Secret von ellenchain (Bittere Geheimnisse) ================================================================================ Prolog: -------- Es war ein furchtbar verregneter Sommer. Schade eigentlich, denn es war mein letzter in Frankfurt. Die Schule beendet, Abitur in der Tasche, eine freie Zeit voller Langeweile. Man lebte einfach so in den Tag hinein, kam auf dumme Gedanken. Wie sollte man sein neues Zimmer gestalten? Neue Hanteln wären nicht schlecht. Vielleicht mal wieder auf H&M shoppen. Wie will ich mich ändern? Ab morgen nur noch gesunde Sachen! Und am Ende der Woche zum vierten Mal bei McDonalds gegessen. Morgens aufwachen, gegen 11 Uhr in den beschissenen Himmel schauen, der weder Sonne noch Helligkeit durchlässt. Langsam aufstehen, Cornflakes essen, an den Computer setzen und abends wieder ins Bett fallen, nachdem man sich die neuen Folgen von irgendeiner scheiß Sendung angesehen hat, die so realitätsfern ist, wie es nur sein kann. Wahre Liebe. Das erste, wunderschöne, romantische Mal. Die lustigen Menschen, die immer einen Witz parat haben. Schlagfertige Menschen, die immer einen Spruch reinzuwürgen haben. Menschen in Zombiefilmen, die nie Zombiefilme gesehen haben und deswegen von ihnen gefressen werden. Doktorfolgen von Doktoren, die alle selbst mal Patienten in der Schönheitschirurgie waren. Und so weiter und so weiter.   Aber das sollte ein Ende haben. Einschreibung in die Universität Münchens für Zahnmedizin. Seltsames Studium, seltsamer Beruf. Aber die Vorstellung gefiel mir, anderen im Mund zu stochern, während sie auf ihrem Stuhl krebsten und vor jeder meiner Bewegungen zuckten. Ich wurde auch tatsächlich angenommen, obwohl ich relativ weit über dem NC lag. Glück muss man auch mal haben. Und so packte ich die Sachen und verließ den furchtbaren Sommer in Frankfurt und zog in einen furchtbaren Herbst nach München. Die Jahreszeiten in Deutschland waren sowieso alle gleich: Verregnet. Da meine Eltern seit ich klein war geschieden lebten, war es eine umso schönere Sache nach München zu meiner Mutter zu ziehen. Er: Ständig unter Stress von der Arbeit, Kollegen, Haushalt, Katzen. Ja, unsere Katzen machten ihm Stress. Er ging so weit, dass er ihnen Fischstäbchen machte, die Panade abpellte, sie in Wasser legte und ihnen vorsetzte, weil die Katzen das so mögen. Das Katzenfutter wurde natürlich nicht nach Preis oder Belieben gekauft, sondern nach Geschmack, den die Katzen gerade hatten. Grundsätzlich gab es sechs Mal am Tag etwas zu essen für sie. Wahre Götter mussten sie für ihn sein, dass er sogar mehrmals nachts aufstand, um sie die Haustür rein und wieder rauszulassen. Wahre Götter. Sie: Eine etwas rundlichere Frau, trotzdem stets nett und für einen Spaß bereit. Manchmal etwas zynisch vom Stress in der Arbeit, aber an sich ausgeglichen. Keine Götter im Haushalt.   Traurig an dem Ganzen: Ich kannte niemanden. Außer eine alte Freundin aus Bad Soden, die jetzt in München wohnte, Felicitas. Aber niemand, der mit mir zur Uni fahren würde. Es war ein Neustart und hey, viele Studenten kennen kaum Leute, weil sie aus anderen Städten kamen. Es kann also nur gut werden! In Freunde finden war ich … ziemlich übel. Aber man kann sich ja ändern. Oder es zumindest versuchen. Um sich kurz vorzustellen: Mein einziges Talent war Zeichnen. Und das nicht mal gut, aber immerhin ein Talent. Mehr tat ich im Grunde auch nicht. Sport war Mord, wortwörtlich. Ich wäre der einzige mit gebrochenem Fuß bei einem Schachspiel. Denn ich schaffe alles, nur anders. Groß war ich auch nicht sonderlich. Vielleicht 1,75 m. Oder 1,77 m.  Allerdings erkannte man mich immer mit meinen roten Haaren. Gefärbt natürlich, so besonders war ich dann nun auch wieder nicht. Tätowiert war ich. Und nicht wenig; irgendwie muss man ja seine Lebensgeschichte erzählen. Aber stets an Stellen, die ich gut verstecken konnte. Man will sich ja weiterhin der Gesellschaft anpassen und ja nicht auffallen. Sondern nur dann, wenn es erwünscht ist. Also bei Festivals oder Hausparties. Und wenn ich mich so jemandem beschreiben würde, der mich nicht kennt, niemals gesehen hat und sich auch sonst nichts unter mir und meinem Körper und Charakter vorstellen kann, würde auf anhieb sagen: 'Klingt aber doch nach einem netten Mädchen. Sie hat ihre stärken und ihre Schwächen, hat sicherlich einen zurückhaltenden Charakter, aber trotzdem eine gewisse Ausstrahlung. Und hey, rote Haare klingt hübsch! Was zeichnest du denn so?'   Mein Name ist jedoch Constantin May und bin 19 Jahre alt. Im März 20. Ein schlag ins Gesicht ist kein Vergleich zu der ständigen Anmaßung mancher Leute, die meinen, in mir eine Frau zu sehen. Ich gebe zu, einen gewissen Touch habe ich. Schuld daran ist meine Mutter, die lieber ein Mädchen geboren hätte. Hat sie aber nicht, der Versuch blieb trotzdem nicht aus, aus mir ein Mädchen zu machen. Natürlich ist es auch vorteilhaft, wenn man nach der Mode geht, sich für andere interessiert und nicht nur Fußball guckt und Bier trinkt. Ich gebe auch ungeschoren zu, dass ich nie versucht habe 'männlicher' zu wirken. Ich fühlte mich wohl dabei, viel mit anderen Frauen zu unternehmen, da die mich akzeptierten, wie ich war. Aber eben nicht andere Männer, die nichts besseres zu tun hatten, als mich "schwul" und "weibisch" zu nennen. Immerhin hatte ich auch schon zwei Freundinnen, nix mit schwul. Eine Beziehung hielt sogar knapp ein Jahr! ...Ich bin keine Frau. Nur weil ich nicht emotional abgestumpft bin und alles um mich herum ausblende.   Der Umzug ging relativ schnell von statten. Ich mietete einen Kleintransporter und fuhr in den Süden. Angekommen in meinem Zimmer in der relativ großen drei Zimmer Wohnung am Stadtrand von München, packte ich die wichtigsten Dinge aus den Kartons. Meine Mutter half mir etwas, der Kleinkram blieb jedoch an mir hängen. Umzüge waren furchtbar anstrengend und ich beneidete alle, die dafür jemanden engagieren konnten. Geldprobleme hatten wir keines Falls, aber für ein Leben in Rauschzuständen reichte es eben nicht. Zumal schon mal gar nicht in München. Ein Nebenjob musste sein, zudem die Studiengebühren noch existierten und meine Eltern gewiss nicht alles finanzieren konnten und sollten. Schlimm genug, dass ich bei meiner Mutter leben sollte. Zumindest für die nächsten 2-3 Jahre, bis ich Halt gefunden hatte.   Die Nacht vor dem ersten Tag ist wie die Nacht vor einer furchtbaren Klausur, für die man nicht gelernt hatte. Unbrauchbar für Ruhe und Entspannung. Mit Augenringen und einem Puls von 120 stand ich in der fahrenden U-Bahn. Vollkommen überfüllt. Und zwei Stationen vor meiner Haltestelle füllte sie sich um gefühlte weitere tausend Menschen. Fehlten nur noch die Türquetscher wie in Japan. Zum Glück stand ich direkt neben einer Tür, sodass der Schwall der Menschen an mir vorbei ging und mich nicht großartig tangierte. Trotzdem blieben Gerüche und Geschnatter unangenehm an mir haften.   Von weitem rannte ein blondes Mädchen auf die U-Bahn zu. Sie steuerte die Tür an, an der ich stand. Mit einer Hand griff ich noch in die zugehende Tür und bereute es schon, weil meine Finger etwas eingeklemmt wurden. Doch dann ging sie wieder auf und das Mädchen stieg ein. Völlig außer Atem lächelte sie mir zu und hauchte ein »Dankeschön«. Ich lächelte müde zurück und widmete mich wieder dem musikalisch unterlegten Geschreie, welches aus meinen iPod Kopfhörern kam. Einmal am Tag sollte man ja eine gute Tat vollbringen. Das war's, ab jetzt durfte ich wieder asozial sein. Sie beachtete mich ebenfalls nicht weiter und tippte auf ihrem Smartphone. Sie war knapp einen Kopf kleiner als ich und erst beim zweiten Hinsehen sah sie doch ganz nett aus. Ihre blonden Haare waren zwar gefärbt, aber passten zu ihrer hellen Haut. Die schwarzen Fingernägel und ihr auch sonst rockiges Aussehen versprachen wenigstens guten Musikgeschmack. Oder Modegeschmack. Da fühlte ich mich schon gleich neutral in meiner schwarzen Lederjacke und der dunkelblauen Jeans. Aber für den ersten Tag wollte ich nicht gleich meinen eigentlichen Stil raushängen lassen. Nieten, Totenköpfe und viel Leder war nicht jedermanns Sache. Man will sich ja 'anpassen'. Besagtes Mädchen stieg sogar mit mir aus der U-Bahn, so wie die restlichen tausend Leute. Eine leere U-Bahn fuhr ihre Wege. Ich folgte einfach der Beschilderung, trotzdem ich den Weg schon vorher ein paar Mal abgelaufen war. Unbewusst folgte ich auch dem Mädchen. Mit schnellen Schritten steuerte sie den Campus an. Überall waren Studenten. Aber noch nicht so viele, wie gedacht. Der medizinische Komplex stand relativ weit Außerhalb. Allerdings hatte ich erstaunlich viele Kurse in der Innenstadt, also am Haupt-Campus. Der war wesentlich größer und verwinkelter, sodass ich ewig brauchte, um überhaupt das richtige Gebäude für meine Einführungsveranstaltung zu finden.   Ich folgte weiterhin dem Mädchen, bis sie in eine Richtung abbog, die ich nicht einschlagen wollte, da sie nicht zu meinem Komplex führte. Schade, dachte ich. Da hätte ich schon mal jemanden gefunden, aber was soll's. Doch im nächsten Moment erschien sie wieder mit ihrem Handy am Ohr. Wahrscheinlich suchte sie einen Freund oder eine Freundin. Wie schön für sie, dass sie schon jemanden kannte. Das musste ich noch durchstehen. Aber meine Mutter sagte, das geht schneller als man denkt. Für eine extrovertierte, lustige Frau, die schon ein freundliches Erscheinungsbild hat, vielleicht. Aber für einen schüchternen, zurückgezogenen, dünnen jungen Mann eher nicht. Aber genug, dachte ich mir, heute steige ich aus der Wanne Selbstmitleid aus und packe die Sache mal anders an. Innerlich war mir klar, dass 'anders' so gut wie 'gleich' heißen würde. Das war wie mit der gesunden Ernährung und McDonalds. Die Beschilderung war etwas verwirrend, aber letztendlich fand ich den Audimax, wo die Studenten begrüßt wurden. Wirklich viele unterschiedliche Menschen saßen mit mir in einem Raum und ich ließ den Blick schweifen. Da und dort gab es ein paar gutaussehende Mädchen, aber genauso auch die Schar gutaussehender Männer, die die Mädchen schon anlächelten und wie in schlechten College-Filmen aus Amerika wahrscheinlich nach der Session zum Mittag einladen würden. Die Cheerleader und die Quarterbacks. Und der Loser aus der hinteren Reihe, der zu viel Filme gesehen hat. Die Einführung war eine typische Einführung. Nichts besonderes. Einschreiben, Klausuren, Seminare, Praktika, Veranstaltungen, Hausarbeiten und, und, und. Alles schön auf einem Collegeblock notiert. Nach circa einer halben Stunde Quasselei öffnete sich die Tür und zwei junge Männer stahlen sich in den Hörsaal. Sie kicherten und veranstalteten ziemlich Krach, obwohl sie anscheinend um Ruhe bemüht waren. Erst, als die beiden sich in mein Sichtfeld setzten, sah ich ihre Gesichter. Der eine, schwarze, längere Haare, hatte eine Nerdbrille auf, trug einen schwarz-roten Streifenpulli und war etwas schmächtiger als der andere. Dieser besaß kurze, braune Haare und hatte Tunnel; trug ein normales dunkelblaues Langarmshirt. Ich sah ein Tattoo im Nacken aufblitzen. Ein chinesisches Zeichen, nicht mein Fall, aber auf jeden Fall toll, dass es überhaupt Menschen wie mich gab. Nur sah ich an diesem Tag wirklich gar unscheinbar aus, sodass die Aufmerksamkeit der beiden Männer garantiert nicht auf mich fallen würde. Die beiden unterhielten sich angeregt, dann zückte der Brünette sein Handy und tippte drauf rum. Der andere ließ nun auch den Blick schweifen und beobachtete ein paar Mädchen in den vorderen Reihen, die sich wohl grade gefunden hatten und nun regen Austauschbedarf hatten. Ich überlegte schon tausend Möglichkeiten durch, wie ich die beiden am besten ansprechen würde. Nicht übercool, aber schon bestimmt. Nicht zu schüchtern, eher nett und freundlich. So wie die im Fernsehen. Nett lächeln, »Hey« sagen und an seiner Schultertasche spielen. Dabei die kleine Kniebewegung machen und schöne Augen machen. Wenn ich Brüste hätte, würde das bestimmt funktionieren. ... Schade.   Nach der Veranstaltung gab man uns eine Stunde Mittag. Danach würde die Kurseinteilung beginnen. Oder Einschreibung. Oder ich hatte mal wieder nicht zugehört, jedenfalls wusste ich, wann ich wieder da sein musste. Langsam schlurfte ich in Richtung Mensa und folgte den anderen Studenten. Dort war es relativ voll. Natürlich mussten sich die verschiedenen Studienkomplexe eine Mensa teilen. Dementsprechend groß war sie aber auch. Das Angebot war recht zufrieden stellend, trotzdem blieb ich bei einem Salat und etwas Joghurt. Großer Hunger kam bei mir nicht auf. Beim Bezahlen drängelten sich einige vor, aber ich ließ sie einfach. Bloß keinen Streit am ersten Tag anfangen. Das war jedenfalls meine Ausrede. So etwas passiert nämlich öfter. Und ich lasse es einfach geschehen. Wieso sollte ich mich auch beschweren? Die Leute fangen dann doch nur Streit an. Und da schweige ich lieber. Nachdem ich bezahlt hatte, stand ich, wie im Film, mitten in dem großen Gebäude und wusste nicht, wohin ich mich setzen sollte. Ein Tisch nahe der Fenster sah noch frei aus, also entschloss ich mich, diesen zu beschlagnahmen. Wenn jemand sich dazusetzen wollte, musste er mich fragen, ob noch frei wäre. Spätestens da käme man doch ins Gespräch, oder? Nur leider war das nicht so. Filme und Realität sind nun mal wirklich weit voneinander entfernt. Ein paar gackernde Hühner setzten sich einfach neben mich, ohne mich überhaupt zu beachten. Ihre Taschen belegten ungefähr 30% der Sitzflächen. Nichtsdestotrotz aß ich gemächlich meinen Salat. Langsam legte ich alles zur Seite, stand auf und riss dabei natürlich halb die Taschen der Weiber runter. Ich bekam einen unglaublich tödlichen Blick zugeworfen, der mich schnell weitergehen ließ. Wieso muss man auch die Tasche auf einen Sitz stellen? Da will doch noch jemand sitzen... Den unangenehmen Moment, der sich mit den anderen bisher unangenehmen Momenten vermischte und einen bitteren Beigeschmack bekam, versuchte ich so gut es ging runterzuschlucken und begab mich pünktlich zum Hörsaal. Als ich an den Türen vorbeiging, kamen mir auch die zwei Männer entgegen. Sie rochen nach Rauch. Oder zumindest der Brünette. Na ja, ich will keine Moralpredigten halten. Ein Gelegenheitsraucher sprach hier aus tiefster Seele. Am liebsten betrunken. Die beiden gingen schnellen Schrittes zum Hörsaal und setzten sich wieder auf ihre Plätze. Als ich zu meinem gehen wollte, saß da schon jemand anderes. Wie gemein, sich einfach woanders hinzusetzen. Die erste Reihe war noch frei, sonst nur noch vereinzelte Plätze. Nur, um nicht Jemanden fragen zu müssen, ob der Platz noch frei wäre, nahm ich die Qual der ersten Reihe auf mich. In der Schule war die erste Reihe nie ein Problem. Mit den richtigen Leuten war die sogar richtig lustig. Aber ohne irgendwelche Leute wurde mein Ego auf einmal ganz klein und ich wurde wie ich war: noch schüchterner.   Der einweisende Mann erklärte, erläuterte und wies auf vielerlei Dinge hin. Ich fühlte mich unwohl, alle Leute im Nacken sitzen zu haben, die mich anstarrten. Vorsichtig strich ich mir immer wieder über meine Ohren. Niemand sollte meine Piercings oder meine Tunnel sehen. Auch meine Tattoos sollten geheim bleiben, bis ich jemanden gefunden hatte. Wieso ich mir so was mache, wenn ich nicht dafür einstehe? Ich stehe dafür ein. Aber nicht in solchen Situationen, wenn ich nicht auffallen will. Nach gefühlten etlichen Stunden Einführung und Gerede wurden wir mit ein paar Infoblättern in die Freiheit entlassen. Enttäuscht ging ich alleine den Gang bis nach draußen entlang. Ich sah viele zusammen gehen. Innerlich seufzte ich. Erster Tag, Constantin. Erster Tag.   Zu Hause angekommen, fragte mich meine Mutter natürlich wie es war. Also erzählte ich alles in einer abgespeckten Version, wesentlich toller und freudebringender als ich es in Wirklichkeit empfunden hatte. Sogar von den zwei Jungs in meinem Alter, die wie ich aussahen. Oder zumindest den Anschein hatten. Wie eine Mutter natürlich ist, sprach sie mir Mut zu, dass ich die beiden doch einfach mal ansprechen sollte. Keine schlechte Idee, Mama, dachte ich, wäre da nicht mein Ego Problem. Aber warum nicht, immerhin wollte ich mich ändern. In der Nacht schlief ich zwar besser als zuvor, jedoch träumte ich von meinen beiden Kommilitonen. In meinem Traum waren sie sehr nett; hoffentlich waren sie das auch in der Realität.   Am nächsten Tag, den Platz fast erkämpft, stand ich wieder an der Tür, während der Rest sich weiter in die U-Bahn quetschte. Und an besagter Haltestelle stieg sogar wieder das Mädchen ein. Diesmal ohne Hektik und Stress, dafür aber in eine andere Tür. Schade, dachte ich, man hätte sie ja mal ansprechen können. Innerlich war ich natürlich froh, dass sie nicht zu mir kam, sonst hätte ich sie wirklich für mein Gewissen ansprechen müssen. Auf dem Unigelände war es vom Regen in der Nacht etwas matschig geworden. Ein kalter Wind wehte, sodass die Raucher dicht bedrängt vor dem Gebäude standen, um doch noch etwas Wärme von drinnen zu erhaschen. Bis zum Mittag geschah recht wenig. Die Vorlesungen waren nicht sehr spannend, da sie alle das von gestern Gesagte noch einmal wiederholten. Bis schließlich alle Studenten zum Essen entlassen wurden. Mensa, sichtlich überfüllt. Das gleiche Essen wie am Vortag, der selbe Tisch wie am Vortag. Aber dieses Mal ohne gackernde Hühner, deren Taschen mehr Plätze belegten als üblich. Da erspähte ich die beiden anderen Männer etwas weiter weg sitzen. Sie unterhielten sich, lachten, dann knuffte der Brünette den Schwarzhaarigen. Auf einmal kam ein weiteres bekanntes Gesicht dazu. Das Mädchen aus der U-Bahn setzte sich neben den Brünetten und küsste ihn kurz auf den Mund. Innerlich brach in mir ein etwas frustrierendes Gefühl aus. Dass hier anscheinend wirklich jeder jeden kannte und die zwei mir am auffallendsten Menschen ein Paar sind. Sie klammerte sich an ihren Freund ran und lachte mit den beiden. Gute Freunde. Toller Freundeskreis. Da hab ich keine Chance. Schnell steckte mir das letzte Salatblatt in den Mund und trank das Wasser aus. Langsam schlurfte ich ohne weitere Beachtung an den Dreien vorbei und stellte mein Tablett ab. Ich sah sie im Augenwinkel tuscheln. Ich mag so etwas nicht. Sowieso hatte ich das Gefühl jeder tuschelte über mich und mein Aussehen. Ja, ich sah weiblich aus. Ja, ich bin schmal für einen Mann. Ja, danke, ich weiß, dass ich nach Nichts und Niemanden aussah. Natürlich ist das absoluter Schwachsinn, wahrscheinlich bemerkte mich nicht mal jemand. Zurück zum Hörsaal.   Zu Hause, Geschichten für Mama erzählt, an den Computer, ins Bett. Aufgestanden, Mädchen an der U-Bahn gesehen, kein Kontakt. In der Uni gewesen, die drei in der Mensa gesehen, kein Kontakt. Die zwei Jungs in meinem Studiengang beim Rauchen draußen gesehen, kein Kontakt. Die drei auf dem Nachhauseweg, kein Kontakt. Zu Hause, erzählt, an den Computer, ins Bett. Wie schnell wieder Routine im Leben war. Kaum zu glauben, welch Ironie sich da breit machte.   Die Woche verging relativ schnell. Ich wurde da und dort mal von jemandem angelächelt, aber nichts weiter. Sogar das blonde U-Bahn-Mädchen lächelte mich einmal kurz an, als ich in der Mensa an den Dreien vorbeiging. Welch Erfolgserlebnis, es kann nur bergauf gehen. Am Wochenende traf ich mich mit meiner alten Bekanntschaft Feli. »Und? Wie ist es so in der Uni?«, fragte sie mich schon ungeduldig, während wir in einem belebten Café saßen und noch die letzten paar Sonnenstrahlen genossen. »Wie es nun mal ist. Uni eben«, gab ich knapp zurück und schlurfte an meiner Cola. »Das war's? Noch niemanden kennen gelernt? Irgendwelche interessanten Leute?« »Schon... da sind schon nette Leute, denke ich.« »Also noch niemanden angesprochen?« Ich schüttelte den Kopf und blickte zu ein paar Tauben, die sich am Platz der Synagoge tummelten. Feli seufzte laut und konnte nicht glauben, dass ich immer noch so war, wie sie mich in Erinnerung hatte. »Da musst du was tun, Consti. Dringend.« »Bitte nenn mich nicht 'Consti', das klingt doof ...« Sie hob eine Augenbraue und schlürfte dann von ihrem Latte Macchiato. »Ich sag ja nur, dass du dir mal jemanden anlächeln solltest. Mehr nicht. Du kannst dein Leben auch alleine verbringen. Aber ich weiß, dass du eigentlich gerne Leute um dich hast.«   Ja, Feli hatte ja recht. Sie selbst studierte Architektur an der FH in München. Wieso nicht an meiner Uni? Das würde mir so viel Leid ersparen. Denn Feli war sehr extrovertiert; mit ihr hätte ich sicherlich schon tausend Leute kennen gelernt. Trotzdem sie lange Zeit weit weg wohnte und jetzt auch nicht wirklich in meiner Nähe war, so war sie doch immer mit Rat und Tat an meiner Seite, obwohl ich öfter den Beziehungsberater spielen musste, als sie bei mir. Ihre Männergeschichten waren schon interessant, so lernte man selbst als Mann auf die Fehler zu achten, die man in ihren Augen machte. Aber manchmal überzog sie ihre Ansichten auch etwas. Sie hatte den Hang zu übertreiben und Dinge gerne so zu erzählen, wie sie sie gerne hätte. Aber im Laufe der Zeit, und ich kannte sie schon knapp 5 Jahre, merkte man, wann sie flunkerte und wann sie es einigermaßen richtig erzählte. Mit ein paar guten Vorschlägen gingen wir wieder unserer Wege. Eine neue Woche, neues Glück. Diese Woche musste etwas passieren, ansonsten hatte ich das Gefühl mein Leben lang freundschaftslos durch die Unizeit zu streifen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)