah besorgt aus, befühlte meine Stirn und runzelte dabei seine. „Du bist aber nicht warm, eher kühl, komisch?“, wunderte er sich nun. Ich rührte mich immer noch nicht von der Stelle. Alles war so unwirklich wie in einem Traum, in dem man sich selbst nicht kontrollieren konnte. „Doch“, antwortete ich mechanisch, merkte jedoch nicht, dass meine Antwort nicht passte. Mein Partner sah mich ernst an, dann aber begrüßte er Miguel und Darian, die er nicht stehen lassen wollte. „Schön, dass du kommen konntest, Miguel – und mit Begleitung. Freut mich, dass es mit Ihnen aufwärtsgeht.“ Mit Ihnen aufwärtsgeht? Wie war das möglich? Carsten sprach, als ob er und Darian sich schon einmal begegnet waren. Ein Teil meiner lahmgelegten Synapsen begannen wieder zu funktionieren, sendeten Stromwellen durch einzelne Kanäle des Gehirns. Derweilen gaben sich Darian und Carsten freundlich die Hand. Sie lächelten, wenn auch auf Darians ein Schatten lag, wie ich sofort registrierte. Dennoch befremdete mich die vertraute Geste weiterhin. Ich schaute von Carsten zu meinem Bruder. Miguel nahm ich schon nicht mehr wahr. Aber Darian war sichtlich von meinem Erscheinen verwirrt, denn er blickte nervös in meine Richtung. Endlich löste sich meine Starre und eine Wut rückte an deren Stelle, wo vorher Unsicherheit und Verwirrung herrschten. Ich konnte dieser Szene nicht mehr beiwohnen, drehte mich um und rannte einfach drauf los, ließ die Drei geradewegs stehen. Da ich einen Rock anhatte, konnte ich nicht so schnell rennen, als wenn ich Hosen angehabt hätte, doch gab ich mein Bestes. Ich hob den Rock hoch und dann konnte ich meine Geschwindigkeit beschleunigen. Wohin ich lief, wusste ich nicht. Einfach nur das Weite suchen, das war mein Ziel. So viel Abstand wie möglich zu Darian schaffen. Ich hörte die Rufe von Carsten, die ich ignorierte. Rannte weiter, als ob der leibhaftige Teufel hinter mir her wäre, so schnell, bis mir die Lunge schmerzte, dann erst kam ich an einer abgesperrten Mauer zum Halten, um meine Lunge zu beruhigen, Luft zu holen und Sauerstoff zu tanken. Schmerz, Wut und Verzweiflung, die ganzen Jahre waren sie schön im Verborgenen geblieben, sie kamen wieder zurück. Und ich hatte gedacht, es wäre vorbei gewesen. Ich hatte mir wirklich etwas vorgemacht. In dem Sinne hatte ich Carsten und auch mich betrogen. An der Mauer angelehnt versuchte ich zu verstehen, was passiert war, dabei hörte ich Schritte. Carsten? Ich drehte mich um und blickte in die Augen von Darian. Der Zorn, die unbändige Wut auf ihn, sie kam unaufhaltsam und schwappte schier über. So laut, wie ich konnte, so böse, wie ich nur wirken konnte, schleuderte ich meinen Hass auf ihn: „Hau ab, lass mich in Ruhe.“ Ich war außer mir vor Zorn. „Ich hab nach dir gesucht, doch ich wusste nicht wo und wie ich dich finden konnte, dass du auf dieser Hochzeit sein würdest, hätte ich mir niemals träumen lassen?“ Seine Stimme klang ruhig, doch in seinem Gesicht spiegelten sich ebenfalls die Emotionen ab. Ich aber hörte in meinem Kopf nur einen Satz: „Du bist nur ein Loch.“ Schmerzlich wusste ich wieder, wie er mich genannt hatte. „Gesucht? Mich, das Loch etwa?“ „Wieso sagst du so etwas?“ Darian war sichtlich über meine Wortwahl schockiert, denn er sah mich erschrocken an. Doch war es mir egal, wie er sich fühlte, ich wollte ihn nicht schonen. „Wieso? Ich war doch nur das Loch? Das Arschloch. Löcher sucht man nicht, die stopft man nur, nicht wahr …“ „Jaden, hör auf.“ Die Stimme meines Bruders klang verletzt und beinahe weinerlich, doch ich sah und nahm in meiner Wut nichts davon auf. Ich nahm keine Rücksicht darauf. „Nein, werde ich nicht! Und du hörst auf, mich so zu nennen. Nenne mich nie mehr bei meinem Namen. Das hast du sonst nie.“ Mir kamen die Tränen. Verzweifelt versuchte ich, nicht vor Darian wie ein verheulter Trottel auszusehen, doch meine Wimperntusche hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie war nicht wasserfest und so verschwamm sie vor meinen Augen und ich sah nur noch einen Grauschleier vor mir. „Du bist … du warst es nie. Du bist doch mein Bruder …“, stammelte er, völlig entgeistert. „Was? Auf einmal? Dein Bruder, nein, der ist vor vier Jahren in den Bergen auf einer beschissenen Hütte gestorben, nachdem du ihn gevögelt hattest. Amen!“ Lass nicht zu, dass er dir wehtut. Ich rief es mir immer wieder ins Gedächtnis. Wo war Carsten, Carsten, mein Halt, mein Retter, mein Engel? Ich wollte an Darian vorbeigehen, wollte sein Gesicht nicht mehr sehen, wollte nicht zulassen, dass er mir nicht egal war, dass er so wunderschön aussah, dass es mich schier zerriss, doch er hielt mich auf. Er hatte mich am linken Arm gepackt. Ich drehte mich brüskiert um, auch wenn die Berührung mir fast alle Sinne raubte. „Lass los! Lass! Sofort! Los!“ Darian ließ mich augenblicklich los. Die Freiheit darüber war für mich genauso frustrierend, hätte ich ihn so gerne gespürt, doch wollte ich ihn auch demütigen. Hass und Liebe waren vereint und wollten sich an ihm rächen. Ich wollte Rache, wollte ihm so wehtun, so, wie er mir damals wehgetan hatte. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, verschmierte damit mein schönes Make-up total. „Was sagt denn deine Stefanie dazu? Bist ja sehr vertraut mit Miguel.“ Ob ich wollte oder nicht, meine scheiß Eifersucht, sie kam zu einem wirklich ungünstigen Zeitpunkt zu mir zurück. Ich hasste mich dafür, dass ich noch so viele Gefühle für ihn hatte, doch wollte ich sie nicht zulassen. Abstellen ging aber auch nicht. Nicht noch einmal, bitte, ich bin mit Carsten zusammen. „Sie weiß es.“ Sie wusste es? Was wusste sie? „Was weiß sie?“ „Sie weiß es eben. Du hast mich im Übrigen damals bestohlen.“ Er blieb außergewöhnlich ruhig, zu ruhig für meinen Geschmack. Was wurde hier eigentlich gespielt? „Das war für den Schmerz, Bruder.“ Ich spie die Worte wie Giftpfeile auf ihn ab, um ihn mitten ins Herz zu treffen. Er sollte genauso leiden wie ich. „Es tut mir …“ Ich schnitt ihm ins Wort: „Nein! Ich will es nicht hören! Dafür ist es zu spät!“ Ich ging einen Schritt zurück, ließ aber meinen Bruder nicht aus den Augen, der mir geknickt zusah, wie ich einen Fuß nach dem anderen zurücksetzte. Ich merkte, dass er mir nicht folgte. Gut so! Als ich mich umdrehen wollte, lief ich direkt in Carsten hinein. Er nahm mich sofort in den Arm, doch ich stieß ihn von mir. „Jaden, geht es dir gut?“ Carsten sah mich völlig perplex an. Hilflos glitten seine Hände an mir runter, als ich ihm kopfschüttelnd vermittelte, dass ich keine Berührungen wollte. „Jaden, es tut mir leid“, hörte ich meinen Bruder zwischendrin sagen, der nun an uns herangetreten war. „Halt einfach deine blöde Fresse, Bruder“, fauchte ich zurück. Carstens Augen wurden größer, doch schien er noch nicht ganz die Verbindung zwischen mir und Darian zu verstehen. „Was ist denn hier los?“ Doch dann ging ihm ein Licht auf. „Dein Bruder? Ich verstehe nicht so ganz …“ Mir selbst wurde zu spät bewusst, dass ich damit Carsten meinen Vergewaltiger präsentiert hatte. Ich dachte kurz nach. Dann entschied ich mich, Carsten alles zu sagen. Wenn auch nicht auf eine schöne Art und Weise. Ich war so wütend, gleichzeitig aber auch mit meinen Nerven völlig am Ende. „Ob es mir gut geht? Machst du Witze, Carsten? Ihm …“, ich deutete auf Darian, der mich sprachlos anschaute, “… habe ich all das zu verdanken. Ach, darf ich dir meinen beschissenen Bruder vorstellen: Das hier!, ist mein Bruder, Darian. Der Darian, der mir das alles angetan hat.“ Ich hatte auf mich gezeigt und stolzierte dann an Carsten vorbei, dabei rempelte ich ihn ausversehen an der Schulter an. Carsten blieb wie versteinert stehen. Wütend stampfte ich davon, ließ beide einfach zurück. Meine Gefühle fuhren wieder Achterbahn, die so schön seit drei Jahren geschlummert hatten. Und noch etwas ärgerte mich ungemein, ich hatte die gleichen Gefühle wie damals für diesen miesen Bastard. Das hatte Carsten nicht verdient. Nein, das hatte er wirklich nicht verdient. Ich durfte meine erneuten Gefühle für Darian nicht zulassen. Carsten war meine Zukunft. Ja, er war meine Zukunft und sollte es auch weiterhin bleiben.     ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 27: ------------ ~°~27~°~     Mein Gesicht war von der Schminke verschmiert und ich wusste, ich würde bei den Hochzeitsgästen einen erbärmlichen Eindruck hinterlassen. So wollte ich vom Rest nicht mehr gesehen werden und distanzierte mich von der Festlichkeit. Die Hochzeit war für mich gelaufen. Ich verabschiedete mich weder von dem Brautpaar noch von Freunden. Ob man meinen Abgang gemerkt hatte, war mir ziemlich egal. Die Hochzeitsgäste, die Party überhaupt ließ ich immer weiter hinter mir. Als ich weit genug weg war, blieb ich kurz stehen, sah mich um. Carsten war mir nicht gefolgt. Warum er mich einfach hatte gehen lassen, darüber zerbrach ich mir nicht einmal den Kopf. Es war mir egal. Ich wollte nur noch weg hier und setzte meinen Weg fort. Meine Schritte wurden wieder zügiger. Ich muss hier weg, dachte ich und nahm während des Laufens mein Handy aus meiner Rocktasche, behielt es aber nur in der Hand. Ich lief auf die Kirche zu, dann an ihr rechts vorbei, und die Baumallee entlang, bis ich völlig außer Atem an einer kleinen Ortschaft ankam. Erst dann blieb ich stehen und rief mir, als ich mich atemtechnisch beruhigt hatte, ein Taxi. Ich wartete etwas im Verborgenen auf das Auto. Als es ankam, fiel mir ein, dass ich kaum Bargeld dabei hatte, und fragte sofort den Fahrer, ob ich mit Kreditkarte zahlen könnte. Der nickte schließlich und ich stieg erleichtert ein. Endlich zu Hause angekommen war meine Geldkarte um 120 € leichter. Die Fahrt war sehr teuer gewesen, aber das spielte keine Rolle. Ich war zu Hause, alles andere war unwichtig. Basta hatte ich bewusst nicht vom Nachbarn abgeholt. Ich wollte nicht. Und schon gar nicht mit meinem verheulten Gesicht. Es war mir peinlich genug gewesen, als mich der Taxifahrer dreimal fragte, ob mit mir alles in Ordnung wäre. In dem desolaten Zustand, in dem ich mich befand, wollte ich keinesfalls bei unserem Nachbarn klingeln. Zudem war ich zu aufgewühlt, um Bastas Anwesenheit ertragen zu können. Mir tat der Hund leid, liebte ich ihn doch über alles. Doch heute konnte ich einfach nicht anders. Im Haus hatte ich bewusst kein Licht gemacht und ließ alles im Dunkeln. Es war zwar dämmrig, aber ich konnte noch genügend sehen, außerdem kannte ich alles im Schlaf auswendig. Das Mobiliar hinterließ Schatten, das Haus wirkte düster. Mein Blick fiel auf die Badezimmertür, die ich ansteuerte und mit einem Schwung aufstieß. Ich blieb mit meinen Augen an der Duschwand hängen, die im Schatten des Abends gut zu erkennen war. Wie ferngesteuert, stellte ich das Wasser an. Ich wollte meine Emotionen mit kaltem Wasser wegspülen. Dabei kreisten ständig meine Gedanken um meinen plötzlich aufgetauchten Bruder. Warum bist du aufgetaucht, was willst du von mir? Ich hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht, mich von meinen Klamotten, oder Schuhen zu befreien, als ich in die Dusche stieg und mich sofort die nasse Kälte umfing. Ich zitterte, fing laut zu weinen an und rutschte schließlich mit dem Rücken an den Fliesen entlang, bis ich unten am Duschboden ankam. Dort kauerte ich in sitzender Haltung, gab ein erbärmliches Bild ab. Mit beiden Armen umschlang ich meine Beine und bettete meinen Kopf darauf, während ich unaufhaltsam weiter weinte und Trauer und Kälte meinen Körper mitnahm. Das kalte Wasser prasselte fortwährend auf meinen Körper herab. Ich weiß nicht, wie lange ich so dagesessen hatte. Aber irgendwann waren meine Tränen versiegt. Ich lauschte dem Rauschen des Wasser, vernahm aber keine weiteren Geräusche. Carsten war noch immer nicht zurück. Zitternd wie Espenlaub und mit tauben Fingerspitzen hangelte ich nach meinem nassen Handy. Es funktionierte seltsamerweise, als ich es anmachte. Schnell stellte ich das Wasser ab. Ich holte meine Geldbörse heraus. Die hatte es schlimmer erwischt. Die wenigen Geldscheine pappten aneinander, das Leder war aufgeweicht. Einzig die Plastikkarten machten der Nässe nichts aus. Ich schmiss den Geldbeutel, so wie er war, aus der Dusche. Nass und schwer fiel er dumpf auf die Fliesen. Dann schaute ich erneut auf mein Handy, dass ich mit einem Handtuch trocken wischte. Keine Nachricht für mich – Nichts. Gewissensbisse, Schuldgefühle, sie stürmten auf mich ein und ließen mich nicht los. Die Selbstvorwürfe Carsten gegenüber erdrückten mich immens. Ich hätte ihn nicht so anfahren und vor allem nicht weglaufen dürfen. Nein, das war der absolut falsche Weg gewesen. Es war feige. Eine bittere Selbsterkenntnis, die leider nun zu spät kam. Ihn anrufen konnte ich aber auch nicht. Auf mich sauer, warf ich das Handy zum Geldbeutel, wo es scheppernd auf den Boden knallte. Ob es jetzt nun kaputt war, interessierte mich nicht. Indessen befreite ich mich von den schwer gewordenen, nassen Sachen und warf sie aus der Dusche. Traurig schaute ich auf den Boden, da wo meine Klamotten lagen. Mein schöner Rock. Ein schwarzes Bündel. Das war es dann mit meinen Lieblingsklamotten, sie waren ruiniert, das Leder war völlig aufgequollen! Vor Kälte zitternd und zähneklappernd stellte ich das Wasser auf warm. Zuerst kam kalt heraus, dann wurde es wärmer und hüllte mich angenehm ein. Dabei kamen Bilder von der Hütte in mein Gedächtnis. Sie kamen wie bei einer Diashow, einzeln eingeblendet, immer fortlaufend. Ich konnte sie nicht abstellen, so sehr ich es auch wollte, spulte der Film unaufhörlich weiter. Dabei sah ich nur den jetzigen Darian, nicht den von früher. Darian hatte so gut ausgesehen und ich war auf Miguel, den ich eigentlich mochte, total eifersüchtig. Es zerriss mir das Herz. Aber was war mit seiner Frau? War sie nicht auch eine Betrogene? Ich bekam Mitleid mit Stefanie. Waren sie verheiratet, hatten sie überhaupt geheiratet? Wie lange ging das schon, dass Darian einen Freund hatte? Auf all diese Fragen bekam ich keine Antwort. Wie auch. Was wusste ich schon von meinem Bruder, dessen Leben, wie meines, weiter gegangen war? Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, die in meinen Augen hingen. Mein Kopf war voller Gedanken. Vielleicht war Darian nur ein leichter Freund zu Miguel? Ich schüttelte den Kopf. Wem wollte ich etwas vormachen – mir etwa? Nein, Männerfreundschaften sahen anders aus. Man berührte sich anders, nicht so intim. Ich wusste den Unterschied. Verdammt, du siehst so gut aus, Darian! Dieser Gigolo! Mit seinen langen Haaren! Unverschämt! Ich wurde wieder wütend und hatte unbewusst meinen Mund geöffnet. Wasser lief hinein. Ich hustete, spuckte das Wasser wieder aus. Dann senkte ich den Kopf, lehnte mich an die Duschwand. Ich ließ den Wasserstrahl weiterhin auf mich niederprasseln. Meine Finger und Zehen waren bereits schrumpelig. Keine Ahnung, wie lange ich unter der Dusche gestanden hatte, hörte ich, trotz Wasserplätschern, wie unten die Haustür aufging und mit einem Knall in ihre Verankerung fiel. Ich zuckte zusammen. Hatte ich mir das Geräusch eingebildet? Rasch stellte ich das Wasser ab und lauschte. Ich wollte Gewissheit, nicht, dass ich mir was einbildete, war ich mit meinen Nerven nicht gerade in stabiler Verfassung. Nach kurzer Pause hörte ich deutlich Schritte, die näher kamen. Nein, ich hatte es mir nicht eingebildet, es waren eindeutige Schritte, die nach oben kamen. Carsten – er war zurück! Ich sah unter dem Türspalt den Schatten seiner Füße, die davor stehen geblieben waren. Den Atem anhaltend, machte ich mich schon auf alles gefasst. Doch es tat sich nichts. Keine Tür, die aufgemacht wurde, keine Worte, die an mich gerichtet wurden– Nichts! Der Schatten verschwand. Carsten war weitergegangen. Von schlechtem Gewissen geplagt, trocknete ich mich rasch ab und schlang nur mein Handtuch um meine Hüfte. So wie ich war, öffnete ich die Tür. Die Lichter im Flur trieben mir kurz das Wasser in die Augen, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Zielstrebig ging ich in unser Schlafzimmer, weil ich ihn dort vermutete. Dort angekommen war es hingegen dunkel, die Vorhänge zusätzlich zugezogen. Doch sah ich sofort die Silhouette von meinem Partner. Carsten stand in der Ecke, die Hände in der Hose vergraben, in geduckter Haltung. Kein gutes Zeichen. Schuldgefühle, Scham, alles kam nach oben. Was hatte ich angerichtet? Ich war nicht vernünftig geblieben, das wurde mir jetzt bewusst. Ich hatte Carsten einfach stehen gelassen und viele Fragen hatten sich bestimmt bei den Hochzeitsgästen angesammelt. „Carsten … es tut mir leid“, fing ich als Erster an. Mein Hals war dabei wie zugeschnürt. „Schon gut, wir reden morgen.“ Carsten klang müde, traurig, abgeschlagen, als ob er einen langen Arbeitstag hinter sich gebracht hätte. Schon gut?, dachte ich und war völlig verwirrt. „Ich hätte dir sagen sollen, wie mein Bruder heißt.“ Meine Stimme bebte. „Hätte das etwas geändert? Es gibt einige Menschen mit dem Namen Darian. Das Schlimme daran ist, dass ich diesen Menschen therapiert habe … weißt du auch, warum?“ Mir wich all meine Farbe aus dem Gesicht. Ich stand weiß wie eine Wand vor meinem Partner. Das Handtuch war mir von meiner Hüfte gerutscht. Ein Außenstehender hätte die Situation jetzt als erotisch sehen können, doch war sie es nicht. Nein, sie wirkte keinesfalls so. „Warum?“, hauchte ich, denn mehr an Stimme gab mein Körper nicht her. Carsten war immer noch nicht richtig zu erkennen, aber er schnaufte verächtlich. Ich sah die Körperhaltung, die ablehnend auf mich wirkte. Auch wenn es dunkel war. „Ich therapierte ihn, weil er in seinen eigenen Bruder verliebt ist. Und ich redete ihm diese Gefühle aus.“ Der Schlag ins Gesicht konnte nicht deutlicher sein. Ich tastete mich trunken und betäubt nach dem Lichtschalter, erfasste ihn und knipste nun das Licht an. Da drehte sich Carsten zu mir um. Sein Gesicht war geschwollen, schimmerte bläulich. Er hatte sich geprügelt – mit Darian.       ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 28: ------------ ~°~28~°~     Immer wieder schossen mir in Nanosekunden Carstens Worte ins Gedächtnis: „Ich therapierte ihn, weil er in seinen eigenen Bruder verliebt ist. Und ich redete ihm diese Gefühle aus.“ Aber schlimmer noch war die Tatsache, dass mein Bruder für mich Gefühle hegte. Gefühle, die er damals nicht hatte. Warum dann jetzt? Kann Darian wirklich Gefühle für mich haben? Es klang alles so unglaublich. Ich konnte es nicht fassen, nicht begreifen. Ebenso wenig der Umstand, dass Darian Carstens Patient war. Egal, wie ich es drehte und wendete, und ich mir sogar einredete, dass Carsten sich vielleicht einen Scherz mit mir erlaubte, wusste ich, dass dem nicht so war. Die großen Fragewörter bauten sich immer größer werdend in meinem Kopf auf und manifestierten sich zu einem Teil eines Ganzen: Wieso? Weshalb? Warum?, sie erschienen mir surreal. Ich kam mir wie in einer Quizshow vor, in der ich weder Publikum noch Kandidat sein durfte, sondern als Neutrum dastand. Schmerzlich gestand ich mir ein, dass Hamburg wohl nicht weit genug weg gewesen war, um meine Vergangenheit völlig vergessen zu können. Die Welt, sie war so verdammt klein, in der ich glaubte, mich von ihm losgelöst zu haben. Ich schob die Gedanken beiseite, wollte sie nicht an mich heranlassen, sondern den Schaden, den Carsten erlitten hatte, abchecken. Dass ich dabei nackt vor ihm stand, war für mich nicht wichtig. Ebenso wenig, dass mein Handtuch auf dem Boden lag und ich es eigentlich aufheben könnte. Ich fühlte noch nicht einmal mehr, ob mir kalt oder heiß war. Ein Albtraum war aufgebrochen. „Oh Gott, war er das?“, fragte ich mit zittriger Stimme, als ich endlich meine Sprache wiedergefunden hatte. In meinem Kopf herrschte ein Tornado. Carsten antwortete nicht, da frage ich weiter: „Hast du gewusst, dass er mein Bruder ist?“ Er sah mich nur an. Dann sah ich, wie er kaum sichtbar den Kopf schüttelte. Jeder weitere Satz, jede noch so aufkommende Frage, die sich in meinem Kopf bildete, blieben auf halber Strecke liegen. Warum antwortete er mir nicht? War er böse auf mich, war ich ihm böse? Die Lage zwischen uns hatte sich verkompliziert. Carstens Gesicht glich einer Maske. Er stand noch immer regungslos da, hatte sich keinen Zentimeter bewegt – genauso wie ich. Ich musste mich erst einmal von dem Schock erholen, was nur langsam vonstatten ging. Wieder sah ich in sein verunstaltetes Gesicht. Die Schuldgefühle nahmen überhand und meine Gesichtszüge wurden augenblicklich weicher. Carsten sah zwar schlimm aus, und doch liebte ich diesen Mann. Sollte ich ihm wirklich böse sein, für das, dass er einem Menschen verbotene Gefühle ausreden wollte? Er hatte nicht ahnen können, dass er meinen Bruder vor sich hatte. Niemals sah er das Bild, was ich immer noch vor ihm versteckt hielt. Darian und ich sahen uns auch nicht ähnlich, sodass Carsten hätte, Verdacht schöpfen können. Der Patient und der Therapeut. Welche Ironie. Was war mit Miguel? Hatte er davon gewusst? Hatte er die Rangelei mit angesehen? War er dazwischen geschritten, oder hatte er die beiden Kontrahenten gar trennen müssen? Was nach meinem Weggang geschah, konnte mir nur mein Partner sagen. Darian jedenfalls war das krasse Gegenteil von ruhig oder friedfertig. Also das eklatante Antonym von Miguel, der zwar aufbrausend sein konnte, aber keiner Fliege etwas zuleide tat. Waren deswegen die beiden zusammen? Weil sie so verschieden waren? War das der Grund dafür? Innerlich aufgewühlt sah ich Carsten stumm an, während meine Gedanken umherwirbelten. Die Zeit um uns herum stand still. Die Uhren, die man im ganzen Haus vor sich hin ticken hören konnte, sie interessierten in dem Moment nicht. Warum? Warum? Ich ballte kurz die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Auf meinen Handballen hatte ich von meinen Fingernägeln Sicheln hinterlassen. Ich sollte mich auf das Wesentliche konzentrieren. Hier ging es rein um Carsten und mich und sonst um niemanden. Dann redete Carsten endlich, sprach das an, wovor ich mich fürchtete: „Hast du immer noch Gefühle für ihn?“, rau und trocken klang seine Stimme und es lag so viel Kummer darin. „Ich werde ihn nicht wiedersehen, weder morgen noch zukünftig. Er ist kein Teil mehr in meinem Leben“, sagte ich mit fester Stimme, obwohl mein Herz blutete. Doch hatte ich mich entschieden, auch wenn ich Carsten nicht direkt eine Antwort gegeben hatte, dafür aber ihm klar machte, wie es weitergehen würde. Er war mein Leben, nicht Darian. Ich löste mich aus meiner Starre und ging einen Schritt auf meinen Partner zu. „Denn du bist mein Leben.“ Wieder machte ich ein Schritt, sah ihn dabei an. Mir zerriss es das Herz, als ich ihn so sah. Wollte ihn berühren, doch er ging einen Schritt zurück, wich mir aus, als ob er meine Berührung nicht ertragen konnte. „Bist du dir sicher?“, fragte er unsicher. „Warum fragst du?“ Dann wollte ich zu ihm, sein Gesicht berühren, unterließ es aber. „War er das wirklich, war er das alleine?“ Mein zuerst blutendes Herz wandelte sich um in ein zorniges, pflanzte sich wie ein Geschwür in meinen Magen und verursachte dort einen dumpfen Schmerz. „Er sieht schlimmer aus, glaub mir.“ Versuchte er mich jetzt zu trösten, oder zu schützen? „Ich denke, ich werde morgen so nicht arbeiten gehen können. Vielleicht sollte ich meinen Job ganz aufgeben.“ Wie konnte Carsten jetzt gerade an seine Arbeit denken? Wieso aufgeben? „Du hast dich nur gewehrt und warum aufgeben? So ein Blödsinn“, verteidigte ich ihn und seine Arbeit. „Nein, nicht gewehrt, ich hatte als Erster zugeschlagen. Ich wollte ihm wehtun. Oh ja, ich wollte ihn schlagen und tat es auch. Nur hat dein Bruder ziemlich Kraft, ich hatte ihn unterschätzt“, gab Carsten kleinlaut von sich. Er wirkte nun verunsichert. Ja, das hat er, dachte ich bitter. In meinem Kopf spielte sich ein Kampfszenario ab, in dem Darian besser davon kam als Carsten, obwohl er von sich das Gegenteil behauptet hatte. Darian war immer der Bessere und Stärkere. Immer! Daher glaubte ich die Version meines Partners nicht so ganz. Ich dachte an die beiden Ohrfeigen, die mir Darian verpasst hatte, und schlüpfte in die Empathenrolle. Ich fühlte nun ebenso Schmerzen, fasste mir an die Wange und glaubte, Darians Ohrfeige wieder zu fühlen. „Oh nein. Du wirst deinen Job nicht aufgeben und es wird keinen Darian geben.“ Ich war aufgebracht und musste mich beruhigen. Dann bildete sich eine Idee in meinem Kopf, auch wenn ich davor Angst hatte. „Du hast doch bestimmt seine Nummer, als sein Therapeut musst du sie haben?“ „Ja, aber ...“ Er schüttelte etwas heftiger den Kopf, was bizarr aussah, aber nicht komisch war. „Jaden, ich darf nicht.“ „Oh doch, du darfst. Du bist sein Therapeut.“ Das Knurren in meiner Tonlage konnte und wollte ich nicht abstellen. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich ihn unter diesen Umständen weiter therapiere? Er hatte noch nicht mal ...“ Er brach ab. „Hatte was?“, fragte ich nach. „Carsten, hatte was?“, behaarte ich darauf, mir zu sagen, was zu sagen war. Ja, ich hatte gelernt, mich zu wehren. Denn dank ihm, meinem Engel, lernte ich mich selbst wieder zu mögen, zu akzeptieren und vor allem zu respektieren. Carsten ging nicht auf meine Frage ein. Daher machte ich weiter. „Gib mir seine Nummer. Bitte! Ich rufe morgen bei ihm an. Es ist unsere einzige Chance, auch meine, dass ich das überstehe. Ich will dich. Nur dich. Mag sein, dass ich niemals über ihn hinwegkommen werde, er weiter ein Teil von meiner Vergangenheit bleiben wird, aber ich werde damit leben können. Denn du bist nun meine Zukunft, mein Leben. Der Mann, mit dem ich zusammenleben und lieben möchte.“ Möglicherweise war es mein Gesichtsausdruck, in den ich all meine Liebe legte oder die Betonung meiner Worte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich wirklich alles genauso meinte, wie ich es sagte und absolut überzeugt davon war. Ja, ich liebte meinen Bruder und das konnte ich nicht abstellen. Und etwas vormachen wollte ich ebenfalls nicht. Carsten war aber jetzt mein Leben. Ich hatte damals meine Eltern, meine Freundin Susan und vor allem ihn zurückgelassen. Den Schritt wollte ich nicht mehr rückgängig machen. Es sollte alles so bleiben, wie es war. Mein Leben war gefestigt und sollte nicht mehr aus dem Ruder laufen. Carsten stand nun neben dem Bett und fing an, zu weinen. Seine Hände waren am Bettpfosten abgestützt. So stand er da, ließ seinen Tränen freien Lauf. Sein leicht angeschwollenes Gesicht spannte sich, als er es verzogen hatte. Die Schmerzen, die er hatte, fühlte auch ich. Eigentlich hätte er sein Gesicht kühlen müssen, einen Eisbeutel drauflegen. Aber auch ich unternahm nichts dagegen. Es gab in dem Falle Wichtigeres. Ich hob endlich mein Handtuch vom Boden auf und schlang es um die Hüfte. Eine völlig unbedeutende Geste, etwas, womit man eine Zeit überbrücken kann, in der ich nicht wusste, was ich machen sollte. „Jaden.“ Seine Stimme klang rau. „Ja?“ Ich sah ihn nur an. Keine Ahnung, wer von uns zuerst den Schritt unternommen hatte. Es ging alles sehr schnell, da lagen wir uns in den Armen und hielten uns aneinander geklammert, wie zwei Ertrinkende. Doch als Carsten leise und gequält in meiner Umarmung stöhnte, wurde mein Griff lockerer. „Verzeihung“, entschuldigte ich mich dafür, dass ich ihm Schmerzen verursachte, was ich nicht wollte. Ich wollte ihm nur Gutes tun. „Nein, alles in Ordnung, hör bitte nicht auf. Bitte! Mach weiter.“ Vorsichtig küsste ich seine Augen, die Wangen. Auch wenn ich vorsichtig war, spürte ich, dass ich ihm damit wehtat. Er versuchte, es vor mir zu verbergen, doch schaffte er es nicht. „Soll ich aufhören?“, fragte ich besorgt und hatte mich leicht zurückgelehnt. „Du müsstest verarztet werden!“ „Es ist nichts gebrochen, nur Blutergüsse.“ „Bist du sicher?“ „Nein. Ich sag doch: Hör nicht auf! Jeden Schmerz, egal wie schlimm, werde ich ertragen. Du hast mir das schönste Geschenk gemacht – dich.“ Carsten versuchte sich in einem Lächeln, das eher aussah, als ob er beim Zahnarzt die Betäubung intus hatte. Und gerade in diesem Moment liebte ich ihn noch mehr. Und das sagte ich auch, so zärtlich, wie ich nur konnte: „Ich liebe dich.“ In dieser Nacht liebten wir uns, auch wenn Carsten eingeschränkt war. Er hatte darauf bestanden, wollte mich fühlen, schmecken und einfach geliebt werden. Ich konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen, denn ich wollte ihn genauso, wie er mich wollte. Gerade jetzt brauchte ich ihn, mehr denn je. Doch musste ich vorsichtig mit meinem Verlangen nach seinem Körper sein. Die Küsse wurden federleicht auf seinem Körper platziert, beinahe ein sanftes Streicheln, und doch bebte er unter meiner Führung und heizte mich dadurch an. Schnell war ich erregt und wollte ihn nehmen. Ich bereitete ihn vorsichtig vor, versuchte jeden Schmerz zu vermeiden. Verteilte das Gleitgel daher großzügig. Als ich in ihn eindrang, war es für mich befreiend und merkte, wie auch er von der Lust überspült wurde. Nach dem ersten Höhepunkt, den wir beide fast gleichzeitig hatten, wechselten wir die Positionen und er machte dasselbe mit mir, als wir wieder beide so weit waren. Dann drang er in mich ein. Ein gutes Gefühl, ihn zu spüren und ich schnurrte wohlig unter ihm, weil er mir das Gefühl gab, mich geborgen zu fühlen. Es war ein Geben und Nehmen in diesen wenigen Stunden, bevor es hell wurde. Wir verschliefen den Vormittag. Ich kümmerte mich um seine Blessuren, trug eine Salbe gegen Hämatome auf und Carsten sagte die Termine für die nächsten Tage ab. Die Blutergüsse an seinen Rippen und Armen konnte man mit Kleidung verdecken. So sah er nur im Gesicht schlimm aus, das nun in allen Farben wie ein Regenbogen schimmerte. Wir frühstückten ausgiebig auf der Terrasse, für den Wintergarten war es zu tropisch. Die Mittagssonne war kräftig und hatte unseren Platz schnell aufgeheizt, sodass wir beide einen Sonnenschirm aufstellten, um unter dem Schatten fertig zu frühstücken und meine zweite Tasse Kaffee zu trinken – ohne Milch. Dies hatte ich mir schnell wieder abgewöhnt, als mein Gewicht einigermaßen stimmte. Lange hielt es uns aber nicht draußen. Und ich räumte alleine das Geschirr rein, und den übrig gebliebenen Wurst- und Käseaufschnitt. Carsten hatte mir helfen wollen, aber ich ließ ihn nicht und hatte ihm Schonung verordnet. In der Küche wickelte ich alles in Folie und stellte es in den Kühlschrank, während Carsten im Wohnzimmer saß und auf mich wartete. Ich schleppte ein Problem mit mir herum – Darian! Tief atmete ich durch, als die Küche aufgeräumt war und ich mich ins Wohnzimmer begab. Carsten lächelte mich an und ich lächelte zurück, verstand aber nicht, was er wollte, als er aufstand. „Bleib ...“ Er winkte ab und kam zu mir. Fragend sah ich ihn an. „Nur für dich“, meinte er zärtlich und schritt auf das Piano zu. Nur für mich? Dann begriff ich, was er vorhatte und lächelte, als er sich auf den Klavierhocker setzte, die Klappe öffnete und mir dann Stücke von Bach vorspielte, während ich genüsslich auf dem Sofa Platz nahm und ihn liebevoll betrachtete, wie er mehr und mehr mit seinen Stücken verschmolz. Seine Gesichtszüge sahen dabei entspannt aus. Auch wenn er wirklich schlimm aussah, lag eine gewisse Zufriedenheit in den Zügen. Andächtig lauschte ich verträumt jedem seiner hervorgezauberten Klängen, war entzückt darüber, dass ich im Gegensatz zu früher so viel für klassische Musik übrig hatte. Carsten konnte fantastisch spielen und seine Hände waren für mich purer Zauber, alleine nur der Gedanke, wie sie mich berührten, streichelten. Einfach alles an ihm war von heilender Wirkung. Ein dunkler Schatten huschte in meine Gedanken, denn Darians Anruf stand mir noch bevor. Ich hatte letztendlich Carsten doch noch dazu bringen können, mir endlich die Telefonnummer zu geben, wenn auch mit reichlichem Widerstand von seiner Seite, hatte er mir unter meinen bittenden Blicken nachgegeben. Die letzten Töne waren verklungen, und Carsten stand auf und kam zu mir, setzte sich neben mich. Lange sahen wir uns einfach schweigend in die Augen. Eine stille Übereinkunft fand zwischen uns statt. Vorsichtig nahm ich sein Gesicht zwischen meine Hände. „Ich rufe ihn jetzt an.“     ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 29: ------------ ~°~29~°~     Mich überrollte der Zorn von Neuem, als ich in das unschuldig aussehende Gesicht Carstens blickte, in dem Angst und Sorge lagen. Seine Wangen fühlten sich zwischen meinen Händen heiß an. Und trotz, dass er mich mit seinen Konzertklängen ein wenig hatte vergessen lassen können, wurde ich auch zunehmend nervöser. Nur nicht zurückziehen, dachte ich, stand das Darian-Problem noch im Weg. Sanft gab ich ihm einen Kuss auf die Lippen, erhob mich vom Platz und ging ans Telefon. Dabei atmete ich tief durch, holte den Zettel hervor, wo Darians Nummer draufstand und nahm den Hörer an mich. Mein Partner stand hinter mir. Er wollte mich unterstützen, hier bleiben, dennoch wollte ich ihn nach draußen schicken. Ich musste da alleine durch. „Jaden, du musst das nicht machen.“ Carsten war sich nicht schlüssig, mich wirklich alleine zu lassen. „Schatz, doch ich muss“, zwinkerte ich ihm aufmunternd zu, als er mich traurig ansah. „Ich schaff das“, sagte ich mit Nachdruck und versuchte mich in einem Lächeln. Doch machte ich mir nichts vor, einfach würde das Gespräch nicht für mich werden. Wie es in mir drinnen aussah, brauchte ich nicht groß an den Tag legen. Vielleicht hätte Carstens Anwesenheit mich ruhiger werden lassen. Und dennoch … Es war für mich wichtig, es alleine zu bewältigen. Ein weiterer Schritt in die Unabhängigkeit. Carsten hatte sich zurückgezogen, und war in mein ehemaliges Zimmer hinaufgegangen, um sich abzulenken. Basta, den ich nach dem Frühstück vom Nachbarn abgeholt hatte, lag zu meinen Füßen, und sah zu mir auf, als ich auf dem Stuhl Platz genommen hatte. Ich sah ihm liebevoll in die Augen, streichelte kurz über sein weiches, dichtes Fell. Dabei legte der Hund zufrieden seinen Kopf auf seine Vorderpfoten ab, ließ die Streicheleinheiten wohlwollend über sich ergehen. Ich atmete nochmals tief durch, dann wählte ich die Nummer. Das bekannte Freizeichen ... Dreimal tutete es, dann nahm jemand ab. Der Gesprächsteilnehmer hatte sich zwar nicht mit Namen gemeldet, sondern sich nur mit einem: „Ja“ zu erkennen gegeben, doch erkannte ich sofort die Stimme meines Bruders. Einerseits war ich erleichtert, ihn sofort dran zu haben, andererseits, wenn keiner dran gegangen wäre … Doch war es immer noch besser, als wenn es Miguel gewesen wäre, dann hätte ich mir schnell etwas einfallen lassen müssen, warum ich meinen Bruder anrief. Wie viel Miguel wusste und wie er auf die Rangelei überhaupt reagiert hatte, konnte ich nur erahnen. Es war klar, dass er sich dann auf die Seite meines Bruders geschlagen hätte. Da konnte ich ihm nicht böse sein, würde jeder machen. Aber nun war die Situation anders, daher ging ich sofort in die Offensive, ließ Darian keinerlei Chancen, sich zu artikulieren. „Verschwinde aus meinem Leben, verschwinde auch aus Carstens Leben. Such dir verdammt noch mal einen anderen Therapeuten, denn das ist meiner und ich liebe ihn …“, sprach ich mit fester Stimme, die laut, fast schon brüllend klang. Ich hatte mich weder zu erkennen gegeben, noch vorgestellt, aber das brauchte ich nicht, denn die erschrockene Stimme von Darian war deutlich zu hören. „Bist du das, Jaden?“ „Ja.“ Mehr sagte ich nicht. Dass ich aufgebracht und harsch am Telefon reagierte, musste sein, sonst hätte ich es nicht gepackt. Mir fielen sofort seine Gemeinheiten ein. Besonders ein Wort. Doch da schaltete sich mein Verstand dazu und hielt die unsteten Gedanken zurück. Die, die mich früher verzweifeln ließen. Nein, sagte ich zu mir, lass sie nicht an dich ran. Mein Herz aber zitterte, überschlug sich, alleine durch seine Stimme und der Gedanke, wie er mittlerweile aussah, half nicht wirklich, ihn zu hassen. Mir war hundeelend, aber die Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte, sprudelten aus mir heraus. „Du kannst froh sein, dass ich dich nicht anzeigen werde, dafür, dass du meinen Lebensgefährten verprügelt hast.“ „Er hat angefangen.“ Hatte Darian noch alle Tassen im Schrank? „Komm mir nicht damit. Und vor allem komme Carsten niemals mehr zu nahe. Außerdem will ich dich nicht mehr wiedersehen ...“ Alles, was ich zurechtgelegt hatte, hatte ich hervorbringen können. Doch emotional wackelte ich schwer. Die Tränen standen mir in den Augen, ich konnte sie kaum zurückhalten, aber das sah man Gott sei Dank durch das Telefon nicht. Carsten war mittlerweile doch dazugekommen. Ich hatte seine Schritte gehört. Er stand nun unweit hinter mir, spürte seinen Atem im Nacken. Nein, jetzt würde ich ihn nicht wegschicken wollen, das Timing war hervorragend; ich war dankbar, dass er sich nicht daran gehalten hatte – ich brauchte ihn. Daher griff ich nach seiner Hand, die er mir sofort hingestreckt hatte, und drückte sie kurz. „Verschwinde von hier!“, klang ich auch mutiger. „Du bedeutest mir nichts mehr.“ Darian wollte daraufhin etwas erwidern. „Jaden ... bi …“ Ich hatte ihn nicht mehr zu Wort kommen lassen, im Gegenteil, und drückte das Gespräch einfach weg. Doch war mir dieser Schritt nicht leicht gefallen. Nein, das war es mit Sicherheit nicht gewesen. Für mich war alles gesagt und ich hoffte, dass er Ruhe gab. Zittrig und mit schweißnasser Handinnenfläche legte ich das Telefon vor mir auf den Tisch und stützte meinen Kopf auf meine Hände. Ich war innerlich zerrissen. Dann sah ich zu Basta. „Es war die richtige Entscheidung, nicht wahr?“ Klar konnte mir der Hund nicht mit Worten antworten, doch tat er es auf seine Hundeweise, die einfach nur allerliebst war. Er bellte – zweimal. Die andere Antwort hingegen kam mental von meinem Partner, der von hinten seine Arme um mich schlang und ich gegen seinen Körper gedrückt wurde. Ich spürte seinen Atem, seine Wärme, fühlte Nässe. Er weinte? Nein, ich glaube, ich weinte – oder wir beide? Ich stand auf und drehte mich zu ihm um. Wir hielten uns stumm aneinander geklammert und weinten zusammen. Als wir uns beruhigt hatten, fuhr ich ihn endlich zu einem Arzt. Seinem Hausarzt wohl gesagt, auch wenn Carsten wie immer abwinkte, hatte ich darauf bestanden. Außer ein paar Blutergüssen im Gesicht, an den Armen und Rippen war nichts Schlimmeres passiert, wie uns der Hausarzt dann mitteilte. Trotzdem, um ganz sicher zu sein, hatte der Arzt ihn vorsorglich mit einer Überweisung versehen und ich fackelte nicht lange, als ein Gegenprotest kam. Ich wusste gar nicht, dass Carsten eine Ärztephobie hatte. Im Auto angekommen versuchte er, mich vom Gegenteil zu überzeugen. „Lass uns nach Hause gehen.“ „Oh nein, wir fahren jetzt zum Spezialisten.“ „So hartnäckig kenne ich dich gar nicht.“ „Das habe ich von Ihnen, Herr Engel.“ Ich startete den Wagen ohne weitere Gegenwehr und wir fuhren ohne Termin in die Unfallklinik Hamburg. Nach einer Stunde Wartezeit kamen wir endlich dran. Wie auch bei seinem Hausarzt zuvor stellte man ihm dort Fragen, wie er sich die Verletzungen zugezogen hatte. Carsten war ehrlich, auch wenn er sich schämte, dass er sich geprügelt hatte. Ein Streit auf einer Hochzeit, die dann ausuferte, war seine Begründung. Sie war nicht mal gelogen. Carsten wurde geröntgt, gründlich untersucht und ich wurde unruhig, weil er beim Abtasten seiner Verletzungen vor Schmerzen stöhnte. Hatte sich der Hausarzt doch geirrt? Aber auch dort beruhigte man uns, vor allem mich, weil ich wie ein Häufchen Elend geduldig neben Carsten sitzend wartete. Ich hatte mit in den Behandlungsraum gedurft. Anders hätte ich es auch nicht ausgehalten. Wie immer sahen Hämatome schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit waren. Die hiesige Arzthelferin trug eine stärkere Salbe auf, als die, die wir hatten, und gab uns dann ein Rezept mit. Auf dem Rückweg holten wir alles in der Apotheke, kurz bevor sie schloss. Wir hatten noch Glück gehabt. Den ganzen Rückweg über redeten wir kein Wort. Carsten sah aus dem Fenster. Die Schweigsamkeit hatte uns eingeholt, während ich mich auf die Straße vor mir konzentrierte. Ich fuhr nicht schnell, aber auch kein Schneckentempo. Jeder hing seinen Gedanken hinterher und Carsten sah sehr erschöpft aus. Ich drückte kurz seine Hand, bevor ich in den dritten Gang herunter schaltete. Wir waren fast zu Hause und daher hatte ich die Geschwindigkeit gedrosselt. Als ich in unsere Einfahrt fuhr, trat ich unerwartet auf die Bremse. Oh mein Gott, bitte nicht! Carsten hatte kurz die Augen geschlossen gehabt und sah mich nun fragend an. „Jaden, warum hältst du so abrupt und warum fährst du nicht in die Garage?“ Mir wurde leicht übel und ich konnte nicht antworten. Daher zeigte ich nur in eine Richtung. Carsten folgte meinem Blick und stieß scharf die Luft aus. Unweit sahen wir eine Gestalt auf der Treppe sitzen, die sich dann erhob, als wir entdeckt wurden. „Darian?“, flüsterte ich, doch hatte es Carsten gehört. „Was will der hier?“, fragte er mehr zu sich als zu mir und klang nicht erfreut. Nein, er hörte sich sauer an und hatte Mühe, sich zu beherrschen, was er dann auch schaffte – im Gegensatz zu mir. Das kann doch nicht wahr sein. Was will er hier? Ärger machen? Meine Finger hatten sich automatisch verkrampft um das Lenkrad geschlossen. Ich atmete hektisch ein und aus, musste mich selbst wieder fangen. Mein Partner, der besorgt zu mir sah, versuchte beruhigend über meinen rechten Arm zu streicheln, wollte mir helfen, dabei brauchte er mehr Hilfe als ich. Doch war ich viel zu empfindlich, um seine Berührungen zu ertragen. Nicht vor den Augen von Darian. Nein, bitte nicht! War ich denn am Telefon nicht deutlich genug gewesen? Darian stand noch immer auf der Treppe. Noch nicht ruhiger geworden, nahm ich trotzdem meinen Mut zusammen und stieg aus, knallte dabei die Wagentür heftig hinter mir zu, sodass ich selbst leicht zusammenzuckte. Dann schritt ich, ohne zu zögern auf meinen Bruder zu. Ich spürte, dass mir Carsten folgte, auch wenn er die Autotür nicht so laut zugemacht hatte. Trotzdem konnte ich fühlen, dass nicht nur ich geladen war. Als ich mir Darian betrachtete, schnaufte ich verächtlich. Das hatte seinen Grund. Ich sah, dass er fast nichts an Blessuren abbekommen hatte. Nicht einmal ein blaues Auge hatte er. Außer einer kleinen Schramme an der rechten Wange und einem kleinen Pflaster auf der linken Schläfe war nichts zu sehen. Wie sein Körper aussah, wusste ich nicht. Doch wenn ich Carsten dagegen hielt, der in allen Farben schimmerte und wirklich mitgenommen aussah, war das hier ein Witz … Also hatte ich recht behalten. Carsten hatte weitaus größere Prügel kassiert. Darians Haare waren wie gestern zusammengebunden und er sah in seiner Lederkluft umwerfend aus. Meine Gefühle spielten Achterbahn und mein Zorn wich. Lederkluft? Alles deutete daraufhin, als ob er mit einem Motorrad oder Ähnlichem gekommen war. Einen Motorradhelm hatte er allerdings nicht in seiner Hand, wie ich dann feststellte. Daher drehte ich mich um, sah unweit eine schwere Maschine vor unserem Haus stehen und wunderte mich nur noch. Ein schwarzer Motorradhelm zierte den Sitz. War das seiner? Seit wann fuhr mein Bruder so etwas. Du hast ihn so lange nicht mehr gesehen … „Was willst du hier?“, schnauzte ich ihn künstlich an, in mir zersprang alles. Darian sah mich nur intensiv an. Wie konnte er mich nur so ansehen, schuldbewusst mit seinen schönen, grünen Augen? „Gehen Sie bitte von meinem Grundstück runter, sonst hole ich die Polizei“, mischte sich nun Carsten mit ein. „Ich möchte nur reden.“ Darian sprach ruhig, doch gelassen sah für mich anders aus. Seine Hände waren unruhig, sein Blick hatte sich von mir abgewandt, er sah aber nicht zu Carsten, sondern er starrte auf den Boden vor sich. Hatte er Gewissensbisse? Ich betrachtete verstohlen beide Männer. Jeder für sich war für mich was ganz Besonderes. Mein Herz raste nur bei dem Anblick, der sich mir bot. Ich stürzte abermals in ein völliges Gefühlschaos und das wollte ich nicht. Darian musste verschwinden! Gerade als ich ihm das sagen wollte, kam Carsten mir zuvor, doch anders als erwartet. „Wir haben alles besprochen“, sagte er. Ich drehte mich zu Carsten, der nun meinen Bruder sehr zornig ansah. Auch Darians Gesicht hatte sich verfinstert. „Ich wusste nicht, dass mein Bruder und du zusammen seid“, sprach er nun Carsten an – im vertrauten Ton. Noch redete er ruhig. Noch! Was sich aber dann schlagartig änderte. Er wurde lauter. „Ist es nicht seltsam, dass ausgerechnet du mir geraten hattest … meinen Bruder zu vergessen. Gerade du, der über meine Gefühle Bescheid weiß?“ Gefühle? Darian sprach in Rätseln und Carsten wurde neben mir unruhig. „Das tut nichts zur Sache. Ich kann nicht weiter dein Therapeut sein.“ Carsten war nun auch zum Du übergegangen. „Er hat ein stabiles Zuhause und er hat mich, hat Freunde.“ „Er hat aber noch eine Familie.“ Ein Schmerz brach in mir auf. „Meinst du meinen Vater, der so stolz auf mich ist?“, schleuderte ich die Worte zu Darian. Die Erinnerung an meine Familie schmerzte. Dass ich sie enttäuscht hatte – noch mehr. Ich konnte nicht anders, als mir einen Schutzschild um mich herum aufzubauen, indem ich mich an Carsten klammerte, der mein Unbehagen spürte. „Darian, geh bitte und lass mich in Ruhe.“ Mir war elendig zumute. „Ich hab deinen Bruder in einem schlimmen Zustand gefunden …“, fing Carsten an, doch ich hielt ihn rechtzeitig auf, noch mehr zu sagen. „Nicht, Carsten, bitte!“ Darians Gesicht war nun vor Zorn gerötet und ich war mir sicher, dass das nicht nur von dem warmen Wetter her stammte. „In was für einem Zustand? Armseliges Früchtchen, den man gleich ins Bett schleifen kann, weil er so zart aussieht, etwa?“, giftete Darian meinen Partner an. Armseliges Früchtchen? Wie nett, dass du mich mal nicht als Loch bezeichnet hast. Mich schmerzte auch dieser Ausdruck und ich brauchte den Halt von Carsten. Den er mir auch gab, in dem er mich beschützend in den Arm nahm, bevor er sich weiter mit meinem Bruder anlegte. „Nein, bestimmt nicht. Er wollte sich auf einer Brücke ...“ Erneut schritt ich dazwischen. „Stopp, ich will nichts mehr davon hören. Carsten bitte! Ich will nicht mehr darüber reden. Es geht zudem Darian nichts an.“ Fest sah ich ihm dabei in die Augen, bis er zustimmte. Er nickte – zögerlich. Um keinen Preis wollte ich Darians Mitleid. Niemals sollte er erfahren, dass ich mich wegen ihm umbringen wollte. Nein, das durfte er niemals erfahren. „Was geht mich nichts an?“, blaffte inzwischen mein Bruder nun mich an. Seine Augen blitzten zornig auf, was mich wiederum sofort an den alten Darian erinnerte. Der, der ständig das Sagen hatte, und es versetzte mir einen Stich. Hatte ich wirklich gedacht, er hätte sich geändert? „Jaden hat recht. Geh bitte!“ Carsten hatte mich losgelassen und war nun näher an Darian herangetreten. Baute sich vor ihm auf, doch gegen Darian sah Carsten nicht stark genug aus. „Er ist mein Bruder. Ich habe ihn schon so lange gesucht.“ Der Zorn wich wieder einer Verletzbarkeit, die mich irritierte. Er hatte mich gesucht? Ich geriet ins Wanken, sah nur die beiden Kontrahenten. Was war mit Darian los? Was war überhaupt hier los? Trotzdem, mein Bruder musste gehen. Ich hatte jetzt ein Leben, und zwar ein sehr gutes. Die Lippen bebten, mein Inneres zerriss. Ich wurde in zwei Hälften gespalten. Hilfeflehend sah ich zu Carsten, der sofort meinen Blick erwiderte. Ich spürte die warmen blauen Augen, die mich mitfühlend ansahen, die mir Halt gaben. In dem Moment war die Entscheidung gefallen und ich tat das einzig Richtige: Ich flüchtete mich in die Arme meines Engels – meines Retters. Carsten hielt mich eng an sich gedrückt und schlüpfte in die Beschützerrolle. Er tut dir gut. Du liebst beide, aber er ist der Richtige. Ich wusste in diesem Augenblick, dass ich beide gleichstark liebte und dennoch konnte es nur einen geben. Carsten nahm mir meine Entscheidung ab und ich war dankbar dafür. „Geh, und lass uns in Ruhe. Bitte! Lass Jaden für immer zufrieden. Wie du sehen kannst, lieben wir uns.“ Dann drückte mir mein Partner einen Kuss auf die Lippen, forderte so seinen Platz bei mir ein, und das vor Darians Augen. Auch wenn es der richtige Weg war, war mir das nicht angenehm, so vor meinem Bruder, und doch erwiderte ich Carstens Kuss mit all meiner Liebe. Denn die hatte ich – für beide. Als wir unseren Kuss lösten, schien der Plan aufgegangen zu sein, denn Darian sah uns nur noch enttäuscht an, wie wir dastanden, weiterhin eng umschlungen. Ich war kaum noch in der Lage, meine Tränen zurückzuhalten, als Darian sich mit einem kurzen, knappen Nicken und ohne ein weiteres Wort umdrehte und das Grundstück verließ. Ich brachte es nicht fertig, meinen Kopf zu drehen und ihm nachzuschauen, doch ein Teil meines Herzens ging mit ihm. Lebe wohl, Bruder! Ich hörte, wie ein Motor gestartet wurde. Es war tatsächlich sein Motorrad gewesen, welches vor unserem Grundstück gestanden hatte, und man nur noch die leisen Wegfahrgeräusche hörte, bis sie komplett verschwunden waren. Carsten hielt mich weiterhin, war aber ebenso unruhig wie ich. Ich sah zu ihm auf. Mein Blick war tränenverschleiert. „Danke.“ „Wofür? Nein, ich danke dir. Komm, ich glaube, wir beide können eine Tasse Baldriantee gut gebrauchen“, sprach er einfühlsam und hatte mir meine Tränen für meinen Bruder nicht übel genommen, die weiterhin geflossen waren. Dafür küsste ich ihn, dieses Mal war es mir nicht mehr unangenehm. Dieses Mal dankte ich es ihm von ganzem Herzen. Wir gingen ins Haus, ließen den Wagen einfach vor der Einfahrt stehen. Basta begrüßte uns schwanzwedelnd, als wir die Haustür öffneten und eintraten. Doch niemals würde ich Carsten sagen können, dass an dem Abend, ein Teil von mir mit Darian mitgegangen war, sich mit aufs Motorrad gesetzt hatte und zusammen davongefahren war.   ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 30: ------------ ~°~30~°~     Carsten war in der Tat in seinen Beruf verschossen. Die Zeit verstrich, dümpelte, wie ich fand, vor sich hin und nach einer halben Woche hatte er die Praxis dann doch wieder eröffnet, was ich mit einem Kopfschütteln und missmutigem Brummen quittierte. Deutlich machte ich ihm klar, dass mir das, in seinem Zustand überhaupt arbeiten zu wollen, deutlich missfiel. „Lass mich doch“, war daraufhin seine schroffe Antwort, als ich ihm mit einer weiteren Deutlichkeit und Schärfe sagte, wie ich darüber dachte. Letztendlich gewann er mit seinem Hundeblick, auch wenn der von sämtlichen, schillernden Farben eines Regenbogens umrahmt war. Man hätte mit diesem Gesichtsausdruck selbst Eisen zum Schmelzen bringen können. Im Endeffekt hatte ich seinen Wunsch respektiert. Was man nicht alles für die Liebe tat und ich liebte diesen Mann wirklich sehr. Trotzdem, auch wenn mein Leben für mich perfekt schien, hatte ich noch mit mir zu kämpfen. Nicht nur mit der Tatsache der zweiten Konfrontation meines Bruders, der vor ein paar Tagen vor unserem Haus einfach aufgekreuzt war, nein, auch mit dem Bild, das ich von ihm hatte, was sich unaufhaltsam in meinem Gedächtnis eingebrannt hatte – Darian, in seiner Motorradkluft und unglaublich gut aussehend. Zudem stand ihm das Älterwerden. Die Vorstellung, wie er auf seinem Motorrad zu uns gefahren war, seine sehnigen Beine, die schlanke Gestalt und doch nicht dürr, wie er die Maschine steuerte, ließen mich schier verzweifeln. Still weinte ich jedes Mal in mich rein, wenn ich die Bilder in mein Gedächtnis rief! Aber es war zu spät. Warum stand eigentlich meine Gefühlswelt überhaupt auf dem Kopf, wenn ich doch genau wusste, dass ich mich richtig entschieden hatte. Ich habe das Richtige getan, oder nicht? Verdammt. Wie schon so oft musste ich deswegen weinen, wenn ich mir diese Frage stellte und niemals kam darauf eine Antwort, noch nicht einmal von meinem Verstand … Carsten spürte deutlich meine innerliche Zerrissenheit, auch wenn ich es vor ihm verbarg, so konnte ich nicht alles verstecken, dazu war er zu feinfühlig, hatte eine Antenne dafür. Doch darüber reden wollte ich nicht, als er mehrere Versuche startete, mich aus meiner Reserve zu locken. Er wusste, warum ich so war. Wir ließen schließlich das Thema Darian komplett aus. Für mich gab es nichts mehr zu bereden und ich nahm mir vor, meine Gedanken noch mehr vor ihm zu verbergen. Ich wollte ihn glücklich sehen und das war Carsten auch, denn ich gab all meine Liebe für ihn. In Momenten, in denen ich alleine für mich war, wo ich mir ganz sicher sein konnte, dass mich keiner beobachten würde, dachte ich verstärkt an meinen Bruder. Die starke Anziehungskraft war nach wie vor geblieben. Immer wieder sah ich vor mir sein verändertes Aussehen – das von der Sonne gebräunte Gesicht, die längeren Haare. Ich stellte mir immerfort im Geiste vor, wie er sich auf sein Motorrad schwang und ich mit ihm davonfuhr. Alleine die Vorstellung, ich wäre mit ihm auf- und davongefahren, brachte mein Herz schneller zum Schlagen. Ich konnte gegen das immens starke Gefühl nicht ankommen. Und doch … Carstens Liebe war so stark, die Bodenständigkeit meines Partners, das ewige Versichern, wie sehr er mich liebte, ließen mich weiterhin stark bleiben gegen diese verbotenen Gefühle und dass ich meinem Bruder nicht letztendlich doch gefolgt wäre. Trotzdem hatte ich ständig das Bild vor Augen, wie ich mit meinem Bruder mitgegangen wäre. Ich konnte nicht anders, als dieses Szenario stets vor Augen zu haben und hoffte darauf, dass es mit der Zeit besser werden würde. Denn jedes Mal, wenn ich mir vorstellte, wie ich mit ihm davongefahren wäre, fehlte mir gleichzeitig Carsten. Eine ständige, rein hypothetische Verarbeitungssequenz, welche sich in meinem Kopf als Dauerschleife abspielte. Darum wusste ich auch, dass ich Carsten genauso stark liebte wie meinen Bruder. Konnte man wahrhaftig zwei Männer so sehr lieben? Obwohl man genau wusste, dass einer davon einem nicht gut tun würde? Diese Fragen blieben unbeantwortet. Darian hatte sich seitdem nicht mehr gemeldet oder war bei Carsten in der Praxis erschienen, um dort seine Behandlung fortzuführen. Ich denke, weder Carsten noch ich hätten dies zugelassen. Mein Partner hatte seitdem andere Pläne mit mir, sah es sogar als seine Pflicht an, mich für die Zukunft fester in seine Praxis mit einzuplanen. Er wollte sogar, dass ich die Terminplanung für ihn übernehme ... Ich war mit seinem Vorschlag einverstanden, dennoch rätselte ich immer noch über den unerklärlichen Zufall. Wobei, wie Carsten mir immer wieder versicherte, hatten weder er noch Darian eine Ahnung gehabt. Ich war mir dessen nicht so sicher, denn die Geschichte, die Darian Carsten erzählt hatte, hätte ihm doch irgendwie bekannt vorkommen müssen? Und doch ... Jedes Mal, wenn mein Partner mir beteuerte, es nicht gewusst zu haben, sah ich nur in seine Augen und die logen mich niemals an, dessen war ich mir absolut sicher. Es spielte zudem keine Rolle mehr, denn mein Bruder war fort und ich hatte nun Carsten. Die Uhr tickte vorwärts, das Leben ging weiter. Wir beide wuchsen noch mehr in unserer Partnerschaft zusammen und das Band verstärkte sich, wurde fester und fester. Carsten und ich verstanden jeweils den anderen – und wenn wir uns stritten, dann war die Versöhnung hinterher das Beste, was oftmals in einem wunderbaren Versöhnungssex endete. Darian rückte immer weiter in den Hintergrund und schon bald war er nur ein flüchtiger Gedanke. Ein Blatt im Wind, das, wenn die Gezeiten sich wechselten, einfach davon segelte, wenn es Zeit war, dem Winter zu weichen. Alles war perfekt, aber dann traf es mich doch noch hart …     ©Randy D. Avies 2012   Kapitel 31: ------------ ~°~31~°~     Damals auf der Hochzeitsfeier   Darian war mit seinem Motorrad auf der Hochzeit später erschienen, weil sein Freund Miguel etwas zu erledigen hatte und es nicht pünktlich zur Trauung schaffen würde. Daher hatte ihm sein Freund zwar vorgeschlagen, einfach früher dort zu sein, um die Trauung nicht zu verpassen, was Darian aber dankend abgelehnt hatte. Es war ihm nicht unrecht gewesen, hatte er nicht wirklich Lust auf diese Feier. Doch hatte er den Wunsch seines Freundes, ihn dorthin zu begleiten, nicht abschlagen können. Der Südländer konnte in diesen Dingen ziemlich hartnäckig werden und vor allem einen herzerweichenden Blick aufsetzen. Damit bekam er ihn immer herum. So beugte er sich seinem Schicksal. Auch wenn ihn Hochzeiten, seit seiner eigenen missglückten Ehe, übel aufstießen, da seine Meinung mittlerweile, was den Bezug auf weiße Trauungszeremonien anging, gespalten war. Umso weißer die Hochzeit, desto schneller das Aus! Seine Hochzeit mit Steffie war blütenweiß gewesen, mit allem Schnickschnack und war in einer Katastrophe geendet, an der er zwar nicht unschuldig war, doch auch wenn er nicht in seinen Bruder verliebt gewesen wäre, hätte diese Ehe dennoch nicht lange gehalten. Verschwitzt stieg Darian in seiner viel zu warm angezogenen Lederkluft von seinem Motorrad ab, als er einen geeigneten Platz unter einem Baum gefunden hatte, wo die Sonne nicht so auf die Maschine knallen konnte. Er setzte den Helm ab und legte ihn auf den Sitz. Die Haare klebten ihm nass am Kopf. Trotz der sengenden Hitze hatte er sich gut eingepackt, da die Sicherheit für ihn vorging. Die passenden Wechselklamotten hatte er in seinen Rucksack gepackt. Ein ordentlich zusammengelegter, dunkler Anzug und er hoffte, dass dieser nicht all zu verknittert aussah. Er war zudem nur ausgeliehen, hatte er außer Jeans und legeren Klamotten nicht wirklich was Feines. Darian schaute auf die Kapelle, die ruhig und verlassen wirkte, und ersehnte dort ein wenig Abkühlung. Die Zeremonie schien schon lange vorbei und die Hochzeitsgäste hatten sich am Strand versammelt, wie er von Weitem sehen konnte. Er staunte zudem nicht schlecht, als sein Blick auf den voll beladenen und großen Geschenketisch fiel. Er selbst hatte kein Präsent mitgebracht, das wollte Miguel erledigen. Die Kapelle war zum Glück nicht abgeschlossen und die deutlich kühlere Luft wehte ihm entgegen. Hier und da sah er auch einige Utensilien der Hochzeitsgäste, also war er nicht der Einzige, der sich umzog. So zog er sich rasch auf einer der hinteren Bänke um, band sich gegen die Hitze die inzwischen wieder trockenen Haare zu einem Zopf, nachdem er sie kurz durchgekämmt hatte. Dann strich er sich noch einige Falten an seinem Anzug glatt und schlüpfte in die passenden Schuhe. Auch wenn es heute nicht so heiß gewesen wäre, mit Lederklamotten auf einer Hochzeitsfeier zu erscheinen, fand er nicht gerade angemessen. Den Rucksack mit der Fahrerkluft verstaute er in der Satteltasche an seiner Yamaha. Danach wartete Darian pünktlich zu der vereinbarten Zeit vor der Kapelle auf Miguel. Dabei starrte er sehnsüchtig auf seine schwarze Yamaha R6, die unweit auf dem Rasen unter einem Baum geparkt stand. Wie lange hatte er auf diese Maschine sparen müssen. Ein Auto hatte er nicht gewollt und war die ganze Zeit über mit einem alten Fahrrad durch Hamburg gefahren. Dieser Flitzer gab ihm die gewisse Freiheit. Eigentlich wäre er heute lieber alleine durch die Gegend gefahren, als hier zu sein, hatte er seit Langem endlich mal ein freies Wochenende. Die vielen Menschen, gerade in Hamburg, die mochte er schon lange nicht mehr. Es war ihm zu viel. Früher hatte es ihm nichts ausgemacht, doch jetzt … „Hey, wartest du schon lange auf mich?“ Miguel kam auf Darian zu und gab ihm einen schnellen Kuss, den dieser mit gehetztem Blick erwiderte. „Nein, nicht wirklich.“ „Wir sind alleine, okay! Gut siehst du aus, der Anzug steht dir. Du musst dir wirklich so einen zulegen und nicht ausleihen“, überging Miguel Darians Anflug von Panik, als sie sich erneut küssten. Er verstand immer noch nicht, warum der Münchner so viele Probleme damit hatte. Darian schluckte und lenkte sich ab, betrachtete Miguel verstohlen. Der Mann sah gut aus, wie er sich selbst eingestehen musste. Bewundernd sahen sie sich gegenseitig an. Darian lächelte. „Anzüge sind nicht so mein Fall“, gab er offen zu. „Echt, du siehst wirklich klasse damit aus. Und hat alles so weit geklappt?“ „Schmeichler. Ja, da drüben steht sie.“ Er wusste, was er meinte, und deutete stolz auf seine Maschine. „Später machen wir eine Spritztour, okay! Sieht gut aus.“ „Was nur gut? Sie sieht genial aus.“ „Komm!“ Miguel lachte einfach. „Wie du meinst, hab aber keinen zweiten Helm dabei“, protestierte Darian. Er wollte keinen Ärger. „Pft, Moralapostel … wird schon keiner merken.“ Sie gingen zusammen zum Strand auf die Feier. Die Leute schienen ausgelassen und waren lange zum gemütlicheren Teil übergegangen. Das Übliche fanden sie vor, den Brauttanz, die Rangelei um das Hochzeitspaar, eben alles, was dazugehörte. Darian hatte sich dem Paar nicht vorgestellt und es Miguel überlassen und stand daher etwas abseits. Schließlich war er nur die Begleitperson und nicht mit dem Brautpaar verwandt oder bekannt. Zudem zierte er sich noch immer ein wenig, seine Homosexualität in der Öffentlichkeit zu zeigen, auch wenn er auf einem guten Weg war. Miguel schüttelte den Kopf, als er das Brautpaar alleine begrüßen musste. Darian schaute sich derweilen um, war erstaunt, wie viele Menschen sich auf der Feier befanden, die wirklich schön und dekorativ am Sandstrand aufgebaut war. Doch schnell verlor er den Überblick über die Anzahl an Menschen, als er versuchte, sie grob zu zählen. Eigentlich hatte er keine Lust auf dies alles hier und so wirkte er auch zeitweise gelangweilt. Er war für Miguel kein guter Gesprächspartner, als dieser ihm freudestrahlend verkündete, bald zu ihm nach München ziehen zu wollen. Darian hatte vor, wieder zurückzugehen. Das Vagabundenleben war vorbei, er wollte nach Hause. Seine Wut auf die Welt, die Wut auf sich selbst und manchmal auf seinen Bruder war zwar immer noch etwas, was er unter Kontrolle bringen musste, trotzdem fühlte er sich stark genug, zu seiner Familie zurückzukehren und sich ihnen zu stellen. „Tausend Euro für deine Gedanken, mein Lieber“, schnitt Miguel in seine Überlegungen. „Was?“ Darian versuchte sich in einem Lächeln und sah ihn leicht verlegen an. Miguel hatte keine Ahnung, was wirklich in ihm vorging. „Ich sagte gerade eben, dass ich zu dir nach München komme, denn ich kann mich versetzen lassen. Das war es auch, warum es vorhin länger gedauert hatte. Außerdem lasse ich dich nicht mehr gehen. Wir suchen uns dort ein schönes Häuschen.“ Darian wusste nicht, ob er sich freuen oder eher davonlaufen sollte. Daher äußerte er sich nicht zu Miguels regen Zukunftsplänen, schwieg lieber zu dem Thema. Wie würde die Familie auf Miguel reagieren? Er seufzte. „Ich hole uns ein Bier, ja? Die Hitze ist unerträglich“, stöhnte sein Freund. „Mhm, wenn du meinst.“ Mehr als ein Bier würde er allerdings nicht trinken, da er seinen Führerschein nicht gefährden wollte. Er senkte den Blick und wirkte nun in sich gesunken, achtete nicht auf die nachdenklich gewordenen Blicke, die Miguel ihm zuwarf. Darian dachte an seinen Bruder, gestand sich ein, sich Sorgen um ihn zu machen. Es fuchste ihn, nicht zu wissen, wo er wirklich steckte. Ob er ihn jemals wiedersehen würde? Zu Susan hatte er sporadisch Kontakt behalten, vielleicht kehrte Jaden irgendwann wieder nach München zurück. Das war auch noch einer der Gründe, warum er tatsächlich zurück wollte. „Wie meinen? Magst du jetzt ein Bier oder nicht?“ Miguel stupste ihn in die Seite, worauf Darian ihn ansah und die Gedanken um Jaden verflüchtigten sich. „Ein Bier ist okay.“ Er atmete tief durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Hitze machte auch ihm zu schaffen. „Ich komme gleich wieder.“ Miguel holte schließlich die Getränke für sie beide, während Darian mittlerweile auf die Köstlichkeiten des hergerichteten Buffets starrte und die Menschen um ihn herum auszublenden versuchte. Das Buffet sah äußerst einladend aus, wie er hungrig feststellte, als ihm bewusst wurde, dass seine letzte Mahlzeit schon etwas länger zurücklag und sein Magen zu knurren angefangen hatte. Die Lachshäppchen, die gebettet im Salatbeet lagen und mit Kaviar garniert waren, sahen zu köstlich aus, um sie zu ignorieren. Als er sich über die Leckerbissen beugte, strahlte ihm eine angenehme Kühle entgegen, während er sich das erste Häppchen holte. Das Essen wurde mit Kühlplatten gekühlt. So wartete Darian auf Miguel, während er genüsslich in das gekühlte Fingerfood hineinbiss. Sie sahen optisch nicht nur gut aus, sie schmeckten auch lecker. Der Norden konnte mit Fischspezialitäten wirklich bei ihm punkten. Soviel wie er in einem Jahr an Fisch konsumierte, hatte er in München nicht annähernd die Jahre über gegessen. Es war bereits die zweite Portion, als sein Blick auf eine Person fiel, als er sich erneut umschaute, während er sich gerade seine Finger an einer Stoffserviette sauber wischte.  Durch seinen Körper ging ein Ruck. Darian traute seinen Augen nicht, als er unweit eine Person erkannte. Jaden? Wie ist das nur möglich? Er kniff die Augen zusammen. Sah er eine Fata Morgana? Nein, es war Jaden, daran bestand kein Zweifel, der dort stand. Doch Jaden stand nicht alleine da. Es war jemand bei ihm. Er erkannte seinen Therapeuten Carsten Engel, der sehr eng neben seinem Bruder stand. Sie unterhielten sich angeregt. Was hatte er mit Jaden zu tun? War Jaden auch in Therapie? Misstrauisch beäugte er die beiden – sie schienen so vertraut. Ihm blieben die Blicke nicht verborgen, die sie sich zuwarfen. Trotzdem konnte er seine Augen nicht von ihm lassen. Am liebsten wäre er sofort zu ihm geeilt, hätte ihn umarmt, geschüttelt und gefragt, warum er abgehauen war. Aber irgendwas hinderte ihn daran, sich Jaden so offen zu zeigen, obwohl er sich danach verzehrte. Vielleicht war es die Tatsache, dass er nicht alleine war, sondern mit diesem Carsten zusammenstand. Sie waren zudem von einer Gruppe von Leuten umzingelt. Der Appetit auf ein weiteres Häppchen war ihm vergangen. Er warf die Serviette in einen dafür vorgesehenen Tischmülleimer, während er versuchte, seine innerliche Unruhe zu bändigen und dem Gespräch der beiden zu lauschen, als er sah, dass sich Jaden nicht wohlzufühlen schien. Er kannte den Blick noch zu genau, der gehetzte, in sich gezogene, wenn Jaden lieber alleine sein wollte. Darian blieb erfolglos, da die übrigen Geräusche der verursachenden Gäste die Worte der beiden überlagerten. Daher betrachtete er ihn verstohlen, versuchte aus der Mimik heraus etwas erkennen zu können. Nach all der langen Zeit war sein Bruder immer noch zart und blass, wie Darian feststellte und merkte, wie sich sein Herz dabei schmerzvoll zusammenzog. Und doch sah Jaden verändert aus, er trug seine Haare anders, im Nacken kurz, was ihm sehr stand und der Rock erst ... Weit über drei Jahre war es her, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte und nun ausgerechnet auf diesem Fest, so weit weg von seiner Heimatstadt München. Die Überraschung stand ihm immer noch im Gesicht. Jetzt hatte er ihn gefunden und anstatt endlich zu ihm zu gehen, wollte er auf einmal nur noch hier weg. Das schlechte Gewissen seinem Bruder gegenüber kam auf. Darian hatte auf einmal nicht mehr das Bedürfnis, von seinem Bruder gesehen zu werden, wollte zudem nicht mit ansehen, wie er vielleicht jemand anderes kennengelernt hatte. Daher drehte er sich weg und ging auf Miguel zu, als der mit beiden Bierflaschen in der Hand bereits auf dem Weg zu ihm war. „Hey, amüsierst du dich?“ Der Südländer strahlte ihn an. Es war nicht zu übersehen, wie verliebt er in ihn war, und überreichte Darian das Bier. Widerstrebend nahm er das Bier entgegen, obwohl sich die Flasche schön kühl in der Hand anfühlte, war ihm auch der Genuss aufs Bier vergangen. „ Mhm, lass uns gehen …“ „Warum denn, Carsten ist auch hier, wir haben ihn noch gar nicht begrüßt. Da steht er doch, da vorne.“ Er deutete mit dem Finger auf den Therapeuten und Darian schritt dazwischen, fasste nach seiner Hand und zog sie nach unten. „Lass das?“ Zum Glück hatte ihn Carsten noch nicht gesehen. Und vor allem Jaden, der immer noch vertieft in Gesprächen war. „Manchmal verstehe ich dich nicht.“ „Ich weiß, ich habe jetzt keine Lust auf Therapeutengeplauder und möchte gehen.“ Darians Laune sank in den Keller und sein Freund bemerkte es nicht oder überspielte es gekonnt, denn er löcherte ihn weiter. „Ich möchte erst mein Bier leer trinken. Und zudem hast du mir noch nicht erzählt, ob er dir inzwischen schon helfen konnte?“ Miguel nahm einen großen Schluck aus der Flasche. „Tut das gut.“ Während sein Freund sich genüsslich dem Bier zugewandt hatte, dachte Darian über Carsten nach. Seit einem Monat etwa war er in Therapie. Miguel hatte ihn empfohlen, weil Darian seine Träume nicht mehr in den Griff bekam. Da Miguel oft bei ihm über Nacht blieb, hatte er schon lange seinen unruhigen Schlafzustand gemerkt. Es waren Träume, in denen er mit seinem Bruder zärtlich schlief, ihn auf den Mund küsste. Er musste sich Jaden aus dem Herzen reißen. Darian hatte Miguel niemals den wahren Grund dafür gesagt, als der Südländer danach gefragt hatte. Die Tatsache, dass Jaden hier war, ließ ihn nicht los. Er realisierte immer mehr, dass er seinen Bruder tatsächlich gefunden hatte. Jaden ist hier? Eine steile Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet, als er auch Carsten beobachtete. Dass er seinem Therapeuten begegnen würde, damit hatte er gerechnet, denn Miguel hatte es ihm erzählt, dass er der Ex-Mann von der Braut war. Zudem hatte ihm der Südländer von seiner Freundschaft zu Carsten erzählt. Er stellte sich langsam die Frage: Kannte Miguel auch Jaden? Alleine die Vorstellung, dass sich Miguel und Jaden kennen würden, er es die ganze Zeit über nicht gewusst hatte, ließ ihn noch unruhiger werden, als er schon war. Fragen über Fragen stürmten auf ihn ein. Wie lange lebte Jaden schon hier? Seit Jahren etwa? Es erstaunte ihn erneut, seinen Bruder so weit von zu Hause zu wissen. „Hey Babe, du bist heute wirklich sehr nachdenklich. Ich habe dich etwas gefragt?“ Miguel hatte ihn an der Schulter berührt. „Ja, was?“ Er schaute sauer zu ihm. Wie er den Kosenamen hasste. Schon oft hatte er ihm gesagt, er solle ihn nicht so nennen. „Und nenn mich nicht so.“ „Wieso?“ Miguel wollte ihm schon zärtlich über die Wangen streicheln, da wich er ihm aus. Vorhin, vor der Kapelle, waren sie alleine gewesen, aber hier? Es war noch immer für ihn Neuland – seine Homosexualität. Auch wenn Miguel ein netter Kerl war und er ihn wirklich mochte, ganz aus seiner Haut konnte er nicht. Darian schielte erneut zu den beiden rüber, der Abstand war jetzt größer, was ihn deutlich beruhigte, da er sich sicher sein konnte, nicht gesehen zu werden. In dem Falle war es gut so, dass die Feier voller Menschen war. Doch Jaden so friedlich zu sehen, in trauter Zweisamkeit mit dem Therapeuten zusammen, die Blicke, die sie sich immer wieder zuwarfen, schnitten ihm tief ins Herz, trafen genau den Punkt, den er sich so lange verbat: Eifersucht!     ©Randy D. Avies 2012   Kapitel 32: ------------ ~°~32~°~     Darian liebte seinen Bruder. Es war keine oberflächliche Liebe, sondern eine, die schon immer in ihm schlummerte. Nur hatte er es niemals wahrhaben wollen, dass gerade in diesem Moment alles in ihm aufbrach. Er sah sich eifersüchtig um, konnte selbst nicht begreifen, was mit ihm passierte. Die vielen Gäste, besonders die männlichen, störten ihn ungemein. Einige von ihnen betrachtete er mit Argwohn, die sich in Jadens Nähe aufhielten. Er ertappte sich dabei, wie er sich vorstellte, wie jeder Mann hier auf dem Fest, ausgenommen vom Bräutigam, homosexuell war und sich nur für seinen Jaden zu interessieren schien. Die Wut in seinem Bauch wurde stärker, als sein Blick wieder auf Carsten, seinen Therapeuten, fiel. Seine Blicke durchbohrten regelrecht den Mann, der sich für seinen Geschmack zu auffällig an Jaden heranmachte. Zudem ärgerte er sich, dass er gerade von ihm auch noch therapiert wurde. Jaden wie auch Carsten hatten ihn immer noch nicht bemerkt, auch wenn er einmal das Gefühl hatte, sein Bruder hätte in seine Richtung gesehen. Schnell hatte er deswegen den Kopf weggedreht. Als er wieder zu der Gruppe sah, waren Jadens Augen wieder bei seinem Gesprächspartner gelandet. Fehlanzeige! Wollte er denn gesehen werden? Dann fiel Darian seine äußerliche Veränderung ein. Er hatte sich seitdem sehr verändert, trug die Haare lang und war stets bedacht, sich herzurichten. Anders als früher zupfte er sich sogar seine Augenbrauen … Diese verdammte Hochzeitsfeier! Innerlich aufgewühlt stellte er sein volles Bier auf einen freien Platz an der Theke. Sein Durst, obwohl es so heiß war, war ihm vergangen, was Miguel missbilligend zur Kenntnis nahm. „Was ist los? Seit wir hier sind, bist du so komisch und starrst laufend zu Carsten rüber.“ „Nichts! Bin ich nicht. Außerdem starre ich nicht. Zudem möchte ich gehen, dein Bier ist leer.“ Er zeigte auf die leere Bierflasche, die Miguel in seiner rechten Hand hielt. „Hey, warum denn, und darüber hinaus hätte ich gerne noch eins getrunken, okay! Und warum sollen wir nicht Carsten begrüßen? Du brauchst ja nicht mit ihm zu reden. Meinst du, Carsten hat Bock auf therapeutische Gespräche, er ist privat hier. Ein Hallo hätte doch gereicht. Ich dachte, du kannst ihn leiden.“ Miguel wollte erneut auf sich aufmerksam machen, in dem er die Richtung ansteuerte, da hielt ihn Darian zurück. „Na und! Ich will meinen Seelenklempner nicht unbedingt begrüßen, wenn ich ihn sowieso einmal die Woche sehe“, zischte er, aber nur so laut, dass nur sein Freund ihn hören konnte. Jaden und Carsten standen mit dem Rücken zu Darian, auf der anderen Seite der Theke, gewandt. „Ich will es einfach nicht, kapier es doch. Meinetwegen trink noch ein Bier, aber dann will ich hier verschwinden. Wir wollten doch eine Tour mit meinem Motorrad machen.“ Darian versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, wie es in ihm drinnen aussah. „Warum nicht?“ Miguel sah ihn fragend an, wurde aber vom Kellner unterbrochen. „Möchten Sie noch ein Bier?“, fragte der Bedienstete höflich. „Was? Ja gerne.“ Der Südländer nahm die Bierflasche, die der Kellner ihm hingestellt hatte, und trank einen Schluck und behielt sie in der Hand. Darian betrachtete den Kellner. Er sah gut aus, wie er fand. Er musste schmunzeln, denn er sah die Männer seitdem mit anderen Augen. Frauen hingegen waren nett, mehr aber auch nicht. „Also sag schon, warum wir nicht zu Carsten gehen sollen?“ „Darum“, erwiderte Darian knapp. Er hatte keine Lust, weiter darauf einzugehen. Manchmal hasste er Miguels Hartnäckigkeit bezüglich seines Privatlebens. Er wusste, es war nicht fair ihm gegenüber, denn im Gegensatz zu ihm wusste er fast alles über Miguel einschließlich seiner großen Familie. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, ob Carsten bis jetzt helfen konnte? Schließlich bist du nicht mehr lange hier.“ Darian antwortete nicht und Miguel quittierte es mit einem Kopfschütteln. „Ich hol mir was zu essen. Kommst du mit?“ „Mmh, gute Idee.“ Sie hatten sich wieder zum Buffet gestellt, wo sich Miguel eines der Häppchen schnappte und herzhaft hineinbiss. Darian haderte indessen mit sich. Sollte er Miguel von seinem Bruder erzählen? Aber was wäre, wenn Jaden dann jedem hier erzählen würde, dass sie miteinander geschlafen hatten. Würde das sein Bruder überhaupt machen? Sich und ihn vor allen bloßstellen? Oder wussten es bereits einige? Niemandem hatte er davon erzählt, außer Susan und Stefanie. Sie waren bisher die Einzigen. Nun verstand auch Darian, warum sein Bruder sich ihr so anvertraut hatte. Als er Miguel betrachtete, wie er kauend ein Häppchen nach dem anderen verschlang, entschied er sich dagegen. Miguel würde es nicht verstehen, da war er sich sicher. Verstohlen betrachtete er seinen Bruder, als er einen ungehinderten Blick auf ihn hatte, da ein Schwung Menschen gesättigt von Häppchen und Buletten bestückten Tellern sich wieder zu ihren Gruppen gesellten. Dabei bemerkte er nicht, wie Miguel ihn heimlich beobachtete und rätselte, was mit seinem Freund heute nicht stimmte. Jaden! Noch immer bist du so unheimlich schlank und zart. Und noch immer trägst du diesen Gothic-Look. Der Rock steht dir so gut! Verdammt! Er schüttelte ungläubig über seine starken Gefühle, die wieder komplett ans Tageslicht kamen, den Kopf und erinnerte sich zurück.   Als Darian von Susan nach Hause gegangen war, wusste er, die Zeit der Lügen war vorbei. Schon am nächsten Morgen war er zu seinem Vater gegangen und hatte sich geoutet, auf Männer zu stehen und nicht auf Frauen. Natürlich verschwieg er die Tatsache, dass er in seinen Bruder verliebt war. Was auch besser war, denn sein Vater reagierte so, wie er vermutete hatte – mit Unverständnis und Ablehnung. Jaden hatte also Recht behalten bezüglich ihres Vaters. Die Freunde reagierten zum Teil genauso ungläubig. Zwar war Darian erleichtert, dass sie nun wussten, dass er schwul war, doch versank er auch in eine Melancholie, bei der er schwermütig wurde.   Sein Vater ließ ihn das jeden Tag spüren, wie enttäuscht er von seinem Sohn war. Die Zusammenarbeit mit ihm war unerträglich geworden, das Arbeitsklima kaum auszuhalten. Darum beschloss er, für eine Weile wegzugehen. Sein Leben war nun mehr auf den Kopf gestellt. Sein Entschluss, quer durch Deutschland zu reisen und zu sich selbst zu finden, war nicht nur ein Hirngespinst, nein, eines Tages hatte er auch den Mut dazu. Er brach sein Studium ab. Es war für ihn nicht mehr wichtig, hatten sich zum Teil auch die Studenten von ihm abgewendet, als es die Runde machte. Darian brauchte zudem körperliche Arbeit, um seinen Kopf freizubekommen, und mit seinem Schulabschluss und die paar Jahren Juraerfahrung würde er Arbeit finden, dessen war er sich sicher. Außerdem sagte er seinem Vermieter Bescheid, dass er für eine Weile weggehen würde, und er auf die Wohnung aufpassen sollte. Zur Untervermietung wollte er sie nicht hergeben. Bei der Vorstellung, es würden fremde Leute in der Zeit, in der er weg war, die Wohnung benutzen, war ihm nicht wohl dabei. Dem Vermieter war es egal, Hauptsache er zahlte die Miete. Und das tat Darian, wollte sich nichts nachsagen lassen, man könnte sich nicht auf ihn verlassen. Er ließ sich sein Erspartes auszahlen, das, was noch von der Scheidung übrig geblieben war, und bezahlte für ein Jahr im Voraus die Miete. Den Rest hob er ab, damit er flüssig war, wenn er bar etwas zu zahlen hätte. Darian freute sich jetzt auf sein Vagabundenleben. Und vielleicht würde er Jaden finden. Ein kleiner Hoffnungsschimmer blieb. Darian verabschiedete sich als Erstes von Steffie, die ihm immer noch nicht verziehen hatte, aber ihm dennoch alles Gute wünschte. Danach nahm er Abschied auch von Jadens Mutter, die ihn deswegen nicht verurteilt hatte. Weder seinen Weggang, noch dass er sich als Homosexueller outete. Wenn Jaden nur gewusst hätte, dass er bei seiner Mutter eher auf Verständnis gestoßen wäre … Als Letztes kam Susan, mit der er ausmachte, sporadisch in Kontakt zu bleiben, in der Hoffnung, sein Bruder würde sich doch irgendwann wieder bei ihr melden. „Denk dran, er will nicht gefunden werden.“ „Ich weiß.“ Er seufzte. Zum Schluss umarmte er Susan. Sie waren zwar keine dicken Freunde, aber dennoch verband sie etwas – Jaden. Als er schließlich so weit mit Packen fertig war, sah er sich nochmals in der Wohnung um, ging in Jadens ehemaliges Zimmer. Bis auf die Fotoschnipsel hatte er alles so gelassen. Er war nicht mehr oft drin gewesen. Als er noch mit Steffie verheiratet war, wollte sie daraus ein Kinderzimmer machen. Doch er hatte darauf bestanden, das Zimmer so zu lassen, wie es war. Innerlich verabschiedete er sich für eine Weile von seiner Wohnung – von seinem Leben hier. Der Abstand würde gut tun. Das wusste er. So verließ er mit einem übergroßen Rucksack bepackt sein Zuhause, ließ das alte Leben hinter sich. Er hatte nur das Nötigste mitgenommen. Auch sein Auto nahm er nicht mit. Er würde mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen. Bevor er sich jedoch in den Zug setzte, verabschiedete er sich doch noch von seinem Vater, auch wenn er sauer auf ihn war. Darian hatte es nicht fertiggebracht, sich so gar nicht zu verabschieden, auch wenn er wusste, dass sein Vater keinen Schritt auf ihn zukommen würde. Wie erwartet wurde er auch dementsprechend empfangen. „Ich bin enttäuscht, Junge. Hat es nicht gereicht, dass Jaden abgehauen ist?“ „Ich haue nicht ab, ich muss nur über einiges nachdenken.“ „Nachdenken? Brichst dein Studium ab, lässt mich hier alleine.“ Sein Vater äffte verächtlich. „Du hättest dich um Stefanie kümmern sollen, anstatt eure Ehe den Bach hinunter gehen zu lassen. Kinder in die Welt setzen. Meine Enkelkinder, das hätte euch zusammengeschweißt.“ „Die Ehe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich hätte Steffie niemals heiraten dürfen. Ich bin anders, akzeptiere das!“ In Darian stieg Wut auf. Sein Vater beachtete ihn kaum und machte sich an einem der zu reparierenden Autos zu schaffen, das auf einer der drei Hebebühnen hochgebockt war. „Ich gehe jetzt.“ Mehr brachte er nicht über die Lippen. Sein Vater sah ihn an, in ihm arbeitete es. Darian konnte es fühlen und erhoffte sich doch noch eine Versöhnung, bevor er abreiste, doch sein Vater gab ihm diese letzten Sätze mit auf den Weg: „Ich wünsch dir viel Spaß, und wenn du wieder kommst, hoffe ich, du bist zur Vernunft gekommen. Ich möchte nicht noch einen weiteren Sohn verlieren. Und komm mit einer Frau zurück!“ Hatte er Jaden einfach vergessen – abgeschrieben? Darian schmerzten die Worte, dieses Unverständnis. Er verstand Jaden immer besser. Wortlos ließ er traurig seinen Vater und die Werkstatt hinter sich. Dann aber sagte er sich, dass jeder sein Leben nun leben muss und vielleicht kehrte auch Jaden eines Tages wieder hierher zurück. Am Bahnhof angekommen nahm er den erstbesten Zug Richtung Norden.   „Hey, du starrst richtige Löcher in den Boden, wenn ich das gewusst hätte, wäre ich lieber doch alleine auf die Feier.“ Miguel wurde ungemütlich. „Ich hab gesagt, dass ich kein guter Unterhalter bin.“ „Nein, dass hast du so nicht gesagt, du hast gesagt, du hast keinen Bock auf das hier, aber von Totschweigen war nicht die Rede. So habe ich dich nicht kennengelernt“, beschwerte sich sein Freund und Darian dachte rasch an ihr Kennenlernen zurück. Er und Miguel hatten sich zum ersten Mal in einer Kneipe getroffen, die es zuhauf in Hamburg gab. Es war ein lustiges Aufeinandertreffen. Sie waren betrunken und Miguel erzählte seine Lebensgeschichte an nur einem Abend. Darian von sich nur so viel, wie er auch vertreten konnte. Als er am nächsten Tag verkatert auf Wohnungssuche war, war ihm Miguel per Zufall über den Weg gelaufen und half ihm, eine zu finden. Nebenher hatte er sich bei einem dieser Fischkutter einen Job besorgt. So konnte er sich eine kleine Wohnung leisten und sich einigermaßen über Wasser halten. Während dieser Zeit hatte er sich mit einigen Männern getroffen. Die Auswahl blieb breit gefächert, nur keiner, der Jaden ähneln durfte. Darauf achtete er stets. Zudem wollte er seine Freiheit ausprobieren. Richtig Erfahrung auf diesem Gebiet hatte er nicht direkt. Mit Steffie hatte er ein paar Mal Analsex praktiziert, jetzt wusste er auch, warum er den hatte. Es hatte ihm gefallen. Wenn er Sex hatte mit irgendwelchen Männern, dachte er an Jaden. Hinterher blieb aber diese Leere, diese Sehnsucht. Bis er mit Miguel schließlich eine lockere Beziehung einging, als der mehr von ihm wollte. Darian fand Miguel attraktiv und er mochte ihn. Der Sex mit ihm machte zudem auch Spaß und wie ein Mönch wollte er auch nicht leben, trotz seiner Gefühle für seinen Bruder. Und es war Miguel, der ihm dann diesen Therapeuten Carsten Engel vorstellte. Was Miguel nicht wusste, war, dass er den Nachnamen seiner verstorbenen Mutter wieder angenommen hatte. Die Enttäuschung über seinen Vater, da wollte er nicht mehr diesen Familiennamen tragen. Und so konnte dieser Carsten, bei dem er dann ein paar Mal in der Praxis war, ihn gar nicht kennen. Welche Ironie, dann habe ich mir Jaden doch nicht eingebildet, als ich ihn vor einigen Tagen in der Praxis habe stehen sehen? „Komm, lass uns ein wenig am Strand herumlaufen, danach gehen wir, versprochen“, riss ihn sein Freund aus den Gedanken. „Okay.“ Darian sah nochmals in Jadens Richtung, doch stand sein Bruder nicht mehr an seinem Platz. Suchend sah er sich um. „Suchst du jemand?“, fragte nun Miguel interessiert.     ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 33: ------------ ~°~33~°~     Eine halbe Stunde später.   Jadens Worte trafen Darian härter, als er sich eingestehen wollte. „Halt einfach deine blöde Fresse, Bruder“, schrie Jaden ihn an. Darian sah nur noch zu, wie Jaden wütend mit Carsten sprach. Wie er ihn in diesem Moment demaskierte. Es passierte genau das, wovor er sich immer gefürchtet hatte. Sein Bruder hatte Carsten die Wahrheit über die Vergewaltigung erzählt. Die Worte prallten nur so an ihm ab und dann zeigte Jaden noch auf ihn, bevor er wütend davonstapfte.   Sie hatten beide mit angesehen, wie Jaden wutentbrannt von der Hochzeitsparty weggegangen war. Weder Carsten noch er hatten ihn dabei aufgehalten. Die Situation war paradox genug. Fast hätte man darüber lachen können – aber nur fast! „Wie konntest du Jaden das antun, du Scheusal?“, schrie Carsten völlig aufgebracht. In ihm tobte ein Orkan. Er war sauer auf Darian, sauer auf sich, dass er diesen Kerl auch noch therapierte und ihn nicht als seinen Halbbruder erkannt hatte. Von Anfang an hatte er ein komisches Gefühl im Bauch gehabt. Aber wie hätte er das wissen können? Jaden hatte niemals den Namen seines Bruders erwähnt. Und wenn er so recht darüber nachdachte, hatte Darian auch nicht denselben Nachnamen angegeben. Vielleicht wäre er daraufhin stutziger geworden. „Ich hatte einen Fehler gemacht, du wirst auch nicht perfekt sein“, gab Darian schließlich äußerst trocken von sich, als ob es nicht schlimm gewesen wäre, was er damals getan hatte. „Einen Fehler? Seinen eigenen Bruder zu vergewaltigen? Ich glaube, du tickst nicht mehr richtig.“ „Warst du nicht der Mistkerl, der mir riet, ich solle meine Gefühle für ihn unterdrücken, weil sie falsch wären?“ „Es ist falsch. Ihr seid Geschwister.“ Carsten sagte dies mit einem gewissen Nachdruck, was Darian zur Weißglut trieb. „Halbgeschwister!“, korrigierte und verteidigte er sich sofort und wurde ebenfalls laut. „Ihr seid also tatsächlich zusammen?“ Darian lachte unnatürlich. „Du glaubst doch nicht, dass du Jaden glücklich machen kannst, du alter Sack.“ Die Worte trafen genau, wo sie treffen sollten. Carsten hatte ein gewaltiges Problem mit dem Altersunterschied, das konnte er nicht abstreiten und hatte es Jaden niemals spüren lassen, aber das hier ging für ihn entschieden zu weit. „Ich kann es!“ „Ach ja, mit was? Mit Viagra etwa, wenn du in das Fossilalter kommst? Ach stimmt ja, du hast es ja schon erreicht.“ Die Ablehnung war aus seiner Stimme deutlich herauszuhören. Carsten ging auf weitere Aversionen dieser Art nicht ein. „Jaden war glücklich und er wird es auch wieder werden. Verschwinde einfach von der Bildfläche und lebe dein Leben weiter, seines war perfekt, bis du auftauchen musstest.“ „Pft, perfekt. Was ist schon perfekt? Hast du noch solche genialen therapeutischen Einfälle auf Lager?“ Darians Wut auf Carsten nahm überhand und schürte seinen Zorn erst recht, seit er wusste, dass die beiden ein Paar waren. Allein der Gedanke reichte aus, um es für ihn unerträglich werden zu lassen. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, ließ er sich von seinem Zorn leiten und war noch näher an den älteren Mann herangetreten. Carsten sah ihn einfach nur stumm an. Viele Worte hätte er für den jungen Mann übrig gehabt, gerade wegen seiner Unverschämtheit diesbezüglich seines Alters, aber er unterließ sie, was ein Fehler war, wie er sogleich feststellen durfte. „Und, Herr Therapeut, wo bleiben denn deine dämlichen Ratschläge jetzt? Hat es dir die Sprache verschlagen, hä?“ Darian wollte sich nicht mehr zurückhalten, ballte seine rechte Hand zu einer Faust, und ehe der andere ausweichen konnte, hatte er ihm eine runtergehauen. Carsten war völlig überrumpelt von der Aktion und war dem Schlag, der sein Auge traf, nicht rechtzeitig ausgewichen. Aber das war noch nicht alles, denn Darian schien jetzt in seinem Element zu sein und die Schläge prasselten wie Regen auf ihn nieder, nur dass der Regen nicht schmerzte, die Schläge aber schon. „Du Schwein, du fickst meinen Bruder nicht mehr, hörst du.“ Darians angestaute Gefühle waren nun gänzlich aufgebrochen. Die Tatsache, dass er seinen Bruder endlich gefunden hatte, und dass Jaden mit diesem älteren Mann glücklich zu sein schien, ließen ihn weiter ausrasten. Er hatte sich kaum mehr im Griff. Carsten fing an, den Schlägen auszuweichen und sich selbst zu wehren. Doch ohne Erfolg. Einige der Hochzeitsgäste hatten die Rangelei mit gemischten Gefühlen mitbekommen, tuschelten untereinander. Aber keiner traute sich so recht, die beiden Kontrahenten voneinander zu trennen.   Miguel, der auf Darian sauer war, nachdem er ihn einfach hatte stehen lassen, war wütend am Strand weitergelaufen. Die Tatsache, dass Jaden und Darian Geschwister waren, hatte ihn nachdenklich werden lassen. Hatte Darian nicht von einem gewissen Jaden in seinen Träumen geflüstert? Miguel entschloss sich, mit ihm zu reden, ihn darauf anzusprechen, daher beschloss er, zu der Party zurückzukehren. Von Weitem hörte er einen Streit, bekannte Stimmen drangen an sein Ohr. Darian und Carsten waren es, die sich stritten. Daher beschleunigte er seinen Schritt, was sich nicht einfach gestalten ließ, da er mit seinen Sandalen im weichen Sand versank. Leicht außer Atmen kam er zu den beiden und sah, wie Darian auf Carsten, der sich kaum wehren konnte, einprügelte. Er ging auf die beiden Kampfhähne zu, und sein versteinerter Gesichtsausdruck sprach Bände. Er war sauer – auf beide. „Hört auf, seid ihr verrückt geworden?“, brüllte er sie an, aber ohne großen Erfolg. Die Zwei schienen zu sehr beschäftigt, um ihn wahrzunehmen. „Finger weg von meinem Bruder“, schrie Darian. „Finger weg von Jaden, er hat jetzt ein richtig gutes Leben“, kam es ebenso laut zurück. Carsten kassierte daraufhin eine schallende Ohrfeige. „Hört endlich auf, euch wie zwei Teenager zu prügeln“, brüllte jetzt Miguel, der endlich dazwischen ging. „Darian, hör auf, willst du Carsten ernsthaft verletzen?“ Er machte sich mehr Sorgen um Carsten als um seinen Freund, der kaum was abbekam, weil er geschickt den Schlägen, die Carsten versuchte an den Mann zu bringen, auswich. „Hey, was ist denn hier los?“ Peter, der Bräutigam, hatte sich ebenfalls mit eingemischt, nachdem er von einigen Hochzeitsgästen darauf aufmerksam gemacht wurde. Carsten taumelte in der Zwischenzeit bedenklich, konnte kaum sein Gleichgewicht halten. Ein weiterer Schlag von Darian hatte abermals das Auge getroffen, was nun schlimm aussah. Zudem schwoll sein Gesicht an. „Hör auf, du bringst ihn ja um“, zischte Miguel besorgt und hatte sich auf seinen Freund gestürzt, hielt ihn so von weiteren Dummheiten ab. „Wir rufen die Polizei und einen Krankenwagen“, rief Inge bekümmert, die die Gäste in Schach halten musste, während Peter versuchte, die beiden Kontrahenten mit Worten zu schlichten. Carsten realisierte endlich seine Umgebung, die kassierten Schläge hatten ihm deutlich zugesetzt. Jetzt sprach Peter verstärkt auf Carsten ein, während Miguel Darian nun im Griff hatte. „Lasst mich, ich geh jetzt nach Hause. Keine Polizei, bitte! Ich hatte diesen Mann provoziert. Meine Schuld“, sprach Carsten dann zum Bräutigam. „Wo ist Jaden überhaupt?“, fragte Inge und sah sich um. Carsten hustete, brauchte kurz zum Überlegen und wurde von Peter gestützt. Wo könnte Jaden hingegangen sein? Er entschied sich, dass er nach Hause gegangen war. „Jaden ist schon zu Hause. Hatte ihn vorgeschickt“, log er. „Er hatte sich nicht wohlgefühlt. Ich werde jetzt auch gehen.“ Dann wandte er sich direkt an Inge. „Versprich mir, Jaden nichts davon zu sagen, ich möchte den Namen Darian von niemand hier hören. Jaden hat genug wegen ihm durchgemacht“, flüsterte er, er wollte nicht, dass Darian etwas davon mitbekam. „Ich weiß zwar immer noch nicht so recht den Zusammenhang …“ Sie atmete tief durch. Ihr wurde bewusst, dass auch sie in ihrem Zustand Carsten nicht heimfahren konnte, bei Peter sah es so ähnlich aus, sie hatten zu viel Alkohol im Blut. „Ich lass dir ein Taxi kommen“, schlug sie ihm dann vor. Sie wollte ihn in dem Zustand nicht alleine fahren lassen. „Nein, lass gut sein, ich kann fahren“, versuchte er wieder einen auf ruhig zu machen, schien sich zu fassen. Er sah zu Darian, der ihn immer noch wütend ansah, aber Miguel hatte ihn körperlich so weit unter Kontrolle, nur das lose Mundwerk nicht. „Was für ein langweiliges Arschloch du doch bist“, brüllte Darian, der ihn dann süffisant betrachtete. Ja, Carsten war ein viel zu ruhiger Mensch für Jaden mit dem Hang zur Langweile. Und dass der Mann schwul war, das hatte Darian niemals für möglich gehalten. Er schnaufte verächtlich. „Ich möchte eine Antwort.“ Carsten schüttelte nur den Kopf und winkte ab. Er hatte genug von Jadens Bruder. „Es tut mir leid für die Unannehmlichkeit“, entschuldigte er sich bei dem Brautpaar und ignorierte Darian komplett. Danach entfernte er sich wortlos vom nun leicht irritiert aussehenden und frisch angetrauten Paar und ging zu seinem Auto. „Jaden?“, rief er von Weitem, doch als er an seinem Wagen ankam, sah er, dass er leer war. Kein Jaden saß drin. Wo war Jaden? Hoffentlich traf er seinen Freund zu Hause an und er hatte keine Dummheiten angestellt. Sollte er vielleicht vorher den Strand absuchen? Nein, da war er sicherlich nicht. Carsten hatte gesehen, dass er in Richtung Kapelle gelaufen war. Er schaute kurz in die Kapelle, aber dort war niemand, dann ging er wieder zu dem Wagen. Da Carsten wirklich nicht viel getrunken hatte, beschloss er, so wie er es vor wenigen Minuten auch Inge versichert hatte, selbst zu fahren. Eigentlich waren seine Absichten noch vor wenigen Stunden ganz anderer Natur gewesen. Er wollte mit Jaden hier die Nacht am Strand verbringen, ihn mit romantischem Strandambiente imponieren und umgarnen, ihn auf einer Decke lieben. Sei bitte zu Hause, betete er still, während er sich unter Schmerzen in das Auto setzte, den Motor startete, und sich mühevoll aus der engen Parklücke herauswand. Das Verdeck hatte er geschlossen, er wollte nicht den Fahrtwind auf seinem malträtierten Gesicht spüren. Dann nahm er zügig den Weg heimwärts. Dabei strömten viele Gedanken auf ihn ein. Dieser Darian war sehr in seinen Jaden verliebt, und er bekam es mit der Angst, Jaden könnte doch wieder zu seinem Bruder zurückkehren. Vielleicht sollte er Jaden offen sagen, dass Darian ihn liebte. Er wollte mit keiner Lüge leben müssen. „Verdammt und ich Idiot, therapiere den Kerl auch noch. In was für einen Scheiß bin ich da reingeraten? Das kann doch kein Zufall sein! Jaden, warum hast du mir niemals den Namen gesagt und warum habe ich niemals ein Foto gesehen? Ich weiß, du hast eines versteckt.“ Er fluchte noch eine ganze Weile.   In der Zwischenzeit hatten sich die Hochzeitsgäste beruhigt und Darian und Miguel hatten sich beim Brautpaar entschuldigt, was aber Inge missbilligend zur Kenntnis nahm. Sie war sauer. Schweigend gingen sie zu Miguels Wagen. Die ganze Zeit über war der Südländer zu ihm sehr schweigsam, bis sie ankamen und er das Schweigen brach. „Kannst du mir mal verraten, was los ist, und warum Jaden so sauer reagiert hat? Und warum bist du auf Carsten losgegangen und hast ihn übel zugerichtet? Muss ich jetzt Angst vor dir haben?“  Darian schwieg, in ihm tobte immer noch alles. „Im Übrigen hat mir Carsten die Freundschaft gekündigt, einfach so. Ich soll mich niemals mehr bei ihm blicken lassen.“ „Jaden ist mein Bruder.“ Endlich fand Darian seine Stimme wieder. „Das habe ich mitbekommen, stell dir mal vor, hat ja jeder hier. Ihr wart laut und deutlich zu hören gewesen.“ Der Südländer ließ sich seine Unruhe nicht anmerken. „Du hast mir sowieso nie etwas von deiner Familie erzählt, geschweige denn von einem Bruder. Nur, dass du einmal verheiratet warst. Oder bist du es noch und hast mir da ebenfalls etwas verschwiegen?“ Darian verneinte, in dem er mit dem Kopf leicht schüttelte. Was die Sache mit Jaden anging, so würde er es Miguel nicht sagen können. Er hatte sich zwar geschworen, keine Lügen mehr, aber er war auch zu aufgewühlt. Die Tatsache, dass er heute Jaden gesehen hatte und das vertraut mit Carsten, hatte in ihm eine tiefe Wunde hineingerissen. Jaden war also nicht nur abgehauen, nein, er hatte sich ein neues Leben aufgebaut. Und doch, er musste mit ihm reden. Er wollte ihm sagen, wie leid es ihm tat. Das erste Aufeinandertreffen war total schief gelaufen und die nagende Eifersucht hatte um ihn gegriffen. Er wollte Jaden. Und wie er ihn wollte. Schon fast mitleidig sah er zu seinem Freund, der wirklich für gar nichts konnte. „Es tut mir leid, ich hätte es dir sagen sollen, aber als ich Jaden mit ihm sah, einem wesentlich älteren Kerl dazu, da bin ich ausgerastet.“ Miguel schüttelte trotzdem den Kopf, er verstand den Zusammenhang nicht. „Nun ja, ich kann nur hoffen, dass Carsten dich nicht anzeigen wird. Ich denke, du wirst wohl nicht mehr zu ihm in die Praxis gehen.“ „Nein, das wäre keine gute Idee. Es tut mir leid.“ „Ja, mir auch.“ Miguel schien besänftigter und wollte darum Darian küssen, ihm zeigen, dass er für ihn da ist. Doch wich der Münchner einen Schritt zurück, erneut an diesem Abend. Darian bemerkte die Enttäuschung, versuchte sich zu entschuldigen, in dem er den Kopf schüttelte. Nach Liebkosen war ihm bestimmt nicht zumute, auch wenn der Sex mit Miguel toll war, verliebt war er nicht in ihn. Auch ein Problem, was auf ihn zukommen würde, wenn Miguel wirklich mit nach München kommen wollte.     ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 34: ------------ ~°~34~°~     Wenn es einen Gott gab, der uns nicht wohlgesonnen war, dann spürten wir ab diesem Zeitpunkt seine volle Härte. Wir fühlten Gottes Zorn. Warum durften wir nicht glücklich sein? Hatten wir nicht genug durchgemacht! Fast ein Jahr später, ich war tatsächlich über Darian hinweggekommen, erkrankte Carsten an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er hatte die Bauchschmerzen, warum auch immer, ignoriert, bis er es nicht mehr vor mir verheimlichen konnte. Ich sah am Frühstückstisch oder beim Abendessen seine voranschreitende Appetitlosigkeit, die Schmerzen im Gesicht. Carsten, der immer gerne aß, das Leben genoss, mochte auf einmal in der Frühe seine Brötchen nicht mehr. Umso liebevoller ich den Frühstückstisch gestaltete, umso schlechter gelaunt wurde er. Als ich ihn anbrüllte, was los sei, sagte er mir, dass er Schmerzen hätte und dann erst ging er endlich zu einem Arzt. Aber es war zu spät – zu spät für eine Behandlung. Natürlich blieben wir nicht bei einer Diagnose, sondern holten uns zwei weitere Meinungen ein. Aber alle sagten das Gleiche: Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium. Carsten war dem Tode geweiht. Die endgültige Diagnose riss uns beiden den Boden unter den Füßen weg. „Warum?“, fragte ich schockiert, als wir von der letzten Untersuchung abends völlig erschöpft zuhause ankamen. „Ich dachte, es wäre der Stress, vielleicht auch noch die Sache mit deinem Bruder, dies wäre mir auf den Magen geschlagen. Ich glaubte tatsächlich, ich hätte nur eine Magenschleimhautentzündung.“ Carsten schien gefasster als ich. Wie konnte er in dem Moment so ruhig bleiben? Schon der Gedanke, ohne ihn weiter leben zu müssen, war für mich undenkbar. „Aber wenn du gleich gegangen wärst?“ Ich konnte und wollte es nicht begreifen. Wir waren so glücklich. „Ich bin kein Ärztegänger, hab so was wie eine Phobie, man sieht, was dabei herauskommt.“ Die geröteten Augen und wie er mich blass ansah, riss mir das Herz entzwei. Ich nahm ihn in den Arm und schwor mir, zu kämpfen, noch war nicht alles verloren. Und doch dachte ich immer öfter nach, ob man uns nicht einfach bestrafte. Für unsere Liebe, oder war es die Liebe zu meinem Bruder – den ich immer noch still liebte, aber mich für Carsten entschieden hatte und nun damit zurechtkam? Warum war das Schicksal so grausam? Wie in Watte gepackt, fühlte ich im Moment so viel und dann wiederum gar nichts ... man konnte es nicht beschreiben. Ich verstand Carsten nicht wirklich. Warum hatte er solche Angst vor Ärzten? Er half doch den Menschen ebenfalls. Er hatte mir geholfen! Ich hatte dank ihm niemals zu einem Therapeuten gemusst. Es war alles sein Verdienst gewesen. Als er mich damals auf der Brücke von meinem Selbstmord abgehalten hatte, hatte er mich auch nicht in ein Krankenhaus gebracht. Ich grübelte etwas, doch dann verstand ich langsam seine Phobie. Er hatte sie von Anfang an. Jeder andere hätte mich damals eingeliefert.  Zudem fiel mir noch etwas auf. In der ganzen Zeit, in der wir zusammen waren, war er nur einmal beim Arzt gewesen und das war, als er sich mit meinem Bruder geprügelt hatte. Ich fragte nicht mehr nach und nahm ihn so, wie er war. Doch jeden Abend weinte ich mich still und heimlich in den Schlaf, wenn Carsten neben mir eingeschlafen war. Tagsüber zwang ich mich, ihm beizustehen. Trotzdem gab es Tage, in denen ich wütend wurde, weil er nicht früher zu einem Arzt gegangen war. Doch brauchte er mich. Er brauchte eine Schulter zum Anlehnen, jemand, der ihn im Arm hielt, wenn es ihm schlecht ging. Schließlich war er der Todgeweihte, nicht ich. Ich gab alles, und merkte, dass ich ihm dadurch Halt gab, opferte meine ganze Kraft. Zumindest konnte ich ihm so etwas zurückgeben, konnte ihm beweisen, dass er sich auf mich verlassen konnte, so wie er es früher bei mir tat, als es mir so schlecht ging und er für mich da war. Daher hatte ich Angst um ihn und wollte mich nicht damit abfinden. Auch wenn die Ärzte ihm keinerlei Chance ausrechneten, klammerten wir uns an jeden Strohhalm, probierten zum Schluss diverse Heilpraktiker aus. Und dennoch … Carstens Gesundheitszustand verschlechterte sich so drastisch, dass er sein abendliches Klavierspielen einstellen musste. Wie würde ich seine Musik vermissen. Ich sah jeden Tag seine Kraft weniger werden. Gevatter Tod kam immer näher und näher. Wir redeten viel über das danach und Carsten hatte den Wunsch, in seinem Haus zu sterben. Ich respektierte seinen Wunsch, war es mir ebenfalls lieber, als wenn er in einem Krankenhaus die Augen zumachte. Hier war er zu Hause bei mir und seinem Hund. Dank einer Patientenverfügung bekamen wir keine Schwierigkeiten und konnten uns eine stationäre Hilfe kommen lassen, die seinen Zustand einmal am Tag überwachte. Die Arbeit hielt mich aufrecht, und ich kümmerte mich um alles. Die Praxis lief nun ohne Carsten weiter, wir hatten sie abgegeben, als er nicht mehr arbeiten konnte. Beate, seine Sprechstundenhilfe, hatten wir von seiner Krankheit unterrichtet und sie wurde von dem neuen Therapeuten übernommen. Das war auch der Zeitpunkt, zu dem wir beide gemeinsam beschlossen, seine Krankheit nicht mehr vor den anderen zu verheimlichen. Ich war dankbar darum. Unsere Freunde waren sowieso stutzig geworden, als wir keinen mehr besuchten und wir auch keinen Besuch mehr empfangen hatten, an Ausreden wurden wir nie verlegen. So luden wir an einem Samstagnachmittag alle Freunde, Verwandte, sogar seine Eltern, zum Kaffee und Kuchen ein. Bei seinen Eltern wunderte es mich, dass sie überhaupt kamen, hatte Carsten doch kein Verhältnis mehr zu ihnen gehabt. Nachdem alle mit Kuchen und Getränke versorgt waren, wir hatten davor mithilfe unserer Haushälterin das Wohnzimmer etwas umgeräumt und zwei Tische zusammengestellt und zu einer großen Tafel umgestaltet, ließ Carsten die Bombe platzen. Viele von ihnen dachten an etwas ganz anderes. Mir wäre das ‚etwas andere‘ auch lieber gewesen. Alle sahen uns mit entsetzten Gesichtern an und da stand Carsten schließlich von seinem Platz auf und erzählte es ihnen ausführlicher. Ich bewunderte seine Haltung, während er über seine Krankheit berichtete. Carsten schien gefasst und mit sich im Reinen. Er kam mit seiner Ansprache ans Ende. „Seid nicht traurig, ich habe alles erreicht, was ich mir jemals erträumt habe. Und ich habe einen wundervollen Mann an meiner Seite.“ Er schenkte mir einen verliebten Seitenblick, der mir durch und durch ging. Tapfer schenkte ich ihm ebenso einen zurück. Die gespenstische Stille, die Einzug hielt, war schlimm, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Taschentücher wurden ausgepackt. Hier und da ein Raunen. Es fielen Tränen, Kuchenstücke wurden nicht weiter angerührt und zu Ende gegessen, der Kaffee zum Teil kalt. Ich hielt Carsten im Arm und er hielt mich, als es dann alle verdaut hatten. Zum Schluss lagen wir uns beide in den Armen und ich hatte all meine Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Wie liebte ich diesen Mann, in den letzten Tagen noch mehr, auch wenn wir uns nicht mehr körperlich so lieben konnten, gab es die stille Liebe, die zwischen uns immer fester wurde. Seine Eltern hingegen überraschten mich mit ihrer distanzierten Haltung ihrem Sohn gegenüber, als sie dann als Erste gehen wollten. Sie wirkten auf mich wie Fremde. „Wollen Sie nicht noch ...“, versuchte ich sie zum Bleiben zu überreden, doch schüttelte sein Vater den Kopf und ich ließ sie wortlos gehen. Mit einem Handgruß hatten sie sich verabschiedet. „Lass sie, wir haben nicht das beste Verhältnis, es ist besser so. Sie haben mir nie verziehen, dass ich mich von Inge scheiden ließ und dass ich mich geoutet hatte. Sie sind gekommen, immerhin etwas, ich hätte es nicht gedacht.“ Er versuchte sich in einem Lächeln und da wurde mir schmerzlich bewusst, dass mir meine Familie fehlte. Susan, meine Mutter, auch mein Vater – Darian! Der Samstag neigte sich dem Ende, und unsere Gäste verabschiedeten sich, wirkten verunsichert. Viele wollten etwas sagen, doch Carsten lenkte geschickt ein. Er war derjenige, der es von uns allen am besten wegsteckte … Von da an bekamen wir täglichen Besuch. Sie sprachen sich untereinander ab, sodass Carsten nicht noch mehr belastet wurde, wenn der Besuch zu viel für ihn werden würde. Die mitleidigen Blicke jedoch brachten mich schier um den Verstand. Jeder kam ihn besuchen, manche ein paar Mal mehr sogar ... nur einer kam nicht, Miguel, den ich damals seit der Hochzeit nicht mehr gesehen hatte. Ich hatte ihn auch nicht angerufen, die Angst, ich würde Darian am Telefon haben, war zu groß.   Die letzten Stunden waren für mich die schlimmsten, als Carsten durch das Morphium mehr schlief, als dass er von der Umwelt etwas mitbekam. In wachen Momenten versicherten wir uns unsere Liebe. „Jaden.“ Ich war kurz eingenickt, als ich seine dünne Stimme vernahm, schreckte ich auf der Couch hoch und war sofort bei ihm. Wir hatten unten im Wohnzimmer das Krankenbett hergerichtet, da Carsten nicht mehr die Kraft hatte, die Treppen nach oben ins Schlafzimmer zu schaffen und ich schlief auf der Couch, wollte ganz nah bei ihm sein. „Schht, du sollst dich nicht überanstrengen.“ „Mir egal.“ „Aber mir nicht, Schatz.“ Carsten winkte träge ab und ich ließ ihn, setzte mich seitlich auf sein Bett und strich ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Er war so dünn geworden. Die Wangen eingefallen, um Jahre gealtert, die Augen trübe, sie hatten an Glanz verloren. Es zerriss einem das Herz und doch liebte ich ihn. Basta lag bei uns, er spürte, dass etwas mit seinem Herrchen nicht in Ordnung war, und spitzte die Ohren. „Jaden, dass mit dir und Darian tut mir so leid“, flüsterte er. Warum sprach er jetzt gerade von meinem Bruder? „Warum denn? Das muss dir doch nicht leidtun.“ „Doch.“ Er schloss kurz seine Augen, Schweißperlen traten auf die Stirn und ich wischte sie mit einem trockenen Tuch weg. „Nein, das muss es nicht.“ Erwiderte ich mit Nachdruck, küsste ihn dann. Ich schmeckte die Medikamente auf seinen Lippen. „Ich habe mich für dich entschieden und ich bereute es niemals.“ Vorsichtig legte ich mich zu ihm auf das Krankenbett und umarmte ihn. Er berührte meine Hand, als ich weitersprach. „Ich bin genau da, wo ich sein möchte, nämlich bei dir.“ „Ich liebe dich, mehr als du denkst.“ Carstens Stimme wurde brüchiger und ich hob meinen Kopf, die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten, ich wusste, sein Ende war nicht mehr weit und meine Trauer nahm überhand. „Ich liebe dich auch.“ Das Morphium nahm wieder seine Arbeit auf, er war eingeschlafen.   Er starb am nächsten Tag, an einem Donnerstagmorgen, in meinen Armen. Als ich spürte, wie er seine letzten Atemzüge machte und ich mich zu ihm legte, ihn in den Arm nahm und sah, wie er ein letztes Mal kurz die Augen öffnete – mich anblickte und starb. Da wusste ich, er hatte meine Anwesenheit gespürt, auch ohne große Worte, verabschiedete ich mich still von ihm, drückte zuletzt einen Kuss auf seine nun toten Lippen, während ich bitterlich weinte. Carsten war nicht mehr da, hinterließ eine große Lücke, eine Leere, in die ich abzustürzen drohte. Und ich stürzte ab.     ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 35: ------------ ~°~35~°~     Carstens Tod nahm mich mehr mit, als ich es mir in den kühnsten Träumen hätte je vorstellen können. Von da an lief alles, wie in einem schlechten Film ab, und die Beerdigung war noch so lange hin. Eine Woche, wie sollte ich die überstehen? Ausgebrannt und betäubt nahm ich kaum meine Umwelt wahr. Ich wurde ungerecht den Menschen gegenüber, die versuchten, mich zu trösten – oder aufzubauen, um mein Leben ohne Carsten weiter leben zu können. Aber jeder noch so gut gemeinte Rat prallte an mir ab. Wie ein Fels in einer Brandung, an dem alles zerschellte, ließ ich keinen mehr an mich heran. Auch Inge und ihr Mann, die täglich nach mir sahen, drangen nicht zu mir durch, so sehr sie es versuchten. Die beiden bemühten sich wirklich, doch ich konnte und wollte es nicht zulassen. Ich stieß sie immer weiter weg von mir, wurde regelrecht aggressiv. Aber nicht nur das, auch zu Basta verhielt ich mich nicht fair und kümmerte mich nicht mehr richtig um ihn. Ich ging zum Schluss nicht mal mehr mit ihm Gassi, ließ ihn lieber auf dem Grundstück sein Geschäft verrichten. Ich wusste, ich tat ihm unrecht. Wenn er mich mit seinen traurigen Augen anschaute, konnte man meinen, er wüsste, wie schlecht es mir wahrhaftig ging. So sehr ich den Hund liebte, ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, mich um ihn zu kümmern. Wie auch? Ich schaffte es nicht mal, mich um mich selbst zu kümmern und hatte sogar die Beerdigung Inge überlassen. Inge und Carstens Eltern. Inge sah diesem Zustand wegen Basta nicht mehr lange zu und nahm ihn eines Tages mit, mit der Begründung, wenn es mir besser gehen würde und ich mich endlich um ihn kümmern könnte, dann würde sie ihn mir zurückgeben. In dem Falle war ich ihr dankbar, auch wenn ich es so offen nicht zeigen konnte. Nicht einmal der Vierbeiner hatte mich trösten können. Und als Basta weg war, nahm ich die Ruhe, die nun wirklich im Haus herrschte, teilnahmslos hin, versank weiter im Selbstmitleid. Ich hasste die Welt dafür, dass man mir das Liebste auf Erden genommen hatte und das ließ ich an allen aus. Wie durch einen Nebelschleier dachte ich an die Zeit zurück, in der wir glücklich waren. Aber anstatt mich damit zu trösten, dass wir aneinander gefunden hatten, wurde der Schmerz dadurch schlimmer, die Sehnsucht nach ihm von Tag zu Tag unerträglicher. Tagsüber hielt ich es kaum noch aus und die Einsamkeit nahm mich mehr mit, als ich mir eingestehen wollte. An den Abenden betrank ich mich und rauchte nebenher wie ein Schlot, ich hatte wieder mit dem Laster angefangen. Und morgens, nachdem ich aufgestanden war, wo auch immer, meistens war es auf dem Boden des Wohnzimmers neben der Bar, trank ich einfach die Reste vom Vortag weiter, bis der Tag seiner Beerdigung kam. Der Tag, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte. Nun war es so weit. Ich schämte mich, dass ich selbst das nicht geschafft hatte, für ihn zu organisieren. Inge machte mir zwar keine Vorwürfe, aber wie seine Eltern über mich dachten, wollte ich mir nicht ausmalen. Gesagt hatten sie nichts. Und dennoch. Das hatte Carsten nicht verdient. Doch konnte ich nicht anders, als mich weiter im Selbstmitleid zu baden. Verkatert, schwarz gekleidet, und mit großer Sonnenbrille, um die geröteten Augen zu verdecken, nahm ich an der Beerdigung teil. Inge und Peter hatten mich zuhause abgeholt. Ich sah aus wie eine Leiche und fühlte mich auch danach. Carstens Ex-Frau hatte sich neben mich gestellt. Vielleicht spürte sie meine Hilflosigkeit. Daneben stand Carstens Onkel, Ben. Ein ruhiger Pensionär, wie Carsten immer sagte, ich kannte ihn kaum. Da Carsten sich eine Baumbeerdigung gewünscht hatte, lief das Zeremonielle anders ab, als es bei den üblichen Beerdigungen war. Während wir alle um den Sarg herum standen, schwieg ich, redete mit keinem ein Wort, als man mir Beileid wünschte. Stumm schüttelte ich jedem die Hand. Ich konnte nicht anders, denn jedes Wort, egal wie banal es klingen mochte, war für mich zu viel, der Schmerz wäre unerträglich geworden, versuchte Contenance zu waren. Das einzig Tröstliche war, dass es wirklich eine völlig andere Beerdigung war, und man eher Carstens Lebensgeschichte erfuhr, anstatt nur von Gott und Jesus zu reden, um den Leuten klar zu machen, dass er jetzt im Himmel wäre. Nein, so eine war das nicht. Ich sah die Masse an Leuten, die versammelt um den Mann standen, der zum Schluss für Carsten die Hauptrede halten sollte. Sven, ein Theologe und guter alter Freund von ihm. Mit leer gefegten Kopf lauschte ich den Worten, konnte sie aber nicht aufnehmen, sondern sah mich stattdessen um, wer alles zu der Beerdigung gekommen war. Das schien mir wichtiger, als diese Rede, die monoton dahinplätscherte. So viele Menschen, du bist wirklich geliebt worden! Auf einmal spürte ich, wie ich angestarrt wurde. Als ich registrierte, wer noch da war, begann für mich erneut die Hölle auf Erden. Darian! Meine Augen erfassten diese Person vor mir, dazwischen war Carstens Sarg. Völlig fassungslos starrte ich auf meinen Bruder, der neben Miguel stand. Wieso war er hier? Wieso waren beide gekommen? Mein Herz wollte stehen bleiben und nicht mehr weiter schlagen. Meine Beine drohten einzuknicken. In meinem sowieso schon leer gefegten Kopf, der noch immer dröhnte, weil er den tagelangen Alkoholkonsum verarbeiten musste, kam eine beinahe Ohnmacht hinzu. Der Anblick meines Bruders verschwamm unter einem Tränenschleier. Wie gut, dass ich nicht geschminkt war, so verschmierte mir keine Wimperntusche und dennoch liefen mir die Tränen. Ich drehte den Kopf weg, wankte bedrohlich, verlor das Gleichgewicht. Sofort spürte ich, wie ich rechts und links am Arm gestützt wurde. Der Schwindel nahm zu und ich war dankbar für die schnelle Hilfe. „Es geht gleich wieder vorbei“, murmelte ich wenig überzeugend, was mit einem Seufzen quittiert wurde. „Jaden“, flüsterte Inge mir zu. „Reiß dich zusammen. Bitte! Es ist für uns alle nicht einfach.“ Sie hatte mich nun fürsorglich in den Arm genommen und ich hing schlaff an ihrem Körper, schniefte, während Carstens Onkel mich losgelassen hatte. Ich musste weiter gegen den Schwindel und Tränenfluss kämpfen, schloss daher kurz die Augen. Als ich die Lider öffnete, schaute ich sofort in die Richtung, in der ich Darian und Miguel hatte stehen sehen, doch der Platz war leer. Ich blinzelte mir die Tränen aus den Augen und konnte mir meine Fata Morgana nicht erklären, sah mich weiterhin suchend um. Hab ich ihn mir eingebildet? Beide? „Suchst du jemanden?“ Inges Hand lag warm auf meiner linken Schulter gebettet und nahm an Gewicht zu, so kam es mir jedenfalls vor. Eher unbewusst als abweisend nahm ich sie von der Schulter und Carstens Ex-Frau sah mich schon beinahe entschuldigend an. „Hast du den Mann eben nicht gesehen, der neben Sven und Miguel gestanden hat?“, murmelte ich ihr leise ins Ohr, damit man uns nicht direkt hören konnte. Innerlich bebte ich, fühlte, wie mein Blut durch die Adern rauschte, zumindest bildete ich mir das ein, während ich abermals auf den leeren Fleck starrte, in der Hoffnung, er würde wie der Heilige Geist wieder erscheinen. Doch der Platz neben dem Theologen blieb leer. So sehr ich mich umsah, Darian blieb mit Miguel verschwunden und ich bekam immer mehr den Eindruck, ihn mir in meiner Fantasie eingebildet zu haben. Wurde ich verrückt? „Welchen Mann?“, fragte sie besorgt. Da fiel mir ein, dass Inge nichts von meinem Bruder wissen konnte, es sei denn, er hatte sich ihnen auf der Hochzeit vorgestellt. Wenn es so gewesen wäre, war ich dann nie darauf angesprochen worden. Ich antwortete nur mit einem Kopfschütteln und winkte ab. Mein Kreislauf stabilisierte sich. Die Beerdigung, ich überstand sie, doch eher wie in einem Film. Ich war da, und doch nicht. Nahm alles wahr, aber nur durch einen Schleier. Die Rede, die der Theologe hielt, wurde emotionaler. Ich selbst konnte keinen Ton dazu beitragen. Und es wurde schlimmer, als ich sah, wie man seinen Sarg wegtrug, weil alles für die Verbrennung vorbereitet wurde. Da sackte ich endgültig in mich zusammen und ließ laut meinen Tränen freien Lauf. „Du fehlst mir“, flüsterte ich tränenreich.   ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 36: ------------ ~°~36~°~     Später, bei dem üblichen Leichenschmaus, brachte ich keinen Happen hinunter. Wie auch! Ich saß verloren zwischen den Stühlen und beteiligte mich weder an den Gesprächen noch war ich gedanklich wirklich hier. Es war mir zuwider, mich zu unterhalten, oder wie toll Carsten früher war und dass alles wieder gut werden würde. Die hatten alle gut lachen, ich hatte meinen Partner verloren. Warum war er von mir gegangen? Warum war uns kein längeres Glück beschert? Warum hatte mir meine Fantasie so einen Streich gespielt und ich mir Darian auf der Beerdigung eingebildet – dazu noch mit Miguel? All die vielen Fragen, auf die die Antworten komplett fehlten, brachen über mir zusammen. Meine Augen waren auf den trockenen Rotwein vor mir fokussiert, den ich das dritte Mal bestellt hatte. Der Griff nach dem Weinglas jedoch wurde sofort von einigen mit missbilligenden Blicken quittiert, was mir nach zwei Gläsern davon galant am Arsch vorbeiging. Ich nahm großzügig mehrere Schlucke. Ich brauchte den Alkohol, der jetzt langsam meine Sinne umnebelte. Der Chianti rann wohltuend meine Kehle hinunter und füllte meinen Bauch mit Wärme aus, die mir ansonsten fehlen würde. Iris, Carstens Cousine, hatte sich zu mir gebeugt, und ihre Hand über meine rechte gelegt, die ich auf den Tisch abgelegt hatte. Warum sie neben mir saß, war mir schleierhaft. Sowieso lernte ich auf der Beerdigung Menschen kennen, die ich zu Carstens Lebzeiten niemals richtig gekannt hatte. „Zeit heilt alle Wunden, doch solltest du etwas essen, statt nur Wein in dich hinein zu schütten“, waren ihre beinahe mahnenden Worte. Was wusste sie von Trauer? Ich wusste nicht, was schlimmer war, ihre Worte oder das Bemuttern, weil sie selbst keine eigenen Kinder hatte. Ich wusste, ich war ungerecht, doch konnte ich nicht aus meiner Haut. Meine Hand, die noch immer unter ihr gefangen war, bebte. Ich riss sie wütend an mich und stand vom Platz auf. Der Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, fiel um. Ich ignorierte das Poltern hinter mir. „Was bist du? Meine Mutter, mein Vormund? Auf dumme Sprüche habe ich keinen Bock.“ Um mich herum war es urplötzlich still geworden, doch ich war zu wütend, um mich in meinem Wortfluss zurückzunehmen. „Was glotzt ihr alle so blöde?“, war nun die Frage an alle, die ihre Augenpaare auf mich gerichtet hatten, als wäre ich ein Superstar. Nur war ich hier keine Berühmtheit und dies hier war keine Showbühne, in der ich all meine Fans beeindrucken musste. Ich war angewidert. „Mir geht’s gut, sieht man doch.“ Dann nahm ich, immer noch stehend, mein Glas andächtig in die Hand und trank demonstrativ den Rest in einem Schluck aus. Der Alkohol beruhigte mich, während ich unsanft das Glas abstellte. Ich entfernte mich leicht schwankend von der Trauergemeinde, die immer noch blöd glotzend am Tisch saß und nicht wusste, wie sie mit mir umzugehen hatten. Einige waren dann doch aufgestanden, unter anderem auch Inge, um mich zurückzuhalten, doch ließ ich nichts an mich heran. Schon gar kein Mitleid. Ich machte eine ablehnende Handbewegung. „Lasst mich in Ruhe, ich komme schon klar.“ Ich straffte die Schultern und versuchte, im normalen Gang die Gaststätte, die dafür extra angemietet war, zu verlassen, was mir auch glücklicherweise gelang. Ich nahm ein Taxi, denn ich war ja mit Inge und ihrem Mann gekommen, und selbst wenn ich mit einem eigenen Auto da gewesen wäre, fahren hätte ich in dem Zustand sowieso nicht gekonnt. Zu Hause angekommen bröckelte jedoch die Fassade rapide wie der Untergang von Atlantis. Ich sank in mich zusammen, ließ mich auf den Flurboden gleiten, umschloss meine Beine mit meinen Armen und wiegte mich im Sitzen hin und her. Ich wurde von einem Tränenfluss erfasst, der nicht aufhören wollte. Das Haus wirkte auf mich zu groß, zu leer. Zudem fehlte mir Basta auf einmal sehr. Der Vierbeiner, der mich getröstet hätte. Er war nicht bei der Beerdigung dabei gewesen. Ich bekam einen Zorn auf seine Familie, wurde ungerecht. Warum hatte ich nur zugestimmt, dass Inge Basta mitgenommen hatte, ich konnte mich doch um den Hund kümmern? Was sollte das? Aber im Grunde genommen lag ein anderes Problem vor, und das war ich. Ich war unfähig, mich um mich selbst zu kümmern. Basta fehlte mir. Carsten fehlte mir.   Die Trauerfeier, sie war nun eine Woche her und seit gestern war auch die Baumbeerdigung vorbei, bei der ich seine Urne selbst getragen hatte. Es war nur die Familie anwesend. Doch dieses Mal hatte man mich in Ruhe gelassen. Ich hatte mir davor ein wenig Mut antrinken müssen, um dies alles zu überstehen. Ich schaffte den Tag mit einer Disziplin, die ich mir selbst nicht zugetraut hätte, doch innerlich war ich kalt und leer. Eine deutsche Eiche hatte Carsten sich vor seinem Tode gewünscht, die hatte er nun bekommen mit einem kleinen Namensschild dran. Das ist nun alles, was von ihm übrig geblieben war, dachte ich und die Panik vorm Alleinsein brach über mich rein. Kein Strohhalm, an den ich mich klammern konnte. Nun war es endgültig vorbei. An dem Tag hatte ich mich in den Schlaf getrunken. Ich wusste, ich trank zu viel. Die zahlreichen Beileidsbekundungen hingegen nahmen nicht ab. All seine Patienten, frühere Freunde, Nachzügler, die jetzt von seinem Ableben erfahren hatten, wünschten mir Beileid. Dabei ertappte ich mich dabei, in der Post nach Darians Beileidswünschen zu suchen, doch fand ich keine darunter. Ich war wie betäubt und fühlte in der Zeit rein gar nichts mehr. Basta, den ich wieder zu mir nahm, in dem ich Inge gegenüber beteuerte, mich wirklich um ihn kümmern zu können. Das war an einem Tag, da hatte ich nicht all zu viel getrunken, und ich hatte einen soliden Eindruck hinterlassen, denn Inge und ihr Mann gaben schließlich nach. Mit dem Vierbeiner an der Leine schloss ich die Wohnungstür auf. Der Hund winselte, fühlte ebenso die Leere, dass Carsten nicht mehr hier war, was für mich im Innern einen schmerzlichen Ruck auslöste. Ich tröstete mich mit seinem Hund, schmiss mich regelrecht an ihn und heulte in sein weiches Fell hinein. Nach über zwei Wochen wuchs die Trauer immer weiter an. „Basta, wie soll es nur ohne Carsten weitergehen?“ Der Hund legte als Antwort seinen Kopf schief und starrte mich aus seinen ebenfalls traurigen Augen an, als ob er mir sagen wollte: „Ich verstehe, was du durchmachst, ich vermisse ihn auch, aber lass dich nicht hängen, ich bin doch auch noch da.“ Lange hielt ich Basta in meinen Armen, bis ich wieder in mein altes Schema fiel. Ich brauchte etwas zu trinken. Wirklichen Trost verspürte ich nur, wenn ich eine Flasche Wein, oder auch zwei am Abend mit ein paar Beruhigungstabletten herunterspülen konnte und eine: Leck - mich - am - Arsch - Manier sich darüberlegte, wie ein Mantel um einen frierenden Körper. Zudem quoll der Aschenbecher über, denn ich rauchte wie ein Schlot. Die Illusion, in der ich mich durch Alkohol, Tabletten und Nikotin befand, hielt nur wenige Stunden an, dann fiel ich auf den harten Boden der Realität zurück. Meistens wachte ich frierend auf dem Wohnzimmerboden, mit einer Flasche danebenliegend, auf. Und wenn ich von Carsten geträumt hatte, war meine Unterhose mit Sperma befleckt. So fehlte er mir, dass mein Körper auf ihn reagierte. Wenn dies der Fall war, fühlte ich mich noch leerer. Die Haushälterin hatte inzwischen gekündigt, als ich sie betrunken angeschrien hatte, weil ich in meinem Rausch Sachen sah, die so nicht da waren. Irgendwann hielt es die gute Frau mit mir nicht mehr aus. So war ich mit Basta ganz alleine in dem großen Haus. Auch wenn sie nur zweimal die Woche gekommen war, hatte sie sich wenigstens um die Hygiene gekümmert. Jetzt stapelte sich die schmutzige Wäsche in dem schon längst überfüllten Wäschekorb und das dreckige Geschirr fand den Weg in die Spülmaschine nicht mehr. Ich sah wohl den Verfall, doch fühlte ich mich zu schwach, um etwas dagegen zu unternehmen, obwohl ich Carsten vor seinem Tod versprochen hatte, es nicht zu tun, hatte ich das Versprechen gebrochen. Das Einzige, was ich nicht vernachlässigte, war der Hund. Den versorgte ich so gut ich konnte. Das war aber auch das Einzige, worauf man einigermaßen stolz sein konnte. Was mich anging, da sah es ebenfalls nicht so gut aus. Ich duschte nur einmal die Woche, wenn überhaupt. Mit den Klamotten sah es so ähnlich aus. Sie wurden nur dann gewechselt, wenn selbst mir der Duft zu unangenehm wurde. Meine Haare, sie verfilzten immer mehr, weil ich Krieg mit sämtlichen Bürsten und Kämmen abgeschlossen hatte und Arbeit hatte ich auch keine mehr. Zwar hatte Carsten vor seinem Tod dem Nachfolger gesagt, dass ich weiterhin helfen würde, doch der bestellte mich nicht mehr ein, als ich zweimal wütend: „Hab keine Lust auf den Mist hier“, ins Telefon gebrüllt hatte. Anstatt mich zu entschuldigen, beließ ich es so. Basta schaute mich die meiste Zeit nur stumm an, bellte weder, noch machte er groß Arbeit. Er verkroch sich dezent in sein Körbchen zurück, wo sein Fressnapf für ihn bereitstand, wenn ich wieder durch das Haus torkelte und irgendwelche Lieder, die im Radio liefen, schief nachsang. Der AB war inzwischen vollgesprochen und es passten keine Nachrichten mehr drauf. Ich hörte ihn schon lange nicht mehr ab. Auf Telefonanrufe reagierte ich abweisend und ging meistens nicht ran – genauso war es mit den Besuchen, von seiner Familie und meinen Freunden. Ich ließ sie hoffnungslos an der Haustür klingeln. Sie alle zogen sich von mir zurück, konnten meine Garstigkeit nicht mehr ertragen. Inge konnte mir Basta nicht ein zweites Mal wegnehmen, denn das Einzige, was nicht vernachlässigt aussah, war der Hund, auch wenn sie einmal den Versuch startete.   Sechs Wochen waren seit der Beerdigung vergangen, der Nachlass geregelt, denn Carsten hatte mir in seinem Testament, das er kurz vor seinem Tode durch seinen Anwalt hatte aufsetzen lassen, sein Haus und all sein Erspartes vermacht. Ich könnte also sorglos leben. Nur war ich zu sehr in meinem eigenen Mitleid versunken, sodass ich nicht merkte, wie ich mehr und mehr abstürzte. Es war an einem Freitagabend, ich war gerade dabei, die zweite Flasche Wein zu köpfen, um mein viel zu schnell ausgetrunkenes Glas wieder zu füllen, da fiel mein Blick auf den verwaisten Flügel, der tot und leblos im Raum stand. Wie sein Herrchen jetzt. Ich stellte die angebrochene Flasche zurück in die Bar und behielt aber mein volles Glas in der Hand, während ich den letzten Rest meiner Zigarette aufrauchte und den Stummel dann im Aschenbecher ausdrückte. Ich atmete tief durch. Die ganze Zeit über hatte ich bewusst das Klavier gemieden, hatte es nicht Mal richtig ansehen können. Doch aus irgendeinem Grund konnte ich dieses Mal den Blick nicht davon abwenden. Eine kleine Staubschicht hatte sich auf dem hochwertigen Teil abgelagert und milderte den herrlichen Glanz des schönen tiefenschwarzen Musikinstruments ab. Mein Herz zog sich bei dem Anblick schmerzvoll zusammen. Wie hatte Carsten es geliebt und ich ehrte es nicht in seinem Sinne. Schäbig und nieder kam ich mir vor. Ich fuhr mir durch meine verklebten Haare, was mich noch mehr in meiner Sache bestärkte, was für ein Ferkel ich geworden war. Mir fehlte Carsten und die Tatsache, dass ich mir zudem Darian auf der Beerdigung eingebildet hatte, machte die Situation nicht besser – im Gegenteil. Manchmal war es Darian, von dem ich zusätzlich träumte und mich dann hinterher dafür schämte, als es mir bewusst wurde. Ich schritt betrunken mit meinem Weinglas bestückt auf den Flügel zu und setzte mich ungeschickt auf den Hocker, stellte das Glas oben drauf – ohne Untersetzer. Carsten wäre in Ohnmacht gefallen. Ich klappte den Deckel ungelenk nach oben. Automatisch ließ ich meine Finger beinahe ehrfürchtig über die Klaviertasten gleiten, ließ jeden einzelnen Ton in sich klingen. Bis ich den höchsten Ton, das letzte C erreichte. Dann, als der helle Ton der Klaviertaste ausklang, übermannte mich das Mitleid, unterstützt von dem vielen Wein. „Carsten, du fehlst mir so“, lallte ich in den Raum, trank dann einen großzügigen Schluck aus dem langstieligen Rotweinglas und stellte es unsanft auf den Flügel. Die Melancholie umgarnte mich und hielt mich eisern in ihren Armen fest. Die Vorstellung, Carsten wäre hier, manifestierte sich und dann sah ich ihn vor mir, wie er neben dem Flügel stand und auf mich herunterblickte. Ich stellte mir vor, was er zu mir sagen würde, wenn er mich wirklich so sehen würde. „Lass dich nicht hängen“, sprach er zu mir, in dem warmen Ton der mich wärmte. „Hakuna Matata.“ Ein Satz aus dem afrikanischen, was mir immer Carsten zugeflüstert hatte, wenn ich mal wieder in meiner Trauer aufgegangen war. Danach war es mir immer besser gegangen. Warum ich gerade jetzt daran dachte, war mir ein Rätsel. Nach all den leeren Wochen ohne ihn, fielen mir seine Worte ein. Ich sah zu meinem Sinnbild und wie Carsten dabei lächelte. Sein strahlendes Lächeln, vor seiner schweren Krankheit, als er noch gesund aussah. Ich hatte alles genau so in Erinnerung. „Ja, ja, ich weiß, alles wird gut“, hickste ich in einem fort und sah weiter geistig zu ihm. Dann aber wurde ich nachdenklich, dachte über die Worte und deren Bedeutung erneut nach. „Ich lasse mich nicht hängen, versprochen, du fehlst mir nur so.“ Ich schluchzte und meine Hand rutschte aus und fiel unsanft auf drei Tasten, sofort entstanden schiefe Töne. „Ich werde dich immer lieben, mein geliebter Jaden, doch lebe nun weiter …“, flüsterte die Stimme von Carsten. „Ich dich auch ... Oh Gott, ich dich auch.“ Wo zuvor Taubheit herrschte, kam die Trauer vollends zurück, aber auch Leben, das in mir so lange geschlafen hatte. Ich weinte ein letztes Mal um ihn. Weinte dann weiter, weil ich wusste, dass ich mein Leben selbst in den Griff bekommen musste. Mir wurde bewusst, dass es nicht Carstens Worte, sondern meine waren, die durch seine vorgetäuschte Gestalt zu mir gesprochen hatten. Mein Inneres warnte mich zudem vor einem weiteren Selbstmord. Doch paradoxerweise war ich davon weit entfernt. Auch wenn ich mich die ganze Zeit über hatte hängen lassen, von Sterben war nie die Rede. Doch um dies zu spüren, um diese Tatsache vor Augen zu führen, musste ich so tief fallen, um genau da hinzukommen. Ein lebendiges Etwas sprudelte aus mir heraus und nahm von mir Besitz. Angewidert sah ich auf den letzten Schluck Rotwein vor mir, der im Glas dümpelte und darauf wartete, ausgetrunken zu werden, dann fiel mein Blick auf die vielen Zigarettenstummel. Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich will nicht mehr!   ©Randy D. Avies 2012  Kapitel 37: ------------ ~°~37~°~     Schwerfällig hob ich den Kopf, sah auf das Weinglas, das noch immer vor mir auf dem Piano stand. Leicht angewidert nahm ich meinen Blick davon weg. Wie hatte ich nur so tief fallen können? Doch die Zeit des Selbstmitleides war vorbei. Endgültig! Ich musste mich aufraffen, sollte nichts hinterfragen oder nach einem Warum erbitten, sondern handeln. Wenn ich etwas bewegen wollte, sollte ich es aus eigener Kraft heraus schaffen. Lange genug hatte ich, was mich anbelangte, hängen gelassen. In diesem Augenblick schwor ich mir, keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken, bis ich so weit auf der Höhe war, um in naher Zukunft wieder damit umgehen zu können. Dass es nicht einfach werden würde, musste mir keiner sagen. So viel Verstand besaß ich, um zu wissen, was auf mich zukommen würde. Die alkoholischen Getränke sollten in Zukunft ein Genussmittel bleiben, und nicht als Seelentröster verwendet werden. Nein, ich wollte das nicht mehr. Das gleiche galt übrigens auch fürs Rauchen, als ich meinen Blick über die vielen, aufgerauchten Zigarettenstummel schweifen ließ, die sich in den überfüllten Aschenbecher tummelten oder auf dem Boden verstreut lagen, weil ich zu faul gewesen war, sie ordnungsgemäß zu entsorgen. Das alles war ebenso ein Dorn in meinen Augen. Einige Läufer waren bereits mit Asche beschmutzt. Staubsaugen war in letzter Zeit ein Fremdwort gewesen. Darauf konnte man nicht stolz sein. Carstens Besitz – und ich hatte es nicht gewürdigt. Als ob Carsten mir mental zunicken, mir unter die Arme greifen würde, verspürte ich die Kraft, mich zu erheben, auch wenn der Alkohol meine Sinne und meinen Körper noch gut im Griff zu haben schien, war ich dennoch stärker, dagegen anzukämpfen. Wankend stand ich vom Hocker auf, atmete tief durch. Der Geruch von Schweiß, alter Wäsche, alles, was einen Menschen unattraktiv werden ließ, drang an meine Nase, hinterließen einen schalen Geschmack bei mir. Ich wollte wieder wie ein sauberer Mann riechen. Als Erstes brauchte ich dringend eine Dusche. Im Schlafzimmer angekommen holte ich mir aus dem Schrank frische Klamotten und ging langsamen Schrittes, um nicht irgendwo gegen ein Möbelstück zu stoßen, ins Bad. Basta, der ruhig das Ganze verfolgt hatte, trottete hinter mir her. Doch ihn mit ins Bad nehmen, das wollte ich nicht und drehte mich zu ihm herum. „Basta, ich werde es schaffen. Jetzt geh in dein Körbchen, los“, gab ich die Anweisung an ihn. Der Schäferhund gab als Antwort ein „Wuff“ von sich und bewegte sich in Richtung seiner Schlafstätte. Nachdenklich schaute ich ihm hinterher, bevor ich gänzlich hinter der Tür vom Bad verschwand. Das Gefühl, der Hund wäre der beste Freund des Menschen, bestätigte sich auch für mich. Noch immer etwas wackelig auf den Beinen zog ich mir daher ungeschickt und umständlich meine Sachen aus, ließ sie auf den Boden gleiten und kickte sie dann zur Seite. Später würde ich mich über die Unordnung kümmern. Jetzt erst einmal eine schöne Dusche. Ich drehte das Wasser auf, ließ den Wasserstrahl warm werden, duschte ausgiebig. Das Wasser kurbelte meinen Kreislauf an, trieb mir weiter den Alkohol aus den Knochen, weil ich nicht ganz so warm duschte. Anschließend wusch ich meine Haare, seifte sie gründlich ein, bis mich das Gefühl überkam, auch da sauber zu werden. All diese Dinge tat ich, wie schon lange nicht mehr so ausführlich und mit einem guten Gefühl. Die Haut meiner Hände und Füße war in der Zwischenzeit schrumpelig geworden, als ich die Dusche nach einiger Zeit verließ und mich anzog. Der frische Duft von Seife und Sauberkeit stieg mir in die Nase. Ich fuhr mir über den Bart, der als Nächstes dran glauben musste. Auch das hatte ich schleifen lassen und man konnte es kaum einen Dreitagebart mehr nennen. Einen richtigen Bartwuchs hatte ich nicht direkt und die kahlen Stellen dazwischen sahen mehr als nur belustigend aus, eher wie der eines Landstreichers. Über mein eigenes Spiegelbild schüttelte ich beschämend den Kopf. „Carsten, ich werde mich ändern, ich verspreche es.“ Dann nahm ich den Rasierer in die Hand und legte los, auch die darauffolgende Zahnhygiene kam nicht zu kurz. Nach einer gefühlten Stunde war ich mit mir zufrieden. Ich strich mir über das glatt rasierte Gesicht, schmeckte dabei die Zahnpasta im Mund, die den Geschmack von Rotwein und Zigaretten zurückgedrängt hatte, und ging in die Küche. Den Alkohol spürte ich zwar immer noch, aber es wurde besser. Doch bekam ich Durst. Daher holte ich mir einen Orangensaft. Auf den hatte ich Lust bekommen, und erinnerte mich daran, wie ich eine ganze Palette kurz vor Carstens Tod gekauft hatte, weil er das Getränk zum Schluss am liebsten gemocht hatte. Beinahe gierig trank ich mein voll eingeschenktes Glas in einem Zug aus, stellte es auf die Anrichte in der Küche ab. Jetzt, nachdem ich etwas durch den Saft gestärkt war, wusste ich, kam nun die eigentliche Arbeit auf mich zu. Ich seufze beinahe wehleidig, als ich das Durcheinander sah, während ich eine Inspektion durch das Haus machte. Es sah furchtbar aus. Zwar nicht ganz so schlimm wie bei einem Messie, der jahrelang alles hortete und nebenbei vergaß, sauber zu machen, aber erschreckend genug, um sich zu schämen. Wenn ich so weiter gemacht hätte, wäre ich dem Chaos nahegekommen, selbst einer zu werden. Beschämt über den Zustand der Inneneinrichtung, machte ich mich endlich an die Arbeit und die weitere verstrichene Zeit wurde ich nüchterner und voller Tatendrang. Ich wollte nicht mehr in diesem Dreck wohnen, auch wenn es die ganze Nacht andauern würde, war ich bestrebt, hier aufzuräumen und sauber zu machen. Wenige Minuten später, ich hatte mir Latexhandschuhe angezogen, war ich mit einer blauen Rolle Müllsäcke, saubere Putztücher, Reinigungsmitteln und einem Eimer voll heißem Wasser in der Hand bestückt gegen die Unordnung angetreten, begann die eigentliche Arbeit. Auch wenn es sehr spät am Abend war, fühlte ich mich voller Leben. Ich hatte wieder einen Sinn in meinem Leben bekommen. Das Gefühl der Richtigkeit nahm immer mehr zu. Zuerst sammelte ich all die Zigarettenstummel, Schachteln und Aschenbecher und entsorgte alles. Es fiel mir auch nicht schwer, die letzte angebrochene Schachtel Zigaretten ebenfalls in den blauen Müllsack zu werfen. Nein, auch das würde ich nicht mehr bereuen. Der kalte Rauch am Morgen, der sich in den Vorhängen und in der Tapete verfing, war nicht wirklich angenehm. Ich wollte wieder eine saubere und frische Wohnungseinrichtung genießen können. So fiel mir die Arbeit immer leichter, als ich zu dem ganzen Alkohol kam – die vollen Weinflaschen und Spirituosen. Alles, was wir überhaupt an alkoholischen Getränken hatten, ob in der Bar, im Kühlschrank gebunkertes Bier, das Carsten ab und an nach der Arbeit gerne getrunken hatte, oder die Vorräte, die ich mir angeeignet hatte, weil ich längere Zeit nicht aus dem Haus gehen wollte, dies alles schüttete ich in den Ausguss. Es fiel mir nicht allzu schwer, das zu tun – noch nicht! Die Entwöhnung würde noch kommen, dessen war ich mir bewusst. Danach putzte ich die Wohnung von oben bis unten, schickte Basta von einer Ecke in die andere, wenn er mir im Wege stand. Denn der Hund war von Neugierde getrieben. Schweiß stand auf meiner Stirn und wurde immer mehr. Bald war ich so durchgeschwitzt, dass ich meine Sachen wechseln musste, nicht, weil es hier zu warm war, nein, der Alkohol und die Arbeit waren der Grund dafür. Gegen den Nikotinentzug bestellte ich mir, als ich eine kleine Pause einlegte und ich mich dann an meinen Laptop setzte, über das Internet Nikotinpflaster, was am nächsten Tag per Post geliefert werden sollte. Als ich merkte, wie mich die Kraft vollständig verließ, beschloss ich, für heute Schluss zu machen. Am nächsten Morgen würde ich weitermachen. Ich schlief zwar gleich ein, aber dennoch war ich die restliche Nacht über unruhig, wachte hier und da kurz auf und schwitzte das Laken durch. Der Alkoholentzug begann, immer mehr zu werden. Am nächsten Morgen, ich hatte mir den Wecker gestellt, wachte ich gerädert auf. Der erste Griff nach einer Zigarette ging ins Leere, als ich Appetit danach bekam. Ich hoffte, der Paketfahrer würde bald mit den Pflastern kommen, seine Tour wegen mir anders im Bezirk planen und vielleicht gleich als Erstes erscheinen. Ich wusste, es war reines Wunschdenken. Um mich abzulenken, stand ich schnell auf und ging ins Bad. Wieder duschte ich ausgiebig und aß dann hinterher eine Kleinigkeit, nachdem ich Basta versorgt hatte. Viel an Nahrungsvorräten hatte ich nicht im Haus, aber für mich reichte es, denn ich hatte keinen allzu großen Hunger, eher einen Zug nach einer Zigarette. Es dauerte keine Stunde später, da klingelte es an der Tür. Der Paketfahrer mit dem Paket. Endlich! Dankend nahm ich es entgegen und ich brachte das erste Pflaster sofort an meinen Körper an, als ich das Paket in der Küche öffnete. Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein, aber ich hatte das Gefühl, nicht mehr ganz so süchtig nach einer Zigarette zu sein. Das Pflaster half – musste es, denn ich war fest entschlossen, wieder zu dem Jaden zu werden, der ich einst war. Noch war es ein weiter Weg und ich hatte vieles zu erledigen. Einen Schritt nach dem anderen, sagte ich mir. Zuerst kaufte ich Lebensmittel ein, die ich nicht mehr in Vorräten zuhause hatte, nahm Basta als Begleitschutz mit. Ich brauchte den Hund jetzt dringender denn je. Das Autofahren fiel mir schwer, da ich mich nicht immer konzentrieren konnte. Ich hatte den BMW genommen. Dann, nachdem ich die Vorräte so weit wieder aufgestockt hatte, ging es dem Wäscheberg an den Kragen und den bekam ich binnen einer Woche in den Griff. Bald sah das Haus wieder so aus, wie ich es kannte. Selbst die Hundehaufen, die Basta in meiner stumpfen Zeit hatte im Garten verrichten müssen, hatte ich entsorgt. Als alles erledigt war, hörte ich den Anrufbeantworter ab und kümmerte mich um die liegen gebliebene Post. Rechnungen, die ich vergessen hatte zu begleichen, erledigte ich noch an Ort und Stelle über Onlinebanking, bevor weitere Mahnkosten anfallen würden. Denn einen Teil der Beerdigung hatte ich vergessen zu überweisen. In dieser Zeit jedoch mied ich den Kontakt zu seiner Familie und den wenigen Freunden, die ich noch nicht ganz vergrault hatte. Ich vertröstete sie übers Telefon, weil sie sich doch Sorgen gemacht hatten. Ich machte denen klar, dass ich meine Ruhe bräuchte, ich aber auf dem Wege der Besserung wäre. Das alles in einem freundlichen Ton, sodass es mir keiner übel nahm. Immerhin! Der Alkoholentzug allerdings, der sich ein – zwei Tage länger hinzog, wie ich mir ausgerechnet hatte, war schlimm. Dennoch stärkte es mich in meinem Bestreben, richtig gehandelt zu haben und tat alles, um nicht in das alte Schema zurück zu fallen. Mit Aspirin und Magnesiumtabletten kämpfte ich gegen die Dämonen in mir, als ich einen Kollegen von Carsten anrief und mir Rat holte, als der Drang nach einem Glas Wein, Schnaps, was auch immer, überhandnahm. Er hatte mir dann die Tipps mit den Medikamenten zur Unterstützung gegeben. Und wenn meine Gedanken, trotz der befürwortenden Maßnahmen, sich nur um meine Sucht drehten, unternahm ich mit Basta lange Spaziergänge, oder ging mit ihm joggen, bis ich ausgepowert, verschwitzt, aber zufrieden mit mir, unter die Dusche ging. So bekam ich die gefährlichen Stunden herum. Nach ein paar weiteren durchgeschwitzten Nächten hatte ich mein Alkoholproblem wieder in dem Sinne im Griff, dass ich wirklich danach keine Gelüste mehr verspürte und ich die Medikamente ebenfalls nicht mehr zur Unterstützung brauchte. Ich aß auch regelmäßiger, zwang mich zu festen Essenszeiten und lächelte, als ich mich dabei ertappte, wie ich mir in den Kaffee Milch goss. Die Nachbarn sahen meine positive Entwicklung, dass ich öfter herausging oder mit meinem Hund joggte und wurden zugänglicher, grüßten mich zum größten Teil wie früher und ab und an fragte man nach, wie es mir so erging. Mir fiel es zwar noch schwer, über meinen toten Lebenspartner zu reden, aber es wurde mit der Zeit besser und besser. Alles verlief in etwa so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ja, mein Leben hatte wieder einen Sinn bekommen, doch hatte ich es bis jetzt gemieden, an Carstens Grab zu gehen. Das stand mir noch bevor, ich wusste, dass ich diese Hürde noch bestehen musste.     ©Randy D. Avies 2012   Kapitel 38: ------------ ~°~38~°~     Weit über eine Woche hatte es gedauert, bis ich von einem Wrack wieder zu einem halbwegs normalen Menschen wurde. Immer öfter ertappte ich mich dabei, wie ich minutenlang in den Spiegel starrte, und die klarer werdenden Augen registrierte. Auch vernahm ich mit Wohlwollen, wie erholt ich aussah. Die Haut wirkte gesund und durch das viele Joggen sah ich nicht mehr ganz so blass aus, wie noch vor wenigen Tagen. Trotz Novemberwetter wirkten die kargen Sonnenstrahlen positiv auf mich. Ich war kein Narziss in dem Sinne – weder selbstverliebt noch sonst was, aber auf mein Äußeres war ich stets bedacht. Mein gesamtes Erscheinungsbild, bis auf meine Haare, die dringend nach einem Friseurtermin riefen, war deutlich besser geworden. Genau in diesem Moment wusste ich, ich hatte es geschafft! Endlich! Keine Gelüste auf Alkohol oder nach einer Zigarette gaben mir zusätzlich ein gestärktes Gefühl. Die Aversion gegen mich war verschwunden. Endlich konnte ich mich so akzeptieren, wie ich war. Wow! Ob es allerdings an den Pflastern, die gegen das Rauchen wirkten, oder an der Medizin, die mein Verlangen nach etwas Alkoholischem abmilderten, gelegen hatte, das wusste ich nicht wirklich. Aber eines wusste ich mit Sicherheit – allein der eiserne Wille hatte den größten Anteil daran gehabt, dass ich gegenwärtig wieder mein Leben im Griff hatte. Vielleicht hatten auch viele Facetten zusammengespielt. Ich hinterfragte nichts, nahm mein neues Lebensgefühl so an, wie es jetzt war. Aber eines durfte ich niemals vergessen, Basta hatte viel dazu beigetragen. Die vielen Stunden mit ihm, wenn ich in Trauer verfiel, weil ich Filme anschaute, die Carsten und ich uns noch vor Kurzem angesehen hatten, Musikstücke, die uns verbanden, war der Hund die größte Stütze überhaupt gewesen. Wie konnte ich das vergessen?   Es war bereits Dienstag, als ich für das, was ich vorhatte, bereit war. Ausgepowert vom Joggen freute ich mich zuerst einmal auf meine Dusche. Der verschwitzte Körper nahm wohlwollend das Wasser entgegen, als ich kurze Zeit später unter dem warmen Wasserstrahl stand und mich kräftig einseifte. Wie gut das tat. Jeden Tag freute ich mich ein klein wenig mehr, banale, alltägliche Dinge einfach wundervoll zu finden. Basta wedelte freudig mit dem Schwanz, als er ins Bad hereintrottete. Dem Hund gefiel es, gefordert zu werden, und wenn man ihn, wie ich, jeden Tag um sich hatte, konnte man richtig erkennen, dass er mehr Auslauf hatte. Er wirkte schlanker, sehniger und ausgeglichener. „Basta, Basta!“ Ich schüttelte den Kopf, aber eher über mich, weil ich nie die Tür abschloss. Wenn man alleine in dem großen Haus wohnte – wozu auch, war ich doch alleine. Meistens war die Tür nur angelehnt, daher konnte Basta fast jedes Mal ungeniert hereinspazieren und ich verfluchte meine Unachtsamkeit, weil es dann viel zu spät war, um noch zu reagieren. „Hey, wie wäre es mal mit anklopfen? Keine Manieren, tze!“, tadelte ich ihn, während ich das Wasser abstellte, aus der Dusche stieg und mich dann mit einem frischen Frotteehandtuch abtrocknete. Sofort legte sich ein Dampf über das Bad, da die Heizung voll aufgedreht war. Auf meine Lippen platzierte sich ein Lächeln, als ich sah, wie Basta den Kopf schief legte, dabei seine Zunge kurz heraus schnellte und dann brav vor mir Platz nahm, als ich mich vor ihm anzog. Der Hund rührte sich nicht vom Fleck und sah mir ungeniert weiter zu. „Manchmal könnte ich meinen, du stehst auf Männer, du Hund“, frotzelte ich heiter. Dieser liebenswerte Vierbeiner war einfach unmöglich und brachte mich immer öfter zum Lachen. Als ich aber in seine Augen schaute, meinte ich so etwas wie Freude darin zu lesen. Spürte er etwa, dass heute ein besonderer Tag ist? Ich lächelte. Doch war die Fröhlichkeit nur von kurzer Dauer, denn eine dunkle Wolke hatte sich in meine Gedanken geschoben. Meine Miene verfinsterte sich und ein zusätzlicher dumpfer Schmerz legte sich über mein Herz. Heute würde ich Carsten besuchen. Ich schwor mir, keinen Rückzieher mehr zu machen. Die ganze Woche über hatte ich es mir vorgenommen und jedes Mal, als ich gehen wollte, hatte ich es kurzfristig auf den nächsten Tag verschoben, weil ich mich noch nicht stark genug dafür gefühlt hatte. Doch heute würde ich es tun. Kein Verschieben mehr! Es war der letzte und wichtigste Schritt. „Komm, gehen wir“, sprach ich laut aufmunternd zu Basta, als ich fertig war im Bad. Die Haare waren trocken geföhnt, ich war frisch rasiert und angezogen, wobei die auffordernden Worte eher mir gegolten hatten, als Basta. Ich schaltete das Radio im Bad aus. Eine Angewohnheit seit meinem kleinen Entzug – im Bad laut Musik zu hören und dazu zu singen. Basta folgte mir brav auf Schritt und Tritt. Auch während des Joggens hatte ich mit ihm keine Schwierigkeiten. Nicht wie bei anderen Hunden, die dann in ein grauenhaftes Gekläffe wechselten, wenn ein anderer, vor allem einer der Marke ‚Yorkshire Terrier‘ meinte, den großen Macker heraushängen lassen zu müssen. Und das kam oft vor. Denn unweit von meinem Haus wohnte eine Dame mit solch einer Giftnudel, wie ich ihren Hund heimlich nannte. Ja, beim Joggen hatte ich schon manch ein Erlebnis zu verbuchen. Doch Beziehungen zu weiblichen Frauchen vermied ich dann besonders, wenn mich das starke Gefühl überkam, ich hätte sofort Kontakt in diese Richtung knüpfen können. Arme Frauenwelt, doch für Männer hatte ich momentan ebenso keinen Kopf. Dazu war Carsten zu präsent – und Darian! Wie gut, dass ich mich für warme Sachen entschieden hatte, als mir die kalte Luft entgegenwehte, ich von meinen Gedanken zurückkehrte und die Haustür aufmachte. Der November wurde immer ungemütlicher, und wenn man nicht in Bewegung blieb, dann konnte man schnell auskühlen. Daher zog ich fest meinen schwarzen Baumwollschal um meinen Hals, ließ die Gedanken jeden Raum durchwandern, ob ich alles an Elektrischem ausgemacht hatte, überprüfte die Pflanzen im Wintergarten, die ich Gott sei Dank hatte retten können, in dem ich sie wieder regelmäßig mit Wasser und Dünger versorgte. Es war nur eine, die mir eingegangen war. Erst dann ging ich mit Basta zur Garage, wo zwei Autos Platz hatten. Mein altes Fahrzeug von früher hatte ich schon lange nicht mehr und es standen dort der BMW und das Cabriolet. Ich entschied mich für den sportlichen Flitzer, auch wenn es eher ein Sommerauto war, hatte er Sitzheizung und im geschlossenen Verdeck war es absolut wintertauglich. Erinnerungen stiegen auf. Das letzte Mal, als ich das Auto gefahren hatte, war bei der Hochzeitsfeier, danach immer nur den BMW. Ja, die Hochzeitsfeier. Darian … „Vergangenheit – ich lebe jetzt und hier.“ Nachdenklich und in Gedanken ließ ich Basta hinten Platz nehmen und stieg ins Auto. Er tat sich anfänglich bei der Enge etwas schwer und ich sah ihm über dem Rückspiegel sorgenvoll zu. Ich wusste, Basta war nicht mehr der Jüngste, aber daran wollte ich im Augenblick nicht denken. Der Rüde hatte sein Alter. Ich startete den Wagen, fuhr aus der Garage, grüßte per Handzeichen im Vorbeifahren einige Nachbarn, die entweder von ihrem Einkauf gerade zurückkamen oder vom Fenstersims aus sich mit anderen unterhielten und winkten. Alles schien wieder normal. Keine vorwurfvollen Blicke mehr. Wie schön! „Gehen wir Carsten besuchen, hm!“, sprach ich nach hinten zu Basta, und blendete alles um mich herum aus. Dann stellte ich das Radio an, wo prompt ein aktuelles Lied bassvoll das Auto erfüllte. Ich verzog das Gesicht, als ich die blecherne Musik weiter verfolgte. Die Songs wurde immer schlechter. Wie vermisste ich doch die gute alte Zeit, wo die Musiker zum Teil ihre Lieder selbst komponierten und nicht in irgendeinem aufgeblasenen Sender wettbewerbsmäßig ein Superstar werden mussten, um im Anschluss als hochgepuschte Sänger einen Plattenvertrag zu bekommen, bei dem der Hörer oder Zuschauer genau wusste, nach einem Song gehen sie unter und werden nie mehr gehört. Eine Stunde Fahrt hatte ich zu bewerkstelligen, bis ich das Ziel erreichen würde, den Waldfriedhof, Waldbestattungen im Ewigforst Sachsenwald bei Hamburg. Je näher ich dem Zielort kam, umso nervöser wurde ich, bis zum Schluss meine Finger trotz der Autoheizung kühl und feucht am Lenkrad klebten. Der November zeigte sich nun richtig in allen Facetten. Denn die Sonnenstrahlen drangen nicht durch die Milchsuppe hindurch. Mich störte auch nicht der weiter aufkommende Nebel, als ich das Auto auf einem der Parkplätze abstellte. Ich stieg aus und ließ Basta raus, legte ihn aber nicht an die Leine. Wir waren alleine. „So, da wären wir.“ Das letzte Mal war ich hier, als die Beerdigung war. Ich konnte mich noch genau an den Weg erinnern und fand daher, ohne große Schwierigkeiten Carstens Baum – seine Eiche. Ich hatte während des Weges einen Tannenzapfen aufgehoben, weil persönliche Sachen, die nicht verrotteten, durfte man nicht mitbringen. Als ich davor stand, betrachtete ich die Eiche. Die Blätter hatte das Holzgewächs fast verloren und doch strahlte er was aus, was sich auf mich übertrug. Carsten lebte jetzt in ihm, dadurch wurde der Baum für mich lebendiger und zu etwas ganz besonderem. Ich schwor mir, von nun an diesen Ort regelmäßiger zu besuchen. Genau unter seinem Namensschild platzierte ich den Tannenzapfen, wo auch seine Urne vergraben lag, und gab einen Handkuss auf diese Stelle. Basta hatte sich neben mich gesellt und verhielt sich ruhig. Ich streichelte ihn, während ich meine Worte an meinen toten Partner richtete: „Manches währt ewig, unsere Liebe ist es weiterhin, auch über den Tod hinaus. Ich wäre mit dir glücklich geworden. Wir waren glücklich, wenn auch nur für eine recht kurze Zeit. Du warst ein wundervoller Klavierspieler. Ich werde deine Musik niemals vergessen. Und doch …“ Ich schluckte schwer und ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Ich wollte reinen Tisch machen. „Ich will nicht lügen und dir sagen, dass Du die Liebe meines Lebens warst, das warst du nicht. Aber, ich hatte viele Gefühle für dich, gab dir die Liebe, die ich dir wirklich geben konnte …“ Mir liefen Tränen haltlos die Wangen hinunter, weil mir bewusst wurde, dass ich zu Carstens Lebzeiten nicht ganz ehrlich ihm gegenüber gewesen war. Trotzdem, auch wenn es eigentlich zu spät war, wollte ich ihm alles sagen. Wer weiß, vielleicht hörte er mir zu, vielleicht gab es so etwas wie ein Leben nach dem Tod. Ich sprach schniefend weiter: „Ja, ich liebe meinen Bruder, hörst du. Auch wenn er mir so weh getan hat, habe ich niemals aufgehört, ihn zu lieben.“ Ich verstummte, verfiel in ein stummes Weinen. Im Wäldchen war es ruhig, der Nebel waberte zwischen den Bäumen. Es war gespenstig, denn kein Mensch war zu sehen, kein Vogel oder ein Rascheln von einem anderen Tier zu hören. Ich hörte nur meinen Herzschlag, der rasch in meiner Brust schlug. Dann sammelte ich mich, krallte mich in das Fell von Basta, der zu mir aufsah, brauchte moralischen Beistand. Und das gab mir der Hund, denn ich wollte Carsten wissen lassen, dass er mir dennoch sehr viel bedeutete. „Doch auch dich liebte ich, sehr sogar, und wenn mein Bruder nicht gewesen wäre ... Gerne wäre ich neben dir alt geworden … du fehlst mir sehr, weißt du das?“, beendete ich mein Gespräch. Ich schluchzte, weinte leise vor mich hin. Mittlerweile hatte ich mich vor dem Baum hingekniet, achtete weder darauf, dass meine Jeans schmutzig wurde oder sonst was. Es war unwichtig, denn das hier war wichtig für mich, ihm so nah wie möglich zu sein. Meine Hände hatten sich ins feuchte Unterholz gekrallt. Und so verharrte ich eine Weile, bis meine Tränen versiegten und ich so weit gefestigt war, um aufzustehen und zu meinem Wagen zurückzukehren. Ich klopfte mir die kleineren Äste und Blätter von der Hose.  „Komm!“, sagte ich zu dem Vierbeiner. Ich war mit mir im Reinen, eine Art Last war von mir abgefallen, als ich Carsten hinter mir ließ, in seiner Urne ruhend unter seinem Baum. Ein neues Leben lag nun vor mir. Eines, das ich anders weiterführen wollte. Zufrieden mit mir, dass ich es endlich geschafft hatte, mich von Carsten zu verabschieden, startete ich den Wagen und fuhr nach Hamburg in die Stadt, wo ich mir einen Parkplatz suchte, um in eine Bäckerei zu gehen. Dort holte ich mir eine Tüte voll bestückt mit verschiedenen Donuts. Freudig sah ich die süßen Laster, die ich so vermisst hatte. Ein paar Mal hatte ich sie, seit ich Carsten kannte, gegessen, doch in letzter Zeit nicht mehr. Wie ich diese Dinger liebte, wurde mir erst jetzt wieder bewusst, als ich den Zucker und das Fett roch und mir das Wasser im Mund zusammenlief, als ich ins Auto stieg. Ich legte die Tüte, neben mich auf den Beifahrersitz, wo Basta sofort daran riechen wollte. Gerade rechtzeitig riss ich die Tüte an mich, verteidigte mein Essen, indem ich ihm einen mahnenden Blick zuwarf, verschloss sie fester und stellte sie dann runter auf die Fußmatte, damit Basta nicht mehr ran konnte. „Nix da, das ist mein Laster und für Hunde absolut ungeeignet, gibt nur Diabetes.“ Ich grinste breit, woraufhin er ein kleines Jaulen von sich gab, war er doch ebenfalls ein Schleckermäulchen. Carsten hatte ihn ab und an mit Schokolade verwöhnt, aber nur dann, wenn ich es nicht mitbekommen sollte. Doch meistens hatte ich es aber mitbekommen, genau dann, wenn ich mit Basta tobte und er mit seiner Schnauze zu nah an mein Gesicht kam und ich die Schokolade riechen konnte. Nun gab es nur mich und ich würde auf ihn aufpassen, wollte ich, dass er noch lange fit bleiben sollte. Zwar wusste ich, dass Basta nun ohne meine Erlaubnis nicht mehr drangehen würde, aber sicher war sicher. Ein Hund war auch nur ein ... Wesen, das von Hunger und Durst getrieben wurde. Ich stellte das Radio laut, brauchte die laute Musik, die der Sender hergab. Auch wenn es nicht meine Musikrichtung war, sang ich leise mit. Ich beugte mich zu der Bäckereitüte und angelte mir das Oberste, das mit dunkler Schokolade überzogen war. Genüsslich biss ich hinein und schleckte mir im Anschluss meine Finger sauber, als ich ihn in nur vier Bissen aufgegessen hatte. Ist das lecker! Die restlichen Donuts hob ich mir für zu Hause auf. Es fiel mir aber schwer, nicht noch einen Zweiten zu essen und ich dachte dabei an den Hund. Daher führte mich der nächste Weg zu einem Metzger. Dort holte ich für Basta ein paar schöne frisch ausgenommene Knochen. Ich wusste, neben Schokolade war das sein zweiter Favorit an Leckerbissen. Und wie oft bekam er vom Fleischer einen frischen Knochen. Seit Carsten tot war gar keinen, erst jetzt, es sei denn, Inge hatte ihm in dieser Zeit welche besorgt. Mit einer noch größeren Tüte bestückt, als es meine war, setzte ich mich zufrieden ins Auto. „Das ist für dich, aber erst, wenn wir zuhause sind.“ Ich musste ihm die Tüte vor der Nase wegnehmen, als er mit seinem Kopf schon fast drinnen war und bekam als Antwort ein weiteres Jaulen, das schon fast in ein Knurren überging. Ich streichelte ihm über den Kopf. „Sei mir nicht böse, aber nicht hier im Auto, okay! Zudem habe ich noch etwas zu erledigen, bevor wir so richtig schlemmen können.“ Ich startete den Wagen erneut und fuhr zum erstbesten Friseur, den ich sah, hoffte, dass man mich dazwischen schieben konnte. Von außen sah der Laden nicht schlecht aus und innen haute es mich um. Auch wenn der Laden sehr geräumig wirkte, war viel los und ich musste warten. Da er mich aber wirklich ansprach, vom ganzen Ambiente her, wartete ich gerne diese eine Stunde. Ich verbrachte die Zeit im Auto und ließ die Standheizung laufen, als es hier drinnen auszukühlen drohte. Außerdem wollte ich Basta nicht alleine lassen, bis mir einer der Friseure, ein älterer Mann in extravagantem Outfit, der schon einem Herrn Joop ähnelte, vom Laden aus ein Zeichen gab, dass ich der Nächste bin. „Bis gleich … und Finger weg von den beiden Tüten.“ Ich ließ mir meine Haare in einem schönen Blauschwarz einfärben, und der Friseur verpasste mir einen modischen Haarschnitt, der hinten im Nacken kurz geschnitten wurde, aber an den Seiten und vorne lang blieb. Als ich in den Spiegel schaute, gefiel ich mir viel besser. „Perfekt.“ Ich bedankte mich bei ihm und seufzte innerlich, als ich einen stattlichen Preis dafür hinblättern musste. „Wir haben es gleich geschafft“, sagte ich zu Basta, als mir noch was einfiel, was ich noch machen wollte. Das nächste Ziel war ein Gothicladen, der neu in der Stadt eröffnet hatte. Die Adresse hatte ich aus dem Internet. Dort kaufte ich mir eine Bondagehose, einen Rock mit Nieten, dazu zwei passende Oberteile. Auch wenn ich mir heute viel gegönnt hatte, verschwenderisch wollte ich nicht werden, und bald würde ich mir eine Arbeit suchen müssen. Aber noch ging es mir gut und auf dem Konto waren noch Reserven vorhanden. Carsten sollte auch hier stolz auf mich sein können. Ich wollte damit beweisen, dass er mich wirklich aufgefangen hatte. Beschwingt packte ich alles in den Kofferraum, setzte mich in den Wagen. Der Blick fiel sofort auf die beiden Tüten, die Basta tatsächlich nicht angerührt hatte. Eines musste man dem Hund lassen, einen verdammten Willen hatte er. „Hätte ich nicht geschafft. Wir sind bald zu Hause, nur noch eine kleine Sache, dann bekommst du deine Knochen, versprochen.“ Ich streichelte seinen Kopf, dann startete ich den Wagen und jonglierte mich schon beinahe akrobatisch aus der kleinen Parklücke. Ein Daimler hatte mich zugeparkt. Ich seufzte. Wie gut, dass ich einparken konnte und somit hatte ich keine Mühe, herauszukommen. Der letzte Gang, der auf dem Rückweg lag, war Carstens alte Praxis, zu seinem Kollegen und jetzt alleiniger Praxisbesitzer. Der erstaunte Gesichtsausdruck sprach Bänder, als ich einfach vorbeischneite. Normale Patienten hätten nicht aufgemacht bekommen, schon gar nicht, wenn er gerade in einer Sitzung war, aber als er meinen Namen in der Sprechanlage hörte, machte er eine Ausnahme. Aber sogleich bedauerte er, nicht viel Zeit für mich zu haben. Auch wenn ich ihm am Telefon gesagt hatte, warum ich nicht mehr hier arbeiten wollte, war ein persönliches Vorbeikommen der richtige Weg gewesen. Ich brauchte nur ein paar Termine, wollte reden. Einen Therapeuten, dem ich vertrauen konnte, und das tat ich, da Carsten sehr viel von ihm gehalten hatte. Er war auch damals der, der mir zu den Medikamenten geraten hatte, als ich meinen Entzug machte. So vereinbarten wir für die nächsten zwei Wochen vier Termine. Ich dankte ihm herzlich dafür, denn ich wusste, dass Wartezeiten angesagt waren und da war Carsten immer noch mein Vitamin B. Der Therapeut rief bei einigen seiner Patienten an und verschob die Termine. Da ich es nicht über die Krankenkasse abrechnen wollte, war ich sozusagen Privatpatient und er konnte mich so vorziehen. Billig waren die vier Termine nicht, aber das war es mir wert, meine Gesundheit war es. „Danke! Dann bis übermorgen.“ Ich verabschiedete mich. „Jetzt geht es wirklich nach Hause“, als mich Basta schon knurrend anblickte, als ich im Auto saß. Ich hatte dem Hund wirklich viel Geduld abgesprochen und nun war Schluss damit. Ich nahm den schnellsten Weg zurück. Endlich, als Basta und ich zuhause ankamen und ich meine ganzen Sachen verstaut hatte, bekam der Vierbeiner seine Knochen, die er mir beinahe schon aus der Hand riss. Ich hingegen setzte mich wenige Minuten später genüsslich an den Küchentisch, vor mir den Laptop und in der rechten Hand einen leckeren Donut. Ich hatte beschlossen, wieder ein paar Artikel zu schreiben. Der Verdienst war zwar gering, aber besser als nichts, zumal man sich die Zeit dafür einteilen konnte, wie oft man was schreiben wollte und konnte. Es war ein kleiner Einstieg ins normale Leben.   Die Termine beim Therapeuten taten gut, mehr als das, und da er eine Schweigepflicht hatte, erzählte ich ihm schließlich, als ich komplett das Vertrauen zu ihm gefasst hatte, von der Liebe zu meinem Bruder. Schweigend hörte er mir zu, gab mir Tipps und verurteilte mich nicht. Immer wieder stellte ich mir hinterher vor, wie sich Darian gefühlt haben musste, als er an meiner Stelle seine Gefühle Carsten gegenüber preisgegeben hatte. Hatte Carsten ihn da verurteilt? Die wenigen Gespräche mit ihm halfen mir, meinem Leben weiterhin einen Sinn zu geben. „Wenn ich noch etwas für dich tun kann?“ Da wir uns kannten, war das kein Thema, das wir all das Förmliche wegließen. „Nein, ich denke, ich bin jetzt so weit. Ich schaffe das.“ „Wenn was ist, du weißt, wie du mich erreichen kannst und wenn du einen Job brauchst, der steht dir hier immer noch zur Verfügung. Ich könnte wirklich jemand gebrauchen.“ „Nein, lass mal … Danke dennoch“, winkte ich ab und er nickte nur. Ich verabschiedete mich von ihm.   Ich machte nicht mehr den Fehler, mich zurück in ein Schneckenhaus zu ziehen, das keinesfalls, sondern besuchte oder traf mich mit einigen Freunden, wie mit Inge und Peter, wenn mir die Decke auf den Kopf fiel oder wenn ich mit meinen Artikeln fertig war und ich mit meiner Zeit nichts anzufangen wusste. Dennoch fehlte mir etwas und das war nicht nur Carsten. Ich fühlte mich nicht vollständig, spürte eine Lücke, spürte die Sehnsucht, die von Tag zu Tag größer wurde, die auch meine Freunde nicht kitten konnten. Als ich meinen 29. Geburtstag hinter mich brachte, beschloss ich endlich, in meine Heimat zurückzukehren. Zwar hatte ich meine Freunde in Hamburg, doch wollte ich zurück. Schon lange hatte ich mir das vorgenommen. Ob es für immer sein würde, das würde sich zeigen, zuerst sollte es ein Besuch werden. Inge bot mir an, auf das Haus aufzupassen, aber ich hatte eine andere Idee und erinnerte mich an meine WG-Zeit zurück. Es unterstrich meine Idee nur noch mehr.                     ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 39: ------------ ~°~39~°~     Noch am gleichen Tag nahm ich zu meiner alten WG Kontakt auf. Doch davor suchte ich die Nummer im ganzen Haus. Schließlich fand ich sie im hintersten Fach von meinem Geldbeutel. Dort hätte ich sie als Erstes suchen müssen. Schlauer ist man immer hinterher. „So Basta, dann werde ich mein Glück versuchen“, sprach ich zu ihm, als er neben mir mit dem Schwanz wedelte und eigentlich mit mir joggen wollte. „Jetzt nicht, ich habe noch etwas zu erledigen.“ Ich nahm das Telefon und wählte die Nummer. Ein Freizeichen war zu hören. Für mich war das ein gutes Zeichen und ließ mich etwas aufatmen. Und noch ein besseres Gefühl bekam ich, als ich nach drei Freizeichen bereits eine weibliche Stimme vernahm, die mir durchaus vertraut war – Sabine. Sie freute sich riesig, meine Stimme zu hören und fragte natürlich, wie es mir ging, dann schwenkte sie schnell um und der Vorwurf, mich lange Zeit nicht mehr gemeldet zu haben, kam auf. Dass ich sie überhaupt erreichte, lag daran, dass Sabine heute auf der Arbeit etwas früher Schluss gemacht hatte. Das Glück war auf meiner Seite und ich freute mich. Ich erzählte ihr im Groben, was in der Zeit alles passierte, bis hin zu Carstens Tod, ließ aber Sachen wie meinen alkoholischen Absturz aus. Dinge, an die ich mich nicht erinnern wollte, dennoch wurde aus dem anfänglich gedachten kürzeren Telefonat ein erheblich längeres. Wir verabredeten uns schließlich für das Wochenende, da Ina mit wollte und beide unter der Woche arbeiten mussten. Ich richtete mich mit dem Treffen ganz nach ihnen, war flexibel. Auf ein paar Tage kam es auch nicht mehr an. Wie ich mich freute, die beiden wiederzusehen, war nicht in Worte zu fassen, als ich den halben Vormittag damit verbrachte, was ich denn anziehen sollte. Ich war aufgeregt. Das Aufeinandertreffen, was in einem Café in der Hamburger Innenstadt stattfand, war herzlich und ich bedauerte es, den Kontakt so einschlafen gelassen zu haben. Beide hatten sich kaum verändert. Sabine trug ihr Haar etwas länger und es war immer noch in dem sommerblond, Ina mit ihren roten Haaren stach weiterhin heraus. Basta hatte ich mitgenommen. Ich nahm ihn überallhin mit, denn eines wollte ich nicht, dass der Hund alleine war. Er begrüßte die beiden Frauen mit einem Schwanzwedeln und wurde zum Dank gestreichelt. „Schöner Hund, ist das deiner?“, erkundigte sich Sabine neugierig. „Ja, das ist Basta, er gehörte aber zuerst Carsten und ist nun ein treuer Freund und Seelentröster für mich geworden – mein Seelengefährte sozusagen.“ Ich klopfte Basta auf den Rücken und gab ihm Anweisung, sich neben mich zu platzieren, was er sofort machte. „Und hört aufs Wort – erstaunlich!“, gaben beide Frauen anerkennend von sich. „Wie geht es dir?“, fragte mich im Anschluss Ina, als wir alle am Tisch saßen. Wir hatten uns für einen freien Platz am Fenster entschieden. Zum Glück war um diese Zeit das Lokal nicht voll. Bevor ich ihr jedoch antworten konnte, kam die Bedienung und nahm unsere Bestellung entgegen. Wir hatten jeder einen Latte macchiato bestellt und Sabine einen Mohnkuchen dazu. Ich rührte mit dem langstieligen Löffel in meiner Tasse. Als mir Zucker angeboten wurde, lehnte ich dankend ab. Zucker tat ich mir keinen rein, das mochte ich immer noch nicht, aber eine aufgeschäumte Milch ließ ich mir gerne gefallen. Und so löffelte ich die erste Lage Schaum aus dem Glas, leckte mir genüsslich über die Lippen, bevor ich Ina endlich eine Antwort gab. Diese Zeit hatte ich mir gegönnt, um meine Gedanken zu ordnen. Mir war klar, dass Sabine ihr alles erzählt hatte. Sie waren immer noch unzertrennlich. Manchmal könnte man auf den Gedanken kommen, dass sie sogar ein Paar waren, aber dem war nicht so. Es gab durchaus tiefe Freundschaften ohne sexuellen Hintergrund. Warum ich das wusste? Wie Sabine mir am Telefon erzählt hatte, hatte Ina einen neuen Freund und sich darüber gefreut. Nur sie war zurzeit solo. Ich richtete mich auf und blickte Ina an, die immer noch auf meine Antwort wartete. „Mir geht’s besser. Es war nicht einfach – aber es geht“, antwortete ich ihr ehrlich. „Das tut mir echt leicht. Du hast es wirklich nicht einfach. Selbst als du noch bei uns gewohnt hast“, gab sie traurig von sich und löffelte schweigend ihren Schaum, trank dann aus dem Glas, stellte es dann aber gedankenverhangen auf den Unterteller. Ich beobachtete sie, ihr war der Kaffee vergangen, denn sie schob ihr Glas etwas von sich. Klar, wie konnten sie wissen, wie es einem wirklich ging. „Carsten und ich, das hatte keine lange Zukunft, und dennoch …“ Ich brach ab, schluckte und Sabine legte die Hand auf meinen linken Arm, gab Ina ein Handzeichen. „Weswegen wolltest du uns treffen? Doch nicht nur, um uns wiederzusehen. Das hättest du auch früher machen können.“ Sie hatte bewusst das Thema gewechselt und ich war ihr absolut dankbar deswegen. „Ich möchte wieder zurück … meine Eltern besuchen“, ich stockte kurz, „ … meine damalige Freundin. Es wird Zeit.“ Bewusst hatte ich Darian ausgelassen. Ina und Sabine wussten nichts von meinem Bruder – noch nicht. Vielleicht würde es sich aus dem weiteren Verlauf ergeben, wer weiß. „Du hattest eine Freundin … eine richtige, also war das damals nicht gelogen, weil, als du dich geoutet hattest, haben wir dir die Geschichte, dass du dich von deiner Freundin getrennt hast, nicht mehr geglaubt?“ Ungläubig wurde ich angestarrt. „Ähm, unrichtig war sie nicht, aber sie war nur in Anführungszeichen“, ich machte pantomimenartige Zeichen, krümmte die Finger dabei „... ‚eine‘ Freundin und ja, sie wusste von meiner Neigung.“ „Ach so, und ich dachte, wir hören jetzt eine unglaubliche Story von dir, warum du nur noch auf Männer stehst.“ „Oh je, nach einer Story ist mir nicht.“ Ich wurde ernst und auch ein wenig traurig. „Tut mir leid“, entschuldigte sich Sabine sofort. Sie merkte, dass sie mit dem, was sie gesagt hatte, danebengehauen hatte. „Ich will zurück“, kam ich nochmals auf den Punkt, warum ich die beiden hatte treffen wollen und wollte auch somit die peinliche Stille, die sich zwischen uns bildete, wegwischen. Inzwischen war das Café so stark besucht, dass wir uns glücklich schätzen konnten, einen guten Platz zu haben. Ich spielte an dem Zipfel der Tischdecke. „Für immer?“, fragte Ina und nahm dabei einen Schluck von ihrem Getränk. Sabine hatte ihren Mohnkuchen aufgegessen und kurz war ich gewillt, mir auch einen zu bestellen, da er wirklich lecker aussah, beließ es aber. „Ich weiß nicht, ich will sie erst einmal besuchen, die Lage abschätzen. Auf jeden Fall komme ich zurück.“ „Das ist eine gute Idee.“ „Finde ich auch“, meinte ebenfalls Sabine. „Aber was hat das mit uns zu tun?“ Die Frage war berechtigt. „Und da kommt ihr jetzt ins Spiel, es müsste jemand auf das Haus aufpassen und ich will nicht Carstens ehemalige Frau damit belasten oder die Freunde von uns. Ich war nicht gerade umgänglich, wenn ihr versteht, was ich meine. Nun ja. Ich weiß, ihr habt eure WG und …“ Ina fiel mir ins Wort. „Sabine, das wär doch …“ Sie brach ab und sah Sabine geheimnisvoll an. Die nickte nur. Ich verstand nur Bahnhof und interpretierte ihre Zeichensprache falsch. „Ich hätte Euch nicht fragen sollen“, und war im Begriff abzuwinken und ein anderes Thema einzuschlagen. „Jaden, nein, das wäre klasse, weil …“ „Weil was?“ Immer noch fragte ich mich, was los war. „Der Vermieter, dem die Wohnung gehört, möchte sie als Eigenbedarf anmelden und wir sind bereits seit geraumer Zeit auf Wohnungssuche. Zudem wollte ich in einen Vorort ziehen oder etwas außerhalb und … und wir sind schon seit einiger Zeit alleine in der WG, können kaum die Miete noch zahlen, seit die Jungs ausgezogen sind.“ „Oh“, meinte ich beinahe entschuldigend, ich hatte gar nicht nach den anderen gefragt, fiel mir auf. Aber beide grinsten mich an. Ich wusste noch, wie ich mich verabschiedet hatte, sogar versprach, anzurufen, nichts von dem hatte ich getan. Da fiel der Groschen und ich konnte mein Glück kaum fassen. So würde für das Haus ein wenig Geld hereinkommen und genug Platz wäre auch. „Ihr könnt zu mir ziehen, zahlt so viel Miete wie vorher, als ihr noch vollständig wart. Das Haus ist groß genug“, schlug ich sofort vor, hoffte auf Zuspruch. „Ich muss gestehen, Ina und ich wollten dich einmal spontan vor Jahren besuchen und waren an eurem Haus vorbeigefahren, doch hinter den Fenstern war es dunkel und uns verließ der Mut. Nun ja!“ Sie seufzte, faltete ihre Hände ineinander. „Ja, gehört es dir denn nach Carstens Tod überhaupt?“ Das Erstaunen in ihrer Stimme war nicht zu überhören und ich schmunzelte. Mir wurde stets bewusst, gerade in solchen Situationen wie gerade jetzt, dass Carsten für mich wirklich ausgesorgt hatte. Dass er mir ein einigermaßen sorgenfreies Leben nach seinem Tod ermöglicht hatte. Kurz fiel ich in mein altes Muster, stimmte mich traurig, weil sein früher Tod nicht fair war. Es war nicht fair, dass er nicht meine große Liebe war, ich ihn dennoch liebte, und nicht fair, dass er doch recht jung sterben musste. Das Leben war nicht fair. Ich fühlte mich innerlich schlecht. Die Gedanken daran wegzuwischen, was ich hätte noch anders machen können, fiel mir schwer. Als die beiden Frauen meinen Stimmungswandel bemerkten, räusperte ich mich schnell. „Carsten hatte mir alles hinterlassen. Er wollte, dass es mir gut geht. Zum Glück bekam ich bei der Erbschaft keine Probleme mit seinen Eltern oder mit seiner Ex-Frau, noch mit der Verwandtschaft überhaupt. Die Erbschaftsteuer, die ich zahlte, war hoch, da Carsten die Schenkung nicht mehr rechtzeitig machen konnte. Es müssen zehn Jahre dazwischen liegen und die Zeit, es früher zu regeln ... Nun ja. Carsten hatte alles über einen Anwalt geregelt.“ Ich merkte gar nicht, wie ich alles runterratterte und ich dabei monoton und geschäftsmäßig klang. „Hey, ist doch in Ordnung, wenn er dir fehlt. Das eine Mal, als du ihn uns vorgestellt hattest, schien er wirklich nett. Also wir würden dein Angebot gerne annehmen und dich fragen, wann wir einziehen können.“ Sabine hatte meine Hand ergriffen. „Am besten gestern.“ Ich lachte und auf einmal schien erneut die Sonne in mein Herz. Endlich würde das Haus leben und ich wäre nicht mehr alleine, vielleicht sollte ich doch in Hamburg bleiben. Ich wusste selbst nicht, was ich wollte.   Es vergingen keine zwei Wochen, da zog als Erstes Ina zu mir. Ich begrüßte es sehr, denn endlich wurde das Haus mit Leben gefüllt. Basta gefiel es ebenso und empfing unsere neue Mitbewohnerin mit einem Bellen. Davor aber hatten sich beide die Einrichtung angeschaut, als sie mich letzte Woche besuchen kamen. Sie waren aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, besonders der Wintergarten hatte es ihnen angetan. Auf den war ich auch stolz, hatte er doch noch vor Kurzem nicht gut ausgesehen. Ich setzte einen Mietvertrag auf, den beide noch am selben Tag unterschrieben. Somit waren die Formalitäten abgeklärt. Ina zog in das Gästezimmer, was wir bereits vorher vereinbart hatten. Zwei Tage später kam dann Sabine. Wie viele Koffer und Umzugskartons sie mitbrachte, zählte ich ab dem 10. Karton oder Gepäckstück nicht mehr. Der gemietete Lieferwagen sagte alles und ihre Freunde und ich halfen, die ganzen Umzugskartons ins Haus zu bringen. Die Nachbarn hatten an dem Tag was zu schauen und zu erzählen. Ich schmunzelte nur, schüttelte dabei den Kopf. Ina hatte schon viel mitgebracht, aber Sabine sprengte alles. Frauen! Ich rollte mit den Augen, als ich stöhnend Karton für Karton ins Haus trug. „Was?“, hatte sie dann gefragt, als der letzte Karton von mir ins Haus geschleppt wurde. Mühevoll, denn auf den Straßen lag Schnee und Eis und machte das Ganze nicht einfacher. „Nichts.“ Ich grinste und verkniff mir jeglichen Kommentar. Was sollte ich denn herumzicken, endlich war wieder Leben in dem Haus. Sabine zog in das damalige Zimmer von Carsten, das er als Hobbyraum genutzt hatte. Die letzte Woche hatte ich vieles in den Keller geräumt, damit die Frauen auch ihre Sachen reinstellen konnten. Küche, Bad sowie Wohnraum durften sie mitbenutzen. Und ich stellte ihnen den BMW zur Verfügung, so wurde das Auto genutzt, verkaufen wollte ich es nicht. Es war Carstens ganzer Stolz gewesen. Begeistert richteten sie ihre Zimmer so her, wie sie es wollten. Ina hatte ihres sogar frisch angestrichen. Ich war froh um Gesellschaft. Eines Abends fragte mich Sabine aus heiterem Himmel, ob ich nicht doch an Frauen Interesse hätte. Ich war gerade mit einem der Internetartikel fertig, da sah ich zu ihr, lächelte und schüttelte energisch den Kopf. In ihren Augen las ich Traurigkeit. Hatte sich Sabine in mich verliebt? „Die Männerwelt wird dir noch zu Füßen liegen“, versuchte ich sie schnell zu trösten. „Es sind immer die Männer, die man will, aber nicht haben kann.“ Auf ihren Lippen kräuselte sich ein Lächeln, dann umarmte sie mich. Sie trug es sichtlich schwer, immer noch alleine zu sein. Aber lieber war ich ehrlich, als eine Liebe vorzuheucheln, die ich ihr und auch sonst keiner Frau geben konnte. Ich mochte sie, mehr aber auch nicht. Dann kam der Tag, an dem ich mich endlich entschloss, nach München zu meinen Eltern zurückzukehren. Es war Anfang Februar und bitterkalt. Das Thermometer zeigte -10 Grad. Vorsorglich packte ich mir die wärmsten Klamotten in den Koffer sowie Unterwäsche und Socken für etwa eine Woche. Ich achtete darauf, keine auffälligen Sachen einzupacken. Es klopfte an der Tür – Sabine. Eigentlich hatte ich den beiden einen Zettel hinterlassen wollen, da ich sehr früh losfuhr. Daher erstaunte es mich, dass Sabine extra aufgestanden war. Immerhin hatten wir erst fünf Uhr in der Früh. „Guten Morgen! Ich wollte dich nicht wecken?“ „Was heißt hier wecken, du wolltest dich nicht verabschieden, und einmal kann man eine Ausnahme machen.“ Sie gähnte laut. „Ich finde es gut, dass du Kontakt zu deinen Eltern aufnimmst.“ „Ja, es wird Zeit, fast fünf Jahre ist es her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe“, gab ich von mir. Etwas, was ich nicht mehr aufschieben wollte. „Und ich möchte zu meinem Bruder“, fügte ich leise hinzu. „Bruder?“, fragte sie erstaunt und schien wacher zu werden. Mir fiel ein, dass ich ihr oder Ina gegenüber niemals etwas von einem Bruder erwähnt hatte. „Ja, mein Halbbruder, Darian.“ Basta machte sich an der Tür bemerkbar und er wollte sich gerade vor meinem Bett ausbreiten, da fiel mir ein, dass ich ihn nicht mit nach München nehmen würde. Ein wenig traurig stimmte mich der Gedanke. „Passt ihr so lange auf Basta auf, bis ich wiederkomme? Ich möchte erst einmal dort alleine hin.“ An alles hatte ich gedacht, aber nicht an Basta. „Sorry, ich hab’s ehrlich gesagt vergessen, euch Bescheid zu geben.“ Ich strich mir die Haare aus den Augen. „Was ist das für eine Frage, klar.“ Sie fragte zum Glück nicht weiter nach. Auf Sabine konnte ich mich verlassen, das wusste ich und Basta fühlte sich bei ihr wohl. Manchmal ging sie mit ihm alleine spazieren, wenn ich zu beschäftigt war. Ina hingegen weniger, da sie immer öfter bei ihrem Freund schlief. Ich vermutete, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis sie zu ihm ziehen würde. Daher tat mir Sabine ein wenig leid, war sie genauso alleine wie ich. Darum war es auch gut, dass Basta bei ihr blieb. So hatte sie jemanden um sich herum und es war beiden geholfen. „Super.“ Ich schloss den Koffer, und eine Wehmut kam auf, als ich meine Finger über den Hartschalenkoffer gleiten ließ. Den Koffer hatte ich Carsten zu seinem 44. Geburtstag geschenkt … Erinnerungen daran wurden wach. Ich wischte sie beiseite, denn sie ließen mich traurig werden und das wollte ich nicht. Mein Blick fiel auf Basta, der mich die ganze Zeit anschaute und ahnte, dass ich gehen würde. Den Hund zurückzulassen fiel mir schwerer, als ich mir eingestehen wollte, als ich den Vierbeiner umarmte, ihm durch das weiche Fell strich. Es fühlte sich nicht richtig an, ihn hier zu lassen, aber ich musste alleine sein, wenn ich meine Familie nach so langer Zeit wieder traf. Das Wiedersehen würde schwer genug werden. „Sei schön brav und lass dich nicht von Sabine oder von Ina ärgern.“ Liebevoll streichelte ich ihm weiter übers Fell. „Wir passen auf, okay. Er wird dich nicht vermissen.“ Ina grinste, sie hatte uns vom Gang aus gehört und war hinzugekommen, hatte sich neben Sabine gestellt. „Und hey, wir sind nett, anständig …“ Sie gähnte laut und herzhaft, und ich verzieh ihr das, war es nicht wirklich eine christliche Zeit. „Anständig?“ Ich sah sie an und grinste schief. „Ihr braucht anscheinend alle keinen Schönheitsschlaf.“ „Wir passen auf alles hier auf“, versprach Sabine und ich wurde dann von den Frauen kurz umarmt. „Okay, ich hab ja mein Handy, wenn etwas sein sollte. Bin also ständig erreichbar“, beruhigte ich sie. „Hast du dir genügend zu essen eingepackt?“ Sabines Fürsorge kam ans Licht. „Ja.“ Meine Tasche war voll mit Broten, die ich gestern Abend gemacht hatte. „Und Kaffee?“ „Auch der ist eingepackt, zudem gibt es Rastplätze.“ Ich schmunzelte über so viel Fürsorglichkeit, doch dann huschte ein Schatten über mein Gesicht. Schnell verbarg ich es vor ihnen. Es war ein komisches Gefühl, das erste Mal seit Langem dem Haus, dem Ort, dem Norden überhaupt den Rücken zu kehren. Ich nahm meinen Koffer in die Hand und beide begleiteten mich bis vor die Tür. Ein eisiger Wind schlug mir entgegen, als ich dann in mein Cabriolet, das ich vor meinem Haus geparkt hatte, einstieg. Ich winkte den beiden, die bibbernd draußen standen, und sah ein letztes Mal zu Basta, der traurig ausschaute. Dann startete ich den Wagen, ließ das Gebläse auf die Scheiben gerichtet, die angelaufen waren und wartete, bis die Sicht frei war, um losfahren zu können. Ein dicker Kloß hatte sich in meinen Magen gelegt, der sich wie ein Stein anfühlte. Es verursachte ein mulmiges Gefühl. Was würde mich dort erwarten? Vor allem, würde ich Darian wirklich wieder sehen? „Okay, dann mal los!“ Ich machte mir selbst Mut und winkte noch ein letztes Mal, sah aber, dass die beiden mit dem Hund bereits im Haus waren. Ich konnte das verstehen, die Kälte hätte mich auch nicht lange draußen gelassen. Inzwischen wurde es im Auto angenehm warm. Ich hätte auch den BMW nehmen können, aber ich hing an dem Cabriolet.     ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 40: ------------ ~°~40~°~     Wie oft ich auf dieser Autofahrt an Darian denken musste, konnte ich nicht mehr an einer Hand abzählen. Es war zu oft. Waren es nicht meine Eltern, die ich zuerst sehen wollte, oder Susan? Ich bekam Gewissensbisse. Tief im Inneren wusste ich es ganz genau, warum ich tatsächlich zurückkehren wollte, und das war nicht direkt meine Familie oder meine ehemalige Freundin. Klar waren sie wichtig, aber der eigentliche Grund war mein Bruder, den ich sehen wollte. Ich hatte über vier Ecken über Freunde herausgefunden, dass Miguel zu seinem Freund nach München gezogen war. Und wer der Freund war, konnte ich leicht erraten. Es missfiel mir, dass sie immer noch zusammen waren. Während der Fahrt beschlich mich eine Angst, unbegründet, aber sie war da – war Darian auch wirklich in München? Freunde konnten vieles erzählen, das wusste ich zu genau und manchmal lagen sie auf dem Holzweg. Fast fünf Jahre waren seit meiner Flucht vergangen, und nun würde ich in meine Heimat zurückkehren. Die Fahrt zog sich hin, auch wenn ich relativ früh losgefahren war, kam ich doch in den üblichen Berufsverkehr, wenn ich größere Städte passierte. Mein Handy summte leise und ich seufzte, als ich auf das Display starrte – es war Ina. Ich schaltete das Headset ein. „Ja, was gibt’s schon wieder ...“ Sie hatte bereits schon einmal vor einer Stunde angerufen und daher ließ ich sie nicht zu Wort kommen, sondern machte einfach weiter. „Und nein, mir geht’s gut. Ich habe mir noch nicht die Pulsadern aufgeschlitzt oder sonst was.“ Ich wirkte beinahe impertinent und entschuldigte mich: „Sorry.“ „Ich wollte nur hören, wie es dir geht und ob du aufgeregt bist? Du warst beim ersten Anruf etwas kurz angebunden“, beklagte sie sich und ich stöhnte innerlich. Frauen! Ich war nicht kurz angebunden, hatte starken Berufsverkehr und musste mich darauf konzentrieren, aber Frauen sahen das nun Mal anders. Ich seufzte. „Ja, Mama, es geht mir gut ... ich lieb dich auch und nein, ich bin nicht aufgeregt.“ Grinsend hatte ich das Gespräch weggedrückt, und ihr somit keinerlei Gelegenheit gegeben, noch darauf antworten zu können. Das Handy blieb nun still, sie hatte es kapiert. Heute Abend würde ich mich melden ... Von Kilometer zu Kilometer, die mich näher an meinen Heimatort brachten, wurde ich aufgeregter. Das Lächeln auf meinem Gesicht verschwand und eine undefinierbare innerliche Unruhe hatte sich breitgemacht. Ich war eine Zeit lang auf der A7 gefahren, was mir mein Tom Tom zuerst auch empfohlen hatte, Baustellen hatte er mir aber nicht gesagt und so kam ich hier einmal in einen Stau. Daher wechselte ich dann aber auf die A14. Den Tipp bekam ich von Inge, als ich ihr von meinem Vorhaben berichtet hatte. Meinem Navigationsgerät passte es nicht ganz so, was mir aber galant am Hintern vorbeiging. Nicht immer hatten diese elektronischen Routenberechner recht. Nachdenklich fuhr ich eine Weile weiter, wechselte noch einmal die Autobahn auf die A9, bis ich endlich in München ankam. Nur einmal in der kompletten Zeit hatte ich eine Rast gemacht in Form einer Pinkelpause, was gegessen und von meinen Kaffee getrunken der eher lauwarm war. Es war mir wichtig, schnell anzukommen, und mich wunderte es, wie weit doch Hamburg von München entfernt war. Eine Reise durch ganz Deutschland. Im Gesamten war die Fahrt sehr anstrengend gewesen, Schneefall und zähflüssiger Verkehr erschwerten das Ganze und stellenweise musste der Streudienst seine Arbeit verrichten und wir Autofahrer waren gezwungen, im Schritttempo zu fahren. Dann wiederum gab es Stellen, in denen es flott zur Sache ging. Aber nun war ich angekommen, nach fast neun Stunden Fahrt und es war schon weit in den Abend hinein. Mein erster Schritt jedoch würde nicht Susan werden oder gar Darian, für den musste ich mir etwas einfallen lassen, so unverhofft bei ihm aufzutauchen, nein, es war meine Mutter. Dies hatte ich kurz vor München für mich entschieden, weil es doch schon zu spät dafür war. Aber nicht zu spät, seine Mutter zu besuchen. Ich parkte unweit von ihrer Wohnung. Mir fiel erst jetzt ein, dass ich gar nicht überlegt hatte, ob sie noch dort wohnte und stieg daher unsicher und in Gedanken aus, ging auf die Haustür zu. Als ich nur den Nachnamen von ihrem Lebensgefährten las, stockte mir der Atem – dann aber sah ich beide Vornamen. Gerda und Helmut. Der Nachname Müller war verschwunden. Meine Mutter hatte also geheiratet und hieß nun Gerda Grothe. Ich seufzte, weil ich ihn immer noch nicht leiden konnte, und weil Erinnerungen hochkamen, in denen wir uns angegiftet hatten. Vieles kam hoch. Wie würde ich empfangen werden, würde ich es überhaupt, oder sogar abgewiesen werden? Ich drückte auf die Klingel, die sich wie immer schrecklich blechern anhörte, wie aus dem letzten Jahrhundert stammend, und trat einen Schritt zurück, rieb mir dabei die kalten Hände. Meine Handschuhe lagen auf dem Beifahrersitz und ich war zu faul, nochmals zurückzugehen, um sie zu holen. Ich mummelte mich tiefer in meinen Anorak, um der Kälte nicht ganz eine Chance zu geben, mich auskühlen zu lassen. Dennoch bereitete sich etwas anderes aus, Unbehagen. Fast fünf Jahre war es nun her, seit ich das letzte Mal hier war und ich hatte das Gefühl, mich fremd zu fühlen – nicht mehr hierher zu gehören. Kurz war ich gewillt, einfach umzudrehen, mir ein Hotelzimmer zu suchen und morgen zurückzufahren. Ich scharrte mit der Schuhspitze auf dem Asphalt liegen gebliebenen Schnee, der mit Streusalz und Granulat versehen war und bald graue Schlieren hinterließ. Nein, ich hatte nicht die lange Autofahrt gemacht, um dann den Schwanz einzuziehen. Ich beschloss, nicht aufzugeben, etwas, was ich Carsten zu verdanken hatte. Als ich eine kleine Weile vor der Tür wartete, frierend und schon fast steif vor Kälte, kam mir kurz der Gedanke, dass womöglich keiner zu Hause war, und wusste zuerst nicht, was ich machen sollte. Daher schaute ich hoch in den dritten Stock, sah, dass hinter dem Rollladen Licht brannte. Es war jemand zu Hause. Also entschied ich mich für ein weiteres Klingeln – wieder nichts. Sollte ich anrufen? Ich tastete nach meinem Handy. Der Gedanke, mich vorher anzukündigen, kam auf und wäre vielleicht sinnvoller gewesen, entschied mich dann doch dagegen und beschloss, mir ein Hotelzimmer zu suchen und morgen vorbeizukommen. Ich wollte schon auf dem Absatz kehrt machen, da hörte ich den erlösenden Summer der Haustür. Aha! Ich drückte sofort dagegen und begab mich in den dritten Stock, während das Licht automatisch im Flur angegangen war. Nichts hatte sich verändert, noch immer der alte verblichene braune Anstrich, der langsam an einigen Stellen abblätterte. Jetzt noch mehr, wie ich feststellte, da eine gewisse Zeit verstrichen war, seit ich hier war. Der muffige Geruch, der einem um die Nase wehte, wenn Wohnungen verlebt waren – alles war mir noch vertraut. Ein Wohnblock wie viele andere auch, in der die Eigentümer oder Baugesellschaften keinesfalls mehr für ihr Eigentum ausgeben wollten, als notwendig erscheint, Hauptsache die Mieten wurden pünktlich bezahlt. Wie hatte ich es doch mit Carsten und seinem Haus gut getroffen gehabt. Der Luxus wurde mir erst jetzt bewusst. Als ich die letzten Steinstufen erklommen hatte, stand schon Mamas Lebensgefährte, Pardon, Ehemann im Türrahmen. Er hatte seine Hände in die Hüfte gestemmt und sah mich mit seinen kleinen Augen ernst an. Dabei merkte ich sofort, dass er sich kaum verändert hatte, vielleicht ein paar Kilo leichter, da mehr Falten im Gesicht zu sehen waren, konnte aber auch der Zahn der Zeit sein. „Hallo Jaden, du hast Nerven, nach so langer Zeit hier aufzukreuzen. Du hast deiner Mutter viel Kummer bereitet“, waren die schroffen Begrüßungsworte, die zwar überrascht, aber keineswegs besorgt klangen. „Schön auch dich zu sehen! Ist Mama überhaupt zu Hause? Ich dachte schon, es wäre keiner da“, klang ich pikiert, weil man mich in der Eiseskälte so lange hatte warten lassen. Ich rieb mir meine Hände aneinander, damit sie etwas wärmer wurden, weil ich immer noch durchgefroren war. „Ja, nachdem sie aus dem Fenster gesehen hatte und dich unten stehen sah, musste sie sich erst mal von dem Schock erholen. Deshalb hat es etwas gedauert, um dir aufzumachen. Du hast Nerven“, wiederholte er sich und ich erwiderte nichts darauf, da mir womöglich Sachen herausrutschen würden, die ich eventuell später bereuen würde. Ich wartete einfach ab, wie meine Mutter auf mich reagierte. Helmut öffnete komplett die Tür, trat zur Seite, so konnte ich in die Wohnung eintreten. Ich wartete auf ihn im Flur, bis er vorging. Auch wenn ich da gewohnt hatte, war ich nur Gast und wusste, was sich gehörte. Still folgte ich ihm in die Küche. „Reg sie nicht auf“, ermahnte er mich. „Ist ja gut“, zischte ich. Da hatte man eine lange Fahrt hinter sich, war müde, zudem einen langen Zeitraum weg gewesen und dann so etwas. Zum Glück ließ er mich alleine. In dem Augenblick fehlte mir Basta, der ihn bestimmt angeknurrt hätte. Der Hund hätte mich verteidigt, da war ich mir sicher. Warum hatte ich ihn nicht mitgenommen – als Schutz? Ich verstand mich nicht, warum ich so gehandelt hatte. Mein Blick fiel auf den Rücken meiner Mutter. „Hallo Mama“, begrüßte ich sie so ruhig ich nur konnte. Innerlich war ich nervös. Sie stand am Herd und kochte – um diese Zeit? Bereitete sie das Essen für Morgen vor? Seit ich die Küche betreten hatte, hatte sie kein Wort gesagt oder sich zu mir umgedreht. Und doch konnte ich sehen, wie aufgewühlt sie war. Ich wollte zu ihr gehen. „Bleib stehen! Bleib bitte da stehen, wo du bist.“ Sie drehte sich endlich um und ich erschrak gewaltig. Wie war sie in der Zeit gealtert. Ihr Gesicht war mit Kummerfalten überzogen. Wegen mir etwa? Reue und ein schlechtes Gewissen überkamen mich. Kurz beschlich mich das Gefühl, das sie wieder ein Alkoholproblem hatte. Jetzt wusste ich, wo ich meine Labilität oder Instabilität herhatte. Innerlich betete ich für sie, dass es nicht so war. Schnell scannte ich mit den Augen die Küche nach Alkohol, aber es sah sauber aus. Ein Alkoholiker konnte keine Ordnung mehr halten, nicht ab einem gewissen Stadium. Was sich hinter den Türen der Schränke befand, das wusste ich nicht. „Ich bin clean. Willst du einen Kaffee?“, sagte sie nur und wischte sich die Hände an ihrer ziemlich sauberen Schürze ab. Ihre Kälte, die Härte in ihrer Stimme, sie schmerzte, auch dass sie sofort meinen nach Alkohol suchenden Blick bemerkt hatte. Keine Umarmung, keine Wiedersehensfreude war zu sehen. Irgendwie hatte ich mir eine andere Begrüßung vorgestellt. Ich nickte – mechanisch und setzte mich unbehaglich auf den Küchenstuhl. Auf Kaffee um diese Zeit hatte ich zwar keine Lust, aber ich wollte nicht aufmüpfig wirken und nickte nur. Mich beschlich ein Gefühl, mir heute noch ein Hotelzimmer suchen zu müssen. Hatte ich wirklich geglaubt, ich könnte bei ihr ein paar Tage bleiben – bei dieser Kälte, die zwischen uns herrschte? Hatte ich geglaubt, ich könnte alles ins rechte Lot rücken, könnte Darian besuchen gehen und Susan – alles wäre dann gut? Auf einmal hatte ich weder Lust auf Susan noch auf Darian und das, obwohl ich mich nach ihm verzehrte.       ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 41: ------------ ~°~41~°~     So hatte ich mir das Wiedersehen mit meiner Mutter nicht vorgestellt. Nein, so gewiss nicht. Eine Gänsehaut zog sich über den gesamten Körper. Ich fröstelte. Mir war bereits vom Wetter her sehr kalt. Auch wenn die Wohnung gut beheizt war, ließ sie mich jetzt nicht aufwärmen, im Gegenteil. Ich hüllte mich fester in meine Jacke, die ich zum Glück nicht ausgezogen hatte, den Schal, den ich im Auto gelassen hatte, hätte ich auch gut gebrauchen können. Meine Mutter machte uns in der Zwischenzeit einen Kaffee in einer Senseo, nachdem sie den Herd ausgeschaltet hatte, damit das Essen nicht anbrennen konnte. Hackbraten roch ich heraus, war mir aber nicht sicher. Wieder sah ich mich in der Küche um. Einiges hatte sich verändert. Neue Küchengeräte, wie die Kaffeemaschine, zudem sah es frisch tapeziert aus, ein neuer PVC-Boden. Aber der Rest, wie der alte Herd, die gelben Fliesen über der Spüle, die einem der üblichen staatlichen Schwimmbäder ähnelten, dies alles war geblieben. Selbst der Fleckerlteppich, den ich schon immer verabscheute, weil er altmodisch aussah, lag noch am gleichen Platz. Der Raum füllte sich mit dem Röstaroma und der Duft vom Braten wich etwas zurück. Als sie mir den Kaffee hinstellte, ohne zu fragen, ob ich Zucker oder Milch haben möchte, war ich gewillt, darum zu bitten, ließ es aber sein, als ich in ihre starre Miene blickte. Es waren Dinge, gerade wie mit der Milch im Kaffee, die mich an Carsten erinnerten, als es mir schlecht ging und er mich so aufbaute. Und noch etwas stimmte mich nachdenklich, Carsten hätte so gerne meine Eltern kennengelernt, wie er mir an seinem Sterbebett gebeichtet hatte. Er war es auch gewesen, der mich dazu aufmunterte, mit meinen Eltern endlich ins Reine zu kommen, wenn ich so weit wäre, um zurückfahren zu können. Zwischen meiner Mutter und mir war kein weiteres Wort gefallen, seit sie mir den Kaffee hingestellt hatte. Sie nahm, als sie ihren Kaffee fertig hatte, ebenfalls Platz, setzte sich genau gegenüber von mir und beobachtete mich, hielt dabei ihren Becher in der Hand, als ob er jeden Moment umkippen könnte. Dass ich meine Jacke anbehielt, schien meine Mutter nicht zu stören. Die ganze Situation wirkte paradox, mal davon abgesehen, dass man um diese Uhrzeit keinen Kaffee mehr trinken sollte, ich Hackbraten roch und das Zeitfenster überhaupt nicht stimmte. Ich ließ mir nichts anmerken und trank still das Getränk, malte mir in der Zeit aus, wie ich das Gespräch anfangen sollte, fühlte mich dabei unbehaglich, gar schwach, hinterfragte das Ganze immer wieder, ob es überhaupt klug gewesen war, hierher zu kommen. War es vielleicht zu früh gewesen – oder gar zu spät, hatte man mich abgeschrieben? Warum war ich nicht einfach in Hamburg geblieben? Die vielen Fragen brannten sich hinter die Stirn. Etwas linkisch stellte ich die Tasse auf den Unterteller und machte dabei ungewollt ein schepperndes Geräusch, was mich, bei dem eigen verursachten Ton, etwas zusammenzucken ließ. Wie gut, dass sich ihr Mann ins Wohnzimmer verkrümelt hatte. Es hätte gerade noch gefehlt, dass ich von beiden begafft wurde. Ich fühlte mich immer unwohler unter ihrer ganzen Begutachtung und strich mir nervös übers Haar, während ich weiter grübelte, was ich denn nun sagen sollte. Aber das erübrigte sich, als sie von sich aus die Unterhaltung anfing, dabei ließ sie mich weiterhin nicht aus den Augen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit ganz auf sie, wappnete mich auf das Schlimmste. „Als du weg warst, machte ich mir und vor allem auch deinem Vater schwere Vorwürfe. Aber auch Darian, der sehr verschlossen mir gegenüber war, als ich aus ihm versuchte herauszubekommen, warum du dich über Nacht aus dem Staub gemacht hattest. Doch dein Bruder druckste nur herum, meinte, er wüsste nichts. Und Susan … deine Freundin hattest du wohl am meisten vor den Kopf geschlagen, als sie mich anrief. Ihr wart schließlich fast verlobt. Wie konntest du sie so im Stich lassen? Oder ihr nicht sagen, wo du bist. Wie konntest du nur verschwinden, ohne dich von mir zu verabschieden?“ Sie hatte sich leicht in Rage geredet. Susan und ich? Oh je, das kam dabei heraus, wenn man alles immer verheimlichte. Ich raffte all meinen Mut zusammen. „Ich wollte ein neues Leben anfangen, meines war nicht mehr das, was ich wollte. Ich musste einen klaren Schnitt für mich machen, daher die übereilte Flucht …“ Es war in der Tat ein neues Leben, das ich angefangen hatte. Zurück in mein altes Schema wollte ich nicht gehen – auf keinen Fall. „Hättest du nicht mit mir reden können?“ In ihrer Stimme schwangen Vorwürfe – aber nicht diese, die man machte, wenn man auf einen sauer war, es klang anders, das überraschte mich. Ich atmete tief durch, bevor ich ihr antworten konnte. Der Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, wurde größer und größer, aber es wurde auch nicht besser, nichts zu sagen. Eigentlich sollte ich mich verteidigen, wollte einiges ins rechte Licht rücken … und ich verteidigte mich. „Wie ich das machen konnte?“ Es entstand eine kurze Pause, um mich zu sammeln, dabei umklammerte ich eher unbewusst die Tasse, als dass ich meine Umgebung wirklich wahrnahm. „Ihr habt doch immer alle in mir einen Versager gesehen.“ Irgendwie schaffte ich es, meine Stimme fest und nicht weinerlich klingen zu lassen. Ebenso fest, wie meine Stimme klang, sah ich ihr in die Augen. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine auffallende Unruhe und ich behielt Recht. Denn plötzlich knallte die Hand meiner Mutter auf den alten, gewachsten Küchentisch, hinterließ einen dumpfen Laut, wodurch ich unwillkürlich zusammengezuckte. „Genau das war es, warum wir so zu dir waren, warum ich so zu dir bin. Weil du keinem wirklich etwas von dir erzählst. Wir wussten nicht, wie wir dich noch behandeln sollten, außer mit einer gewissen Strenge.“ Es entstand eine Stille, die sogar für mich schier unerträglich erschien. Jedes Argument dagegen blieb mir im Hals stecken, ich konnte sie nur anstarren. „Warum bist du tatsächlich gegangen?“ Ihr Blick war fest auf mich gerichtet. Knapp fünf Jahre Trennung waren eine lange Zeit, um meiner Mutter zu erklären, dass mein Halbbruder an allem schuld war. Trotzdem wollte ich ihn nicht mehr an den Pranger stellen. Ich wollte gerade dieses Kapitel abschließen, und als ob sie genau wusste, dass ich gerade jetzt an meinen Bruder dachte, sprach sie das Thema an. „Weißt du, dass dein Halbbruder einen Freund hat?“, fing sie aus heiterem Himmel an. Sollte ich überrascht wirken oder eher erschrocken, ich wusste es nicht, und doch hatten ihre Worte genau dort getroffen, wo sie treffen sollten – mitten in mein Herz, das zu zerbersten drohte. Genauso fühlte ich mich innerlich. Der tiefe, dumpfe Schmerz, aber auch Eifersucht kam im gleichen Tempo zum Vorschein. Nur mit Mühe konnte ich das alles unterdrücken. Ich hatte es gewusst, aber es aus ihrem Mund zu hören war noch mal etwas anderes. „Nein ...“, log ich und versuchte, gelassen zu wirken. Ich verfiel in Gedanken. War Miguel wirklich Darians richtiger Freund, Lebenspartner, oder war das nur eine Übergangslösung? Verdammt, was wusste ich eigentlich noch von meinem Bruder? „Vor drei Jahren, eine Weile nach seiner Scheidung, verkündete er plötzlich, nur auf Männer zu stehen … jetzt frag ich dich, war das der Grund, warum du auch abgehauen bist?“ Auch? „Ist Darian abgehauen?“ Meine Stimme hatte zu zittern angefangen. Die Situation wurde immer grotesker. Ich hielt die Tasse weiterhin fest umschlossen und war nicht auf ihre Frage eingegangen. „Ja, als Vater ihn vor Enttäuschung enterben wollte, abgehauen nicht direkt, eine Auszeit wollte er von allem hier. Ich fand es eher eine Art von Flucht, nur mit dem Unterschied, dass er sich wenigstens verabschiedet hatte.“ „Was ist mit dir?“ Die Frage war dumm, das wusste ich, aber in meinem Kopf herrschte ein Chaos. Ich konnte kaum klar denken. Darian hatte sich geoutet, meine Familie wusste, was er war. Er war mir daher einen Schritt voraus, denn mir stand das Outing noch bevor. „Was soll schon sein? Er ist nicht mein leibliches Kind, doch sollte man deswegen sein Kind nicht verjagen, nicht wegen so etwas. Und das Darian der Fehltritt eures Vaters ist, dafür kann er nichts, das weiß ich endlich. Ich brauchte nur eine Zeit, das alles zu verkraften.“ War das wirklich meine Mutter, die mich ständig verkuppeln wollte? Sie wirkte jetzt irgendwie … einfühlsam? „Du hast mir immer noch nicht meine Frage beantwortet“, hakte sie nach. „Wie war deine Frage noch mal?“, ich versuchte, mich zu konzentrieren. „Ob du deswegen abgehauen bist, weil du schon vorher von seiner Neigung gewusst hattest? Schließlich seid ihr Brüder und da erzählt man sich eventuell etwas mehr wie seinen Eltern.“ Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich hatte das Darian nicht zugetraut. Niemals! Meine Mutter rieb sich angestrengt über die Stirn und fuhr fort. „Auf jeden Fall hätte es Stefanie eine Menge Kummer erspart, wenn Darian etwas ehrlicher ihr gegenüber gewesen wäre. Es ist ja kein Weltuntergang. Vielleicht für eine Mutter, die auf Enkelkinder hofft, nicht gerade toll. Nun ja …“ Sie rieb sich weiterhin die Stirn und ich sah sie mit offenem Mund an. Dann, als ob der Zeitpunkt perfekter nicht hätte sein können, outete ich mich, bevor mich der eigene Mut im Stich ließ. „Mama, ich bin ebenfalls schwul.“ Helmut hatte sich zu uns gesellt, genau dann, wenn man ihn nicht gebrauchen konnte. Mir rutschte das Herz in die Hosentasche. „Ich hab’s gewusst“, fiel er sofort mit der Tür ins Haus. „Wie gewusst?“ Ich wirkte nicht nur schockiert, ich war es. Schockiert und überfahren, wie von einem Traktor. „Von Anfang an, als ich dich sah, wusste ich es.“ Das war sein Argument daraufhin. Ich drehte mich auf dem Sitz zu ihm, was ein quietschendes Geräusch hinterließ. „Ach ja?“, meinte ich sarkastisch, da ich zu glauben wusste, auf was er anspielen wollte – auf meine Klamotten, auf mein Aussehen, wobei ich heute recht normal aussah. Meine Mutter räusperte sich und ich sah wieder zu ihr. Sie hatte sich bis jetzt noch nicht geäußert, wirkte überrascht im Gegensatz zu ihrem Mann. Ich studierte ihre Mimik, wollte herauslesen, was sie dachte, was ich aber nicht konnte. Auf jeden Fall war keine Abscheu darin zu erkennen und das beruhigte mich ein wenig. Hastig nahm ich einen Schluck Kaffee, der inzwischen lauwarm war. Meine Finger fühlten sich hingegen kalt und klamm an. Obwohl die Tasse noch eine Restwärme abgab, so reichte sie nicht für meine innerliche Kälte, die nach außen drang. „Seit wann?“, fragte sie ruhig und sah von mir zu ihrem Mann. Er war die ganze Zeit am Türrahmen angelehnt und ging nun zu meiner Mutter, stellte sich neben sie, legte eine Hand auf ihre Schulter. Eine ungewohnt vertraute Geste. Denn sie hatte seine Hand ergriffen und drückte sie. Waren sie früher auch so zueinander gewesen? Ich konnte mich kaum daran erinnern. „Schon als Kind.“ Ich räusperte mich, versuchte, den Frosch im Hals endlich zum Schweigen zu bringen. „Und Susan … warst du …“ Sie ließ den Satz unbeendet, aber ich wusste, auf was sie hinaus wollte, was ihre Anspielung war. „Susan hat es von Anfang an gewusst. Sie war eine gute Freundin – mehr aber nicht.“ Wieder nahm ich einen Schluck, spürte und schmeckte kaum noch die Flüssigkeit und stellte die Tasse dann unsanft ab.       ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 42: ------------ ~°~42~°~     Sie war weder aufgestanden noch schrie sie mich an, nur ihr Gesichtsausdruck irritierte mich. Meine Mutter schien mir so verändert. „Willst du noch Kaffee?“, erkundigte sie sich plötzlich und hatte mich aus meiner Starre herausgerissen. Verklärt sah ich erst zu ihr, dann auf den Inhalt meiner Kaffeetasse. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich sie in einem Zug geleert hatte. „Was?, fragte ich nach, obwohl ich wusste, was sie mich gefragt hatte, war es nur, um Zeit zu schinden und um mich zu sammeln. „Ich fragte, ob du noch Kaffee möchtest.“ Auch wenn sie nicht tobte, war für mich eine unüberwindbare Kluft zu spüren, in der eine Kälte nach oben drang. Und doch gab ich dem Drang nicht nach, aufzuspringen und die Wohnung fluchtartig zu verlassen, mich ins Auto zu setzen und einfach davon zu fahren. Nein, dieses Mal würde ich nicht abhauen und den Schwanz einziehen. Daher nahm ich, wenn auch widerstrebend, das Angebot, noch eine Tasse Kaffee zu trinken an. „Ja, gerne.“ „So, so, Susan hatte es also gewusst … Ich glaube, ich habe bei dir viele Fehler gemacht“, meinte sie daraufhin, stand vom Tisch auf, um mir ein weiterer Kaffee aus der Senseo aufzubrühen. Erstaunt sah ich ihr hinterher. Mit der Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Die Kluft, die ich dachte, mir eingebildet zu haben, verschwand. Ich schüttelte, von ihr unbemerkt, den Kopf. „Nein, ich habe ebenfalls Fehler gemacht. So hätte ich nicht gehen dürfen, das ist mir klar“, gab ich kleinlaut zu. Ich spürte den eigenen Fehler; ich hätte mich damals wenigstens von meiner Mutter und Susan verabschieden können. Hätte ich es wirklich gekonnt? Abschiednehmen und mich dann hinterher in den Zug zu setzen, so aufgewühlt, wie ich gewesen war? Womöglich nicht. „Nein, das war keine nette Art!“, gab sie ernst von sich, während sie das Pad in die Maschine legte und die Tasse darunter stellte. „Und doch konnte ich nicht anders.“ Damit hatte ich mir eine eigene Gedankenbrücke erschaffen, auf der ich aufbauen konnte. Ich spürte, wie mein Selbstbewusstsein zurückkehrte. „Und damit wären wir bei dem Wort Anders. Ich bin einfach anders, werde es immer sein.“ Bewusst spielte ich auf mein Aussehen, auf meine Klamotten, auf alles eben, an. Dabei dachte ich genau in diesem Augenblick an Carsten, wie er es immer toll gefunden hatte, wie ich mich kleidete. Zugleich kamen Schamgefühle auf, als ich mich erinnerte, dass ich auf der Beerdigung nicht meinen Lieblingsrock angezogen hatte. Ich hatte Carstens letzten Wunsch nicht erfüllt. Trauer kam auf und mein Herz zog sich für einen kurzen Moment schmerzhaft zusammen. Lass dich nicht hängen! Ich atmete tief durch und straffte die Schultern, wollte vor meiner Mutter keinen Durchhänger vorweisen. In der Zwischenzeit kam sie mit der frisch aufgebrühten Tasse Kaffee und ich nahm sie entgegen. „Danke.“ „Jaden …“, fing sie vorsichtig an und setzte sich an ihren Platz zurück. Sie schien in Gedanken, auf ihrer Stirn hatte sich zu den anderen Falten eine ganz dicke gebildet. „… ich habe dir in den letzten Jahren weder zum Geburtstag gratulieren dürfen, noch feierten wir Weihnachten zusammen, noch warst du auf meiner Hochzeit. Helmut und ich …“, sie machte eine Pause und nahm die Hand ihres Mannes, drückte sie kurz. „… haben vor einem halben Jahr geheiratet. Damit ich versorgt bin, wenn ihm mal etwas passieren sollte. Ich wusste nicht, ob ich dich jemals wiedersehen würde.“ Erstaunt, und zugleich traurig sah ich sie kurz an, da alles auf mich einströmte. Dann schaute ich entschlossen auf meine Tasse, fasste mich, rief mir die negativen Dinge ins Gedächtnis. Die vielen Streitereien, das Unverstandene zwischen uns und von meinem Vater. Warum ich mich immer mehr von ihnen zurückgezogen hatte, wie oft sie mich ignoriert hatte, als ich sie hätte gebrauchen können. Erinnerte mich an meine Kindheit zurück und an die Zeit, als Darian in mein Leben getreten war und wie sich schlagartig alles für mich veränderte – wie Darian mein Leben überhaupt verändert und auch beeinflusst hatte. Spürte meine Liebe zu ihm, spürte Carstens Liebe zu mir. Unbewusst wechselte ich dabei wiederum von den negativen Dingen in Schöne, fasste einen Entschluss. „Was sind schon fünf Jahre, ich bin jetzt hier“, erwiderte ich daher trocken. Bewusst hatte ich ihre Hochzeit ausgeklammert, darauf würde ich später zurückkommen. Es gab nun viel Wichtigeres, der Zeitpunkt schien nun perfekt. „Die Frage ist nur: Kannst du damit leben, einen schwulen Sohn zu haben?“ Ich wollte sie nicht vorwurfsvoll anschauen, tat es aber dann doch, weil sie eigentlich auf mein Outing etwas ausgewichen war und sie schenkte mir einen undefinierbaren Blick, den ich nicht richtig deuten konnte, da ihre Miene starr blieb. War sie geschockt, war sie wütend, was dachte sie? Die ganze Unterhaltung war irgendwie … seltsam. „Jaden, ich glaube, du hast mich nie verstanden, wenn du nur was gesagt hättest. Ich wollte dich nur nicht alleine wissen, darum immer diese vielen Mädchengeschichten. Darum fragte ich auch laufend nach, ob du endlich eine Freundin hast.“ Sie schluckte schwer und jetzt konnte ich ihre Gefühle fast von der Stirn ablesen. Sie war nicht wütend, sie war verletzt und traurig. „Ich sah zudem, wie dein Bruder ein Mädchen nach dem anderen bekam, nur mein kleiner Junge nicht.“ Ihre Stimme wurde brüchig und Tränen schimmerten in ihren Augen, was ihre Traurigkeit nun richtig zum Ausdruck brachte. Sie schob ihre Tasse vor sich hin und kämpfte gegen einen Tränenausbruch. Scheiße, mir kamen selbst die Tränen, die ich wie sie nur mühselig zurückhalten konnte. Hatte ich mich so in meiner Mutter getäuscht? Hatte ich ihre Signale all die Jahre völlig missverstanden? Jetzt, wo sie es wusste und für mich total gut reagierte, kam ich mir ihr gegenüber schlecht und ungerecht vor. Daher fasste ich einen Entschluss. Ich stand vom Tisch auf, ignorierte Helmut, der sich erstaunlicherweise die ganze Zeit zurückgehalten hatte, und kam auf meine Mutter zu. Sie sah zu mir auf, stand nun selbst von ihrem Platz auf und da machte ich den ersten Schritt, ich umarmte sie. Sie kam mir in meinen Armen zerbrechlich vor. Wir verharrten eine Weile so miteinander, standen einfach umarmend in der Küche, ließen unsere Tränen freien Lauf, bis sie sich als Erste von uns beiden fasste und mir kurz über die feuchten Wangen streichelte, bevor sie sprach. „War das tatsächlich der einzige Grund, warum du weggelaufen bist?“ Sie löste sich komplett von mir, nahm Abstand und sah mir fest in die Augen. Ab und an wischte sie sich die Augen trocken, da immer mal wieder Tränen nachkamen, und schniefte dabei. Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Hose, putzte sich die Nase, ich verwendete den Handrücken dafür. „Ja, Mama“, antwortete ich ihr und wusste, ich hatte ihr nicht direkt die Wahrheit gesagt. Einige Geheimnisse sollte man für sich behalten und manches konnte man erzählen, diese hier nicht mehr. „Ich hoffe, du bleibst ein paar Tage und erzählst uns, wie es dir in der Zwischenzeit so ergangen ist. Schlecht siehst du nicht aus!“ Sie versuchte sich in einem missglückten Lächeln und ließ sich von ihrem Mann in den Arm nehmen, der die ganze Zeit ruhig geblieben war. Erstaunt schaute ich zu Mamas Mann, als er mich ansprach. „Ich denke, das bist du deiner Mutter schuldig, nicht wahr?“ Ich nickte. „Eine knappe Woche habe ich hier eingeplant. Ich denke, ich muss es auch meinem Vater sagen.“ Ich war mir sicher, dass dies eine größere Hürde für mich werden würde. „Das, glaube ich, wird nicht ganz einfach werden.“ Wieder nickte ich. „Aber jetzt richte ich dir erst einmal das Bett und mache uns Abendbrot. Wo hast du eigentlich die ganze Zeit über gelebt?“ „In der Nähe von Hamburg – Schenefeld“, sagte ich leise und konnte ihre hörbar eingezogene Luft am eigenen Leib spüren. „Heilige Mutter“, donnerte sie los. Ihr Mund klappte auf und zu. „Dann hast du eine lange Fahrt hinter dir … dann war der Kaffee nicht ganz so verkehrt, wobei der keinen Koffein hatte“ Sie lächelte entschuldigend. „Vielleicht können wir morgen reden.“ Der Kaffee hatte kein Koffein? „Gute Idee.“ Ich gähnte, darum hatten mich die beiden Tassen nicht aufgewirbelt. Erstaunt sah ich auf die Uhr. Es war schon weit nach neun Uhr. Ich stimmte ihr zu. Morgen war auch noch Zeit dafür. Und so aß ich zu Abend mit den beiden und wir plauderten über dies und das, selbst Helmut war recht gesprächig. Von Carsten wollte ich ihr aber erst morgen berichten. Das konnte man nicht mit wenigen Worten abhandeln.       ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 43: ------------ ~°~43~°~     Ich wachte in meinem alten Zimmer auf, was eher als Rumpelkammer diente, als wirklich zu einem Gästezimmer umfunktioniert zu sein schien. Nichts war hier noch von mir vorhanden. Keine Bilder, Kleidung oder alte Spielsachen – nichts. Nur ein Wäscheständer, der alte Staubsauger, diverse Putzeimer mit den dazugehörigen Wischern, die kleine Werkbank, die eigentlich in den Keller gehörte als in ein Zimmer, dies alles schmückte etwas lieblos den Raum. Aber die Tapete und der braune samtene Fußboden, die waren geblieben. Man konnte noch meine Posterabdrücke erkennen, selbst nach fünf Jahren. Vielleicht hatte meine Mutter die Sachen in den Keller gebracht und nicht fortgeworfen. Seltsamerweise war ich nicht unbedingt traurig darüber, war ich hier nicht wirklich oft genug zu Hause, um mich heimisch zu fühlen. Konnte ich es ihr da verübeln, nachdem ich so sang- und klanglos verschwunden war, dass sie die Sachen dann von mir wegtat? Nein! Ich verschränkte die Hände hinter dem Kopf, blieb aber noch auf dem Gästeklappbett liegen, das unter meinen Bewegungen verdächtig knarzte, und starrte an die Decke. Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Wie ich mich nach meinem Outing fühlte, konnte ich nicht beschreiben. Auf jeden Fall war es kein schlechtes Gefühl. Auf meinen Lippen kräuselte sich ein Lächeln. Endlich wusste es meine Mutter. Endlich! Wenn ich doch früher nur den Mut dazu gehabt hätte, und doch … Nein, ich hatte alles richtig gemacht. Jetzt fehlte nur noch mein Vater, und der würde garantiert nicht so einfühlsam reagieren. Ein letztes Mal gähnte ich und trieb mir somit die letzte Müdigkeit heraus. Der Kaffeeduft kroch bis in das Zimmer und umschmeichelte meine Nase. Wie spät war es eigentlich? Ich hatte kein Zeitgefühl, hatte ich doch tief und fest geschlafen, und als ich auf mein Handy sah, das neben mir auf dem Boden gelegen hatte, stellte ich überraschend fest, dass es bereits weit nach elf Uhr war. Auch waren zwei Anrufe in Abwesenheit eingegangen – ich lächelte, die Frauen in Schenefeld machten sich tatsächlich Gedanken um mich. Es war schön, wenn man nicht allen egal war und daher rief ich zu Hause an, und teilte mit, dass alles in bester Ordnung war. Sabine schien neugierig und ich noch zu müde, um auf ihre vielen, sprudelnden Fragen zu antworten und vertröstete sie auf ein anderes Mal. Basta hörte ich im Hintergrund bellen. „Drück ihn von mir“, sagte ich noch zum Schluss und legte das Handy zurück. Der Rollladen am Fenster bewegte sich unruhig und ich hörte einen heulenden Sturm. Es muss ein Blizzard sein, dachte ich, als ich mich entschloss, endlich aufzustehen und ging ans Fenster, zog leicht die Jalousie ein Stück nach oben, um heraus zu spicken. Ich hatte mit meiner Vermutung recht, es war ein Schneesturm, der nun gegen das Fenster peitschte und mich fröstelte es geschwind, obwohl das Zimmer gut beheizt war. Denn kurz flackerten Bilder vor meinen Augen von der damaligen Wanderung. Jetzt, wo ich wieder in meiner Heimat war, kamen viele Erinnerungen daran zurück. Doch berührten sie mich nicht mehr ganz so stark, wie ich noch vor meiner Reise erwartet hätte, die Ängste, die ich hatte, sie waren nicht so gewaltig. Ich starrte gedankenverhangen auf die vielen vermummten Menschen, die gegen den Sturm ankämpfen mussten. Draußen lag alles unter einer dicken Schneedecke und mein Auto konnte ich nur darunter erahnen. Es musste die ganze Nacht durchgeschneit haben und ich sah die Lichter eines Streufahrzeuges. Wie gut, dass ich nicht sofort nach Hause fahren musste. Ich streckte mich, die Knochen knackten und ich ließ meinen Nacken leicht kreisen, um die Verspannungen wegzubekommen, die sich über Nacht gebildet hatten, war es doch auf dem Gästebett nicht wirklich bequem gewesen. Dann holte ich frische Sachen aus meinem Koffer und ging duschen. Meine Mutter hatte alles vorbereitet, als ich das Bad betrat. Ein grünes Handtuch, dazu der passende Waschlappen, sogar eine frische Zahnbürste – sowie Rasierer und Rasierschaum, lagen ordentlich auf einem Hocker … Ich schmunzelte. Als ich fertig mit der Morgentoilette war, ging ich dem aromatischen Kaffeegeruch, der immer noch in der Luft hing, nach, bis ich in der Küche stand. Meine Mutter war gerade am Geschirr abspülen und stand mit dem Rücken zu mir. Mein Blick fiel sofort auf den immer noch gedeckten Kaffeetisch. Als sie mich registrierte, drehte sie sich um und lächelte. „Guten Morgen“, begrüßte sie mich weich und ihr Gesicht sah nicht mehr ganz so verhärtet aus, auch wenn ihre Falten nicht über Nacht weggegangen waren. „Guten Morgen?“, erwiderte ich ebenfalls. „Nun ja …“ Ich lächelte ebenfalls. „… es ist fast Mittag.“ Dann runzelte ich die Stirn. „Musst du nicht arbeiten?“, fragte ich nach. Ich gab mir einen Ruck, ging auf sie zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange und setzte mich an den gedeckten Tisch. Eine Geste, die so fremd war, die ich so gut wie nie bei ihr gemacht hatte, aber sich gut anfühlte. „Ich habe beschlossen, dass ich einfach mal krank bin, außerdem will keiner bei dem Schneegestöber raus.“ „Das kenne ich so gar nicht an dir, stimmt aber schon, wer will wirklich bei dem Wetter raus, wenn man es hier drinnen schön warm hat.“ „Tja, dann wird es Zeit, dass wir uns richtig kennenlernen, mmh“, ging sie nur auf meine ersten Worte ein. Ich nickte erstaunt, war ich von ihrer Wandlung überrascht. Wie sich doch alles änderte. Nein, ich sollte in der Tat nichts mehr hinterfragen und einfach positiv denken. „Ja, das denke ich auch!“, sagte ich schließlich und rückte den Stuhl nach hinten, nahm mir dann eines der Brötchen, die einladend im Brotkörbchen lagen. Mein Magen knurrte und Hunger machte sich bemerkbar, als ich den Wurstaufschnitt sah, der liebevoll auf einem Teller angerichtet war. Meine Mutter kam mit einer frisch aufgebrühten Kanne Kaffee an den Tisch, setzte sich ebenfalls. So frühstückten wir zusammen, obwohl es fast Mittag war, und führten zuerst Small Talk. Ich verbrachte den ganzen Tag und auch den darauffolgenden viel Zeit mit meiner Mutter, und nicht nur das Wetter draußen wurde besser, sondern auch das Verhältnis zwischen uns. Dabei musste ich oft an Darian denken, während wir die verlorenen Jahre an Gesprächen aufholten. Ich stellte dieses Bedürfnis, ihn zu sehen, hinten an, wie auch das Treffen mit Susan und meinem Vater. Unsere Gespräche verliefen ungezwungen, was ich niemals gedacht hätte. Wir saßen die meiste Zeit gemütlich in der Küche und Helmut im Wohnzimmer, schaute fern. Dezent ließ er uns alleine, was ich ihm hoch anrechnete. Meine Mutter erzählte viel von sich und von meinem Vater, auch von ihren Eltern. Sachen, die ich nie mitbekommen hatte. Es entstand ein Band zwischen uns, was von Stunde zu Stunde mehr an Festigkeit zunahm. Schließlich erzählte ich ihr von mir und die Zeit in Hamburg. Zum Schluss offen von meiner Liebe zu Carsten, wie er krank wurde und warum ich weiterhin in seinem Haus lebte. Die ganze Zeit über hatte sie mir schweigend zugehört. Als sie danach fragte, ob ich ein Foto von ihm hätte, zeigte ich ihr, mit einem gewissen Stolz, eines, was ich immer mit in meinem Geldbeutel bei mir trug. Meine Hände zitterten leicht, als ich ihr das kleine Passbild gab. Dann zog ich noch ein weiteres Foto heraus, eines, wo wir beide drauf waren. Eines der letzten Aufnahmen von uns. „Er sieht … oh, er sah nicht schlecht aus, war aber älter als du“, korrigierte sie sich sofort, als sie ihren Fehler bemerkt hatte und ich dann traurig wurde. Ich steckte die Bilder zurück in die Geldbörse. „Ja, er war älter, aber das störte mich nicht.“ Ich verfiel in eine Art Melancholie, die meine Mutter sofort registrierte. „Du vermisst ihn sehr, stimmt’s?“ „Ja, ich vermisse ihn“, gab ich ehrlich zu. Es entstand eine kurze Stille. Ich hörte die Uhr in der Küche ticken. „Verkauf doch das Haus und zieh wieder nach München“, schlug sie dann vor. Das Haus verkaufen? Ich? Es ist Carstens Heim. „Nein, dort ist mein zu Hause, irgendwie. Der Tod traf mich zwar hart, ich machte eine sehr schwere Zeit mit und doch … Carsten gab mir die Kraft, alles zu überstehen. Ich denke nur gut von ihm, du hättest ihn gemocht. Ich kann sein Haus nicht verkaufen, zumal noch zwei Frauen aus meiner damaligen WG drin wohnen – und Basta.“ „Was für eine schwere Zeit?“ Ich zuckte nur mit der Schulter, wollte darauf nicht eingehen. Sie spürte, dass ich nicht darüber reden konnte, und auch nicht wollte. „Und wer ist Basta?“ „Basta?“ Meine Miene erhellte sich sofort, als ich an ihn dachte, wie er bestimmt Ina den letzten Nerv raubte, in dem er ihr ständig hinterher lief, oder auch Sabine. „Ja, Basta ist mein Schäferhund. Es war eigentlich Carstens Hund.“ Ihre Augen weiteten sich. „Du hast ihn nicht mitgebracht! Wo ist er denn? Ist er etwa in einem Hundeheim geparkt, das finde ich grausam.“ „Nein, beruhige dich, so etwas würde ich niemals machen.“ „Wo ist er dann? Zu Hause etwa, bei den Frauen?“ Der Gedanke schien sie zu besänftigen. „Ich wollte ihn nicht hierher mitnehmen, weil ich nicht wusste, wie alles so verlaufen würde.“ „Mmh. Wenn du wieder zurückgehst, dann warte keine vier Jahre mehr, okay!“ „Ich verspreche es.“ Wir plauderten noch über dies und das. Doch was mich wunderte, meine Mutter erwähnte mit keinem Wort Darian. Mich beschlich die Angst, dass er gar nicht zurückgekehrt war. Vielleicht hatten sich meine Freunde geirrt! Sollte ich nach ihm fragen? Mir brannte es regelrecht auf der Zunge und ich dachte nicht mehr darüber nach, sondern setzte es in die Tat um. „Ist Darian wieder zurück?“ Jetzt war es raus und meine Mutter hob die Augenbrauen an, musterte mich. Ich versuchte meine Neugierde nicht ganz an die Oberfläche zu lassen, was mir sehr schwer fiel. „Ja, ist er“, meinte sie belanglos. „Alleine?“, bohrte ich weiter. „Nein, er wohnt mit seinem Freund, ich glaube, in seiner alten Wohnung. Warum fragst du? Habt ihr nicht miteinander geredet?“ Darian lebte also mit Miguel in der Wohnung, wo ich damals gewohnt hatte. Der Schock saß tief. „Nein, haben wir nicht. Ich denke, ich fange erst mit meinem Vater an, und Susan wollte ich auch besuchen“, versuchte ich mich abzulenken. „Sag mal, kann das sein, dass Darian von deiner Homosexualität gewusst hatte?“ Ich wurde blass und nickte dann zögernd. „Einer der Gründe, warum ich verschwand. Er hatte es zu dem damaligen Zeitpunkt nicht verstanden.“ Erzählte ich ihr den Teil der Wahrheit, den ich vertreten konnte. Meine Hände zitterten leicht. Ich war aufgewühlt. Darian lebte also wirklich mit Miguel zusammen. Sie waren ein Paar. „Dieser Sturbock, dabei ist er selbst einer … wie sein Vater. Nun ja, dass ihr Brüder seid, könnt ihr nicht leugnen.“ „Wie meinst du das?“, spielte sie auf die Homosexualität an? „Manchmal besucht er mich, soll ich ihm Bescheid geben, dass du da bist?“, fragte sie schließlich. „Nein“, sagte ich eine Spur zu schnell und ich sah ihre misstrauischen Blicke. „Ich möchte ihn überraschen. Ich möchte mich bei ihm selbst melden“, fügte ich schnell hinzu. „Ach so.“ „Ich werde mal meine Besuche machen, Vater, Susan …“ Ich stand auf und stellte meine Tasse Kaffee in die Spüle und schaute dann aus dem Fenster. Die Straßen waren freigeräumt, nur mein Auto war noch, wie viele andere Autos auch, unter einer Schneedecke.   Ich winkte wenige Minuten später meiner Mutter, als ich dick bepackt unten stand und sie aus dem Fenster sah, auch Helmut war ans Fenster getreten. „Komm nicht zu spät zum Essen, sie will Schweinekrustenbraten machen mit Knödeln und Rotkraut. Darauf freue ich mich ganz besonders, sonst macht sie den nur, wenn wir Besuch haben“, rief er gut gelaunt nach unten. Ich lachte. „Okay, wenn mich Dad an einem Stück lässt, komme ich pünktlich. „Bis später.“ Zwar waren wir uns immer noch nicht ganz grün, aber ein besseres Verhältnis als in früheren Jahren auf jeden Fall. Vielleicht kam er jetzt eher damit zurecht, warum ich so herumlaufe und feminin wirkte, als ich an mir heruntersah. Ich brauchte eine gute viertel Stunde, bis ich die Scheiben enteist und schneefrei hatte. Meine Hände waren bereits zu Eisklumpen gefroren, als ich mich ins Auto setzte und das Gebläse anstellte, da die Scheiben innen angelaufen waren. Als es im Auto wärmer wurde und ich meine Finger wieder einigermaßen spüren konnte, fuhr ich dennoch nicht direkt zu meinem Vater, sondern benötigte eine halbe Stunde länger. Ich hatte bewusst einen Umweg gemacht. Die vielen Eindrücke bei meiner Mutter in den letzten zwei Tagen hatten mich noch lange danach ausgefüllt, bevor ich mich meinem Vater stellen konnte. Zuvor hatte sie mich nochmals gewarnt, weil bei Darian das Gespräch nicht gut verlaufen war, wie sie mir dann weiter berichtet hatte. Tja, so hatte ich auch meinen Vater eingeschätzt und trotzdem wollte ich es hinter mich bringen. Die Werkstatt sah noch genauso aus wie vor fünf Jahren, als ich ausstieg und mein Vater mir schon entgegenkam. „Deine Mutter hat mich gerade eben angerufen, sonst hätte ich es nicht glauben können.“ Er wirkte mehr als nur überrascht und trat an mich ran, umarmte mich. Ich war sichtlich irritiert, erwiderte aber die Umarmung. Würde er mich ebenfalls so begrüßen, wenn er es wüsste. „Wo hast du nur gesteckt?“, fragte er mich wenige Minuten später in seinem Arbeitszimmer. Hier war es ruhiger, da einige Kunden aufgrund des strengen Winters Blechschäden hatten und in der Werkstatt die Hölle los war. Ich fackelte nicht lange und platzte mit der Wahrheit heraus. Als ich mich vor ihm outete, war das Gespräch nicht ganz so gut gelaufen wie bei meiner Mutter. „Du also auch, reicht es nicht, dass ...“ Er wirkte auf einmal um Jahre gealtert und mich beschlich das Gefühl, dass er niemals Darian und mir verzeihen würde. Mein Vater ging wortlos an mir vorbei und aus seinem Arbeitszimmer, ließ mich alleine zurück und kümmerte sich wieder um seine Kunden, gab Anweisungen an seine Mitarbeiter. Er beachtete mich nicht mehr. Nachdem er mich wirklich weiterhin ignorierte, verließ ich seine Werkstatt, stieg schließlich irritiert in meinen Wagen. Zu Susan wollte ich heute nicht mehr, mir war die Lust nach einer weiteren Niederlage vergangen. Wer weiß, wie sie reagieren würde, wenn ich vor ihrer Haustür stand. Daher kam ich pünktlich zum Abendessen. Schweigend aßen wir zu Abend, bis meine Mutter mich nach meinem Vater fragte. „Er hat mich wie Luft behandelt, als ich es ihm gesagt hatte“, platzte ich schließlich damit heraus. Das Essen war eigentlich köstlich, aber mir war der Appetit vergangen. Und so stocherte ich eher lustlos im Essen herum. „Er ist und bleibt ein Sturkopf.“ Sie stand auf und nahm mich in den Arm. „Gib ihm Zeit, erst das mit Darian und dann mit dir. Eigentlich hatte er sich am Telefon richtig gefreut, als ich ihm mitteilte, dass du wieder da wärst.“ „Mmh. Morgen besuche ich Susan“, sagte ich nur und wir beließen das Thema. Ich hoffte, Susan würde besser reagieren. Die Nacht wurde unruhig, ich von wirren Outingträumen geplagt.   Wie überrascht ich war, konnte ich nicht beschreiben, als ich Susan am nächsten Tag hochschwanger antraf. „Jaden!“ Ihre Augen waren groß, die Verwunderung, mich zu sehen, stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie hielt sich ihren dicken Bauch. „Hallo Susan.“ Ich lächelte sie an, dann fielen wir uns in die Arme, was sich nicht einfach gestalten ließ, da ihr Bauch ein ziemliches Hindernis war. „Du blöder Hund“, schimpfte sie dann aber, als wir uns losgelassen hatten. „Im wievielten Monat?“, fragte ich sie und überspielte ihre Empörung. „Im Achten, gibt ein Februarkind, einen Wassermann.“ „Junge oder Mädchen?“, bohrte ich weiter. Sie zuckte mit der Schulter. „Ich lass mich überraschen.“ Dann musterte sie mich. „Gut siehst du aus, komm.“ Ich folgte ihr in die Wohnung. Nachdem sie mir meine Jacke und den Schal abgenommen und ich meine Schuhe ausgezogen hatte, gingen wir in ihr Wohnzimmer. Ich staunte nicht schlecht. Sie hatte eine völlig neue Einrichtung, alles wirkte edler und geschmackvoller. Mir gefiel es, und als ich Bilder von einem Mann und ihr drauf sah, deutete ich auf eines. „Mein Mann. Ralf und ich haben letztes Jahr geheiratet. Er ist noch auf der Arbeit und kommt erst spät nach Hause“, verkündete sie mit gewissem Stolz. Doch dann verfinsterte sich ihre Miene. „Du hast gefehlt, ich wollte dich als Trauzeugen. Du warst nicht auf meiner Hochzeit“, beschwerte sie sich. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. „Tut mir leid, aber jetzt bin ich ja hier. Glückwunsch noch nachträglich.“ Ich wusste, dass das kein Trost war, denn sie schüttelte nur mit ihrem Kopf. „Ach Jaden.“ „Auf der Klingel steht aber immer noch dein Mädchenname“, fiel mir gerade ein. „Nun ja, Ralf heißt mit Nachname Suff, das wollte ich nicht annehmen.“ Sie grinste. „Ja, ähm ich denke, Neubauer klingt dann doch besser als Suff.“ Ich lächelte ebenfalls und kratzte mich verlegen am Kopf. Wie konnte man nur Suff heißen? „Warum bist du einfach so abgehauen? Da muss doch damals etwas in der Hütte passiert sein.“ Diese Frage hatte ich befürchtet. Mir war klar, dass sie immer noch nach Antworten verlangte. Susan setzte sich mit ihrem Umstandskleid etwas schwergängig auf einen der Sessel und ich nahm genau gegenüber von ihr in dem anderen Platz. Sie musterte mich und ich atmete tief durch. Dann, bevor ich groß darüber nachdachte, platze ich mit der Wahrheit heraus. „Darian und ich hatten Sex in der Hütte“, fiel ich mit der Tür ins Haus. Warum ich gerade ihr das so mitteilte, wusste ich nicht, nicht einmal dem Therapeuten war ich so offen. Jetzt war es raus und es fiel mir leicht. Susan reagierte anders, als ich es erwartete hätte. „Weißt du, dass sich Darian geoutet hat?“, fragte sie stattdessen und verblüffte mich immer mehr. Ich nickte. „Von meiner Mutter hab ich es erfahren. Aber ich wusste es auch vorher schon, dass er ebenfalls auf Männer steht.“ Jetzt war sie überrascht und schaute mich erstaunt an. „Woher? Willst du was trinken, Wasser, Kaffee … ein Bier?“ „Ähm ...“ Ich war etwas überrumpelt. „Wasser“, sagte ich daher. Sie stand auf, ging in die Küche und kam mit zwei vollen Wassergläsern zurück. „Danke.“ Ich nahm ihr eines aus der Hand und nahm gleich einen Schluck. Meine Kehle tat dieser Schluck gut. „Also woher noch?“, fragte sie erneut. „Darian war in Hamburg auf einer Hochzeitsfeier mit einem Freund von uns aufgetaucht. Zufälle gibt’s.“ Die Frage, wie mein Bruder nach Hamburg kam, war schlechthin die Masterfrage aller Fragen. Ich war immer noch am Grübeln, wie es dazu gekommen war. In ihrem Gesicht begann es zu arbeiten, dann stützte sie ihre Hände auf ihrem Schoß ab. „Darian war damals bei mir, er hat mir gesagt, was zwischen euch vorgefallen ist. Ich meine das in der Hütte. Er hat nach dir gesucht. Zuerst war ich so sauer auf ihn, doch dann tat er mir irgendwie leid.“ „Oh.“ Mein Kopf war voll von verschiedenen Gefühlen. Über meinen Bruder zu reden, und Sachen über ihn zu hören, war für mich eine emotionale Achterbahn. „Du hättest es mir gleich sagen sollen und nicht erst nach so vielen Jahren.“ Sie klang enttäuscht und ich konnte sie verstehen. „Es tut mir leid, wirklich. Ich konnte nicht anders“, gab ich ihr gegenüber zu. Es war tatsächlich so gewesen, dass ich damals einfach nicht konnte. „Du hättest wissen müssen, dass ich immer deine beste Freundin bin, und du hättest dich mir anvertrauen können, aber stattdessen nahmst du die Flucht nach vorne.“ Es war, auch wenn wir es nicht wollten, eine Kluft entstanden, die Jahre hatten uns entzweit, voneinander entfernt. Die Schuld trug ich ganz alleine. „Stefanie war am Boden zerstört“, erzählte sie weiter und nippte ab und zu an ihrem Wasser. Ich errötete, konnte mir vorstellen, wie es für Stefanie gewesen sein musste. Auch wenn ich damals auf sie eifersüchtig gewesen war und sie Brummer nannte, tat wie mir nun leid. „Wie geht’s ihr denn?“, fragte ich daher höflich. Susan winkte ab. „Stell dir vor, sie ist wieder mit jemandem zusammen. Also ihr geht’s wieder gut. Aber über Darian will sie bis heute nicht reden. Die Scheidung war alles andere als schön zwischen den beiden. Nun ja.“ Susan stand auf und ich auch, obwohl ich mein Glas Wasser nicht ausgetrunken hatte. „Ich sollte gehen.“ Ich hatte viele Fehler gemacht, der größte war, Susan so fallen zu lassen. Auch wenn sie nett zu mir war, spürte ich ihre Enttäuschung. Sie nickte nur und begleitete mich an die Tür. Ich zog meine Schuhe an und dann den Rest. „Weißt du schon einen Namen für dein Baby?“ Irgendwie wollte ich dennoch wieder an ihrem Leben teilhaben. „Wenn es ein Mädchen wird, soll sie Lara heißen, wenn es ein Junge wird, dann Jaden. “ Überrumpelt sah ich sie an. „Du benennst dein Kind nach mir?“ Ich war überrascht und auch geschmeichelt. „Ja, nach meinem besten Freund. Ich dachte, ich sehe dich niemals mehr wieder.“ In ihren Augen traten Tränen und ich umarmte sie spontan. „Verzeih mir.“ Ich drückte sie noch enger an mich, so weit, wie es ihr Bauch zuließ. „Schon gut. Mach das nicht mehr wieder, okay, und auf meine Babyparty kommst du, ist das klar.“ „Versprochen.“ Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie biss sich kurz auf ihre Lippe, als sie mich weiterhin betrachtete. „Im Übrigen, Jaden, Darian schmeißt Ende dieser Woche eine Party, vielleicht solltest du ihn besuchen.“ In ihrer Stimme lag etwas, was ich nicht deuten konnte. „Wie?“ „Ich denke, du solltest dich mit ihm aussprechen, bevor es zu spät ist.“ „In die alte Wohnung zurückzukehren fällt mir nicht leicht“, gab ich ihr zu verstehen. „Er wohnt nicht mehr dort.“ Susan schrieb mir eine Adresse auf und drückte mir den Zettel in die Hand. „Danke!“ „Wofür? Dafür nicht.“ „Gehst du zur Party?“ „Nein, was sollte ich dort und zudem kann ich auch aus einem anderen Grund nicht, schon wegen meines Zustandes.“ Ihre Augen verrieten mir, dass es nicht der wahre Grund war, doch fragte ich nicht nach. Susans Worte hatten mich nachdenklich gestimmt. Ich verabschiedete mich von ihr und versprach, mich bei ihr zu melden. Als ich bereits im Auto saß, entschied ich mich spontan in die Innenstadt zu fahren. Ich parkte das Auto in einem Parkhaus und schlenderte gedankenverhangen durch München. Wie hatte mir die Stadt gefehlt. Wie hatte mir Susan gefehlt. Und doch grübelte ich noch lange über ihre Worte bezüglich Darian nach. Darian gab eine Party? Eine Einweihungsparty etwa? Die Sonne kam heraus und ließ den Schnee, der noch an einigen Stellen lag oder aufgehäuft war, und nicht durch den Streudienst weggeschmolzen war, glitzern. Ich steckte meine Hände tief in die Taschen, um sie warmzuhalten. Ich hatte vergessen, mir Handschuhe überzuziehen. Mich überkam eine Melancholie. Wie fehlte mir Carsten und wie sehr vermisste ich Darian. Ich grübelte weiter, besonders über die Sache mit der Party. Sollte ich wirklich einfach so auftauchen? Ich kramte den Zettel aus meiner Jackentasche und starrte auf die Adresse. Er wohnte in einem Vorort von München – Germering. Germering war ein teures Wohnpflaster. Ich wusste es noch, als ich selbst früher auf Wohnungssuche war. Als ich Susan zum Schluss gesagt hatte, dass meine Mutter dachte, er wohnte noch in der alten Wohnung, hatte sie nur mit dem Kopf geschüttelt. Dann hatte meine Mutter auch nicht alles gewusst. Gerade jetzt in diesem Augenblick dachte ich an die Beerdigung zurück und wie ich meinte, Miguel und Darian damals gesehen zu haben. Ich ging zu meinem Auto zurück.   Die Woche zog sich wie Kaugummi, auch wenn ich viele Sachen mit meiner Mutter unternahm, so konnte ich kaum den Tag abwarten, auf seiner Party aufzutauchen. Von daher war der Entschluss, ihn dort anzutreffen, schon längst beschlossen gewesen. Vorher wollte ich nicht auftauchen. Warum das so war, konnte selbst ich nicht begründen. Es war einfach so. Auch wenn mein Bruder in festen Händen zu sein schien, was hatte ich noch zu verlieren? Ihn?   ©Randy D. Avies 2012   Kapitel 44: ------------ ~°~44~°~     Die Nervosität, die ich den ganzen Tag hatte, war nicht mehr zu überbieten. Ich hatte mir sogar in der Stadt ein neues Oberteil gekauft, das ich nun unter meiner dicken Winterjacke trug. Ein schwarzes Shirt mit Engelsflügeln drauf. Zudem eine schwarze Jeans und die passenden Stiefel dazu, einzig und alleine die Winterjacke, die in Braun war, passte nicht dazu. Aber die konnte ich auf der Party ausziehen. Meine Mutter löcherte mich mit Fragen, auch wegen Darian, bis ich ihr sagte, dass er eine Party schmiss und ich ihn damit überraschen wollte. Sie wirkte selbst überrascht. „Darian gibt eine Party?“ Ihre Hände waren noch vom Spülwasser feucht und sie wischte sie sich an ihrer Schürze trocken. Seit gestern ging sie wieder arbeiten. Eine ganze Woche krankmachen hatte sie nicht übers Herz gebracht und ging am Freitag wieder zur Arbeit. „Ich geh dann mal los, keine Ahnung, wann ich zurück sein werde“, verabschiedete ich mich aufgeregt von ihr. „Du bist erwachsen und kannst machen, was du möchtest. Dein Bruder wird Augen machen, wenn er dich sieht.“ Ich lächelte, und gab ihr einen Kuss. Unser Verhältnis war nun wirklich super. Ich entschloss mich, mit dem Auto hinzufahren, und würde es gegebenenfalls stehen lassen, sollte ich ein Bier zu viel dort trinken. Endlich würde ich Darian sehen, ihn treffen. Aber was sollte ich ihm sagen? Wir waren beim letzten Mal nicht gut auseinandergegangen. Ich wusste noch, wie er auf dem Motorrad davon gefahren war und Carsten mich in die Arme genommen hatte, mich tröstete. Ein Teil war damals mit ihm gefahren. Und nun würden meine beiden Teile wieder zusammengefügt werden. Doch ein Problem blieb – Miguel. Er war Darians Freund. Ich parkte in der Straße, in der er wohnte, stieg aus und klapperte die Nummern ab, bis ich vor seinem Haus stand und staunte nicht schlecht. Es war keine Wohnung, wie ich vermutet hatte, nein, es war ein Häuschen mittlerer Größe, gepflegt und die Musik drang nach draußen. Techno? Na prima! Der Geschmack meines Bruders war schon immer grauenhaft. Etwas, was wir niemals gemein haben werden … Ich drückte auf die Klingel, zuckte leicht zusammen, da sie ziemlich laute Töne von sich gab, die Tote aufwecken konnten. Die Unruhe in mir wuchs. Denn keine Minute später machte mir ein mir Unbekannter mit einer Bierflasche in der Hand auf. Die Enttäuschung jedoch stand mir ins Gesicht geschrieben, hatte ich gehofft, Darian würde seinen Gästen selbst die Tür öffnen, oder Miguel. Wobei ich auf Letzteren doch weniger vorbereitet gewesen wäre. Auf emotionaler Ebene auf jeden Fall. „Bin ich richtig hier bei Darian?“, erkundigte ich mich höflich und mein Herz klopfte dabei schneller. „Jep“, war seine knappe Antwort. Er fragte nicht nach meinem Namen, sondern ließ mich eintreten. Ich war also richtig hier. Achselzuckend betrat ich das Haus. Das Haus schien voller Menschen, von denen ich bis jetzt keinen kannte, auch nicht von früher. Doch war ich hier tatsächlich richtig, denn ich erkannte einige Fotos noch von früher, die zum Teil als Familienbilder an der Wand hingen. Darunter war auch ich zu sehen, als Jugendlicher. Mich fröstelte es, nicht weil mir kalt war, sondern ich war aufgeregt, daher entschied ich mich, meine Jacke anzubehalten, machte sie aber vorne auf. Die Party war voll im Gange, es wurde getanzt, gelacht, gegessen, getrunken, geraucht … aber Darian sah ich nicht, auch nicht Miguel, was mir jetzt nicht so viel ausgemacht hätte, wenn ich ihn gar nicht sehen müsste. Die Eifersucht auf ihn war in mir tief verankert. Gegen diese Gefühle konnte ich nichts machen, sah ich in ihm einen Rivalen. Und es wurde verstärkt, als mir bewusst wurde, dass beide hier zusammen wohnten. Vielleicht sollte ich gehen, ihn morgen anrufen und ihm endlich sagen, dass ich schon eine Woche hier war. Vielleicht wusste Darian es bereits. Wenn nicht durch meine Mutter, dann eventuell durch Susan oder meinem Vater. Ich grübelte. Nein, meine Mutter hätte es mir gesagt, sie hatte ja nicht einmal von seiner Party gewusst. Missmut und Unlust setzten sich fest, denn ohne jemanden zu kennen, kann selbst die lustigste Party sich wie Kaugummi ziehen, in der man nicht wusste, was man hier verloren hatte. Ich wollte schon Absatz kehrt machen, entschied mich aber dagegen. Nein, ich war doch hauptsächlich wegen meines Bruders in München. Die Wohnung roch nach Rauch, Alkohol, Essen … all die Dinge, gegen die ich so angekämpft hatte. Kurz verspürte ich den Drang nach einer Zigarette, als mir einer seinen Zigarettenrauch ins Gesicht blies und ich dadurch husten musste. Dabei fiel mein Blick auf Darian. Darian, da bist du ja! Mein Bruder stand in der Ecke des Wohnzimmers mit ein paar Leuten und schien in Gesprächen vertieft. Ich konnte nur auf seine Lippen starren, die wohlgeformt aus dem Bierglas nippten. Immer wieder diese Lippen, diese Augen, die Art, wie er das Glas hielt. Seine Haare, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Überhaupt wie er aussah, ließ meine Knie weicher werden, mein Herz schneller schlagen und meine Gedanken sich überschlagen. Unbewusst leckte ich mir über die Lippen, als ich seinen Körper betrachtete. Als es mir bewusst wurde, dass ich ihn regelrecht anstarrte, schaute ich verlegen weg. Er hatte mich zum Glück noch nicht bemerkt und anstatt zu ihm zu gehen, um Hallo zu sagen, drehte ich mich um und ging woanders hin, Hauptsache weg von ihm. Mein Herz schlug inzwischen so rasend schnell, dass ich das Blut in meinen Ohren rauschen hören konnte und meine Beine drohten mir zu versagen, von meinen wirren Gedanken ganz zu schweigen, die nur einen Namen, wie ein Durchlauferhitzer, ständig wiederholten: Darian! Jetzt, wo mir bewusst wurde, dass ich Single war – frei war, sah es mit meinen Gefühlen für meinen Bruder nochmals ganz anders aus. Früher hatte ich einen Grund und der hieß Carsten, aber jetzt? Aber Darian war mein Bruder, eine Tatsache, die man nicht außer Acht lassen konnte. Verdammt! Homosexuell zu sein war schon nicht einfach, aber seinen Bruder zu lieben war eine Last, die einen erdrücken konnte, von der Gesellschaft ganz zu schweigen, die einen steinigten, wenn sie es wüssten. In diesem Falle wünschte ich mir Carsten an die Seite zurück. Seine Ratschläge, sein Halt, der mir immer geholfen hatte. Jetzt war ich auf mich alleine gestellt und ich hatte mich in die Höhle des Löwen begeben. Nur mit dem Unterschied, der Löwe hatte einen Partner, was mich gewaltig wurmte. Ich merkte kaum, wo ich hinlief, und lief, wie konnte es anders sein, Miguel in die Arme. Er stand in der Küche. Scheiße! „Jaden!“ Er klang erstaunt. „Ja … hallo, ich wollte …“ Ja, was wollte ich? Was machte ich hier überhaupt und vor allem in der Küche? Mir wurde mein Eindringen immer mehr bewusster. Die beiden waren ein Paar, ich sollte wieder gehen. „Ich bin überrascht, das ist alles. Seit wann bist du wieder hier?“ Miguel war nicht unfreundlich und doch merkte ich eine gewisse Ablehnung in seinen Augen. Wusste er von mir und Darian? Ein schlechtes Gewissen kam auf und ich wurde rot im Gesicht. Auch das noch. Ich zwang mich, stark zu bleiben. „Seit Carsten tot ist?“, gab ich mich pikiert. „Das tut mir leid, wir waren, ich meine, Darian und ich, nur kurz auf der Beerdigung, aber du warst so blass und da …“, er brach ab. Kein Mitleid lag in seinen Worten, er spulte ein Programm ab. Und ich hingegen hatte mir also die Fata Morgana damals auf der Beerdigung nicht eingebildet. Ich hatte sie tatsächlich gesehen. Darum ging ich in die Offensive: „Ihr seid aber schnell verschwunden, dachte schon, ich hätte mir euch eingebildet.“ „Nein, hast du nicht.“ Bitterkeit lag in seiner Stimme. Er ging aber nicht näher darauf ein und mir schnürte es die Stimme ab. Ich konnte außer einem „Oh“ nichts mehr von mir geben. Miguel bemerkte meine Unsicherheit. „Willst du was trinken?“, fragte er mehr höflich als freundlich. Ich spürte die Feindseligkeit, eigentlich sollte ich gehen, aber irgendetwas hielt mich auf. „Ja, ein Wasser, danke“, erwiderte ich nun ebenso kühl. Alles an Freundlichkeiten, die Mal zwischen uns geherrscht hatten, war verschwunden. „Wasser?“ Er schüttelte den Kopf, kam aber meinem Wunsch dann nach und holte ein Glas aus einem der Küchenschränke und schenkte mir einen Sprudel ein, während ich mich nach Darian umsah. Darian ließ sich nicht blicken. Er musste mich doch gesehen haben? Wollte er mich nicht sehen, mich nicht begrüßen? Ich fühlte mich schlecht. „Danke!“ Ich nahm das Glas entgegen und ließ dann Miguel einfach stehen. Diese Geste stand mir nicht wirklich, doch konnte ich nicht anders. Ich zwang mich durch die Massen an Menschen hindurch, brauchte frische Luft, blieb aber im Flur, lehnte mich an die Wand und schloss die Augen. Mir war warm, da ich meine Jacke immer noch nicht ausgezogen hatte. Wie gut, dass mich die anderen Gäste nicht ansprachen, sie waren mit ihren Freunden genug beschäftigt. Verdammt, wie viele hatten Darian und Miguel denn eingeladen? Was für eine Party sollte das überhaupt werden? Ich öffnete die Augen, vernahm, wie Paare sich vor meinen Augen küssten und da merkte ich, dass es nicht nur Frauen und Männer waren, die hier zum Teil herumschmusten, es waren auch Männer mit Männern. Darian lebte jetzt seine Liebe offen aus. Verdammt. Mein Körper dürstete nach meinem Bruder und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich schloss wieder die Augen, um mich auf mich zu konzentrieren, denn ich hatte einen Halbsteifen, und auch wenn ich eine weite Hose anhatte, war es mir peinlich. Trotzdem bewegten sich meine Gedanken immer wieder in seine Richtung, ob ich wollte oder nicht. Immer wiederkehrend sah ich vor meinem geistigen Auge seine Gestalt, sein Gesicht … mir wurde bewusst, wie sehr ich ihn vermisste. Wie gerne würde ich mich von ihm jetzt küssen lassen. Wie gerne würde ich von diesen Lippen berührt werden. Damals in der Hütte hatte er mich nie so berührt, wie ich es gewollt hätte. Nein, damals da war er so anders. Doch liebte ich ihn. Und jetzt verzehrte ich mich mit jeder Faser meines Herzens nach Berührung – einfach nach ihm. „Ich liebe dich so sehr, Darian, mein Bruder! Liebe meines Lebens!“, flüsterte ich die Worte so leise, sodass nur ich sie hören konnte. Zeitgleich schämte ich mich für meine tiefen Gefühle und bekam Schuldgefühle gegenüber Carsten. Doch Carsten war tot. Ich musste hier raus, sofort! Das Wasserglas, das ich nicht einmal angerührt hatte, stellte ich auf den Telefontisch, dann verschloss ich meine Jacke, und ging nach draußen, begrüßte die frische Luft. Eisig wehte sie mir entgegen und ließ meine heißen Wangen abkühlen wie auch den Rest vom Körper, der sich verbotenerweise erlaubt hatte, die Gefühle meines Bruders auszudrücken. Warum war ich nach München zurückgekehrt? Warum nur? Ich brauchte Darian nicht! Ich durfte meinen Gefühlen Darian gegenüber nicht nachgeben. Nicht noch einmal das durchmachen, was nach der Hütte mit mir passierte, schwor ich mir in diesem Moment. Auch wenn Darian jetzt schwul war oder zumindest bisexuell, war das keine Garantie, dass er mich nicht wieder derart verletzen würde. Nein, das durfte ich einfach nicht zulassen. Er sollte mit Miguel glücklich sein. Dann fragte ich mich, was das eigentlich überhaupt für eine Party war? Ein recht angetrunkener junger Mann rempelte mich an. „Hey, pass doch auf?“, motzte ich, denn was ich nicht ausstehen konnte, war, wenn man angerempelt wurde. „Sorry, ist das die Verlobungsparty?“, fragte er lallend. Ich traute meinen Ohren nicht. „Bitte?“, erwiderte ich entgeistert. „Ich will Miguel eine in die Fresse schlagen, der hat mich einfach sitzen lassen wegen dem … dem Arsch.“ Die Fahne, die er mir entgegenschlug, war nicht auszuhalten. Miguel hatte noch einen Verflossenen? Und ich hatte immer gedacht, er wäre lange solo gewesen. So konnte man sich irren. Aber was anderes versetzte mir einen festen Stich. Darian würde sich hier auf der Party mit Miguel verloben oder waren es bereits schon. Ich war zu spät, wie mir schien. Darians Verlobungsparty. Die Nachricht hätte nicht verheerender auf mich wirken können. Meine Mutter hatte es nicht gewusst, sonst hätte sie es mir gesagt und Susan? Tja, jetzt machten ihre letzten Worte vor Tagen Sinn. Oh Susan! Irgendwie konnte ich ihr nicht böse sein … Ihre Absichten schienen mir klar und deutlich, ich sollte meinen Bruder davon abhalten. Eigentlich wollte ich hier nur noch weg. Da ich bereits draußen stand, entschied ich, nicht mehr zur Party zurückzukehren, einfach zu gehen, ohne mich zu verabschieden. Was wollte ich hier wirklich noch, warum war ich nur zurückgekehrt? Morgen würde ich wieder nach Hause fahren. Ja, so würde ich es machen. Mit meiner Mutter hatte ich mich ausgesöhnt, mein Vater blieb ein Arsch, mich hielt also nichts mehr hier … Ich war gerade im Begriff, an mein Auto zu laufen, als ich aufgehalten wurde. „Hey, wo willst du hin?“ Die Stimme meines Bruders. Ich hörte, wie er näher kam und ich drehte mich nicht zu ihm um, sondern setzte meinen Weg weiter fort in Richtung meines Autos. „Jetzt bleib stehen! Bitte.“ Das war eine klare Aufforderung und die wirkte, denn ich blieb stehen, drehte mich herum. „Warum sollte ich?“, fragte ich nur und klang dabei äußerst verletzt. „Weil ich dich vermisst habe. Weil ich dich will, verstehst du. Ich will dich mehr als alles andere auf dieser Welt!“ Seine Stimme war lauter als beabsichtigt, und klang leidenschaftlicher als alles, was ich bis jetzt an ihm jemals festgestellt hatte. Ich bekam eine Gänsehaut und sogleich auch die Angst, es könnte ein Traum sein, eine Lüge, die unwiderruflich zurückkehrte, wenn ich in meinem Bett aufwachte. Und doch wusste ich, dass ich nicht schlief, dass das hier kein Traum war. „Warum jetzt erst? Du hast eine komische Art, mir das zu zeigen. Oder jemand anderem und musstest ja Carsten verprügeln, auch wenn er angefangen hatte. Jetzt ist er ja tot … “ Die Gefühle brachen aus mir heraus und ich schrie mir die Seele aus dem Leib. „Warum? Warum … verdammt.“ Ich heulte. Es war keine gute Idee, zu seiner Party zu gehen. Es hatte meine Gefühle für ihn nur noch verschlimmert. „Weil ich ständig an dich denken muss. Weil ich nur noch dich vor Augen habe. Carsten hatte damals auf der Hochzeitsfeier nicht angefangen, ich war es, ich hatte den Streit provoziert. Nur verstehe ich jetzt nicht, was das damit zu tun hat.“ Er kam mir immer näher, während ich weiter zurückwich, bis ich eine kalte Wand hinter mir spürte. Endstation! Dann ging es nicht mehr weiter. Ich fühlte das raue Gestein, spürte meine aussichtslose Lage. Er hatte mich da, wo er mich haben wollte. Mein Hals war wie zugeschnürt und ich sah nur noch in seine Augen, die sogar im Dunklen funkelten und lauernd auf mich herabsahen. „Darian ... ich ...“ Just in diesem Moment verschloss er mir mit seinen Lippen den Mund und erstickte den Satz im Keim.   ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 45: ------------ ~°~45~°~     Wie lange ich auf solch eine Situation gewartet hatte, fühlte sich für mich wie ein ganzes Menschenleben an und ließ mich innerlich aufheulen. Tränen der Freude, aber auch des Schmerzes überrollten mich. Ich versank in diesen Kuss wie in einem Strudel der Gefühle, die nun an die Oberfläche kamen. Meine Sinne lagen für diesen Mann sensibel offen. Als Darian spürte, wie ich weiche Knie bekam, hielt er mich in seinen starken Armen fest und gab mir dadurch den Halt, nicht einzuknicken. Ich öffnete meine Lippen für ihn, als seine Zunge sich ungeduldig in meinen Mund drängte. Die Ungeduld ging auch auf mich über, ihn endlich zu schmecken. Bald fand er sein Gegenstück, während ich nur fühlte und meine Umgebung kaum noch wahrnahm. Der Kuss wirbelte so viel in mir auf, sodass ich schließlich und endlich stöhnte, dann erst ließ er von mir ab und ich sah ihn wie durch einen Nebelschleier an. „Was ist los?“ Er keuchte erregt. „Was los ist? Warum? Warum jetzt erst?“ Ich stellte seine Gefühle, seinen Kuss infrage, und kam mir zeitgleich total töricht vor. „Kein Warum. Du bist alles, was ich jemals wollte. Die Zeit ohne dich ließ mich schier verzweifeln – es war eine Qual. Nur durch dich erkannte ich meine Lebenslüge, die ich nicht mehr aufrechterhalten konnte und wollte.“ „Warum hast du mir damals nur so wehgetan?“, stellte ich ihm die Frage, die so lange in mir brannte. „Ich wollte diese Gefühle nicht zulassen. In der Hütte, da war ich nicht so weit. Dir aber so weh zu tun, war nicht richtig. Ich war völlig durcheinander, begehrte dich schon damals sehr, dann mit deinen durchnässten Klamotten, deiner femininen Art wirktest du so zerbrechlich.“ Ich lauschte gebannt seinen Worten, saugte jedes Detail in mich auf, während er mich immer wieder dazwischen auf den Mund küsste. „Es tut mir so leid. Ich war ein verdammtes Arschloch zu dir. Ich bin das Loch!“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Einerseits schwebte ich gerade auf Wolke Sieben, andererseits … Hatten wir wirklich eine reelle Chance, oder würde mich meine Vergangenheit einholen? Und ein anderes Problem bahrte sich vor mir auf. Was war mit Miguel – was war mit der Verlobung? Alles schien wie in einem Traum, aus dem ich aber nicht aufwachen wollte. Noch immer hielt mich Darian fest im Arm und ich schmiegte mich kurz an ihn, bis mir bewusst wurde, dass uns eventuell jemand so sehen könnte. Flüchtig schaute ich mich um, vergewisserte mich, dass wir alleine waren, aber was war mit den Fenstern? „Mir egal“, sagte er nur, als ob er genau gewusst hatte, worüber ich mir gerade Sorgen machte und doch musste ich ihn das fragen. „Was ist mit deiner Verlobung?“, fragte ich rau und nahm von ihm Abstand. Er zuckte mit der Schulter und zeigte dann seine Hände. Es war kein Ring zu erkennen. „Noch sind wir es nicht. Das war ein Hilfeschrei, ich hatte gehofft, dass mich jemand davon abhalten würde. Darum habe ich die Bekanntmachung immer weiter nach hinten verschoben.“ Er nahm seine Hände runter und steckte sie in die Hosentasche. Im Gegensatz zu mir hatte er keine Jacke angezogen und schien in seinem blauen Jeanshemd zu frieren. „Ja?“ Meine Augen wurden immer größer. „Meine Gebete wurden erhört, es ist für nichts zu spät“, erwiderte er sanft, schaute mich aus dunkler werdenden grünen Augen an, nahm dann mein Gesicht zwischen seine kalten Fingern, und küsste mich mal zärtlich, dann wiederum fordernd. Mir wurde es ganz anders, und ein süßes Ziehen machte sich in meinen Lenden bemerkbar. Ich ließ all seine Zärtlichkeiten zu. Auch wenn es so kalt war, wärmten mich seine Küsse, liebkosten mich seine Lippen, streichelten mich seine Finger, wo sie nur konnten. Ab da wusste ich, ich war verloren, denn ich liebte ihn mehr als mein eigenes Leben. Ein schlechtes Gewissen kam auf, aber schnell dachte ich mir, wenn Carsten nicht gestorben wäre, wäre alles anders verlaufen, dann wäre Carsten mein Lebensinhalt geworden. Carsten, es tut mir so leid!, kommunizierte ich in Gedanken mit meinem toten Partner, erhielt jedoch, wie sollte es anders sein, keine Antwort darauf. Dies musste ich mit meinem Gewissen selbst vereinbaren. Ich fiel in seinen Kuss, in seine Umarmung, ließ mich buchstäblich in die Gefühle hineinfallen, ließ Darian seine Leidenschaft ausleben und klammerte mich an ihm fest, wie einer, der beinahe am Ertrinken war. Ich kostet seine Zunge, liebkoste sie, kostete seine Lippen, die wie meine bebten. Spürte seinen Bartansatz, den man so nicht sah. All das liebte ich, von Sekunde zu Sekunde mehr und vergaß dabei um uns herum die Welt. Daher bemerkten wir zu spät, dass wir einen Zuschauer bekommen hatten. „Ich verstehe“, sagte auf einmal derjenige zu uns, dessen Stimme einem Eisklotz sehr ähnelte, da sie kalt und emotionslos klang, aber dennoch konnte ich sie einem ganz Bestimmten zuordnen. Erschrocken drehte ich meinen Kopf in Miguels Richtung, wollte mich von Darian loseisen. Doch der hielt mich noch einen Tick fester und drückte mich ganz an sich, als wollte er mich vor ihm beschützen. Darian schien gefasster als ich, als er in die versteinerte Miene seines Verlobten in spe blickte. „Miguel, du hast gewusst, dass es irgendwann passieren würde. Du kanntest meine Gefühle für ihn ganz genau“, verteidigte er sich, und ich betrachtete die Sache mit einer gewissen Skepsis und einem flauen Gefühl im Bauch. „Pah, du machst es dir sehr einfach. Diese Liebe ist nicht zulässig“, spie er seine Worte wutentbrannt aus. Dies hatte ich befürchtet. „Es ist unsere Verlobungsparty!“, schrie er außer sich und er hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Wie gut, dass drinnen die Musik laut war, so war es noch keinem aufgefallen. „Es war deine, nicht meine Idee gewesen“, stellte mein Bruder kühl und sachlich fest. Dabei versuchte er, so ruhig wie möglich zu wirken, war es aber nicht. Ich fühlte seine Unruhe, spürte das Zittern seines Körpers und das kam nicht nur von der Kälte hier draußen. Ich betrachtete weiterhin Miguel, dem der Zorn ins Gesicht geschrieben stand, trotz der Dunkelheit konnte ich seine Wut auf uns regelrecht fühlen. „Du machst es dir verdammt einfach, du Arschloch!“, knurrte der Südländer unheilvoll. Irgendwie tat er mir trotzdem leid, da ich nur zu gut wusste, wie es war, wie man sich fühlte, abgewiesen zu werden. So konnte ich ihn dennoch verstehen. Wer wäre nicht sauer? „Nein, nicht einfach … das hier, Jaden und ich, das wird niemals einfach werden und doch … ich kann nicht anders. Ich liebe ihn – und das schon sehr, sehr lange.“ Miguel sagte nichts mehr und drehte sich wortlos um, ging davon, aber nicht zum Haus, sondern nahm die Richtung entlang der Straße. Auch er hatte keine Jacke an. Ich trat an Darian heran, nahm ihn bei der Hand. Die Worte, diese Liebeserklärung, sie hatten mich in einem Maße berührt, dass mir die Tränen in die Augen traten und doch musste ich jetzt auch ein wenig die Vernunft walten lassen. „Darian, sprich dich mit ihm aus, bitte“, flehte ich ihn an, denn die Angst, man könnte uns verraten, war größer und auch die Angst, Miguel könnte eine Dummheit begehen, so wie er weggegangen war. Mein Bruder sah mich an. In seinen Augen bemerkte ich Schmerz und Leid. „Wo kann ich dich erreichen?“ „Ich bin bei meiner Mutter untergekommen.“ „Deiner Mutter?“ Er hatte wirklich nicht gewusst, dass ich hier war. Susan hatte dichtgehalten. Was war sie doch für eine tolle Freundin, niemals mehr würde ich sie gehen lassen. „Erkläre ich dir morgen, okay!“ Ich sah ihn voller Liebe an. Er nickte stumm, drückte kurz meine Hand, ging im Laufschritt ins Haus, um seine Jacke zu holen und dann an mir vorbei. „Bis morgen.“ Er rannte los, suchte seinen Exfreund und dieses Mal war ich nicht eifersüchtig – im Gegenteil.     ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 46: ------------ ~°~45~°~     Wie lange ich auf solch eine Situation gewartet hatte, fühlte sich für mich wie ein ganzes Menschenleben an und ließ mich innerlich aufheulen. Tränen der Freude, aber auch des Schmerzes überrollten mich. Ich versank in diesen Kuss wie in einem Strudel der Gefühle, die nun an die Oberfläche kamen. Meine Sinne lagen für diesen Mann sensibel offen. Als Darian spürte, wie ich weiche Knie bekam, hielt er mich in seinen starken Armen fest und gab mir dadurch den Halt, nicht einzuknicken. Ich öffnete meine Lippen für ihn, als seine Zunge sich ungeduldig in meinen Mund drängte. Die Ungeduld ging auch auf mich über, ihn endlich zu schmecken. Bald fand er sein Gegenstück, während ich nur fühlte und meine Umgebung kaum noch wahrnahm. Der Kuss wirbelte so viel in mir auf, sodass ich schließlich und endlich stöhnte, dann erst ließ er von mir ab und ich sah ihn wie durch einen Nebelschleier an. „Was ist los?“ Er keuchte erregt. „Was los ist? Warum? Warum jetzt erst?“ Ich stellte seine Gefühle, seinen Kuss infrage, und kam mir zeitgleich total töricht vor. „Kein Warum. Du bist alles, was ich jemals wollte. Die Zeit ohne dich ließ mich schier verzweifeln – es war eine Qual. Nur durch dich erkannte ich meine Lebenslüge, die ich nicht mehr aufrechterhalten konnte und wollte.“ „Warum hast du mir damals nur so wehgetan?“, stellte ich ihm die Frage, die so lange in mir brannte. „Ich wollte diese Gefühle nicht zulassen. In der Hütte, da war ich nicht so weit. Dir aber so weh zu tun, war nicht richtig. Ich war völlig durcheinander, begehrte dich schon damals sehr, dann mit deinen durchnässten Klamotten, deiner femininen Art wirktest du so zerbrechlich.“ Ich lauschte gebannt seinen Worten, saugte jedes Detail in mich auf, während er mich immer wieder dazwischen auf den Mund küsste. „Es tut mir so leid. Ich war ein verdammtes Arschloch zu dir. Ich bin das Loch!“ Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Einerseits schwebte ich gerade auf Wolke Sieben, andererseits … Hatten wir wirklich eine reelle Chance, oder würde mich meine Vergangenheit einholen? Und ein anderes Problem bahrte sich vor mir auf. Was war mit Miguel – was war mit der Verlobung? Alles schien wie in einem Traum, aus dem ich aber nicht aufwachen wollte. Noch immer hielt mich Darian fest im Arm und ich schmiegte mich kurz an ihn, bis mir bewusst wurde, dass uns eventuell jemand so sehen könnte. Flüchtig schaute ich mich um, vergewisserte mich, dass wir alleine waren, aber was war mit den Fenstern? „Mir egal“, sagte er nur, als ob er genau gewusst hatte, worüber ich mir gerade Sorgen machte und doch musste ich ihn das fragen. „Was ist mit deiner Verlobung?“, fragte ich rau und nahm von ihm Abstand. Er zuckte mit der Schulter und zeigte dann seine Hände. Es war kein Ring zu erkennen. „Noch sind wir es nicht. Das war ein Hilfeschrei, ich hatte gehofft, dass mich jemand davon abhalten würde. Darum habe ich die Bekanntmachung immer weiter nach hinten verschoben.“ Er nahm seine Hände runter und steckte sie in die Hosentasche. Im Gegensatz zu mir hatte er keine Jacke angezogen und schien in seinem blauen Jeanshemd zu frieren. „Ja?“ Meine Augen wurden immer größer. „Meine Gebete wurden erhört, es ist für nichts zu spät“, erwiderte er sanft, schaute mich aus dunkler werdenden grünen Augen an, nahm dann mein Gesicht zwischen seine kalten Fingern, und küsste mich mal zärtlich, dann wiederum fordernd. Mir wurde es ganz anders, und ein süßes Ziehen machte sich in meinen Lenden bemerkbar. Ich ließ all seine Zärtlichkeiten zu. Auch wenn es so kalt war, wärmten mich seine Küsse, liebkosten mich seine Lippen, streichelten mich seine Finger, wo sie nur konnten. Ab da wusste ich, ich war verloren, denn ich liebte ihn mehr als mein eigenes Leben. Ein schlechtes Gewissen kam auf, aber schnell dachte ich mir, wenn Carsten nicht gestorben wäre, wäre alles anders verlaufen, dann wäre Carsten mein Lebensinhalt geworden. Carsten, es tut mir so leid!, kommunizierte ich in Gedanken mit meinem toten Partner, erhielt jedoch, wie sollte es anders sein, keine Antwort darauf. Dies musste ich mit meinem Gewissen selbst vereinbaren. Ich fiel in seinen Kuss, in seine Umarmung, ließ mich buchstäblich in die Gefühle hineinfallen, ließ Darian seine Leidenschaft ausleben und klammerte mich an ihm fest, wie einer, der beinahe am Ertrinken war. Ich kostet seine Zunge, liebkoste sie, kostete seine Lippen, die wie meine bebten. Spürte seinen Bartansatz, den man so nicht sah. All das liebte ich, von Sekunde zu Sekunde mehr und vergaß dabei um uns herum die Welt. Daher bemerkten wir zu spät, dass wir einen Zuschauer bekommen hatten. „Ich verstehe“, sagte auf einmal derjenige zu uns, dessen Stimme einem Eisklotz sehr ähnelte, da sie kalt und emotionslos klang, aber dennoch konnte ich sie einem ganz Bestimmten zuordnen. Erschrocken drehte ich meinen Kopf in Miguels Richtung, wollte mich von Darian loseisen. Doch der hielt mich noch einen Tick fester und drückte mich ganz an sich, als wollte er mich vor ihm beschützen. Darian schien gefasster als ich, als er in die versteinerte Miene seines Verlobten in spe blickte. „Miguel, du hast gewusst, dass es irgendwann passieren würde. Du kanntest meine Gefühle für ihn ganz genau“, verteidigte er sich, und ich betrachtete die Sache mit einer gewissen Skepsis und einem flauen Gefühl im Bauch. „Pah, du machst es dir sehr einfach. Diese Liebe ist nicht zulässig“, spie er seine Worte wutentbrannt aus. Dies hatte ich befürchtet. „Es ist unsere Verlobungsparty!“, schrie er außer sich und er hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Wie gut, dass drinnen die Musik laut war, so war es noch keinem aufgefallen. „Es war deine, nicht meine Idee gewesen“, stellte mein Bruder kühl und sachlich fest. Dabei versuchte er, so ruhig wie möglich zu wirken, war es aber nicht. Ich fühlte seine Unruhe, spürte das Zittern seines Körpers und das kam nicht nur von der Kälte hier draußen. Ich betrachtete weiterhin Miguel, dem der Zorn ins Gesicht geschrieben stand, trotz der Dunkelheit konnte ich seine Wut auf uns regelrecht fühlen. „Du machst es dir verdammt einfach, du Arschloch!“, knurrte der Südländer unheilvoll. Irgendwie tat er mir trotzdem leid, da ich nur zu gut wusste, wie es war, wie man sich fühlte, abgewiesen zu werden. So konnte ich ihn dennoch verstehen. Wer wäre nicht sauer? „Nein, nicht einfach … das hier, Jaden und ich, das wird niemals einfach werden und doch … ich kann nicht anders. Ich liebe ihn – und das schon sehr, sehr lange.“ Miguel sagte nichts mehr und drehte sich wortlos um, ging davon, aber nicht zum Haus, sondern nahm die Richtung entlang der Straße. Auch er hatte keine Jacke an. Ich trat an Darian heran, nahm ihn bei der Hand. Die Worte, diese Liebeserklärung, sie hatten mich in einem Maße berührt, dass mir die Tränen in die Augen traten und doch musste ich jetzt auch ein wenig die Vernunft walten lassen. „Darian, sprich dich mit ihm aus, bitte“, flehte ich ihn an, denn die Angst, man könnte uns verraten, war größer und auch die Angst, Miguel könnte eine Dummheit begehen, so wie er weggegangen war. Mein Bruder sah mich an. In seinen Augen bemerkte ich Schmerz und Leid. „Wo kann ich dich erreichen?“ „Ich bin bei meiner Mutter untergekommen.“ „Deiner Mutter?“ Er hatte wirklich nicht gewusst, dass ich hier war. Susan hatte dichtgehalten. Was war sie doch für eine tolle Freundin, niemals mehr würde ich sie gehen lassen. „Erkläre ich dir morgen, okay!“ Ich sah ihn voller Liebe an. Er nickte stumm, drückte kurz meine Hand, ging im Laufschritt ins Haus, um seine Jacke zu holen und dann an mir vorbei. „Bis morgen.“ Er rannte los, suchte seinen Exfreund und dieses Mal war ich nicht eifersüchtig – im Gegenteil.     ©Randy D. Avies 2012 Kapitel 47: ------------ ~°~46~°~     Ich lag noch schlafend im Bett, als es an der Wohnungstür klingelte und ich aus dem Schlaf gerissen wurde. Warum ich wusste, dass es die Tür zur Wohnung war? Sie hörte sich noch eine Spur schrecklicher an als die Haustür unten, die im Gegensatz zu der hier recht harmlos klang. Mein Herz machte sofort einen Sprung, weil ich spürte, dass es Darian war. Daher sprintete ich wie von einer Tarantel gestochen aus dem Bett, konnte es kaum erwarten, ihn zu sehen und in Empfang zu nehmen. Die Nacht hatte sich dahingezogen, als ich von der Party nach Hause gefahren war, und da ich keine Handynummer von ihm hatte, konnte ich ihn auch nicht Dauerbelästigen, wie man das als frisch Verliebter so machte. Und ich war in meinen Bruder frisch verliebt, denn seitdem flogen in meinem Bauch nur so die Schmetterlinge. Mein Benehmen war eher einem Teenager zuzuordnen, als einem Endzwanziger. Keine Vernunft – nur noch liebeswütiges Handeln. Auch mein Herz schlug immer schneller vor Aufregung. Ich freute mich, ihn zu sehen, was man kaum in Worte fassen konnte, daher passte es mir nicht, dass meine Mutter bereits aus dem Bad hechtete und wir beinahe zusammengestoßen wären, da kam ich ihr zuvor. „Guten Morgen, ähm, das wird Darian sein, ich mache auf. Geh ins Bad zurück.“ Und ich meinte das nicht nur apodiktisch, ansonsten … „Okay!“ Sie verschwand für meinen Geschmack etwas zu stoisch wieder dort hinein, während es das zweite Mal klingelte. Das Geräusch, das eher einem abgemurksten Papagei zuzuordnen war als einem vernünftigen Wohnungsläuten, daran würde ich mich niemals gewöhnen, nervte. „Die Klingel ist zum Abgewöhnen, damals klang sie doch auch nicht so!“, motze ich. „Ich komme!“, rief ich an die Wohnungstür und hoffte, dass Darian – hoffentlich war er es auch – ein weiteres Klingeln unterlassen würde. „Doch! Du hast es nur vergessen!“, antwortete meine Mutter aus dem Bad heraus. Ich ging an die Tür, sah aber zuerst kurz auf die Garderobe. Helmut war schon auf Arbeit. Seine Jacke hing nicht mehr dort. Wäre er noch da gewesen, wäre der Besucher schon längst reingelassen worden, denn er machte immer als Erster auf. Das letzte Jahr noch, dann konnte er in Rente gehen, wie er uns gestern früh stolz mitteilte. Mir war das egal. Ich war nur zu Besuch, und bald würde ich zurückkehren. Zurückkehren nach Schenefeld! Ich verscheuchte diese Gedanken rasch, denn ich hatte mir darüber keinerlei Gedanken gemacht. „Jaden“, begrüßte mich mein Bruder – schüchtern?, als ich die Tür aufgerissen hatte. So kannte ich ihn gar nicht, eine Eigenschaft, die ihn liebenswerter machte. „Die Tür unten stand offen, daher klingelte ich oben“, entschuldigte er sich beinahe. „Hi!“, antwortete ich ihm. „Diese Klingel weckt Tote auf.“ Ich grinste selbst verlegen, und bemerkte seine dunklen Augenringe. Darian sah müde und übernächtigt aus. Ich wurde rot, weil mir bewusst wurde, wie ich wohl auf ihn wirken musste, verschlafen und ungekämmt – und vor allem konnten wir uns nicht in die Arme fallen, auch wenn unsere Körpersprache ganz anders aussah, denn Darian wurde leicht nervös. Also fiel unsere Begrüßung mit einem zusätzlichen Nicken und Schulterklopfen aus und ich ließ ihn eintreten, als ich auf Seite ging, um die Tür komplett aufzumachen. Verlegen strich ich mir über die Haare, während ich die Tür hinter uns schloss und Darian seine Jacke auszog und dann seine Schuhe. Ich kam mir derweilen vor wie sechzehn, mitten in der Pubertät und versuchte meine Haare zu ordnen ohne Spiegel, denn so etwas besaß meine Mutter nicht. Es gab nur den einen im Bad. Verdammt, wenn ich doch nur einen Kamm hätte. „Du siehst gut aus“, hatte er meine Gedanken erraten und lächelte. „Klar, man sieht immer klasse aus, wenn man bis eben geschlafen hat.“ Ich grinste schief und ließ es dann bleiben, womöglich standen meine Haare mittlerweile noch mehr ab. Mein Grinsen flachte ab, hatte ich mir ernsthafte Sorgen um meinen Bruder gemacht. Gerade als ich fragen wollte, ob alles glatt gelaufen war, da platzte meine Mutter dazwischen. Welch ein Timing! Ich rollte mit den Augen. „Darian, schön, dass du dich mal wieder blicken lässt. Du hast dich rargemacht, noch nicht einmal von deiner Party hatte ich gewusst. Verlobungsparty, so, so.“ Sie kam auf ihn zu und umarmte ihn, was mich doch erstaunte. Und woher wusste sie von seiner Verlobungsparty? Von mir bestimmt nicht. „Willst du mit uns frühstücken?“, fragte sie und überging das rot angelaufene Gesicht von ihm, während meines um seines zu wetteifern begann. Mütter hatten es manchmal wirklich drauf, Sachen anzuleiern, die man lieber unter vier Augen erzählen wollte. „Gerne. Äh, war nur eine Party.“ Er kratzte sich nun verlegen am Kopf. „Keine Verlobungsparty?“ Darian schüttelte den Kopf. Man musste nicht erwähnen, dass uns beiden lieber gewesen wäre, wenn meine Mutter bereits arbeiten würde. „Nun ja – frühstücken wir, ich hab nicht sehr viel Zeit. „Sie schritt in die Küche und holte einen weiteren Teller und Tasse heraus und goss Darian Kaffee ein, während wir schweigend und mit gegenseitigen heimlichen Blicken versehen, Platz nahmen. Es wurde ein recht monotones Frühstücken, in dem im Prinzip nur meine Mutter fortwährend Darian ausfragte und wie er es fand, dass ich wieder da bin. Mein Bruder antwortete eher mechanisch, ihm war nicht wohl in seiner Haut, besonders dann, wenn meine Mutter mehr über diese Party wissen wollte. Meine Unruhe wuchs, denn … Was war nun bei Miguel und ihm herausgekommen? Neugierde und Angst saßen mir tief im Nacken, daher brachte ich nur ein halbes Brötchen hinunter, der Kaffee hingegen floss in Bächen in den Magen. Meine Mutter hatte eine zweite Kanne aufsetzen müssen. Sie runzelte nur die Stirn, sagte aber zu meinem plötzlich akuten Kaffeekonsum nichts. Eine halbe Stunde später, die sich wie Kaugummi hingezogen hatte, waren wir endlich alleine, und konnten ungestört reden. Doch bevor wir redeten, beugte sich Darian zu mir, als die Wohnungstür noch nicht richtig ins Schloss gefallen war, und gab mir einen stürmisch langen und äußerst intensiven Kuss, der mir die Sinne raubte und ich leise zwischen seinen Lippen stöhnte. Es war wie ein Überfall, aber einer, der mir sehr gefiel. Er hatte mich dabei vom Stuhl hochgezogen und mich in seine Arme gerissen. Dann, als Darian von sich aus den Kuss beendete, weil ich nicht in der Lage gewesen wäre, es zu tun, knurrte er wie ein Wolf. „Typisch für Mütter, egal wie alt man ist, sind sie nervig, in allen Lagen.“ Ich sah ihn verklärt an, ordnete mich und dann grinste ich breit, hatte ich es auch kaum erwarten können, und ja, auch ich fand ihre Anwesenheit eben mehr als störend, aber ich wohnte nicht alleine und war nur Gast hier. Darian wollte mich erneut küssen, da hielt ich ihn beim erneuten Kuss auf. „Was?“, fragte er irritiert und ließ mich los. „Willst du keinen Kuss?“ Die Unsicherheit stand in seinem Gesicht. „Doch “, beruhigte ich ihn sofort. „Aber zuerst will ich wissen, wie es gelaufen ist. Und?“ Mein Geduldsfaden war am Zerreißen. Darian sah mich verstehend an, schüttelte dann langsam den Kopf. Er hob die Schultern. „Er hat es nicht gut aufgenommen“, wieder zuckte er mit der Schulter. Und winkte ab. Ich begann inzwischen, mich nützlich zu machen und abzuräumen, die Lebensmittel in den Kühlschrank zu verstauen. All das machte ich nur, um mich abzulenken. In meinem Kopf wirbelte so einiges umher, unter anderem, wie es nun weitergehen würde. Ich räumte das Geschirr in die Spüle, ließ Wasser darauf, um es einzuweichen. Darian half mir, nahm dann meine Hand, als wir fertig waren. „Und jetzt?“ „Er hat gewusst, was ich für dich empfinde. Er kannte das Risiko. Als Carsten starb, war er beinahe in Panik, darum wollte er, dass wir sofort zusammenziehen. Er hatte Angst, ich würde dann nicht mehr wegwollen und er hatte recht, ich wollte dich nicht auf der Beerdigung alleine lassen.“ „Ich verstehe.“ Mein Hals war wie zugeschnürt, alles ergab irgendwie einen Sinn. Carsten, Darian. „Wir sollten nur vorsichtig sein“, meinte er weiter und ich wurde hellhörig. „Wie vorsichtig?“ Wollte Darian, dass ich bei ihm bleibe? Ich wollte mir das nicht ausmalen. Sich zu lieben, war eine Sache, aber das auch durchzuziehen – eine andere. „Wie vorsichtig, will er uns verraten?“, fragte ich mit klopfendem Herzen noch mal nach, weil er nicht darauf geantwortet hatte, sondern einfach Löcher in die Luft starrte. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass wir überhaupt darüber reden würden – über eine Zukunft. Er löste sich aus der Starre. „Er mag zwar der Gehörnte sein, aber er hat keinen schlechten Charakter. Miguel ist ein feiner Kerl.“ Darian kratzte sich am Kopf, eine Eigenart von ihm, die mir jetzt erst stark auffiel. „Er will mich nur nicht mehr sehen. Fühlt sich gedemütigt – er fühlt sich verarscht. Ich denke aber nicht, dass er uns verraten wird, was hätte er denn davon? Er liebt mich wirklich. Und doch sollte man nicht noch Salz in die Wunde streuen, in dem wir offen vor ihm ...“ Sein Blick war, gesenkt, auf seiner Stirn arbeitete es, ich sah den innerlichen Konflikt, den er mit sich hatte. In dem Moment fühlte ich mich ihm mehr verbunden als jemals zuvor. Ich kannte es von mir, so war es auch bei Carsten gewesen. Wie sich die Wege immer wieder an Zufällen kreuzten. Darian hatte es zwar nicht direkt ausgesprochen, aber ich wusste, dass er eine Zukunft mit mir wollte. Unsere Blicke trafen sich und wir gingen ins Wohnzimmer, aber zum Hinsetzen kamen wir nicht, den wir fingen uns stürmisch zu küssen an. Die verlorenen Jahre brachen auf und ein Verzehren des jeweils anderen fand statt. Aber diese Euphorie hielt nicht lange, denn ein schlechtes Gewissen kam auf. „Halt! Nicht hier“, stoppte ich ihn und er ließ widerwillig von mir ab. Die Erregung stand in seinem Gesicht. „Warum nicht?“ „Es sollte perfekt sein und in einer angemessenen Umgebung.“ Meine Wangen wurden heiß bei den nicht jugendfreien Gedanken und ich senkte den Kopf. Männlich war was anderes, aber das musste ich ja nicht. Ich war nun mal etwas anders. „Du hast Recht“, gab er unwirsch nach. „Wir gehen zu mir?“, schlug er vor und nahm mein Gesicht in seine Hände. „Zu dir?“ Ich verzog missmutig das Gesicht und er nahm seine Hände an sich. „Gute Idee, vielleicht schaut uns dann Miguel zu und kocht als Dankeschön, dass er dich verloren hat, noch für uns.“ Den Humor hatte ich von Carsten. Und Darian sah mich völlig entgeistert an, dann lachte er, wobei es nicht für ihn komisch sein sollte. „Du und witzig, so kenne ich dich gar nicht.“ Er küsste mich auf die Stirn. „Ich habe mich geändert.“ „Oh ja, und wahrlich nicht zum Negativen. Carsten hatte dir gut getan, auch wenn es mir nicht schmeckt, war der Weg zu dem Zeitpunkt für dich der richtige“, meinte er anerkennend. „Carsten ist tot, ich hab ihn sehr geliebt“, stellte ich eines klar und Darians Miene verfinsterte sich. „Aber nicht so wie ich …“, ich ließ den Satz einfach so stehen und küsste ihn mit all meiner Liebe, die ich aufbrachte, sodass er schließlich nachgab. Ich wollte nicht, dass auch noch Carsten zwischen uns stehen würde. „Das hier wird unser Neuanfang“, meinte Darian ernst. Ich nickte zustimmend und er sprach weiter. „Du hast aber Recht, wir müssen warten, zumindest, bis Miguel weg ist.“ Er setzte sich frustriert in den Sessel, ich nahm gegenüber auf der Couch Platz. Mir erging es nicht anders, würde ich doch viel lieber diese Lippen kosten in einer richtigen Umgebung und … ich konnte es kaum glauben, ich wollte mit ihm schlafen. Mein Körper verriet es mir trotz der schlimmen Vergangenheit. Ich versuchte, die damaligen Gedanken zu verdrängen. „Deine Verlobung, war das wirklich nur Miguels Idee?“ Wenn ich mich wirklich auf Darian einlassen würde, dann mussten alle Zweifel beseitigt werden. „Es gehören immer zwei dazu“, gab er ehrlich von sich, was ich ihm, auch wenn mir die Antwort nicht ganz so passte, hoch anrechnete. „Bereust du es?“ Nervös beobachtete ich jede Regung an Gefühlen in seinem Gesicht und die Frage schien ihm nicht bekommen zu sein, denn sein Blick verfinsterte sich. „Jaden, das, was ich zu Miguel gesagt habe, das meinte ich auch so. Diese Verlobung war ein Hilfeschrei gewesen. Und doch hätte ich mich mit ihm verlobt, hätte man mich nicht aufgehalten … so wie du mit Carsten ... Sein Tod bedeutet im Endeffekt für uns eine zweite Chance.“ Ich nickte und die Tränen traten in meine Augen. In dem Moment fand ich das Leben nicht fair, Carsten hätte noch leben sollen und … was dann? Ich malte mir nicht weiter aus, wie es dann verlaufen wäre. Aber nun war es so. Die Würfel waren neu gefallen und dies hier war ein Neuanfang. Lange und intensiv sahen wir uns in die Augen. Die Erregung war uns beiden anzusehen. Aber wir würden warten, warten auf den richtigen Zeitpunkt. Es sollte etwas Besonderes werden, dazu mussten wir nicht weiter darüber reden, es war eine stille Übereinkunft. Zudem musste ich aus der Wohnung. Es würde uns ablenken, uns nicht anschauen zu müssen und die Erregung des anderen zu vermuten. Ich zog mich um und Darian wartete geduldig im Wohnzimmer. Wir einigten uns auf die Innenstadt Münchens. Wir zogen unsere Jacken an, Darian noch seine Schuhe. In der Zeit hinterließ ich eine kurze Nachricht auf einem Zettel, dass ich in der Stadt war und sie nicht auf mich warten sollten, wenn es dann doch spät werden würde. Ich legte die Mitteilung auf den Küchentisch, stellte ein Glas auf eine Ecke des Papieres, sodass es nicht beim Öffnen einer Tür vom Tisch geweht wurde, und gingen dann. Wie viele noch von der alten Nachbarschaft in der Gegend wohnten, wusste ich nicht, im Haus waren es immerhin fast alle, die mich kannten. Nur zwei neue Namen waren hinzugekommen, daher waren Darian und ich auf der Hut, was die Öffentlichkeit anging. Nach außen waren wir Brüder und benahmen uns auch so, denn es kam uns bereits Frau Weber entgegen, die unter der Wohnung von meiner Mutter wohnte, und begrüßte uns freundlich. Mir wurde immer bewusster, dass verliebte Blicke – alles, was zum Verliebtsein dazugehörte, etwas war, was wir nur hinter dicken Mauern ausleben durften. Selbst unseren Eltern gegenüber würden wir niemals etwas erzählen dürfen. Niemals! Sie durften es niemals erfahren! Es waren kaum Wolken am Himmel, als wir an die frische Luft kamen und die Sonne schien uns in unsere Gesichter. Sie ließ die Luft angenehm erwärmen, als wir an der Haltestelle auf eine S-Bahn warteten, die uns in das Stadtzentrum bringen sollte. Das Auto wollte ich nicht nehmen und Darian war zu mir mit der Bahn gekommen. Vielleicht würden wir etwas trinken gehen, es gab noch so viel zwischen uns zu reden, waren wir doch erst am Anfang. Und so kamen wir schließlich an unser Ziel, dem Marienplatz. Wie erwartet war es auf dem Platz und rund um den Brunnen herum brechend voll. Die Menschenmenge wurde mir zu viel, was Darian schmunzelnd bemerkte. „Ich habe Durst, zudem sind zu viele Menschen unterwegs, was meinst du?“, meinte Darian und ich grinste. „Okay, dann lassen wir mal unsere Vergangenheit aufleben.“ Wir suchten uns eine Lokalität, eine, die wir beide kannten, und jeder von uns bestellte sich ein schönes Weißbier, ganz gegen die Jahreszeit üblich, als wir einen Platz für uns fanden und eine hübsch aussehende blonde langhaarige Bedienung unsere Bestellung entgegennahm. Sie warf Darian einen vielsagenden Blick zu und ich schmollte sofort. „Warum musst du nur so aussehen?“, muffelte ich schlecht gelaunt. Mir wurde meine Erscheinung bewusst. Graue Augen, kleine Figur. „Tja, du willst doch auch, dass ich dir gefalle, oder nicht.“ Seine grünen Augen blitzen vor Vergnügen. „Tze“, gab ich nur von mir, wurde aber schnell wieder sanfter, er hatte ja recht, ich benahm mich wie ein Eifersüchtiger, trotzdem blieb ein gewisser Neidfaktor hängen, den ich nicht ganz abstellen konnte. Wir erhoben beide unsere Gläser und prosteten uns zu. Lange war es her, dass ich solch ein Bier getrunken hatte und so nahm ich einen kräftigen Schluck und schleckte den Bierschaum von den Lippen. Mir tropfte der Schaum aufs Kinn. Ich wischte ihn mit einer Serviette weg. „Mann, du trinkst wie eine Frau“, tadelte mich Darian und ich grinste nur. „Das gefällt dir doch?“ „Ja, scheiße, es gefällt mir – auch. Beides, wenn du weißt, was ich meine.“ „Beides?“ Musste ich mir doch um die Bedienung Sorgen machen, die mir zu oft für meinen Geschmack fragte, ob alles recht wäre. Dabei tranken wir nur Bier, wenn es auch recht früh für die Uhrzeit war. Es gerade elf Uhr. Darian nickte. „Ja, beides. Als ich mich von Stefanie trennte, dachte ich, ich wäre nur schwul, bin ich auch, aber ich finde Frauen nach wie vor sehr anregend. Du hast beides.“ „Aber ...“, wollte ich protestieren, kam aber nicht weiter zu Wort. „Nichts aber. Du brauchst demnach auf diese Tussi an Bedienung nicht eifersüchtig werden, ich finde gar nichts an ihr, aber an dir.“ Er sah mich abschätzend an und ich wurde rot unter seinen Blicken und nervös zwischen meinen Beinen. „Wir wissen so wenig voneinander“, sagte ich schließlich, als ich mich wieder gefasst hatte und am liebsten hätte ich meine Hand in seine gelegt, um ihn dann zu meinem Schritt runter zu führen. Schlimm, dass man so reagieren musste. Die Tussi hinter mir war mir inzwischen egal geworden. „Erzähl von dir und der Zeit, als ich in Hamburg war.“ „Auf das stoßen wir an.“ „Auf was?“ Ich lachte, denn ich verstand gar nichts, wir erhoben erneut unsere Gläser. „Na, auf meine historischen fünf Jahre.“ Und unsere Gläser klirrten aneinander. Darian erzählte mir, nachdem wir erneut einen großen Schluck tranken, wie es ihm in dieser Zeit so ergangen war, und ich erfuhr Einiges. Unter anderem, dass er wieder mit seinem Studium angefangen hatte, gut, ich wusste nicht, dass er jemals damit aufgehört hatte. All diese Dinge waren für mich neu, auch dass er als Kellner jobbte. Als ich nach seiner Arbeit fragte und warum er heute nicht arbeitete, antwortete er nur, dass er sowieso ein paar Tage freihatte. Nun wusste ich Einiges, als er fertig war. Es war klar, dass er nun von mir etwas hören wollte und ich erzählte von der Zeit unserer Trennung, aber nicht von meinem Selbstmordversuch und auch nicht, wie ich Carsten kennengelernt hatte. Es gab Dinge, die musste man nicht hervorholen, vielleicht eines Tages – ich wusste es nicht.     ©Randy D. Avies 2014 Kapitel 48: ------------ ~°~47~°~     Wir hatten viel aufzuholen. All die Jahre, die wir getrennt waren, sogen wir voneinander auf wie ein Schwamm. Die Nähe genoss ich auch ohne Händchenhalten – die Gespräche waren Balsam für die Seele. Aber nicht nur ich, auch Darian erzählte viel von sich und wie er merkte, dass auch er auf Männer stand – dass er ausprobierte. Ich schmunzelte. Zwar war ich schon lange schwul, aber ich hatte mich niemals austoben müssen. Eifersüchtig war ich deswegen nicht. Nach ein paar weiteren Bieren, Darian hatte schon sein Viertes, ich drei intus, waren unsere Gespräche fürs Erste beendet. Wir brachen auf und besuchten Plätze, an denen wir oft als Kinder unterwegs waren. Auch wenn die Jahreszeit nicht gerade angenehm war, ließen wir uns nicht davon abbringen, es zu tun.   Die darauffolgenden Tage, die Darian freihatte, genossen wir – ganz ohne Sex. Die Sehnsucht nahm aber immer weiter zu. Nicht nur bei mir, auch er sah mich ab und an mit verstohlenen Blicken an. Auch wenn ich mich nach ihm verzehrte, wusste ich, dass es wert war, zu warten und mich wunderte Darians Geduld, denn seine Augen sprachen eine andere Sprache … und doch war es die schönste Zeit nach Carstens Tod. Carsten … ein Thema, das wir beide nicht anschnitten. Ich war dankbar. Wenn die Jahreszeit es hergegeben hätte, dann hätte ich mir gewünscht, auf seinem Motorrad zu sitzen und mit ihm ins Grüne zu fahren. Eines Tages würden wir das nachholen. Als ich ihn nach seinem Motorrad fragte, grinste er nur. „Ich hoffe doch, dass wir dann eine Spritztour machen werden“, meinte er zärtlich. In einem unbedachten Moment küssten wir uns. „Komm, lass uns Susan besuchen gehen, bevor ich über dich herfalle“, sagte er schließlich knurrend und ich lächelte ihn verliebt an. Wir fuhren mit der Bahn und besuchten unangekündigt Susan. Vor ihr mussten wir nicht schauspielern und sie lachte glücklich, als sie uns Hand in Hand vor der Tür stehen sah. Die Überraschung war uns also gelungen. „Endlich haben sich der Berg und der Prophet gefunden.“ Sie klatschte begeistert in die Hände und wir umarmten sie beide. Wer aber der Prophet und wer von uns der Berg war, fragte ich lieber nicht nach. „Kommt rein. Mein Mann ist auch da.“ So lernte ich ihren Mann kennen, ein netter Kerl. Doch vor ihm waren wir allerdings nur Brüder. Susans Blick hatte uns dazu veranlasst. Aber egal, das spielte keine Rolle. Ich fühlte mich wohl, das war das Wichtigste. Wir verbrachten den Nachmittag bei ihr, tranken Kaffee und aßen ihren selbst gebackenen Kirschkuchen. Als wir uns verabschiedeten, war es ein Herzliches. Sie hatte mir wirklich verziehen. „Du wirst Patenonkel, das ist keine Bitte, sondern ein Befehl“, sagte sie zum Schluss. „Ich fühle mich geehrt.“ Das war ich. „Na Brüderchen, dann musst du ja Verantwortung übernehmen“, scherzte Darian und legte freundschaftlich den Arm um mich. „Du aber auch!“ Ich gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Susan ist ein wirklicher Freund, ich bin froh, dass sie mir verziehen hat.“ „Jaden … ich …“ In seiner Stimme lag ein Verlangen und ich wusste, was er meinte. Ich hielt ihn auf. „Sag nichts, lass Miguel Zeit, eine Bleibe zu finden. Wir finden noch einen Weg, jetzt gehen wir zu mir.“ „Nein, zu deiner Mutter und Helmut.“ Er seufzte und ich konnte mir denken, worauf er hinauswollte, aber ein Hotelzimmer wollte ich nicht nehmen.   Meine Mutter erkundigte sich schon nicht mehr, warum Darian immer dabei war. Abends ging Darian zu sich und ich fragte mich manchmal von Eifersucht geplagt, ob die beiden sich noch das Schlafzimmer teilten. Etwas, was mir gar nicht gefiel. In der ganzen Zeit hatte ich ein Zusammentreffen mit Miguel vermieden. Und wenn ich Darian mit dem Auto abholte, konnte ich am Fenster hinter dem Vorhang eine Regung erkennen. Ich musste nicht raten, dass es Miguel war, der uns beobachtete. Hin und wieder fragte mich Darian, ob ich nicht mit rein wollte.   Darians vorletzter Tag, dann musste er wieder arbeiten. Und ich musste wieder nach Hamburg zurück. Wir hatten das Thema die ganze Zeit ausgeklammert. Er wusste, dass ich nicht auf Dauer bei meiner Mutter wohnen bleiben konnte. „Miguel zieht heute Abend aus“, riss mich mein Bruder aus meinen Gedanken. „Das war es auch, was ich dir eigentlich im Auto sagen wollte.“ Wir standen im Flur und Helmut und meine Mutter waren im Wohnzimmer und schauten sich einen Tatort an. So konnten wir einigermaßen reden, ohne gleich gehört zu werden. „Hat er eine Bleibe gefunden?“ „Ja, endlich.“ Er seufzte. „Es ist nicht einfach, oder?“ „Nein, ist es nicht. Er geht nach Hamburg zurück.“ „Ich muss auch gehen“, platzte ich dann auch mit dem Thema Weggang heraus. „Oh.“ Darian klang überrascht. „Ja sicher, du bist hier nur auf Besuch.“ Er sah mich ernst an. „Wann?“ „Morgen, oder Übermorgen.“ Ich war mit mir noch uneins. „Dann haben wir noch einen Tag – und ich sturmfreie Bude.“ Sein Blick ging mir durch Mark und Bein und die Schmetterlinge im Bauch begannen zu flattern. Ich gab ihm als Antwort einen flüchtigen Kuss, als ich sicher war, dass uns meine Mutter nicht sehen konnte, die Tür zum Wohnzimmer war zu. „Gefährlich, gefährlich“, flüsterte Darian und gab mir einen zurück. „Bis morgen.“   Meine Mutter wie auch ihr Mann, ließen mich zufrieden, als ich mich ins Wohnzimmer zu ihnen setzte, um den Rest vom Film mit anzuschauen. Sie stellten keine Fragen und doch konnte ich sehen, dass sie sich etwas zusammenreimen konnten. Helmuts Blicke sagten viel aus. Wir mussten vorsichtiger sein.   Es war in aller Herrgottsfrüh, als ich packte und war eigentlich entschlossen heute schon zu fahren anstatt erst morgen - auch wenn ich wusste Darian und ich wären bei ihm nun alleine. Dies aber erzählte ich meiner Mutter nicht, sondern ließ sie im Glauben, dass ich sofort zurückfahren würde. Außerdem, und das war die Wahrheit, fehlte mir Basta und mir fehlte mein Rückzug. Ich brauchte ein paar Tage für mich. Auch wenn ich mich mit meiner Mutter ausgesöhnt hatte, was man von meinem Vater nicht behaupten konnte, verstand sie meine Beweggründe. Sie war zwar traurig, aber sie wusste auch, dass es kein Abschied für immer sein würde. Ich fiel, während ich packte, in Gedanken. Miguel war tatsächlich seit gestern Abend bei Freunden untergekommen, wie mir gestern Nacht noch Darian übers Handy mitgeteilt hatte. Mein Bruder hatte angedeutet, wieder aus dem Haus zu ziehen. Er fand es sowieso viel zu groß für zwei Leute und ich hatte bereits herausgehört, dass Miguel die treibende Kraft mit dem Haus gewesen war. „Ihr beide, du und Darian, habt nun ein besseres Verhältnis?“, fragte mich meine Mutter, als ich meinen Koffer im Auto verstaute. Sie hatte sich in ihren Mantel gehüllt, der Wind war eisig. Helmut schlief noch und ich hatte mich am Abend vorher für die Gastfreundschaft bedankt. Erstaunt sah ich sie an. „Ja, haben wir“, antwortete ich ihr. Warum fragte sie mich das so seltsam? „Gibt es was, was du mir sagen möchtest?“ Sie sah mich ernst an. Es gab vieles, was man sagen sollte, aber nicht das hier. „Darian und ich sind Brüder, wir mögen uns, mehr ist da nicht“, log ich und sie hob ihre Augenbrauen, da wusste ich, sie nahm mir die Mär nicht ab. „Mehr sollte ich nicht wissen, meinst du das? Ich bin nicht blöd, und eure Blicke haben euch gleich am ersten Tag verraten.“ Ich schluckte schwer und wusste nicht, was ich sagen sollte. Daher blieb ich stumm. Sie sagte ebenfalls nichts, trat aber an mich heran und gab mir überraschenderweise einen Abschiedskuss auf die Stirn und schenkte mir danach einen liebevollen Blick. Dann ging sie wieder ins Haus und ließ mich so zurück. Sprachlos und mit feurigen Wangen stieg ich total durch den Wind ins Auto. Ihr letzter Satz wirkte noch eine Weile nach. Meine Mutter wusste von uns – akzeptierte sie es? Ihre Reaktion war nicht negativ. Nein, das war sie wirklich nicht. Ich startete den Wagen. Als ich vor Darians Haus parkte, war er bereits am Fenster und keine Minute später stand er schon vor der Haustür – mit einem Jogginganzug. Er sah zum Anbeißen aus und ich verschwieg ihm, dass meine Mutter was ahnte. Warum sich damit belasten? „Komm rein, es ist saukalt hier draußen.“ Darian rieb sich seine Arme und vor seinem Gesicht bildete sich beim Ein- und Ausatmen kalter Nebel. „Ich weiß nicht“, gab ich schüchtern von mir.  Mir kam das Haus nun fremd vor und ich fühlte mich auf einmal als einen Eindringling. Er schien meine Gedanken erraten zu haben. „Miguel hat all seine Sachen mitgenommen, die Möbel waren bereits im Haus, wir hatten sie vom Vormieter übernommen. Es ist nichts mehr von ihm da“, erklärte er dennoch feierlich. Die Glut in seinen Augen ließ mich erröten. „Ich weiß, aber …“ „Wir sind für uns alleine. Bitte! Es ist unser letzter Tag!“ Er trat nahe an mich heran. „Wir haben doch noch einen Tag, oder?“ Warum duftete er nur so gut? Warum sagte mir mein Gefühl, ich sollte es riskieren? Mein Herz raste, meine Beine verwandelten sich in Pudding, mir wurde schwindelig und ich konnte ihn nur anstarren. Als ich antworten wollte, wurde ich schon ins Haus gezogen. Kaum war die Haustür hinter uns geschlossen, fiel er über mich her. Seine Hände waren überall und mir entwich ein Stöhnen, was ihn schmunzeln ließ. Wir taumelten weiter ins Hausinnere, ins Wohnzimmer und binnen von Sekunden lag ich auf der Couch und Darian auf mir. Er küsste mich stürmisch, ausgehungert, während er mich von meiner Jacke befreite. Mein Hirn hatte sich in dieser Zeit verabschiedet und begann viel zu spät nun mitzudenken, was wir hier machten. „Warte!“, keuchte ich. Darian hörte widerstrebend auf. „Was ist? Warten? Oh nein, ich habe die ganze verdammte Woche gewartet. Ich kann nicht mehr warten.“ Er rieb seinen Körper an mir und ich spürte da deutlich etwas, was wirklich nicht warten wollte. „Oh, Darian.“ Mein Körper bebte unter seinem Gewicht, meine Sinne nur auf ihn ausgerichtet. „Ich will dich!“ Ich sah ihn nur an, bebte. „Ich muss dir doch ein Andenken mitgeben, sodass du gezwungen bist, wieder zu kommen? Ich will nicht, dass du gehst.“ Angst lag in seiner Stimme und er hatte bereits seine linke Hand unter mein Shirt geschoben und fuhr mir bestimmend über den Bauchnabel. Das war es also, warum Darian mit mir unbedingt schlafen wollte. Er hatte Angst, ich könnte nicht zurückkommen. Nein, ich würde immer wieder zu ihm kommen. „Willst du mich etwa schwängern?“, witzelte ich unter ihm, dann wurde ich ernst. Ich wollte ihm das Gefühl geben, es ernst zu meinen. „Ich komme wieder, versprochen – aber ich habe einen weiten Weg vor mir, vielleicht sollte ich doch heute fahren?“ „Fahr morgen!“ Ich seufzte. „Bitte, wir haben alles geklärt und das, was auf der Hütte …“ Ich hatte einen Finger auf seine Lippen gelegt und zwang ihn, zu schweigen. „Ich möchte nicht mehr davon reden, okay! Das hier – Jetzt und Hier, das zählt, sonst nichts.“ Und trotzdem stand etwas zwischen uns, ich spürte es und wollte das unsichere Gefühl nicht zulassen, aber es war so. „Schlaf mit mir!“, riss er mich aus den Gedanken und sah mich erwartungsvoll an. Ich sollte mit Darian schlafen? Ich! „Bitte?“ Er richtete sich auf und zog mich mit auf die Beine, die Jacke hing in meiner Armbeuge und Darian zog sie mir einfach aus, legte sie über das helle Sofa, dann strich er sich die Haare aus dem Gesicht. „Darian!“ Unsicherheit lag auf meinen Lippen und ich strich mein schwarzes Shirt glatt, versuchte, Zeit zu schinden. In meinem Kopf wirbelte einiges an Gedanken. Ich wollte so sehr mit ihm schlafen, aber es dann auch zu machen, war eine andere Sache. „Du hast doch schon mal, oder?“, wurde er jetzt unsicher und ich starrte nur auf die Uhr, die an der Wand hing. Sieben Uhr Uhr in der Früh und das Thema war wirklich sehr ungewöhnlich. Ich nickte. „Ja, ich habe schon mal.“ Dass es aber nur mit Carsten war, band ich ihm nicht auf die Nase. Darian wusste noch nicht einmal, dass ich ein Piercing an meiner rechten Brustwarze hatte. Den Ring hatte ich die ganze Zeit über abgenommen, heute jedoch nicht. „Also, worauf warten wir, ich kann an nichts anderes mehr denken, ich meine – du weißt schon.“ Ich betrachtete ihn mir, seine offenen blonden Haare reichten bis zu den Schultern, seine grünen Augen leuchteten. Er sah einfach umwerfend aus, in seinem Shirt und seiner Jogginghose und mein Widerstand schmolz dahin. „Unter einer Bedingung. Wir gehen nicht ins Schlafzimmer, ich glaube zwar kaum, dass Miguel ein Teil des Bettes abgesägt hat, aber ich möchte das einfach nicht.“ „Ich schlafe momentan im Gästebett. So dreist bin ich nicht.“ Er lächelte. „Das heißt dann wohl ein Ja, oder?“ „Nun ja, ein Nein klingt wohl anders.“ Meine Stimme war belegt und ich trat an ihn heran, wurde aktiv und zog ihm das Shirt über seinen Kopf, begann ihn zu küssen. Darian umschlang meinen Körper und ich kostete alles von ihm, alles was er mir anbot, während sein Shirt achtlos auf den Boden fiel und ich auf nackte Haut traf. Okay, dann sollte es andersherum sein. Mein Körper wollte ihn sowieso und zurückrudern hätte ich nicht mehr können, als ich ihn auch noch von den anderen Sachen befreite und er vor mir stand, wie Gott ihn geschaffen hatte. Mutig und mit Herzklopfen fasste ich nach seiner Hand und legte sie über den Schritt meiner Hose. „Na dann.“ Er grinste, streichelte mich dort und nahm meine Hand, führte mich nach oben in das Gästezimmer. Ich dirigierte ihn ans Bett, woraufhin er sich drauffallen ließ. Ich beugte mich über ihn und begann ihn stürmisch zu küssen, drang mit meiner Zunge in seinen Mund, während meine Hände aktiv wurden und über seinen Körper streichelten, denn es war mein Part, ihn zu verführen. Und das tat ich auch.   Eine Stunde später liebte mich dann Darian, nachdem ich bettelnd darum gebeten hatte, und verdrängte die Hütte aus meinem Gedächtnis. Über das Brustpiercing war er ganz verzückt gewesen. Es hatte ihn beinahe rasend gemacht, wie auch mich, als seine Zunge immer und immer wieder über den Ring fuhr. Doch blieb eine Rechnung noch offen, und wenn die Zeit gekommen war, dann würde ich darauf zurückkommen, aber jetzt wollte ich Darian genießen und spüren. Und es war genauso, wie ich mir das in meinen Träumen vorgestellt hatte, nein, es war sogar noch besser. Mein Dauergrinsen war nicht zu überbieten und Darian sah ebenfalls äußerst zufrieden aus. Wir hatten beide das bekommen, was wir uns gewünscht hatten – uns.   Stunden später, es war weit nach zwölf Uhr, verabschiedete ich mich von Darian, weil ich mich doch entschieden hatte, noch am selben Tag zurückzufahren und ich wollte es auch. Der Abschied fiel uns trotz allem schwer. Ich versprach, schnell wiederzukommen, nachdem wir uns gefühlte tausend Mal versicherten, uns niemals mehr aus den Augen zu verlieren. Ich stieg ins Auto und sah seinen Blick im Rückspiegel. Seine grünen Augen leuchteten als Kontrast zu dem weißen Winterwetter. Traurigkeit aber auch Freude wechselten sich ab, als ich mich schon lange auf der Autobahn befand. Ich schmunzelte, als ich fünf SMS in der Zeit bekam, die ich für den Heimweg brauchte. Alle waren sie mit einem *Ich vermisse dich* und *Wehe, du kommst nicht zurück*, versehen. Ein großer Romantiker war Darian nie gewesen, aber ich wusste auch so, was sie bedeuteten. Sie drückten ein: „Ich liebe dich“ aus. Als ich mein Haus ansteuerte, war die Nacht längst hereingebrochen und die Laternen deuteten mir den Weg. Auf der Fahrt zurück wurde ich immer sicherer, wie meine Zukunft aussehen sollte. Ich würde nicht mehr in Schenefeld bleiben. Mein Platz war München, mein Platz war an der Seite von Darian. Es brannte Licht, das Haus wirkte weder leer noch einsam und da wusste ich, wem ich das Haus überlassen würde. Ina und Sabine und weitere neue Mieter. Das Haus sollte mit Menschen gefüllt sein, die das Leben genossen und ein Zuhause brauchten. Kurz dachte ich an Carstens Familie, und wie seine Eltern zu ihm waren. In diesem Moment liebte ich meine Mutter, liebte sie richtig. Denn ich hatte Glück, und dass sie nun das mit Darian und mir wusste, störte mich nicht mehr. Kaum war ich die Garageneinfahrt gefahren und ausgestiegen, lief Sabine als Erstes raus, gefolgt von meinem so sehr vermissten Vierbeiner, der sie im Nu überholt hatte. Basta hatte mich schier umgeworfen. Der Schäferhund schleckte mit seiner langen Zunge mein Gesicht ab. „Hey, du bist einen Tag früher als geplant! Sabine lächelte. „Ich weiß ... Hey!“ Ich wurde erneut von meinem Hund angesprungen. „Basta … ist doch gut, bin wieder da.“ Ich liebte den Hund, nicht seinen Speichel. „Bähh.“ Ich kraulte ihn hinter seinem Ohr und gab ihm einen Kuss in sein Fell. „Der Hund hatte nur noch die Woche über gejault, ich bin froh, dass du da bist. Er hat dich sehr vermisst.“ „Und ich ihn“, gab ich von mir und kam auf sie zu um sie zu begrüßen. „Hey, warum hast du nicht angerufen, dass du einen Tag früher kommst?“, beschwerte sie sich und fiel mir um den Hals, bevor ich ihr gleich antworten konnte. Wow. „Angerufen?“ Vor lauter Darian hatte ich das ganz vergessen. Ich kratze mich verlegen am Kopf. „Wenn ich in mein eigenes Haus zurückkehre, muss ich da anrufen, wann ich genau ankommen werde?“ „Na, ja.“ „Wo ist Ina?“ „Wo wohl?“ Auf ihrem Gesicht legte sich ein Schatten. „Bei ihrem Freund, es war oftmals sehr einsam ohne dich.“ Dann aber erhellte sich ihre Miene. „Ich male seit einigen Tagen, wollte fragen, ob ich meine Bilder in dem Zimmer von Carsten abstellen kann.“ Carstens Zimmer als Atelier? „Warum nicht.“ Ich gähnte, war ich doch sehr, sehr müde.  „Reden wir morgen, ich bin erledigt.“ „Oh sorry, hey, ich habe was gekocht und man kann es auch kalt essen.“ Hunger hatte ich schon, hatte ich, seit ich mit Darian geschlafen habe, keinen Bissen mehr gegessen vor lauter Verliebtheit. „Was gibt’s, was man um Mitternacht essen kann?“ „Lasagne … mit viel, viel Käse.“ Das hörte sich lecker an. „Überredet.“   Ich blieb zwei Wochen, sagte den Frauen, dass ich nach München ziehen würde, aber erst einmal nur für einige Wochen. Ich regelte soweit alles, versprach aber, ab und an zu Besuch zu kommen. Ich weihte sie in meine Pläne für die Zukunft ein und schenkte ihnen sogar den BMW, als Dank, dass sie hier wohnen bleiben wollten. Auch Ina fand die Idee super, denn sie hatte die Idee, dass ihr Freund zu ihr ziehen könnte. „Warum nicht“, hatte ich ihr daraufhin geantwortet. So bekam ich mehr Mieteinnahmen. Ich hatte nichts dagegen. Alles lief perfekt. Nur Darian fehlte mir. Jeden Tag chatteten wir über einen Nachrichtendienst, oder riefen uns an. Ich konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen und vermisste ihn immer mehr. Sabine gegenüber erwähnte ich die Sehnsucht nach meinem Bruder nicht, als sie mich danach fragte. Ich gab nur vor, jemanden in München kennengelernt zu haben.   Und dann war es endlich soweit. „Pass auf dich auf.“ Sabine umarmte mich und hatte Tränen in den Augen, als ich alles für die Rückkehr nach München gepackt hatte. „Ich pass auf mich auf“, versprach ich ihr und winkte zum Abschied. Ina hatte sich schon verabschiedet und hatte sich zu ihrem Freund ins Bett gekuschelt, der seit einem Tag hier wohnte. Zufrieden mit der ganzen Situation stieg ich in mein Cabriolet, fuhr aber nicht gleich auf die Autobahn, sondern besuchte Carsten. Diese Zeit nahm ich mir. Auf dem Baumfriedhof erzählte ich ihm von meinen Zukunftsplänen und küsste seinen Baum zum Schluss. Ich weinte dabei, denn ich hatte Carsten wirklich geliebt. Dann stieg ich in den Wagen, als die Tränen getrocknet waren und ich mit mir eins war, und rief während der Autofahrt Darian an. Er war gerade in der Bar arbeiten und konnte nicht richtig reden, zumal auch die Geräuschkulisse im Hintergrund sehr laut war. Wir vereinbarten mühevoll einen Treffpunkt, aber erst am nächsten Morgen, da ich zu spät ankommen würde. Dann rief ich meine Mutter an und kündigte meinen Besuch an, damit sie nicht länger auf mich warten musste. Sie freute sich und begrüßte mich elf Stunden später, mitten in der Nacht, als ich ankam, Helmut schlief schon. „Schön, dass du wieder zurück bist.“ Sie umarmte mich. „Danke“, sagte ich nur. Wir sprachen nicht viel und sie hatte mir noch etwas vom Abendessen aufgehoben, was ich dankbar zu mir nahm, denn ich hatte den Tag über kaum etwas gegessen. Meine Mutter hatte den Vierbeiner gleich ins Herz geschlossen und das, obwohl sie niemals einen Hund hatte. „Der ist aber lieb“, hatte sie gesagt. „Er ist mein Halt“, hatte ich ihr geantwortet. Dann legte ich mich völlig erledigt ins Gästebett und konnte es trotzdem kaum erwarten, bis die Nacht vorüberging. Basta legte sich neben mich und ich spürte die Wärme die von ihm ausging. Normalerweise schlief er nicht mit im Bett, aber heute machte ich eine Ausnahme.   Am nächsten Morgen brach ich zeitig auf. Ich nahm den Hund mit in die Innenstadt. Der Treffpunkt war der Marienplatz, und als ich Darian schon von Weitem sah, er hatte mich aber nicht gesehen, wies ich Basta an, still zu sein. Ich wollte noch unbemerkt bleiben und band ihn an einem Geländer unweit von hier, aber außer Sicht von Darian, an einem Geländer fest. „Ich komme gleich wieder. Gleich wirst du meinen Bruder kennenlernen, ich hoffe, du magst ihn.“ Als Antwort legte er nur den Kopf schief, blieb dabei fast ruhig stehen, soweit ein Hund ruhig sein konnte. Aber sein Schwanz verriet ihn, denn der wedelte heftig. Zum Glück war es nicht mehr ganz so eisig, sodass ich mir keine Sorgen machen brauchte, ihn da alleine zu lassen, weil ich nicht wusste wie lange ich brauchte. Ich entfernte mich von Basta und schlug den Weg zu meinem Bruder ein. Darian sah mich nun kommen, da ich ihm winkte und entfernte sich vom Brunnen auf, an den er sich gelehnt hatte. Ich sah, dass er sich schick gemacht hatte. Wie gerne hätte ich ihn in den Arm genommen. Doch verbat ich mir das in der Öffentlichkeit. „Endlich, da bist du ja“, meinte er und ein Lächeln legte sich über seine Lippen. Er wirkte übernächtigt, hatte einen Dreitagebart, was ihm nicht schlecht stand. Nur beim Küssen würde er bestimmt kratzen. Aber das würde ich erst ansprechen, wenn wir unter uns waren. „Ja, endlich“, sagte ich nur und strahlte ebenfalls. Ich sah Darian lange und eindringlich an, sog alles von ihm auf, erinnerte mich an unseren schönen Abschiedssex und dann besann ich mich, dass ich ihm ja noch etwas sagen musste. „Darian.“ Wir liefen wieder zu dem Brunnen und blieben davor stehen. „Was ist?“, fragte er unsicher. „Ich muss dir etwas sagen?“, fing ich an und machte es spannend, indem mein Gesicht ernst blieb, obwohl ich innerlich grinsen musste als ich merkte wie er mich erschrocken ansah. „Was willst du mir sagen?“ Er wirkte auf mich auf einmal verschüchtert, was schier meine Maskerade bröckeln ließ. Ich musste mich vor ihm zusammenreißen. „Es gibt da jemanden in meinem Leben“, fiel ich mit der Tür ins Haus. „Oh!“ Seine Augen wirkten auf einmal traurig und leer. Die Worte hatten Wirkung gezeigt und ein schlechtes Gewissen breitete sich aus. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. „Carsten ist tot, ich verstehe, wenn du noch trauerst und du darum noch nicht mit mir zusammen sein kannst“, meinte er nur. Er hatte sich wieder an den Brunnen gelehnt, seine Hände lagen auf dem Schoß ineinander gebettet. Er wirkte in sich gealtert. „Nein, das ist es nicht. Warte hier!“, sagte ich darum schnell und wollte das hier Beenden, weil es mir selbst nahe ging. Ich stand auf und ging zu Basta, der mich kommen sah und mit dem Schwanz aufgeregt wedelte. Darian sah mich mit dem Hund kommen und verstand. Ich konnte seine Erleichterung förmlich spüren und sehen, denn er hatte nicht mehr diese Sorgenfalten auf seinem Gesicht. „Auf den werde ich nicht eifersüchtig werden, hoffe ich.“ Darian streichelte ihn und Basta schnupperte an seinen Händen, ließ sich die Streicheleinheiten gefallen. Basta mochte ihn – wie schön. „Hast du immer schön auf meinen Bruder aufgepasst, mhm?“ „Basta ist mein Leben. Und ja, hat er, er ist tief in meinem Herzen verankert. Genau wie du … “ Und das waren keine leeren Versprechungen, das war die reine Wahrheit. „… und Carsten!“, fügte er hinzu und ich war nicht nur überrascht, sondern überrumpelt. Was sollte ich sagen, denn Darian hatte nicht unrecht. „Jaden, mach dir nichts vor, er war dein Halt, dieser Halt, den ich dir in der Zeit nicht geben konnte … es ist in Ordnung.“ „Wirklich?“ „Ich bin zwar ein Arschloch, aber kein Idiot.“ Er lächelte. „Ja, du bist ein Arschloch!“, gab ich zu. „Aber anscheinend stehe ich auf Arschlöcher.“ Ich wollte ihm einen Stoß in die Seite versetzen, aber er wehrte es spielerisch ab. „Ich habe eine Wohnung für uns?“, platzte er mit einer Neuigkeit heraus, was mir die Sprache verschlug. „Du hast Geheimnisse vor mir?“ „Nein keine mehr, nur das eben!“ Seine grünen Augen leuchteten. Ab da wusste ich, wir hatten eine Zukunft. Ich freute mich sehr auf unsere gemeinsame Aussicht eines Zusammenlebens.   Wir sagten unseren Eltern nichts. Wir sagten nur, dass wir zusammenziehen wollten, weil ich wieder Sehnsucht nach meiner Heimat bekommen hatte? Als Grund dafür nannten wir die Kosten und dass wir sie uns dann teilen könnten. Da jeder von uns in keiner Partnerschaft steckte, fanden wir es nur logisch. Klar, meine Mutter nahm mir das nicht ab, wusste sie schließlich, dass ich eigentlich durch Carsten recht gut versorgt war. Sie sagte aber nichts zu unseren Plänen – Darian wusste nicht, dass sie es wusste und ahnte es auch nicht, da sie sich mit uns freute. Das war auch gut so. Ich behielt es auch für mich. Unser Vater war wie immer verschlossen, als wir ihm unserer Pläne mitteilten. Verschlossener, wie ich ihn niemals zuvor gesehen hatte. Das Verhältnis blieb trotzdem frostig, auch wenn er jetzt wusste, dass wir in München blieben. Darian schüttelte nur darüber den Kopf. „Wie kann man nur so engstirnig sein, also das ist was, das wir beide nicht von unserem Vater geerbt haben, nicht wahr?“ „Wohl wahr! Es macht mich traurig, aber vielleicht braucht er einfach noch Zeit.“ Ich versuchte ihn zu verstehen, konnte es aber nicht wirklich nachvollziehen. Darian und ich waren schließlich keine Verbrecher. „Schauen wir uns mal unsere Wohnung an, mmh, was meinst du?“ „Meinen? Ich dachte, wir würden niemals hinfahren.“ Dann hielt ich ihn auf, als wir vor meinem Cabriolet standen. Er drehte sich zu mir und sah mich verwundert an. „Was ist?“ „Ich möchte, dass wir uns ganz frisch einrichten, nichts soll mehr auf früher hinweisen, es soll für uns ein Neuanfang werden.“ „Ich würde dich jetzt gerne küssen, okay.“ Seine Augen blitzten mich vergnügt an. „Hier?“ „Ja, genau hier!“ Er setzte seine Worte in die Tat um.   Wir wussten genau, dass wir eine Gratwanderung machten, auch wenn es eine neue Wohnung war, in einem anderen Stadtviertel von München, wussten wir, dass Nachbarn nicht blöde waren, sie würden tuscheln. Aber dafür waren wir gewappnet. Wir würden es nicht an die große Glocke hängen und sagen, dass wir Brüder sind. Darian hatte den Namen seiner Mutter angenommen, das wusste ich noch von Carsten, so hatten wir beide unterschiedliche Nachnamen, etwas, was nicht auf Verwandtschaft hinweisen würde. Doch wussten wir genau, was wir hier taten. Wir wollten zusammen sein. Ich wollte mit Darian zusammen sein. Ob wir aber auf Dauer harmonieren würden, das würde sich zeigen. Denn Darians Wutausbrüche kannte ich zur Genüge. Und auch wenn er sich geändert hatte, eine gewisse Wut steckte immer noch in ihm. Ich war dennoch zuversichtlich, dass wir es schaffen würden. Aber eine Rechnung hatte ich trotzdem mit ihm offen und die würde ich bald in die Tat umsetzen.   ©Randy D. Avies 2014 Epilog: -------- Epilog     Ja, Darian hatte Jaden wieder. Er liebte ihn mit jeder Faser seines Herzens. Aber er wusste auch genau, dass er ihm tiefe Schmerzen zugefügt hatte. Sein Arbeitstag war zu Ende. Mittlerweile hatte er eine andere Arbeit angenommen, das Studium hatte er erneut aufgegeben. Wozu?, hatte er sich gefragt, wenn ihm die körperliche Arbeit mehr zusagte. Dafür brauchte man kein Diplom. Seine neue Tätigkeit: Gabelstaplerfahrer. Eine ehrliche, zwar schlecht bezahlte, aber Spaß machende Arbeit. Wenn er abends verschwitzt nach Hause kam und er von seinem Bruder in Empfang genommen wurde, wenn er bekocht wurde, wusste er, er hatte alles richtig gemacht. Was wollte er mehr? Er war sehr glücklich. Jaden jobbte tagsüber in einer Verpackungsfirma, nichts Besonderes, aber auch ihm gefiel die Arbeit, wie Darian immer zu hören bekam. Das Geld, was sie zusammen verdienten und das, was Jaden noch mit dem Haus in Schenefeld an Miete bekam, reichte vollkommen aus, um unbeschwert zu leben.   Darian fuhr in den Supermarkt, um einen Rotwein zu besorgen. Er wollte seinen Bruder mit einem guten Wein und einer Reise überraschen. Die hatte er schon länger organisiert. Darian wusste genau, dass sie füreinander Zeit brauchten. Die Trennung war schlimm genug gewesen, als Jaden nochmals für eine Woche nach Hamburg reisen musste, um dort den letzten Rest zu regeln, doch seit ein paar Tagen war er wieder da. Eigentlich hatte er ihn begleiten wollen, aber durch die neue Stelle hatte er kurzfristig nicht freibekommen und ließ ihn ziehen. Doch seit Jaden wieder zurück war, war er irgendwie anders. Wortkarg und in sich gekehrt. Darum auch der Wein und die Reise. Mit der Überraschung wollte er seinem kleinen Bruder ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Als Jaden in Hamburg war, hatte er ihm kaum über WhatsApp geantwortet, geschweige denn telefoniert. Und Basta hatte er auch mitgenommen, sodass es wirklich sehr still in der Wohnung gewesen war. Dies alles hatte ihn alarmiert, etwas unternehmen, damit Jaden wieder glücklich war, wie noch vor der Hamburgreise.   Als Darian zu Hause ankam, etwas erschöpft, aber dennoch voller Freude, spürte er sofort, dass etwas anders war als sonst. Kein Hundegebell zur Begrüßung, nichts. Er bekam ein Déjà-vu. „Jaden“, rief er, doch keine Antwort. „Basta?“ Auch der Vierbeiner kam nicht auf sein Rufen hin. Von Unruhe getrieben ging er ins Schlafzimmer. Sofort registrierte er die gemachte Bettseite. Seine Seite war noch so zerwühlt, wie er es heute Morgen verlassen hatte. Jaden hatte nur sein Bett gemacht. Er brauchte nicht weiter zu schauen, ob jemand da war. Es war kein Licht in der Küche zu sehen, keine Musik zu hören oder sonstige Geräusche, die einem ans Ohr drangen, wenn jemand in der Wohnung war. Die Wohnung war leer – und Jaden fort. „Bitte nicht! Nicht schon wieder.“ Hatte sein Bauchgefühl sich doch nicht getäuscht. „Jaden!“ Darian hatte die Weinflasche in die Küche gestellt und das Licht angeknipst. Vielleicht hatte Jaden gekocht und er musste noch weggehen. Doch die Küche war sauber. Nichts stand auf dem Herd. Es war auch nicht gekocht worden. Wo konnte Jaden sein? War er abgehauen? Das traute er ihm nicht zu, nein dazu waren sie zu glücklich. Irgendetwas musste in Hamburg vorgefallen sein. Vielleicht die Trauer um Carsten? Dann kam ihm eine Idee. Unruhig ging er an den Kleiderschrank, öffnete die linke Tür. Wie vermutet, fehlte Jadens Rucksack und einige seiner Klamotten. Ein Lächeln der Erleichterung machte sich auf seinen Lippen breit. Darum war Jaden so komisch gewesen, er hatte Pläne mit ihm. „Du verdammter Mistkerl – verdammt, wie ich dich liebe, muss ich dir wohl erst beweisen.“ Sein Verdacht erhärtete sich, dass es die Hütte von damals in den Bergen war, als er auf einem Regalbrett einen Zettel liegen sah, mit Jadens fein säuberlicher Handschrift:   Wir sehen uns morgen dort, Bruder! Vermassele es dieses Mal nicht! Ich liebe dich! Dein Jaden Morgen? Alles würde er für ihn machen, aber nicht bis Morgen warten. Darian wusste, es war ein Irrwitz, aber er konnte mit dem Auto auf den Parkplatz fahren und dann morgen, sobald es die Helligkeit zulassen würde, die Wanderung starten. Warum hatte er ihn nicht schon heute Früh eingeweiht. Die Logik von Jaden ließ manchmal zu wünschen übrig, aber war es nicht gerade, dass was er auch so an ihm liebt? Wie gut, dass es Frühling war und das Wetter mitspielte. Dieses Mal passte es. In Windeseile packte er ein paar Sachen zusammen, bemerkte mit einem Schmunzeln auf seinen Lippen, dass einiges der Outdoorausrüstung fehlte, und freute sich wirklich auf ihn. Er nahm noch Proviant mit, und den Wein, den er eigentlich für hier gedacht hatte. „Ich komme.“ Und das würde er, denn er liebte diesen Mann über alles und auf keinen Fall würde er den gleichen Fehler von damals noch einmal machen. Das erste Mal miteinander würde er wiederholen, und zwar so, dass Jaden ihm danach glücklich in die Augen schaute, wenn er ihn im Arm hielt und sie zusammen in einem Schlafsack einschliefen … So wie damals, nur dieses Mal perfekt. Und dieses Mal würde auf der Hütte alles passen, dafür würde er sorgen. „Jaden, ich liebe dich!“ Darian stieg in den Wagen und hatte Glücksgefühle, denn es fühlte sich richtig an. Ja, er liebte seinen Bruder über alles! Der Rest der Welt konnte ihm den Buckel herunterrutschen. Er wusste, es war grenzwertig seinen Bruder zu lieben, aber konnte man gegen solche Gefühle ankommen?   Zehn Stunden später   Darian und Jaden lagen eng umschlungen in dieser muffigen Hütte, die nun in einem noch schlimmeren Zustand war als noch vor über fünf Jahren. Aber das hatte sie nicht gestört. Nicht einmal Jaden, der Hygiene über alles liebte. Sie hatten sich intensiv geliebt und nun war alles, wirklich alles zwischen ihnen geklärt. Darian musste zugeben, dass ihn das Geständnis von Jadens Selbstmordversuch zu Anfang schockiert hatte und dennoch war er dankbar, dass Jaden ihm es endlich erzählt hatte. Jetzt wusste er, warum Jaden die Tage über so in sich gekehrt war. Die Last, die er mit sich herumgetragen hatte, war nun offengelegt und er war danach so zärtlich zu ihm, wie er es nur als Mann sein konnte. Zum Dank küsste er ihn fest auf die Lippen und legte all seine Gefühle für ihn in diesen Kuss. „Jaden!“ „Ich liebe dich, Bruder!“ Jadens Augen funkelten und waren von Glück und Liebe umgeben. „Dito.“ Mehr musste Darian nicht sagen. Es sagte so vieles aus.   Ja, die Welt drehte sich nur um die beiden, denn diese Liebe musste keiner verstehen, es reichte, wenn sie Darian und Jaden verstanden.       ENDE ©Randy D. Avies 2014 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)