Leb wohl, Mutter von Nightglass ================================================================================ Kapitel 1: Leb wohl, Mutter --------------------------- Der Regen prasselte laut gegen das Fenster. Von dem Kleingarten sah man nur noch schemenhafte Silhouetten. Aus dem Radio erklang leise ein Pianostück eines unbekannten Pianisten. Müde blickte ich mich im Zimmer um. Der Anblick dieses Raumes war in den letzten Jahren so eintönig geworden. Tagtäglich diese gleichen blauen Tapeten mit den Sternenmuster, welches an den Nachthimmel erinnerte. Der dunkle Eichenschrank davor, gefüllt mit etlichen Büchern, von denen ich nur eine Handvoll gelesen hatte. Das Einzige, was sich in den Jahren verändert hatte, war ich. Täglich schaute ich mich in dem Spiegel mir gegenüber an der Wand an. Von meinen einst gepflegten, braunen Haaren, konnte man heute nichts mehr erahnen. Kein einziges Haar bedeckte mehr meinen Kopf. Spröde, rissige Lippen. Tiefe, dunkle Augenringe unter den leeren, blauen Augen, die einst so gestrahlt hatten. Nichts hatte ich von meinem früheren Glanz behalten. Meine Krankheit hatte alles aufgefressen. Ich hasste mein Spiegelbild, doch konnte ich meinen Blick nie davon abwenden. Es klopfte an der Tür und jemand trat ein. Auch ohne hinzusehen, wusste ich wer es war. Sie besuchte mich jeden Tag. Sie war die Einzige. Mit einem Lächeln trat sie zu mir: „Hallo, Liebling." „Hallo", antwortete ich mit einer heiseren Stimme. Ich wüsste jetzt schon, was sie mich fragen würde. Sie fragte es jedes Mal. „Müde, Liebling." Es war schon zu ihrer Standartsfrage geworden. Jedoch wollte sie nicht wissen, ob ich noch schlafen wollte, sondern, ob es Zeit war. Zeit, sie und die ganze Welt zu verlassen. Immer hatte ich mit -Nein, ich bin nicht müde. Noch nicht.- geantwortet, aber heute war es anders. Ich spürte es. „Ja, ich bin müde. Sehr müde." Die Zeit, vor der sie sich so sehr gefürchtet hatte, war gekommen. Meine Antwort war kaum mehr als ein Flüstern, doch sie zuckte bei diesen Wörtern zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Tränen bildeten sich in ihren Augen. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht richtig. Ich schaute sie nicht an. Das tat ich schon lange nicht mehr. Zu sehr schmerzte ihr Anblick, wie sie neben dem Bett stand und meine Hand hielt. Die Stille hielt lange an. Dabei wurden meine Lider schwer wie Blei und fielen immer wieder für paar Sekunden zu. „Ich danke dir", raunte ich kaum verständlich. Ich bedankte mich für alles, was sie für mich getan hatte, doch vorallem dafür, dass sie bis zu Letzt bei mir geblieben war. Und zum ersten Mal seit Monaten blickte ich sie an. Ihre Augen waren gerötet. Natürlich, sie hatte so oft geweint. Hatte Angst, dass ich gehen würde. Auch jetzt liefen ihr die Tränen über die Wangen, aber sie lächelte. Wahrscheinlich wollte sie mich mit einem Lächeln verabschieden: „Schlaf gut, Liebling." Meine Augen schlossen sich ganz langsam. Sie wollten sich noch das Gesicht der Frau genaustens einprägen, bevor sie sich für immer der Welt entzogen. „Leb wohl, Mutter." Meine letzten Worte hingen noch lange, nachdem ich meinen letzten Atemzug genommen hatte, in der Luft. Als ich starb, hörte der Regen auf und das Radio verstummte. Nur das Schluchzen meiner Mutter füllte den Raum mit Geräuschen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)