Bruderliebe von randydavies ================================================================================ Kapitel 9: ----------- ~°~9~°~     Irritiert schlug ich die Augen auf. Der Schnee war mittlerweile in Regen übergegangen und prasselte zusammen mit dem eisigen Wind vermischt weiterhin auf mich herab. Was ist passiert? Ich war inzwischen völlig durchnässt, doch lag ich nicht wie erwartet in den Fluten und kämpfte mit dem Tod, sondern wurde von zwei starken Händen festgehalten. Mir wurde langsam bewusst, was passiert war: Man hatte mich gerettet. Über diese Erkenntnis zuckte ich erschrocken zusammen, auch weil ich angesprochen wurde. „Um Himmels willen, was machen Sie denn für Sachen?“ Eine kräftige, männliche, tiefe Stimme, mit einer Spur von Panik gewürzt, aber akzentfrei, drang in mein Bewusstsein ein. Ich klapperte am ganzen Körper, war einem Kollaps nahe. Ich war mir sicher gewesen, alleine auf der Brücke gestanden zu haben. Doch bevor ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, spürte ich, wie ich über das Geländer – auf die sichere Seite - gezogen wurde. Von meiner Seite kam keine Gegenwehr, war ich noch viel zu geschockt darüber und begriff erst nach und nach die Situation. Zudem, ein Handtuch, wie ich eines war, hätte jeder halbwegs kräftige Kerl mich hochheben und rüberziehen können. Ich spürte seine starken Arme, die um meinen Körper geschlungen waren und mich weiterhin festhielten. Die erste Berührung, seit Darian, kam mir dabei in den Sinn. Was gibt es Schlimmeres, als zu überleben? Nur wegen dir. Ich kann deinen Hass nicht ertragen, Darian! Und warum nicht? Viele Gedanken, zum Teil wirre, die mit Darians Stimme gespickt waren, spukten in meinem Kopf herum und schimpften auf mich ein. Doch ganz nebenbei schlich sich eine fremde Stimme in mein Denkzentrum und gewann die Oberhand. „Ich bringe Sie in ein Krankenhaus. Sie stehen noch unter Schock. Können Sie überhaupt alleine stehen? – Sagen Sie doch etwas? Ich hole Hilfe!“ Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich brachte keinen einzigen Ton über die Lippen. Alles war für mich so unwirklich: Irreal! Die Rettung! Er! Mein Retter ließ mich los, spürte aber sofort, wie wackelig ich auf den Beinen war, und hielt mich dann mit einer Hand am Rücken fest, sodass ich nicht umfallen konnte. Ich spürte die Kraft, die von seiner Hand ausging. Der Laternenmast in meiner unmittelbaren Nähe war eine zusätzliche Stütze, an der ich mich mit beiden Händen festhalten konnte, was ich dann auch tat. Auch wenn ich meine Finger wegen der Kälte nicht spürte, hielt ich mich eisern fest. „Sie müssen in ein Krankenhaus!“ Wieder diese Stimme, die mir helfen wollte. Krankenhaus? Ich will in kein Krankenhaus. Nein, nicht dorthin. Ich wollte nicht. Nein! Mir fehlte körperlich nicht wirklich etwas, abgesehen von meiner Psyche und dass ich etwas ausgemergelt aussah. Dies hatte jedoch einen Grund und der hieß: Darian. Und in eine Zwangsjacke wollte ich auch nicht. Jeder Suizidgefährdete würde in einem Krankenhaus in so einer enden. Was ich wollte: Ich wollte einfach nur sterben. Ja, das war mein Bestreben – mein Ziel. Ich drehte meinen Kopf zu der Person, mit dieser Stimme. Nur einen Fixpunkt vor mir, ohne zu wissen, was ich tatsächlich sehe. Die ganze Zeit über hatte ich ihn nicht wirklich wahrgenommen, nicht angesehen. Meine Augen waren noch unscharf wie bei einer Lupe, doch allmählich klärte sich die Sicht. Ich wusste nicht, wie der Mann vor mir überhaupt aussah. Also sah ich ihn richtig an. Durch den Schneeregen waren seine Haare ebenso durchnässt wie meine. Sie klebten wie eine zweite Haut an seinem Kopf, hingen ihm aber nicht strähnig herunter oder verdeckten die Augen, wie es bei mir zum Teil der Fall war. Er hatte kurze Haare. Doch konnte ich die Haarfarbe nicht hundertprozentig erkennen. Es war zu dunkel dafür. Warum war das so wichtig wie er aussah? Warum? „Können Sie mich überhaupt verstehen?“, fragte er weiter. Dann nahm ich mich endlich zusammen und ich nickte mechanisch. Registrierte dennoch nebenbei, wie er kopfschüttelnd ein Handy hervorholte, während ich mich kraftlos an die Laterne angelehnt hatte und nach einer Lösung suchte, wie ich mich aus der Situation herausretten konnte. Der Mann war tatsächlich im Begriff, Hilfe zu holen, also musste ich handeln und schritt dazwischen. Ich versuchte einen gefestigteren Eindruck zu machen, in dem ich nun alleine vor ihm stand, ohne mich weiter am Mast anzulehnen. Meine Beine drohten abzuknicken, doch schaffte ich es irgendwie, stehen zu bleiben, während ich ihn endlich ansprach. „Bitte nicht, ich will in kein Krankenhaus. Bitte, ich will nicht dorthin. Man wird mich einweisen.“ Ich bettelte den Mann regelrecht an, spürte aber, wie er mit sich rang und ich geriet in Panik, als ich weiter versuchte, ihn davon abzubringen und das Gefühl hatte, es nicht zu schaffen. Schließlich brach ich in Tränen aus. Und als mir zusätzlich bewusst wurde, dass mein Selbstmordversuch total gescheitert war, schlug meine Panik rasch in eine Wut um. Den Zorn, der sich das ganze Jahr über angestaut hatte, erwachte zum Leben und kam nun ungefiltert an die Oberfläche. Ob ich wollte oder nicht, ließ ich es an dem Mann aus, der mich eigentlich gerettet hatte. Obwohl er nichts für meine Situation konnte, war ich ihm für die Rettungsaktion böse. „Warum haben Sie mich nicht sterben lassen? Warum muss jeder denken, es wäre gut, weiterleben zu wollen, in dem man sich einmischt? Es macht keinen Sinn, den Samariter zu spielen, wenn man einfach nicht mehr will und kann. Es ist eine pure Qual, eine schreckliche Hölle, in der ich mich befinde.“ Ich weinte, war völlig neben der Spur. „Ich kann so nicht mehr weiterleben, mein Leben hat keinen Sinn. Es macht keinen Nutzen. Mir ist dadurch nicht geholfen. Kapier es doch!“ Stellenweise hatte ich den Fremden angeschrien, während ich mich wieder am Laternenmast festhalten musste. „Ich will nicht mehr … Hau ab, geh weg …“ Was ich ihm im Endeffekt tatsächlich alles an den Kopf geworfen hatte, wusste ich selbst nicht mehr genau. Und irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich hatte aufgehört zu brüllen und zum Schluss den Laternenmast komplett umarmt, mein Gesicht an die raue Metalloberfläche gedrückt, während meine Tränen langsam versiegten und mein Gesicht trotzdem nicht trocknete, da Regen und Schnee die Tränen ersetzten. Doch anstatt mit mir zu schimpfen, oder mich links liegen zu lassen, wurde ich von ihm in die Arme gezogen. Er umarmte mich, einfach so! Anfangs ließ ich es zu, drückte mich sogar automatisch an ihn. Dann aber übermannte mich die Angst, ich versteifte mich und versuchte mich aus der Umarmung zu befreien. „Nicht, tun Sie mir nichts“, stammelte ich, als ich weiterhin festgehalten wurde. Die Panik, geschlagen zu werden, nahm überhand. Es war paradox, aber ich sah auf einmal Darian vor mir, wie er mich aus seinen kalten grünen Augen herablassend ansah. Mich verurteilte für die verbotenen Gefühle, die ich hegte, für die Liebe zum gleichen Geschlecht. Der Fremde spürte mein Unbehagen überdeutlich und ließ mich nun los. Er entfernte sich aber nicht von mir, als wenn er Angst hatte, ich würde mich umdrehen, um meine Tat zu vollenden, wovor er mich gerettet hatte: nämlich ins Wasser zu springen. „Keine Ahnung, was mit Ihnen wirklich ist und wer Ihnen solch ein Leid zufügte, dass sie in dem Alter nicht mehr wollen, aber so einfach kann ich Sie nicht zurücklassen. Auf keinen Fall. So nicht!“ Die Stimme klang ruhig und einfühlsam, aber bestimmend. „Wenn Sie nicht in ein Krankenhaus wollen, dann kommen Sie bitte mit mir mit. Wobei mir das Erstere lieber wäre. Sie sind beileibe in keiner guten Verfassung.“ Konnte ich ihm vertrauen? Konnte ich einfach so mit ihm gehen? Ich sah ihn an. Er schaute mich an. Lange sahen wir uns in die Augen, in denen wirklich nichts Böses lag. Hatte er grüne oder blaue Augen? Ich konnte es bei dem Licht nicht richtig erkennen. Doch sprachen aus ihnen tatsächlich Wärme und Hilfsbereitschaft. Ich sah ihn mir genauer an. Er hatte einen langen Mantel an und war größer als ich. Einsachtzig, vielleicht auch mehr. Ich war so durcheinander, wusste nicht, was ich machen sollte. „Und wenn ich einfach nicht mehr leben möchte, nicht mehr kann?“, startete ich den letzten, eher kläglichen Versuch, ihn davon zu überzeugen, mich einfach gehen zu lassen. Wusste aber im Gegenzug, dass ich von einem Mann, der mir gerade das Leben gerettet hatte, nicht erwarten konnte, dass er die Augen verschloss und sich einfach umdrehte und verschwinden würde, als wenn niemals etwas passiert wäre. „Sie sind noch jung. Es gibt immer einen Ausweg.“ Mit dieser Antwort hatte ich gerechnet. Ich schüttelte verneinend den Kopf. Weitere Tränen liefen stumm die nassen Wangen herunter. Der Schneeregen war inzwischen wieder in Schnee übergegangen. Die Straße begann weiß zu werden. „Egal, was Sie dazu bewogen hatte. Geben Sie mir eine Chance, Ihnen zu beweisen, dass es auch schöne Dinge im Leben gibt.“ Er bot mir seine Hand. „Bitte! Kommen Sie mit mir mit. Ich will Ihnen nichts Böses antun. Hätte ich Sie sonst gerettet, wenn ich Ihnen wehtun wollte? Es wäre eine Chance für Sie. Nutzen Sie sie!“ Eine zweite Chance? Sollte ich sie wirklich nutzen – ergreifen? Immer noch herrschte das reine Chaos in meinem Kopf. „Wie heißen Sie?“, fragte er mich, als er merkte, dass er auf der Schiene bei mir nicht weiterkam. Mein Gefühl, das er mit Leuten umgehen konnte, bestärkte sich. Die Art, wie er mit mir redete, so sanft, so beruhigend, nicht ärgerlich oder gar nervend, war für mich ausschlaggebend, ihm doch zu vertrauen, aber noch haderte ich mit mir. Dann aber gab ich schließlich nach und verriet ihm meinen Namen. „Jaden. Jaden Müller“, stellte ich mich mit leiser, dünner Stimme vor. „Jaden, was für ein schöner Name. Nehmen Sie meine Hand, Jaden. Ich möchte Ihnen wirklich helfen.“ Dabei sah er mir lange in die Augen, in denen ich mich verlor, weil sie so schön hell waren. Überhaupt hatte dieser Mann wunderschöne Augen. Dann gab ich mir einen Ruck. Die letzte Möglichkeit, mein Leben in den Griff zu bekommen. Den letzten rettenden Anker für mich und ich griff danach. Ich streckte meine dünne Hand langsam aus und nahm seine geduldig auf mich wartende. Er umschloss sofort die meine. Sie fühlte sich warm an, trotz der Kälte, und kräftig. Meine Hand verschwand komplett unter seinen Fingern. „Ich heiße übrigens Carsten. Carsten Engel“, stellte sich nun mein Retter ebenfalls vor.       ©Randy D. Avies 2012  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)