Amnesia von dani (Wenn die Erinnerung streikt) ================================================================================ Kapitel 6: Kapitel 6 -------------------- ~Uruha POV~ Ich zog die Träger der grünen Plastikschürze über den Kopf und machte hinter meinem Rücken einen Knoten. Die diensthabenden Schwestern hatten offenbar gerade mit einem Computerproblem zu kämpfen, weshalb ich einfach am Schwesternzimmer vorbei gegangen war, ohne nach den Untersuchungsergebnissen zu fragen. Ich drückte den Knopf des Desinfektionsmittelspenders und verrieb das Desinfektionsmittel in meinen Händen. Erst dann öffnete ich die Tür und schlüpfte in Aois Zimmer. Die Tür schloss sich automatisch mit einem leisen Klicken hinter mir, während ich auf das Bett zuging und mich auf einen der Sessel setzte, die dort für Besucher bereit standen. Ich stellte die Krücken, die noch immer meine Begleiter waren, zur Seite und strich ihm kurz über die Wange. „Hallo Schatz!“, begrüßte ich ihn, doch meine Stimme versagte. Obwohl ich ihn seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus vor einer Woche bisher jeden Tag besucht hatte, schockierten mich die ganzen Geräte und Schläuche immer noch. Aoi war in diesem riesigen Bett kaum zu sehen. Es tat mir weh, wie verletzlich und blass er aussah. Nichts, war von dem strahlenden Mann zu sehen, der mein Herz im Sturm erobert hatte. Die Verbände bedeckten den Großteil seines Gesichts und seiner Arme. Der Rest seines Körpers wirkte schmächtig, geradezu verloren in diesem Krankenhausbett. Zärtlich griff ich nach seiner Hand. Seine Fingerspitzen waren eiskalt. Ich erschauderte kurz und atmete tief durch, während ich die Zähne heftig zusammen biss. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, während ich versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Ich hielt das nicht aus! Ich wünschte mir so sehr, dass er aufwachte. Ich war kein sonderlich gläubiger Mensch, aber ich hatte mich in letzter Zeit oft dabei erwischt, wie ich Gebete murmelte, wie ich jemanden anflehte, er möge mir meinen Partner zurückgeben. Ich suchte Aois Nähe, wie die Motten das Licht. Ich brauchte sie. Ihn zu sehen, gab mir die Sicherheit ihn nicht verloren zu haben. Er war immer noch am Leben. Er kämpfte. Rang jeden Tag mit dem Tod darum hier bleiben zu können, so wie Kai es mir versprochen hatte. Aoi war schon immer ein Kämpfer gewesen. Er würde auch jetzt nicht aufgeben, davon war ich überzeugt. Deshalb verbrachte ich die meiste Zeit hier! Ich wollte ihm beistehen. Ich wollte ihm zeigen, dass er nicht alleine war. Hätte ich gekonnt, ich hätte ihm alles abgenommen. Ich wäre für ihn in den Ring gestiegen und hätte gekämpft. Doch das Schicksal hatte ihn dazu auserkoren hier zu liegen und nicht mich. Aber ich konnte ihm immer noch zur Seite stehen. Ich hoffte nur, dass er das auch spürte. Seufzend rieb ich über meine tränenden Augen und gähnte leise. Nachts konnte ich nur sehr schlecht schlafen. Mich plagten schreckliche Alpträume. Grelles Licht. Aois vor Panik geweitete Augen. Unsere Schreie. Das Krachen und Quietschen des Metalls. Selbst jetzt konnte ich es noch hören. Das Schlimmste war das viele Blut! Rot, lief es über meine Hände und tropfte ungehört zu Boden. Jede Nacht wachte ich schreiend auf und mein erster Blick galt dem leeren Platz neben mir, was mich jedes Mal erneut aus der Fassung brachte. Am Anfang war Kai immer ins Zimmer gestürmt und hat versucht mich zu beruhigen. Doch mittlerweile schien es beinahe Normalität geworden zu sein. Er kam nur hin und wieder in die Küche, wenn ich mich nach draußen schlich um mir zur Beruhigung einen Tee zu machen (meistens nach sehr heftigen Alpträumen). Der einzige Ort, an dem ich seltsamerweise Ruhe fand, war hier, an seinem Krankenbett. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich hier einschlief, nur um dann beim Gehen ein schlechtes Gewissen zu haben, nicht die ganze Zeit ausgenutzt zu haben, die ich hier verbringen durfte. „Ich sollte dir schöne Grüße von Ruki, Kai und Reita ausrichten. Sie machen sich große Sorgen um dich und hoffen, dass du bald wieder wach wirst. Es ist nicht dasselbe ohne dich.“ Ich streichelte über seinen Handrücken, passte aber darauf auf, dass ich der Kanüle nicht zu nahe kam über die Aoi gegebenenfalls Medikamente, Flüssigkeit und Nährstoffe bekam. Immerhin aß er ja nicht. „Schade, dass wir kein Fenster aufmachen können. Draußen blühen die Kirschbäume. Das hast du doch immer so gerne gesehen, nicht wahr?“ Leider waren Blumen in der Intensivstation aus Hygienegründen nicht gestattet. Dabei hätte ich ihm gerne einen Zweig abgebrochen und ihn hier ins Zimmer gestellt. Aoi war sonst eigentlich kein Pflanzennarr und einen Grünen Daumen hatte er erst recht nicht. Das Einzige, das man ihm gefahrlos an Pflanzen schenken konnte, waren Kakteen. Die waren es nämlich gewohnt nicht gegossen zu werden. Aber er liebte es, wenn im Frühling die Kirschbäume zu blühen begannen. Er hatte mich immer in den Shinjuku Gyoen National Garden geschleppt, damit wir uns die Kirschbäume ansehen konnten. Und obwohl ich immer aus Spaß ein bisschen gemault hatte, war es jedes Mal ein schöner Tag geworden. Ich bemerkte erst, dass ich weinte, als die Tropfen auf die Bettdecke unter mir fielen. Ich stülpte den Ärmel über meinen Handballen und wischte mir über die Augen. Gut, dass ich kein Make-up trug, aber ich war auch klüger geworden. Ich wusste, dass ich nicht anders konnte, wenn ich hier bei ihm war. Die Tür wurde leise geöffnet. Ich hob den Kopf und begegnete dem Blick einer Krankenschwester. Sie sah mich voller Mitgefühl an und versuchte ein tröstendes Lächeln. „Es tut mir so leid, Takashima-san“, sagte sie dann leise. Das Mitleid in ihrer Stimme war noch schwerer zu ertragen als ihr Blick. Ich verstand nicht. Warum entschuldigte sie sich bei mir? Sie musste meine Verwirrung gesehen haben, denn ihr Gesicht wurde lang. „Sie haben noch nicht mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?“, fragte sie mich dann. Ich runzelte die Stirn. Sie? „Shiroyama-sans Eltern?“, half sie mir dann auf die Sprünge. Nein. Ich hatte weder gestern noch heute mit ihnen gesprochen. Aber wozu? „Ich verstehe nicht. Warum sollte ich mit ihnen sprechen? Ist etwas passiert?“, fragte ich, während sich ein eisiger Klumpen in meiner Brust bildete. Wären es gute Nachrichten, würde sie mich nicht so ansehen, oder? Sie würde sich nicht bei mir entschuldigen! „Wirklich, es wäre mir lieber, wenn Sie zuerst mit ihnen sprechen würden.“ Ich hielt Aois Hand fest und wollte gerade weiter bohren, als die Tür erneut geöffnet wurde. Dr. Ishida, sein behandelnder Arzt, betrat den Raum. Er war es auch gewesen, der mir damals erklärt hatte, was mit meinem Freund los war und wie das mit dem künstlichen Koma funktionierte. Ein freundlicher, hilfsbereiter Mann, dem die Verwandten und Bekannten der Opfer genauso am Herzen lagen, wie die Patienten selbst. Als er mich sah, nickte er mir nur zu. Doch heute schien auch er ernster zu sein. Durch die zufallende Tür, konnte ich Aois Eltern im Gang stehen sehen. Seine Mutter weinte, während sein Vater sie an sich zog und sie fest an seine Brust drückte. Dann fiel die Tür wieder ins Schloss. Ich wusste, dass ich bei den Untersuchungen nicht dabei sein durfte, weshalb ich mich erhob, nach meinen Krücken griff und das Zimmer verließ. Das leise Schluchzen von Aois Mutter empfing mich, als ich nach draußen auf den Gang trat. Sein Vater hob den Blick und ich sah, dass sie nicht die Einzige war, die weinte. Mein Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Der Eisklumpen strahlte eine Kälte aus, die nun meinen ganzen Körper erfasste, weshalb ich zu zittern begann. Oh Gott was war hier los!? Ich schluckte trocken und verbeugte mich kurz vor seinen Eltern, als ich sie begrüßte. Sein Vater tat es mir gleich, doch seine Mutter legte ihre Hand an meine Wange und strich darüber. „Oh Kouyou-san“, weinte sie leise und flüchtete sich wieder in die Arme von Hiroki-san, der sie zu den Stühlen dirigierte und sie sanft auf einen der gepolsterten Sitze drückte. Eine Krankenschwester brachte ein Glas Wasser vorbei, das sie ihr in die zitternden Hände drückte. Auch wenn ich sie nicht weiter aufregen wollte, konnte ich meine Frage nicht zurückhalten. „Was ist passiert? Was ist hier los!?“ Hiroki-san wurde kurz blass doch dann schien er sich wieder zu fangen und legte seine Hand auf ihre Schulter und streichelte sanft darüber. „Hast du dir die Untersuchungsergebnisse der letzten Woche angesehen?“ Ich runzelte die Stirn, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein. Die Schwestern hatten heute ein Computerproblem, weshalb ich nicht nachgefragt habe. Was ist damit?“ Was war denn passiert? Aois Vater atmete tief durch, während Miyuki-san einen kleinen Schluck trank und dann wieder in Tränen ausbrach. „Die Werte haben sich drastisch verschlechtert, Kouyou-san.“ Mir wurde schwindelig. Verschlechtert? „Wie?“ Hiroki-san hielt mich am Oberarm fest und dirigierte mich ebenfalls auf einen Sessel, da meine Beine drohten nachzugeben. Obwohl ich seine Worte verstanden hatte, ergaben sie für mich keinen Sinn. Mein Kopf war plötzlich wie leergefegt, während sich meine Brust anfühlte, als hätte mir jemand ein Messer in den Brustkorb gerammt. „Was heißt schlecht? Hiroki-san, bitte!“ Stille breitete sich zwischen uns aus. Er schien sich erst fangen zu müssen. Doch je länger mir niemand etwas sagte, desto panischer wurde ich. Was war mit ihm? Was bedeutete das für ihn? Für uns? „Wir hatten gestern eine lange Besprechung mit den Ärzten. Vor ein paar Tagen gab es noch Hoffnung. Hoffnung … dass er … es schaffen könnte. Doch die letzten Untersuchungen …“ Seine Stimme brach. „Er lebt nur durch die Maschinen. Yuu ist schon lange ganz weit weg.“ Auch seinem Vater liefen nun Tränen über die Wangen. „Wenn es nur ein Zeichen der Hoffnung gäbe, dann hätte man uns nicht vor die Wahl gestellt, Kouyou-san …“ Langsam drang die Erkenntnis zu mir durch. Ich begann zu verstehen. „Wir haben uns dazu entschlossen die Maschinen abstellen zu lassen.“ Der Satz schlug ein, wie eine Bombe, obwohl ich ihn vorhergesehen hatte. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Heftiges Zittern erfasste mich. Das konnten sie nicht machen!!! Wieder begannen warme Tränen über meine Wangen zu laufen. „Nein!“, flüsterte ich. Ich konnte es nicht glauben! Panik schnürte mir die Kehle zu. „Wir können ihn nicht aufgeben! Wir dürfen ihn nicht aufgeben!“ Ich schüttelte heftig den Kopf. „Aoi ist ein Kämpfer. Er wird wieder gesund werden! Er …“ „Kouyou-san!“ Seine Stimme ließ mich erstarren. Sie klang abgekämpft, müde, trostlos. „Es gibt Situationen im Leben, in denen müssen Entscheidungen gefällt werden! Die Werte sind so schlecht, es müsste ein Wunder geschehen, damit er wieder wach wird. Und dann müsste ein Weiteres geschehen, damit er gesund wach wird! Willst du ihm das antun? Willst du wirklich, dass er sein restliches Leben als Pflegefall verbringen muss?“ Ich schluckte trocken, versuchte etwas zu erwidern, doch Shiroyama-san schnitt mir das Wort ab. „Willst du dich um einen geistig behinderten Menschen kümmern, der mehr Aufwendung, Pflege und Liebe braucht, als du ihm geben kannst? Willst du dein Leben dafür aufgeben? Und wie lange sollte das gehen? Bis er dir eines Tages nur noch zur Last fällt? Er wird nicht mehr der Selbe sein! Er wird anders sein! Nicht mehr der Yuu, den du kennst! Nicht mehr der Yuu, den du liebst! Und dann? Kannst du das verantworten, Kouyou-san, nur weil du ihn jetzt nicht gehen lassen willst!?“ Ich presste meine Lippen aufeinander, während ich erfolglos versuchte die Tränen wegzuwischen. Leise schluchzte ich auf. „Ich weiß, wie sehr du ihn liebst, wie sehr er dich geliebt hat. Aber glaubst du er würde so weiterleben wollen? Glaubst du denn, er würde dir zur Last fallen wollen?“ Ich schüttelte den Kopf. Ja zu sagen wäre falsch gewesen, dazu kannte ich ihn zu gut. Er hätte gewollt, dass ich sein Lächeln in Erinnerung behielt, die schönen Zeiten, die wir miteinander gehabt hatten. Aoi hätte nicht gewollt, dass ich mein Leben aufgab um mich um ihn zu kümmern. Er hätte gewollt, dass die Maschinen abgestellt werden würden, wenn es jemals so weit war. Doch ich konnte das nicht akzeptieren. Es war mir egal, was er gewollt hätte. Ich wollte es nicht. Solange es nur einen Funken Hoffnung gab, nur ein einziges Prozent, dass er sich wieder erholen würde, würde ich es nicht zulassen, dass er ging. „Wann?“, flüsterte ich heißer. „Wann werden sie die Maschinen abstellen!?“ Als Aois Mutter den Blick hob und auf die Tür zu Aois Krankenzimmer starrte, fiel bei mir der Groschen. „NEIN!!!“ Meine Stimme überschlug sich. „Nein! Nein! NEIN!“ Das war zu früh! Das durften sie nicht! Ich hatte mich doch nicht einmal richtig von ihm verabschiedet! Noch bevor ich selbst verstand, was ich tat, war ich aufgesprungen und zur Tür gelaufen. Ich riss sie auf und stürmte in den Raum. „Fassen Sie ihn nicht an!!!“ Der Arzt fuhr zurück und sah mich überrascht an, während ich wieder auf den Sessel neben Aois Bett sank und nach seiner Hand griff. „Bitte … bitte noch nicht!“, flehte ich, während meine zitternden Finger über seine Wange streichelten. Aois Vater erschien neben mir und legte mir seine Hand auf die Schulter. „Kouyou-san…“ Ich schüttelte seine Hand ab und schüttelte verzweifelt den Kopf. Aois Gesicht verschwamm vor meinen Augen. „Bitte … ein Tag!“ Mein Atem zitterte heftig, als ich Luft holte. „Bitte gebt uns noch einen Tag!“ Der Griff an meiner Schulter verstärkte sich. „Kouyou-san, hör auf dich zu quälen.“ „Einen einzigen Tag! Bitte!“, bettelte ich weiter. Der Arzt sah Hiroki-san fragend an. Doch es war nicht er, der die Entscheidung fällte, sondern Miyuki-san. Ich konnte mich nicht daran erinnern jemals so aufgelöst gewesen zu sein. Meine Tränen versiegten erst Stunden später. Nicht etwa, weil ich mich beruhigte, sondern weil ich einfach nicht mehr weinen konnte. Ich begann ihn wieder zu streicheln, fuhr die sanften Konturen seiner Wangen nach und erhob mich, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Ich hatte es immer geliebt ihn zu berühren und das tat ich selbst jetzt. Stundenlang sprach ich mit ihm, versuchte ihm ein Lebenszeichen zu entlocken, doch er zeigte nach wie vor keine Reaktion. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, war es vier Uhr in der Früh. Sie hatten zugelassen, dass ich bei ihm blieb. Die Nachtschwester hatte mir nur einen Tee und Kekse vorbeigebracht und war dann wieder gegangen. Beides stand immer noch unberührt auf dem kleinen Tisch. Ich war müde, mein Kopf schmerzte und meine Augen tränten. „Schatz … wir haben nicht mehr viel Zeit. Wenn wir sie nicht überzeugen können, werden sie morgen die Maschinen abstellen. Ich kann sie nicht alleine umstimmen. Dazu brauche ich deine Hilfe. Wenn du mich hören kannst … bitte gib mir irgendein Zeichen …“ Ich hatte eigentlich nicht erwartet, dass etwas geschah und doch merkte ich, wie die Enttäuschung sich in mir breit machte. Ich hielt seine Hand fest und hob sie an meine Lippen um seine kühlen Finger zu küssen. Vielleicht war es ein bisschen zu unspezifisch gewesen irgendein Zeichen zu verlangen. „Yuu … Schatz … bitte … gib nicht auf! Gib jetzt bloß nicht auf! Wir haben so viel überstanden. Wir sind so weit gekommen. Ich will dich nicht verlieren! Yuu, wenn du mich hören kannst, wenn du mich verstehen kannst, drück meine Hand … bitte!“ Ich streichelte ihn weiter, presste meine Lippen wieder auf seine kühle Haut. „Aoi … ich bitte dich!“ Doch egal wie sehr ich flehte, seine Finger blieben genauso regungslos wie der Rest seines Körpers. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)