Bruderliebe von randydavies ================================================================================ Kapitel 28: ------------ ~°~28~°~     Immer wieder schossen mir in Nanosekunden Carstens Worte ins Gedächtnis: „Ich therapierte ihn, weil er in seinen eigenen Bruder verliebt ist. Und ich redete ihm diese Gefühle aus.“ Aber schlimmer noch war die Tatsache, dass mein Bruder für mich Gefühle hegte. Gefühle, die er damals nicht hatte. Warum dann jetzt? Kann Darian wirklich Gefühle für mich haben? Es klang alles so unglaublich. Ich konnte es nicht fassen, nicht begreifen. Ebenso wenig der Umstand, dass Darian Carstens Patient war. Egal, wie ich es drehte und wendete, und ich mir sogar einredete, dass Carsten sich vielleicht einen Scherz mit mir erlaubte, wusste ich, dass dem nicht so war. Die großen Fragewörter bauten sich immer größer werdend in meinem Kopf auf und manifestierten sich zu einem Teil eines Ganzen: Wieso? Weshalb? Warum?, sie erschienen mir surreal. Ich kam mir wie in einer Quizshow vor, in der ich weder Publikum noch Kandidat sein durfte, sondern als Neutrum dastand. Schmerzlich gestand ich mir ein, dass Hamburg wohl nicht weit genug weg gewesen war, um meine Vergangenheit völlig vergessen zu können. Die Welt, sie war so verdammt klein, in der ich glaubte, mich von ihm losgelöst zu haben. Ich schob die Gedanken beiseite, wollte sie nicht an mich heranlassen, sondern den Schaden, den Carsten erlitten hatte, abchecken. Dass ich dabei nackt vor ihm stand, war für mich nicht wichtig. Ebenso wenig, dass mein Handtuch auf dem Boden lag und ich es eigentlich aufheben könnte. Ich fühlte noch nicht einmal mehr, ob mir kalt oder heiß war. Ein Albtraum war aufgebrochen. „Oh Gott, war er das?“, fragte ich mit zittriger Stimme, als ich endlich meine Sprache wiedergefunden hatte. In meinem Kopf herrschte ein Tornado. Carsten antwortete nicht, da frage ich weiter: „Hast du gewusst, dass er mein Bruder ist?“ Er sah mich nur an. Dann sah ich, wie er kaum sichtbar den Kopf schüttelte. Jeder weitere Satz, jede noch so aufkommende Frage, die sich in meinem Kopf bildete, blieben auf halber Strecke liegen. Warum antwortete er mir nicht? War er böse auf mich, war ich ihm böse? Die Lage zwischen uns hatte sich verkompliziert. Carstens Gesicht glich einer Maske. Er stand noch immer regungslos da, hatte sich keinen Zentimeter bewegt – genauso wie ich. Ich musste mich erst einmal von dem Schock erholen, was nur langsam vonstatten ging. Wieder sah ich in sein verunstaltetes Gesicht. Die Schuldgefühle nahmen überhand und meine Gesichtszüge wurden augenblicklich weicher. Carsten sah zwar schlimm aus, und doch liebte ich diesen Mann. Sollte ich ihm wirklich böse sein, für das, dass er einem Menschen verbotene Gefühle ausreden wollte? Er hatte nicht ahnen können, dass er meinen Bruder vor sich hatte. Niemals sah er das Bild, was ich immer noch vor ihm versteckt hielt. Darian und ich sahen uns auch nicht ähnlich, sodass Carsten hätte, Verdacht schöpfen können. Der Patient und der Therapeut. Welche Ironie. Was war mit Miguel? Hatte er davon gewusst? Hatte er die Rangelei mit angesehen? War er dazwischen geschritten, oder hatte er die beiden Kontrahenten gar trennen müssen? Was nach meinem Weggang geschah, konnte mir nur mein Partner sagen. Darian jedenfalls war das krasse Gegenteil von ruhig oder friedfertig. Also das eklatante Antonym von Miguel, der zwar aufbrausend sein konnte, aber keiner Fliege etwas zuleide tat. Waren deswegen die beiden zusammen? Weil sie so verschieden waren? War das der Grund dafür? Innerlich aufgewühlt sah ich Carsten stumm an, während meine Gedanken umherwirbelten. Die Zeit um uns herum stand still. Die Uhren, die man im ganzen Haus vor sich hin ticken hören konnte, sie interessierten in dem Moment nicht. Warum? Warum? Ich ballte kurz die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Auf meinen Handballen hatte ich von meinen Fingernägeln Sicheln hinterlassen. Ich sollte mich auf das Wesentliche konzentrieren. Hier ging es rein um Carsten und mich und sonst um niemanden. Dann redete Carsten endlich, sprach das an, wovor ich mich fürchtete: „Hast du immer noch Gefühle für ihn?“, rau und trocken klang seine Stimme und es lag so viel Kummer darin. „Ich werde ihn nicht wiedersehen, weder morgen noch zukünftig. Er ist kein Teil mehr in meinem Leben“, sagte ich mit fester Stimme, obwohl mein Herz blutete. Doch hatte ich mich entschieden, auch wenn ich Carsten nicht direkt eine Antwort gegeben hatte, dafür aber ihm klar machte, wie es weitergehen würde. Er war mein Leben, nicht Darian. Ich löste mich aus meiner Starre und ging einen Schritt auf meinen Partner zu. „Denn du bist mein Leben.“ Wieder machte ich ein Schritt, sah ihn dabei an. Mir zerriss es das Herz, als ich ihn so sah. Wollte ihn berühren, doch er ging einen Schritt zurück, wich mir aus, als ob er meine Berührung nicht ertragen konnte. „Bist du dir sicher?“, fragte er unsicher. „Warum fragst du?“ Dann wollte ich zu ihm, sein Gesicht berühren, unterließ es aber. „War er das wirklich, war er das alleine?“ Mein zuerst blutendes Herz wandelte sich um in ein zorniges, pflanzte sich wie ein Geschwür in meinen Magen und verursachte dort einen dumpfen Schmerz. „Er sieht schlimmer aus, glaub mir.“ Versuchte er mich jetzt zu trösten, oder zu schützen? „Ich denke, ich werde morgen so nicht arbeiten gehen können. Vielleicht sollte ich meinen Job ganz aufgeben.“ Wie konnte Carsten jetzt gerade an seine Arbeit denken? Wieso aufgeben? „Du hast dich nur gewehrt und warum aufgeben? So ein Blödsinn“, verteidigte ich ihn und seine Arbeit. „Nein, nicht gewehrt, ich hatte als Erster zugeschlagen. Ich wollte ihm wehtun. Oh ja, ich wollte ihn schlagen und tat es auch. Nur hat dein Bruder ziemlich Kraft, ich hatte ihn unterschätzt“, gab Carsten kleinlaut von sich. Er wirkte nun verunsichert. Ja, das hat er, dachte ich bitter. In meinem Kopf spielte sich ein Kampfszenario ab, in dem Darian besser davon kam als Carsten, obwohl er von sich das Gegenteil behauptet hatte. Darian war immer der Bessere und Stärkere. Immer! Daher glaubte ich die Version meines Partners nicht so ganz. Ich dachte an die beiden Ohrfeigen, die mir Darian verpasst hatte, und schlüpfte in die Empathenrolle. Ich fühlte nun ebenso Schmerzen, fasste mir an die Wange und glaubte, Darians Ohrfeige wieder zu fühlen. „Oh nein. Du wirst deinen Job nicht aufgeben und es wird keinen Darian geben.“ Ich war aufgebracht und musste mich beruhigen. Dann bildete sich eine Idee in meinem Kopf, auch wenn ich davor Angst hatte. „Du hast doch bestimmt seine Nummer, als sein Therapeut musst du sie haben?“ „Ja, aber ...“ Er schüttelte etwas heftiger den Kopf, was bizarr aussah, aber nicht komisch war. „Jaden, ich darf nicht.“ „Oh doch, du darfst. Du bist sein Therapeut.“ Das Knurren in meiner Tonlage konnte und wollte ich nicht abstellen. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich ihn unter diesen Umständen weiter therapiere? Er hatte noch nicht mal ...“ Er brach ab. „Hatte was?“, fragte ich nach. „Carsten, hatte was?“, behaarte ich darauf, mir zu sagen, was zu sagen war. Ja, ich hatte gelernt, mich zu wehren. Denn dank ihm, meinem Engel, lernte ich mich selbst wieder zu mögen, zu akzeptieren und vor allem zu respektieren. Carsten ging nicht auf meine Frage ein. Daher machte ich weiter. „Gib mir seine Nummer. Bitte! Ich rufe morgen bei ihm an. Es ist unsere einzige Chance, auch meine, dass ich das überstehe. Ich will dich. Nur dich. Mag sein, dass ich niemals über ihn hinwegkommen werde, er weiter ein Teil von meiner Vergangenheit bleiben wird, aber ich werde damit leben können. Denn du bist nun meine Zukunft, mein Leben. Der Mann, mit dem ich zusammenleben und lieben möchte.“ Möglicherweise war es mein Gesichtsausdruck, in den ich all meine Liebe legte oder die Betonung meiner Worte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich wirklich alles genauso meinte, wie ich es sagte und absolut überzeugt davon war. Ja, ich liebte meinen Bruder und das konnte ich nicht abstellen. Und etwas vormachen wollte ich ebenfalls nicht. Carsten war aber jetzt mein Leben. Ich hatte damals meine Eltern, meine Freundin Susan und vor allem ihn zurückgelassen. Den Schritt wollte ich nicht mehr rückgängig machen. Es sollte alles so bleiben, wie es war. Mein Leben war gefestigt und sollte nicht mehr aus dem Ruder laufen. Carsten stand nun neben dem Bett und fing an, zu weinen. Seine Hände waren am Bettpfosten abgestützt. So stand er da, ließ seinen Tränen freien Lauf. Sein leicht angeschwollenes Gesicht spannte sich, als er es verzogen hatte. Die Schmerzen, die er hatte, fühlte auch ich. Eigentlich hätte er sein Gesicht kühlen müssen, einen Eisbeutel drauflegen. Aber auch ich unternahm nichts dagegen. Es gab in dem Falle Wichtigeres. Ich hob endlich mein Handtuch vom Boden auf und schlang es um die Hüfte. Eine völlig unbedeutende Geste, etwas, womit man eine Zeit überbrücken kann, in der ich nicht wusste, was ich machen sollte. „Jaden.“ Seine Stimme klang rau. „Ja?“ Ich sah ihn nur an. Keine Ahnung, wer von uns zuerst den Schritt unternommen hatte. Es ging alles sehr schnell, da lagen wir uns in den Armen und hielten uns aneinander geklammert, wie zwei Ertrinkende. Doch als Carsten leise und gequält in meiner Umarmung stöhnte, wurde mein Griff lockerer. „Verzeihung“, entschuldigte ich mich dafür, dass ich ihm Schmerzen verursachte, was ich nicht wollte. Ich wollte ihm nur Gutes tun. „Nein, alles in Ordnung, hör bitte nicht auf. Bitte! Mach weiter.“ Vorsichtig küsste ich seine Augen, die Wangen. Auch wenn ich vorsichtig war, spürte ich, dass ich ihm damit wehtat. Er versuchte, es vor mir zu verbergen, doch schaffte er es nicht. „Soll ich aufhören?“, fragte ich besorgt und hatte mich leicht zurückgelehnt. „Du müsstest verarztet werden!“ „Es ist nichts gebrochen, nur Blutergüsse.“ „Bist du sicher?“ „Nein. Ich sag doch: Hör nicht auf! Jeden Schmerz, egal wie schlimm, werde ich ertragen. Du hast mir das schönste Geschenk gemacht – dich.“ Carsten versuchte sich in einem Lächeln, das eher aussah, als ob er beim Zahnarzt die Betäubung intus hatte. Und gerade in diesem Moment liebte ich ihn noch mehr. Und das sagte ich auch, so zärtlich, wie ich nur konnte: „Ich liebe dich.“ In dieser Nacht liebten wir uns, auch wenn Carsten eingeschränkt war. Er hatte darauf bestanden, wollte mich fühlen, schmecken und einfach geliebt werden. Ich konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen, denn ich wollte ihn genauso, wie er mich wollte. Gerade jetzt brauchte ich ihn, mehr denn je. Doch musste ich vorsichtig mit meinem Verlangen nach seinem Körper sein. Die Küsse wurden federleicht auf seinem Körper platziert, beinahe ein sanftes Streicheln, und doch bebte er unter meiner Führung und heizte mich dadurch an. Schnell war ich erregt und wollte ihn nehmen. Ich bereitete ihn vorsichtig vor, versuchte jeden Schmerz zu vermeiden. Verteilte das Gleitgel daher großzügig. Als ich in ihn eindrang, war es für mich befreiend und merkte, wie auch er von der Lust überspült wurde. Nach dem ersten Höhepunkt, den wir beide fast gleichzeitig hatten, wechselten wir die Positionen und er machte dasselbe mit mir, als wir wieder beide so weit waren. Dann drang er in mich ein. Ein gutes Gefühl, ihn zu spüren und ich schnurrte wohlig unter ihm, weil er mir das Gefühl gab, mich geborgen zu fühlen. Es war ein Geben und Nehmen in diesen wenigen Stunden, bevor es hell wurde. Wir verschliefen den Vormittag. Ich kümmerte mich um seine Blessuren, trug eine Salbe gegen Hämatome auf und Carsten sagte die Termine für die nächsten Tage ab. Die Blutergüsse an seinen Rippen und Armen konnte man mit Kleidung verdecken. So sah er nur im Gesicht schlimm aus, das nun in allen Farben wie ein Regenbogen schimmerte. Wir frühstückten ausgiebig auf der Terrasse, für den Wintergarten war es zu tropisch. Die Mittagssonne war kräftig und hatte unseren Platz schnell aufgeheizt, sodass wir beide einen Sonnenschirm aufstellten, um unter dem Schatten fertig zu frühstücken und meine zweite Tasse Kaffee zu trinken – ohne Milch. Dies hatte ich mir schnell wieder abgewöhnt, als mein Gewicht einigermaßen stimmte. Lange hielt es uns aber nicht draußen. Und ich räumte alleine das Geschirr rein, und den übrig gebliebenen Wurst- und Käseaufschnitt. Carsten hatte mir helfen wollen, aber ich ließ ihn nicht und hatte ihm Schonung verordnet. In der Küche wickelte ich alles in Folie und stellte es in den Kühlschrank, während Carsten im Wohnzimmer saß und auf mich wartete. Ich schleppte ein Problem mit mir herum – Darian! Tief atmete ich durch, als die Küche aufgeräumt war und ich mich ins Wohnzimmer begab. Carsten lächelte mich an und ich lächelte zurück, verstand aber nicht, was er wollte, als er aufstand. „Bleib ...“ Er winkte ab und kam zu mir. Fragend sah ich ihn an. „Nur für dich“, meinte er zärtlich und schritt auf das Piano zu. Nur für mich? Dann begriff ich, was er vorhatte und lächelte, als er sich auf den Klavierhocker setzte, die Klappe öffnete und mir dann Stücke von Bach vorspielte, während ich genüsslich auf dem Sofa Platz nahm und ihn liebevoll betrachtete, wie er mehr und mehr mit seinen Stücken verschmolz. Seine Gesichtszüge sahen dabei entspannt aus. Auch wenn er wirklich schlimm aussah, lag eine gewisse Zufriedenheit in den Zügen. Andächtig lauschte ich verträumt jedem seiner hervorgezauberten Klängen, war entzückt darüber, dass ich im Gegensatz zu früher so viel für klassische Musik übrig hatte. Carsten konnte fantastisch spielen und seine Hände waren für mich purer Zauber, alleine nur der Gedanke, wie sie mich berührten, streichelten. Einfach alles an ihm war von heilender Wirkung. Ein dunkler Schatten huschte in meine Gedanken, denn Darians Anruf stand mir noch bevor. Ich hatte letztendlich Carsten doch noch dazu bringen können, mir endlich die Telefonnummer zu geben, wenn auch mit reichlichem Widerstand von seiner Seite, hatte er mir unter meinen bittenden Blicken nachgegeben. Die letzten Töne waren verklungen, und Carsten stand auf und kam zu mir, setzte sich neben mich. Lange sahen wir uns einfach schweigend in die Augen. Eine stille Übereinkunft fand zwischen uns statt. Vorsichtig nahm ich sein Gesicht zwischen meine Hände. „Ich rufe ihn jetzt an.“     ©Randy D. Avies 2012  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)