Amnesia von dani (Wenn die Erinnerung streikt) ================================================================================ Kapitel 34: Kapitel 34 ---------------------- ~Uruha POV~ Es heißt immer ‚Die erste Liebe vergisst man nicht!’. Sie ist unvergleichlich und schreibt sich mit löschfester Tinte ins Gedächtnis. Ein Leben lang. Das war eine Lüge. An meine erste Liebe konnte ich mich nicht mehr erinnern. War es ein Mädchen gewesen? Ein Kerl? War er oder sie hübsch gewesen? Konnte er oder sie gut küssen? Hatten wir miteinander geschlafen? Wie lange hatte unsere Beziehung gedauert? Ich wusste es nicht mehr. Das alles verblasste wenn ich an Aoi dachte. Er war nicht meine erste Liebe gewesen - eigentlich nicht einmal mein Typ. Ich hatte es immer bevorzugt der Starke in einer Beziehung zu sein. Aoi mit seinem unbezwingbaren Willen und seiner Art alles selbst in die Hand zu nehmen passte absolut nicht in mein Beuteschema. Doch er hatte mich weggefegt wie ein Orkan und als sich der Wind schließlich wieder gelegt hatte, war ich ihm bereits hoffnungslos und unwiderruflich verfallen. Ich war verliebt. Bis über beide Ohren. „Uruha!“ Ertappt! Mit einem Ruck landete ich wieder im Hier und Jetzt. Die Wände des Konferenzzimmers hatten dasselbe Grau wie die Wolken, die heute den Himmel bedeckten. An einer Längsseite befanden sich ebenso graue, wuchtige Aktenschränke, die den schmalen Raum noch enger wirken ließen. Auf dem runden Konferenztisch vor mir, standen zwei Wasserkaraffen, zwei Thermoskannen mit Kaffee, Milch, mehrere Gläser und Tassen und eine zierliche, kristallene Schale mit Zucker. Um den Tisch herum drängten sich fünf Konferenzstühle mit schwarzen, harten Plastiklehnen. Die einzigen Farbflecke im Raum waren zwei Bilder eines Künstlers, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Sonderlich aufregend sahen die Leinwandklecksereien auch nicht wirklich aus. Etwas verlegen erwiderte ich den ungeduldig musternden Blick unseres Managers. „Und? Was sagst du dazu?“ Ähm … worüber hatten wir eigentlich gesprochen? Ein kurzer Blick auf die Uhr und ich wusste, dass ich mich vor 20 Minuten aus dem Gespräch ausgeklinkt hatte. Obwohl er nicht hier im Raum war und ich eigentlich nie wieder an ihn denken wollte, beherrschte Aoi meine Gedanken und ließ nicht zu, dass ich mich auf meinen Job konzentrierte. So unauffällig wie nur möglich schielte ich zu Reita hinüber, welcher langsam den Kopf schüttelte und dabei die Augen verdrehte. „Nein … das finde ich nicht gut.“ Manager-san hob die Augenbrauen und beugte sich dann etwas weiter zu mir hinüber. „Hast du überhaupt zugehört?“ „Tut mir Leid ich war etwas abgelenkt!“ Bevor ich mir die Blöße gab und ihn vor allen hier anlog, rückte ich lieber mit der Wahrheit hinaus. Es war wohl mehr als nur offensichtlich, dass ich nicht zugehört hatte. Ein leises Seufzen war zu hören. „Du bist in letzter Zeit generell etwas abgelenkt. Ich mache es dir nicht zum Vorwurf. Dass Aoi ausgestiegen ist, war für uns alle ein Schock. Aber wenn wir ehrlich sind, haben wir das bereits kommen sehen.“ Außer meinen Bandkollegen kannte niemand die genaueren Umstände unserer Trennung. Sie waren alle davon überzeugt, dass Aoi in einer Nacht-und-Nebel-Aktion seine Sachen gepackt und mich abserviert hatte weil ihm der ganze Druck zu groß wurde. Deshalb besaß ich im Moment einen Liebeskummerfreischein, den ich durch meine chronisch gedankliche Abwesenheit immer wieder einlöste. Da ich den ganzen Klatsch und Tratsch sowieso nicht mehr hören konnte und es niemanden etwas anging, wie sehr es an meinem Ego kratzte, dass er mich betrogen hatte, hielt ich dazu einfach meine Klappe und gab den ganzen Spekulationen darüber keinen weiteren Nährboden. „Wir haben gerade über die Auswahl eines Gitarristen gesprochen. Du warst bei den Sessions auch dabei und du bist derjenige, der am engsten mit dem neuen Bandmitglied zusammenarbeiten muss. Daher legen wir auf deine Meinung großen Wert.“ Ich rieb über meine Schläfen und griff nach den Lebensläufen, die auf dem Tisch lagen. Langsam blätterte ich sie durch. Hin und wieder waren an den Ecken mit Bleistift Notizen dazugeschrieben. Einige der Lebensläufe konnte ich gleich weglegen, andere wiederum mussten wir uns noch mal durchsehen. „Um ehrlich zu sein, fand ich keinen wirklich berauschend. An Aoi kommt so schnell niemand ran.“ Und das sagte ich nicht, weil ich besonders nett sein wollte, sondern weil es tatsächlich stimmte. Aoi war unglaublich gewesen. Instinktiv schien er zu wissen, wie er meine Parts und Rukis Gesang zusätzlich hervorheben oder unterstützen konnte. Er hatte einige der Soli komponiert, die ich spielte. Er war niemand gewesen, der unbedingt auf ein Solo pochte. Solange wir intern wussten, aus wessen Feder es stammte war es für ihn in Ordnung gewesen. Er war ein Teamplayer durch und durch. Bei den Bewerbern hier hatte ich einfach nicht das Gefühl, dass sie die Sache ernst nahmen. Sie wollten berühmt sein, eine Menge Kohle verdienen, vor den Freunden angeben und Mädels abschleppen. Ihnen ging es nicht um die Musik und nicht um die Fans. Das war bei uns anderen immer der Fall gewesen. Die Musik und die Fans. Was wir dabei verdienten war Nebensache. „Ich würde diese drei in die nähere Auswahl nehmen. Die anderen kommen für mich gar nicht in Frage. Weder vom Können noch vom Charakter!“ Unser Manager sah sich die Lebensläufe durch, die ich ihm hinhielt und nickte langsam. Anscheinend hatten die anderen drei bereits ihre Kommentare dazu gegeben. „Ich würde sagen, wir laden diesen Ochi-san für eine Woche ein. Ihr könnt euch ja ansehen, wie es läuft.“ „Nein, nein und nochmals nein! Ich weigere mich diesen Ochi-san in die Band aufzunehmen!“ Ruki fluchte wie ein Bauarbeiter und verschränkte die Arme vor der Brust. Beinahe hätte man seine Art bockig nennen können. Doch das Wort passte nicht zu unserem Sänger. „Reita! Hör endlich auf einen Graben in den Boden zu laufen und setz dich hin, das macht mich verrückt!!“ Reita hob die Augenbrauen, tat aber ohne ein Widerwort, was Ruki verlangte. Im Moment war mit dem Vocal nicht gut Kirschenessen. Er war wütend über die gesamte Situation, in die wir geschlittert waren. „Kannst du mir sagen, warum du diesen Kandidaten ablehnst?“ Kai war der Einzige von uns, der noch nicht die Geduld verloren hatte. Ruki warf ihm einen Blick zu, der sehr deutlich besagte, dass er an Kais Zurechnungsfähigkeit zweifelte. „Dieser Kerl hat noch nie in einer Band gespielt, außer dieser einen Komikergruppe und ganz eindeutig hat er ein kleines … nein … ein großes Egoproblem!“ Der Vocal rümpfte die Nase. „Wenn ich mir meinen Arbeitskollegen schon selbst aussuchen kann, dann sicher nicht einen, bei dem es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich ernsthaft mit ihm aneinander gerate. Mit so jemanden kann ich nicht arbeiten!“ Kai seufzte leise. „Aber er ist gut! Er hat seinen Teil beinahe ohne Fehler gespielt und er hat Potential. Er ist ein roher Diamant und muss noch geschliffen werden, was für uns sogar vorteilhafter wäre, da er nicht über verquere Ansichten verfügt und sich noch was sagen lässt. Ein Profi wäre da schon schwieriger.“ „Ich sagte nein!“ Der Drummer schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. „Sei nicht so engstirnig! Wir müssen eben Kompromisse eingehen, Ruki! Die Zeit läuft uns davon!“ Ich griff nach der Thermoskanne und schenkte mir großzügig Kaffee in die Tasse. Ich musste zugeben, dass ich von besagtem Herrn auch nicht gerade überzeugt war. Dennoch hatte Kai sehr richtig betont, dass wir keine Zeit mehr hatten. Ruki schüttelte den Kopf. „Wir werden ihn nicht einladen. Tanaka-san, ok. Diesen Kurosaki-san, von mir aus. Aber dieser Kerl kommt mir nicht über die Schwelle!“ Das war eindeutig mehr als nur ein bisschen Abneigung. In Rukis Augen brannte der Hass. Das würde in der Tat nichts werden. „Ich schlage vor, wir sehen uns diesen Tanaka-san an. Ruki hat Recht bei Ochi-san bin ich auch nicht ganz überzeugt, auch wenn er die Gitarrenstimme recht passabel gespielt hat. Ich denke so leicht ist dieser Diamant nicht zu schleifen, Kai!“, mischte auch ich mich wieder ein, nachdem ich ein paar Schlucke vom Kaffee getrunken hatte. Unser Manager wartete noch, ob jemand etwas dagegen zu sagen hatte und nickte dann. „Na gut, dann eben so.“ Damit war das Meeting auch beendet. Gott sei Dank. Wirklich viel hatte ich davon ja nicht mitbekommen. Ich erhob mich extra langsam um mit Ruki gleichzeitig an der Tür anzukommen. „Warum bist du so gegen diesen Ochi-san?“ Ich hatte Ruki zwar unterstützt, weil der Mann auch mir etwas seltsam vorgekommen war, aber das erklärte nicht den brennenden Hass, den Ruki wohl für ihn empfand. Dazu kannte er ihn doch einfach zu wenig. Der Vocal gab mir auch keine Antwort, bis wir den langen Gang zu unserem Proberaum hinuterliefen. „Ich weiß, dass du auf Aoi im Moment nicht gut zu sprechen bist, Uruha. Aber er ist … war mein bester Freund …“ In dem Moment erkannte ich, dass auch Ruki an seiner plötzlichen Abreise zu knabbern hatte. Auch wenn ich es verstand, dass Aoi mich nicht mehr sprechen wollte, verstand ich dennoch nicht, wieso er Ruki oder die anderen aus seinem Leben kickte. Sie hatten ihm doch nie etwas getan! Daher nickte ich leicht, als Ruki auf eine Antwort zu warten schien. „Ich habe gehört wie er über Aoi gesprochen hat. Das war … unterster Gangster-Jargon. Du willst gar nicht wissen, als was er ihn alles betitelt hat. Ich will eigentlich auch gar nicht wissen, wie er uns betitelt, wenn er mit seinen Kumpels spricht.“ Er hielt mir die Tür zum Proberaum auf. „Danke!“ „Gerne … Wir sind Arbeitskollegen, aber wir sind auch Freunde.“ Natürlich waren wir das. Wenn man beinahe 24 Stunden, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr aufeinandersaß, dann ließ man diese Leute eben näher an sich heran. Ich hatte oft das Gefühl, dass mich die Roadies besser kannten als meine eigene Familie. Ruki strich sich die Haare zurück und setzte sich auf das Sofa. Er startete den Laptop und sah mich wieder an, während er wartete, bis das Gerät hochfuhr. „Mit jemandem wie ihn will und kann ich nicht arbeiten, geschweige denn will ich mit ihm befreundet sein.“ Diesen Einwand verstand ich natürlich. „Du hast Recht. Entweder er passt zu uns, oder nicht. Ich verlasse mich auf deinen Instinkt, Ruki. Das habe ich immer getan.“ Was auch der Grund war, weshalb ich ihn auch jetzt unterstützt hatte. „Ich weiß. Im Moment drängt das Management uns, dass wir einen neuen Gitarristen aufnehmen. Bei diesem Druck macht man schnell einen Fehler. Ich will nicht, dass die Band auseinanderbricht, nur weil wir uns für den falschen Mann entschieden haben!“ Ich blieb Ruki die Antwort schuldig, da es in dem Moment an der Tür klopfte. Reita, der sie gerade erst hinter sich zugezogen hatte, drehte sich um und öffnete sie erneut. Zuerst schien er mit jemanden zu sprechen, dann nickte er und hielt die Tür weiter auf. Eine junge Frau in engen Bluejeans, einem roten Rollkragenpulli und ärmellosen Parka betrat den Proberaum. Sie schien sich nicht ganz wohl in ihrer Haut zu fühlen, als Reita sie zum Sofa geleitete. Mit einer fließenden Bewegung ließ sie sich auf der Kante nieder und legte ihre Hände in den Schoß. Ich runzelte die Stirn. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, aber ich konnte nicht wirklich sagen woher. Kai begrüßte sie und stellte uns der Reihe nach vor. Sie nickte leicht. „Danke ich weiß wer Sie sind“, sagte sie dann leise. Dennoch hatte ihre Stimme einen angenehmen klang. „Ich wollte auch gar keine großen Umstände machen. Es ist nur … ich bin gerade auf dem Heimweg von der Uni gewesen und wollte Yuu fragen, ob er vielleicht zum Abendessen vorbeikommen möchte.“ Yuu? Sie nannte ihn Yuu? Wieder musterte ich sie von oben bis unten. Ich erstarrte, als ich begriff. Sie hatte längere Haare gehabt und da sie sich heute nicht so aufgebrezelt hatte, hätte sich sie beinahe nicht erkannt! Das war das Flittchen, das mir meinen Freund ausgespannt hatte. Reita holte zischend Luft. Ahh jetzt hatte er auch kapiert, dass er die Wurzel allen Übels in unseren Proberaum geholt hatte! Auch Ruki und Kai schienen zu verstehen. Vermutlich warf Kai mir auch deshalb einen warnenden Blick zu. Er besagte deutlich, dass ich mich zusammenreißen sollte. Ohne es zu merken, ballte ich meine Hände zu Fäusten. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr eine verpassen sollte, oder nicht. Vielleicht würde es mir danach besser gehen! Wollen tat ich es definitiv! „Wie heißt du?“, fragte Reita dann plötzlich. Was interessierte ihn das? Sie sollten lieber zusehen, dass sie dieses Miststück aus dem Proberaum entfernten, bevor ich noch Scheiße baute. Eigentlich war ich ja nicht der gewalttätige Typ, aber bei ihr könnte ich glatt eine Ausnahme machen! Warum zum Teufel bildete sie sich ein hier auftauchen zu können? Zuerst drang sie in mein Privatleben ein und jetzt erschien sie auch noch an meinem Arbeitsplatz? Wollte sie mich verhöhnen? Wusste sie eigentlich, was sie mir damit antat? Siedend heiß brodelten der Hass und die Wut in meinen Adern. „Oh Entschuldigung … Rumiko. Ich heiße Rumiko! Ist … ist Yuu hier?“ Ru-chan! Ich hatte es gewusst! Und verdammt noch mal sie war nicht halb so hässlich, wie ich sie in Erinnerung hatte! Kein Wunder, dass er sich in sie verguckt hatte. Gleich darauf hätte ich mich für diesen Gedanken selbst schlagen können. Das war keine Entschuldigung für ihn fremd zu gehen! „Nein ist er nicht!“ Meine Stimme klang wie Reibeisen. Ich musste mich heftig zurückhalten um nicht ein gehässiges „Bitch“ dranzuhängen. Sie seufzte traurig und schien in sich zusammenzusinken. „Schade ich … er hat sich seit Wochen nicht mehr bei mir gemeldet. Dabei hat er mir versprochen mich anzurufen, wenn er die Sache mit dir geklärt hätte.“ Na sieh mal einer an. Da hatte er nicht nur mich verarscht. Beinahe hätte sie mir ja leidgetan. Aber nur beinahe. Und von welcher Sache redete sie da? Was hatte er mit mir klären wollen? Hatte er vor gehabt sich von mir zu trennen? Aber warum hatte er dann zugelassen, dass ich ihn fickte? Ich weigerte mich das Wort Sex auch nur zu denken. Sex hatten Leute, die sich liebten. Aoi und ich hatten keinen Sex gehabt. Wir hatten nicht miteinander geschlafen! Nicht, wenn er mich zuvor schon monatelang mit dieser Schlampe betrogen hatte. „Habt ihr das öfter getan? Euch einfach getroffen?“ Rukis Stimme holte mich aus meinen Gedanken. Er schien seine Neugierde nicht mehr zügeln zu können, das hörte ich ihm an. Da es hier um seinen besten Freund ging, konnte ich es irgendwie verstehen. Außerdem gab sie so breitwillig Antwort, dass es schon beinahe keinen Spaß machte sie auszuhorchen. Sie nickte leicht. „Ja er war gelegentlich übers Wochenende bei mir!“ Ich erstarrte wieder und schnappte nach Luft. Wieso gab sie das einfach so zu!? Ich hätte gelogen, dass sich die Balken biegen, wenn ich gewusst hätte, dass sein ehemaliger Lebensgefährte im Raum war! Reita stieß mir seinen Ellenbogen in die Rippen, was wohl ein eindeutiges Zeichen für mich sein sollte jetzt bloß die Klappe zu halten. „Kennst du ihn schon lange?“ Sie begann zu lachen und nickte. „Klar, schließlich bin ich seine Cousine!“ Die Worte sickerten nur langsam in mein Bewusstsein. Es war wie ein Schock. Ich hatte gehört, was sie gesagt hatte, aber ich verstand es nicht. „WAS!?“ Ungläubig starrte ich sie an. Ihr Satz war nun endgültig in meinem Hirn angekommen. Seine Cousine?! Sie nickte leicht. „Ja ich bin erst kurz nach Yuus Unfall nach Tokyo gezogen, weil ich an der Uni genommen wurde. Davor hab ich mit meinen Eltern in Hakodate gelebt. Darum haben wir uns auch recht selten gesehen. Wir haben es ausgenutzt, dass wir in derselben Stadt wohnen. Er war froh jemanden aus der Familie hier zu haben – einfach um ein bisschen reden zu können.“ Ruki sah zwischen uns hin und her. „Oh … dann bist du gar nicht das Miststück mit den Videos?“ Sie runzelte die Stirn. Vermutlich über seine unverblümte Ausdrucksweise. Kai hätte ihm vielleicht denselben Blick schicken sollen, wie mir. Doch dann schien es bei ihr Klick zu machen. „Sie meinen diese Frau, die ihm diese anzüglichen Videobotschaften geschickt hat?“ „Woher weißt du davon?“, fragte ich dazwischen. Meine Stimme klang seltsam gepresst. „Wir haben darüber geredet, als er das letzte Mal bei mir war. Er wollte sie anzeigen – wegen Belästigung. Aber ich glaube dazu hätte sie mehr machen müssen als nur SMS’ zu schreiben und Videos zu schicken. Er wollte sich da noch schlau machen!“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Er wollte sie anzeigen? Sie war gar nicht sein Betthäschen? Er wollte sie nicht? „Warum … warum hat er mir das nicht gesagt?“ Meine Stimme war nur ein heißeres Flüstern. Sie sah mich an. Ihr Blick war ruhig, arglos. Sie wusste nicht, dass Aoi und ich uns getrennt hatten. „Er wollte dich nicht beunruhigen. Yuu meinte es wäre schon schlimm genug, wenn er sich damit herumschlagen müsste. Außerdem wäre er selbst Schuld, wenn er ihr in betrunkenem Zustand seine richtige Telefonnummer gibt.“ Der Rest des Gesprächs ging irgendwie unter. Mir war heiß und kalt zugleich. Ich presste meine zitternden Hände auf meinen Magen, da ich das Gefühl hatte mich gleich übergeben zu müssen. Die Wahrheit traf mich wie ein Keulenschlag. Ich verlor den Boden unter den Füßen. Er hatte mich nie betrogen! Er war bei seiner Cousine gewesen und hatte mich vor diesen Nachrichten lediglich in Schutz nehmen wollen. Und ich? Ich hatte ihn angeschrien und mit ihm Schluss gemacht. Meine Augen begannen zu brennen. Meine Sicht verschwamm. „Oh Scheiße!“ Noch bevor ich selbst begriff, was ich tat, war ich auf den Beinen und stolperte auf die Tür zu. „Uruha! Was denkst du, was du da machst!?“ Reita baute sich vor mir auf und hielt mich am Ellenbogen fest. Fassungslos starrte ich ihn an. „Ich … fahre nach Mie!“ Erst als ich es aussprach wurde mir bewusst, dass ich diese Entscheidung bereits gefällt hatte, als mir klar wurde, dass sie seine Cousine war. Verständnislos runzelte er die Stirn. „Was jetzt?“ Mechanisch nickte ich. „Natürlich! Ich muss mich bei ihm entschuldigen. Ich … ich muss mit ihm sprechen. Vielleicht … Oh Akira ich war so dämlich! Er hat mich nicht betrogen! Er … ich hab ihm nicht zugehört! Dabei wollte er es mir erklären! Ich hab … er … wir …“ Wann war ich das letzte Mal so durch den Wind gewesen? Selbst als ich glaubte, dass er mich betrogen hatte, war ich nicht so durcheinander gewesen. Doch jetzt rasten meine Gedanken in meinem Kopf hin und her wie bei einem Ping Pong Spiel. Es war mir nicht möglich einen herauszugreifen. Er verflüchtigte sich viel zu schnell wieder, weil neue hinterherdrängten. Reitas Griff wurde fester. „Spinnst du? Es wird dunkel und wir waren den ganzen Tag im Label. Du bist zu müde um dich jetzt noch vier bis sechs Stunden hinters Steuer zu setzen!“ „Aber ich muss-“ „Du musst gar nichts!“, wurde ich streng unterbrochen. „Was soll ich ihm denn erzählen, wenn du unterwegs einen Unfall hast? Meinst du es ist ihm ein Trost, dass es auf dem Weg zu ihm passiert ist? Du hast keine Sachen dabei! Und vor allem kannst du nicht um Mitternacht an der Tür klingeln und nach Aoi verlangen!“ Nun … das leuchtete ein. Etwas enttäuscht schnaubte ich und ließ mir von Reita die Jacke in die Hand drücken. „Ich schlage vor, ich fahr dich jetzt nach Hause. Du packst ein paar Sachen ein und dann fahren wir zu mir. Wir können kochen oder wir nehmen etwas unterwegs mit, ganz egal. Dann sehen wir einen Film oder spielen von mir aus noch an der Playstation und dann gehst du ins Bett, damit du morgen früh losfahren kannst.“ Er hatte Recht. So war es vermutlich am Vernünftigsten. Ich hatte zwar nicht vor den Wagen um den nächsten Baum zu wickeln, aber wer konnte mir schon garantieren, dass das nicht passierte? Reita wartete weder auf meine noch auf die Zustimmung der anderen, sondern schob mich langsam zur Tür, nachdem auch er seinen Mantel angezogen hatte. Ich kann nicht einmal mehr sagen, ob ich mich von den anderen verabschiedet hatte, oder nicht. Ich war mit meinen Gedanken bereits wieder bei Aoi. Reita wartete tatsächlich geduldig, bis ich alle Sachen zusammengepackt hatte. Er war sogar mit mir einkaufen gegangen – ich wollte nicht mit leeren Händen bei Aoi auftauchen. Nicht nach alldem was passiert war. Und obwohl ich genau wusste, was ich wollte, war Reita in diesen Dingen immer ein toller Berater. Da wir beide keine Lust hatten uns noch stundenlang in die Küche zu stellen fiel unsere Wahl auf einen kleinen Rahmenladen, der auch riesige Portionen zum Mitnehmen machte. Dazu noch ein Salat, zwei Dosen LifeGuard für Reita und zwei Coladosen für mich und schon war unser Abendessen fertig. Meine Stimmung schwankte den ganzen Abend lang. Entweder war ich völlig euphorisch und schwebte ich auf Wolke 7, weil ich endlich wusste, dass er mich liebte und diese ganze Geschichte nur ein Missverständnis war, oder ich war deprimiert, weil ich einfach nicht verstand warum er gegangen war, obwohl sich alles so einfach hätte aus der Welt schaffen lassen. Wollte er die Trennung? Ich hatte tatsächlich Angst! Aber wenn ich nicht zu ihm fahren würde, würden wir uns nicht mehr wieder sehen, das war mir bewusst. Von allen Dingen konnte ich das am wenigsten ertragen. Ich schlief schlecht. Die ganze Nacht wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, überlegte, wie ich am besten erklären konnte, warum ich hier war und verwarf die ganzen schönen Worte wieder. Ganze Szenarien wirbelten in meinem Kopf herum. Was, wenn er mich gar nicht rein ließ? Was wenn er mir nicht zuhören wollte? Doch schließlich, inmitten einer schnulzigen Liebeserklärung, übermannte mich der Schlaf. „Uruha?! Ich dachte du wärst schon längst weg!“ Reitas Stimme riss mich am nächsten Morgen aus einem Traum. Er musste gut gewesen sein, denn ich grinste immer noch dämlich vor mich hin, als ich mir den Schlafsand aus den Augen rieb. „Hmm?“ Der Bassist stand mit verschränkten Armen vor mir und sah mich abwartend an. „Los! Komm in die Gänge! Es ist bereits zehn Uhr!“ Während ich aus dem Bett sprang und im Badezimmer verschwand, machte er für mich Frühstück. Hastig schlang ich es hinunter und verschwand dann erneut im Bad um meine Haare zu föhnen. Zwar hatte ich vorgehabt sie lufttrocknen zu lassen, aber es war zu kalt draußen. Ich wurde nicht oft krank, aber ich musste es ja nicht auch noch herausfordern. Reita hatte mir noch einmal Mut zugesprochen und anschließend mit einem ‚Du machst das schon.’ die Tür hinter mir geschlossen. Es war genau 10:45 Uhr als ich endlich den Motor startete und losfuhr. Die Fahrt selbst verlief recht ereignislos. Die Straßen waren frei und ich kam zügig voran, während ich auf einem Radiosender die Charts der Woche verfolgte. Aois Elternhaus lag nicht direkt in der Stadt sondern etwas außerhalb, was den Vorteil hatte, dass man dem Großstadtchaos entkam. Die Einfahrt war frei, weshalb ich das Auto auf der Seite parkte, damit ich die Zufahrt nicht blockierte. Ich atmete tief durch und ließ meinen Kopf gegen die Kopfstütze fallen. Scheiße. Jetzt war ich hier und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Mein Hirn war wie leergefegt. Aber ich war auch nicht den ganzen Weg hier her gefahren, nur um dann im Auto vor dem Haus zu warten und unverrichteter Dinge wieder heim zu fahren. Also atmete ich tief durch, sprach mir selbst Mut zu und stieg aus. Es sah immer noch so aus, wie damals, als ich das letzte Mal hier war. Aois Mutter liebte Blumen und im Gegensatz zu ihrem Sohn hatte sie eindeutig einen grünen Daumen. Die Pflanzen gediehen wirklich prächtig in ihrem Garten, zumindest die, die um diese Jahreszeit eben wuchsen. Ich schluckte trocken, als ich die Stufen zur Eingangstür hochstieg und den Daumen auf die Klingel presste. Jetzt war es zu spät. Ich konnte nicht mehr abhauen. Zuerst blieb alles ruhig im Haus. Doch dann hörte ich, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde und die Tür öffnete sich. „Kouyou! Was für eine freudige Überraschung!“ Aois Vater begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln, so als wäre alles wie immer. „Was beschert uns denn das Vergnügen?“ Ich öffnete die Lippen. „Hiroki-san … Ist Yuu hier? Ich muss dringend mit ihm sprechen. Ich … ich hab einen riesigen Fehler gemacht!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)