Bruderliebe von randydavies ================================================================================ Kapitel 26: ------------ ~°~26~°~     Die vier Jahre Trennung waren wie weggeblasen, als ob der Tempus der Gezeiten dazwischen keinerlei Bedeutung mehr hatte und die Zeit auf der Hütte, die Wanderung in den Bergen – sie fühlten sich für mich an, als ob es erst gestern gewesen wäre. Ja, die Jahre waren vergangen und hatten Spuren hinterlassen. Schmerzlich erinnerte ich mich an meine Flucht. Ein langes Jahr, wo ich innerlich wie tot gewesen war. In dem ich wie ein Zombie umher wandelte, durch die Straßen streifte – ohne Sinn und Verstand, bis mich Carsten rettete, und nun das hier. Jetzt, wo ich es geschafft hatte, losgelassen hatte, tauchte Darian auf. Einfach so. Und was machte ich? Ich stand da und konnte nur in die grünen Augen meines Bruders stieren, der wie ich zu einer Salzsäule erstarrt war. Oh, seine wundervollen Augen. Wie hatte ich sie einst so sehr geliebt, alles an ihm geliebt, aber gerade diese Augen waren immer was ganz besonderes für mich gewesen. Sie konnten einem bis ganz tief in die Seele blicken – so wie jetzt. Mein Herz zog sich bei diesem Anblick so fest zusammen, dass ich meinte, innerlich erdrückt zu werden. Unbewusst griff ich mir an die Brust, riss meinen Blick von seinen Augen und scannte ihn schließlich wie eine Ware. Mein Bruder sah verändert aus. Er sah viel besser aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Die Haare trug er lang und zu einem Zopf gebunden. Seine Kleidung, ein dunkler Anzug – im Armani Stil, unterstrich sein edles Erscheinungsbild, was auch sein sonnengebräuntes Gesicht besser zur Geltung brachte. Und doch … irgendetwas störte mich an dem Bild, was sich mir präsentierte, nämlich, Darian, mit einem Mann so zu sehen. Miguel und er hatten sich im Arm, waren sehr vertraut miteinander. Mein Bruder war nicht nur ein Freund für ihn, er war sein Freund – sein Partner. Aber als Darian spürte, wie ich ihn weiterhin anstarrte, nahm er seinen Arm vom Südländer herunter. Miguel schien im ersten Moment irritiert darüber, sagte aber nichts, was mich mehr als erstaunte. Die Situation war grotesk. Doch darauf nahm ich keine Rücksicht. Fassungslos und geschockt begriff ich nur sehr langsam die Gegebenheit. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Warum tauchte Darian wie aus dem Nichts hier auf? Und ausgerechnet auf dieser Hochzeit. München lag nicht neben Hamburg. Mir stellte sich zudem die Frage: Was machte er überhaupt hier – an der Ostsee? Wo war Stefanie? Meine Gedanken wurden wirr. Weiß Darian, dass ich mit einem Mann geschlafen habe? Hatte er gespürt, dass ich davor mit Carsten geschlafen hatte, dass ich zugelassen hatte, dass ein anderer mich nehmen durfte? Mich, seinen Bruder. Die Hirngespinste blieben. Die Zeit schien still zu stehen, in denen sich kein Lüftchen regte, sich kein Laut an mein Ohr schlich. Ich nahm nichts mehr um mich herum war - außer ihn. Miguel schien was zu sagen, doch hörte ich seine Worte nicht. Ich registrierte meine Umgebung erst wieder, als Carsten sich zu uns gesellte und ich seine warme Hand auf meiner Schulter spürte. Erst dann war ich zusammengezuckt und merkte, wie ich immer noch zu dem Mann starrte, der mein Bruder war. Waren nur Minuten vergangen? „Jaden, geht’s dir nicht gut? Du siehst blass aus. Hast du dir doch einen Sonnenstich geholt?“ Carsten sah besorgt aus, befühlte meine Stirn und runzelte dabei seine. „Du bist aber nicht warm, eher kühl, komisch?“, wunderte er sich nun. Ich rührte mich immer noch nicht von der Stelle. Alles war so unwirklich wie in einem Traum, in dem man sich selbst nicht kontrollieren konnte. „Doch“, antwortete ich mechanisch, merkte jedoch nicht, dass meine Antwort nicht passte. Mein Partner sah mich ernst an, dann aber begrüßte er Miguel und Darian, die er nicht stehen lassen wollte. „Schön, dass du kommen konntest, Miguel – und mit Begleitung. Freut mich, dass es mit Ihnen aufwärtsgeht.“ Mit Ihnen aufwärtsgeht? Wie war das möglich? Carsten sprach, als ob er und Darian sich schon einmal begegnet waren. Ein Teil meiner lahmgelegten Synapsen begannen wieder zu funktionieren, sendeten Stromwellen durch einzelne Kanäle des Gehirns. Derweilen gaben sich Darian und Carsten freundlich die Hand. Sie lächelten, wenn auch auf Darians ein Schatten lag, wie ich sofort registrierte. Dennoch befremdete mich die vertraute Geste weiterhin. Ich schaute von Carsten zu meinem Bruder. Miguel nahm ich schon nicht mehr wahr. Aber Darian war sichtlich von meinem Erscheinen verwirrt, denn er blickte nervös in meine Richtung. Endlich löste sich meine Starre und eine Wut rückte an deren Stelle, wo vorher Unsicherheit und Verwirrung herrschten. Ich konnte dieser Szene nicht mehr beiwohnen, drehte mich um und rannte einfach drauf los, ließ die Drei geradewegs stehen. Da ich einen Rock anhatte, konnte ich nicht so schnell rennen, als wenn ich Hosen angehabt hätte, doch gab ich mein Bestes. Ich hob den Rock hoch und dann konnte ich meine Geschwindigkeit beschleunigen. Wohin ich lief, wusste ich nicht. Einfach nur das Weite suchen, das war mein Ziel. So viel Abstand wie möglich zu Darian schaffen. Ich hörte die Rufe von Carsten, die ich ignorierte. Rannte weiter, als ob der leibhaftige Teufel hinter mir her wäre, so schnell, bis mir die Lunge schmerzte, dann erst kam ich an einer abgesperrten Mauer zum Halten, um meine Lunge zu beruhigen, Luft zu holen und Sauerstoff zu tanken. Schmerz, Wut und Verzweiflung, die ganzen Jahre waren sie schön im Verborgenen geblieben, sie kamen wieder zurück. Und ich hatte gedacht, es wäre vorbei gewesen. Ich hatte mir wirklich etwas vorgemacht. In dem Sinne hatte ich Carsten und auch mich betrogen. An der Mauer angelehnt versuchte ich zu verstehen, was passiert war, dabei hörte ich Schritte. Carsten? Ich drehte mich um und blickte in die Augen von Darian. Der Zorn, die unbändige Wut auf ihn, sie kam unaufhaltsam und schwappte schier über. So laut, wie ich konnte, so böse, wie ich nur wirken konnte, schleuderte ich meinen Hass auf ihn: „Hau ab, lass mich in Ruhe.“ Ich war außer mir vor Zorn. „Ich hab nach dir gesucht, doch ich wusste nicht wo und wie ich dich finden konnte, dass du auf dieser Hochzeit sein würdest, hätte ich mir niemals träumen lassen?“ Seine Stimme klang ruhig, doch in seinem Gesicht spiegelten sich ebenfalls die Emotionen ab. Ich aber hörte in meinem Kopf nur einen Satz: „Du bist nur ein Loch.“ Schmerzlich wusste ich wieder, wie er mich genannt hatte. „Gesucht? Mich, das Loch etwa?“ „Wieso sagst du so etwas?“ Darian war sichtlich über meine Wortwahl schockiert, denn er sah mich erschrocken an. Doch war es mir egal, wie er sich fühlte, ich wollte ihn nicht schonen. „Wieso? Ich war doch nur das Loch? Das Arschloch. Löcher sucht man nicht, die stopft man nur, nicht wahr …“ „Jaden, hör auf.“ Die Stimme meines Bruders klang verletzt und beinahe weinerlich, doch ich sah und nahm in meiner Wut nichts davon auf. Ich nahm keine Rücksicht darauf. „Nein, werde ich nicht! Und du hörst auf, mich so zu nennen. Nenne mich nie mehr bei meinem Namen. Das hast du sonst nie.“ Mir kamen die Tränen. Verzweifelt versuchte ich, nicht vor Darian wie ein verheulter Trottel auszusehen, doch meine Wimperntusche hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie war nicht wasserfest und so verschwamm sie vor meinen Augen und ich sah nur noch einen Grauschleier vor mir. „Du bist … du warst es nie. Du bist doch mein Bruder …“, stammelte er, völlig entgeistert. „Was? Auf einmal? Dein Bruder, nein, der ist vor vier Jahren in den Bergen auf einer beschissenen Hütte gestorben, nachdem du ihn gevögelt hattest. Amen!“ Lass nicht zu, dass er dir wehtut. Ich rief es mir immer wieder ins Gedächtnis. Wo war Carsten, Carsten, mein Halt, mein Retter, mein Engel? Ich wollte an Darian vorbeigehen, wollte sein Gesicht nicht mehr sehen, wollte nicht zulassen, dass er mir nicht egal war, dass er so wunderschön aussah, dass es mich schier zerriss, doch er hielt mich auf. Er hatte mich am linken Arm gepackt. Ich drehte mich brüskiert um, auch wenn die Berührung mir fast alle Sinne raubte. „Lass los! Lass! Sofort! Los!“ Darian ließ mich augenblicklich los. Die Freiheit darüber war für mich genauso frustrierend, hätte ich ihn so gerne gespürt, doch wollte ich ihn auch demütigen. Hass und Liebe waren vereint und wollten sich an ihm rächen. Ich wollte Rache, wollte ihm so wehtun, so, wie er mir damals wehgetan hatte. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, verschmierte damit mein schönes Make-up total. „Was sagt denn deine Stefanie dazu? Bist ja sehr vertraut mit Miguel.“ Ob ich wollte oder nicht, meine scheiß Eifersucht, sie kam zu einem wirklich ungünstigen Zeitpunkt zu mir zurück. Ich hasste mich dafür, dass ich noch so viele Gefühle für ihn hatte, doch wollte ich sie nicht zulassen. Abstellen ging aber auch nicht. Nicht noch einmal, bitte, ich bin mit Carsten zusammen. „Sie weiß es.“ Sie wusste es? Was wusste sie? „Was weiß sie?“ „Sie weiß es eben. Du hast mich im Übrigen damals bestohlen.“ Er blieb außergewöhnlich ruhig, zu ruhig für meinen Geschmack. Was wurde hier eigentlich gespielt? „Das war für den Schmerz, Bruder.“ Ich spie die Worte wie Giftpfeile auf ihn ab, um ihn mitten ins Herz zu treffen. Er sollte genauso leiden wie ich. „Es tut mir …“ Ich schnitt ihm ins Wort: „Nein! Ich will es nicht hören! Dafür ist es zu spät!“ Ich ging einen Schritt zurück, ließ aber meinen Bruder nicht aus den Augen, der mir geknickt zusah, wie ich einen Fuß nach dem anderen zurücksetzte. Ich merkte, dass er mir nicht folgte. Gut so! Als ich mich umdrehen wollte, lief ich direkt in Carsten hinein. Er nahm mich sofort in den Arm, doch ich stieß ihn von mir. „Jaden, geht es dir gut?“ Carsten sah mich völlig perplex an. Hilflos glitten seine Hände an mir runter, als ich ihm kopfschüttelnd vermittelte, dass ich keine Berührungen wollte. „Jaden, es tut mir leid“, hörte ich meinen Bruder zwischendrin sagen, der nun an uns herangetreten war. „Halt einfach deine blöde Fresse, Bruder“, fauchte ich zurück. Carstens Augen wurden größer, doch schien er noch nicht ganz die Verbindung zwischen mir und Darian zu verstehen. „Was ist denn hier los?“ Doch dann ging ihm ein Licht auf. „Dein Bruder? Ich verstehe nicht so ganz …“ Mir selbst wurde zu spät bewusst, dass ich damit Carsten meinen Vergewaltiger präsentiert hatte. Ich dachte kurz nach. Dann entschied ich mich, Carsten alles zu sagen. Wenn auch nicht auf eine schöne Art und Weise. Ich war so wütend, gleichzeitig aber auch mit meinen Nerven völlig am Ende. „Ob es mir gut geht? Machst du Witze, Carsten? Ihm …“, ich deutete auf Darian, der mich sprachlos anschaute, “… habe ich all das zu verdanken. Ach, darf ich dir meinen beschissenen Bruder vorstellen: Das hier!, ist mein Bruder, Darian. Der Darian, der mir das alles angetan hat.“ Ich hatte auf mich gezeigt und stolzierte dann an Carsten vorbei, dabei rempelte ich ihn ausversehen an der Schulter an. Carsten blieb wie versteinert stehen. Wütend stampfte ich davon, ließ beide einfach zurück. Meine Gefühle fuhren wieder Achterbahn, die so schön seit drei Jahren geschlummert hatten. Und noch etwas ärgerte mich ungemein, ich hatte die gleichen Gefühle wie damals für diesen miesen Bastard. Das hatte Carsten nicht verdient. Nein, das hatte er wirklich nicht verdient. Ich durfte meine erneuten Gefühle für Darian nicht zulassen. Carsten war meine Zukunft. Ja, er war meine Zukunft und sollte es auch weiterhin bleiben.     ©Randy D. Avies 2012 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)