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Über Freunde und Helden

von

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Schattenseiten

An diesem späten Nachmittag war es sehr ruhig im Labor, befand Naoko. Es waren zwar einige der Studenten da, die sich auch lautstark über ihre Fortschritte und Pläne unterhielten, doch war es deutlich ruhiger als gewohnt. Seit der Vorlesung über Mikrobiologie am frühen Vormittag saß er hier im Labor und versuchte, die Werte von ihrem "Ausflug" auszuwerten. Allerhand Diagnoseprogramme und Rechenprogramme waren mit den Werten aus den Messgeräten in seiner Prothese gefüttert worden und füllten den Bildschirm mit bunten Diagrammen. Seine Prothese, die er beim Flug verwendete hatte, hatte er neben den Bildschirm gelegt, nahe bei den Werkzeugen um etwaige Verbesserungen und Reparaturen schnell durchführen zu können. Ihn durchfuhr ein gewisser Stolz, als er aus all der Datenflut zumindest herauslesen konnte, dass seine vorangegangenen Berechnungen über die Kräfte, die bei ihrem Fall über der Stadt am Material zerren würden, stimmten. Eigentlich hatte er gehofft, Gogo würde ihm beim Auswerten über die Schulter schauen. Er hatte zwar bemerkt, dass ihr das Thema nicht sonderlich lag, doch zeigte sie ein gewisses Interesse daran. Allerdings fehlte auch der Rest der Gruppe, was ihm schon etwas seltsam vorkam. Er hatte Gogo bereits am frühen Morgen eine Nachricht zukommen lassen, hatte jedoch noch keine Antwort erhalten.

Wahrscheinlich war es auch besser so. Es war ihm momentan einfach unmöglich, sich zu konzentrieren. Er spürte dieses Kribbeln und die Anspannung im ganzen Körper, was ihn nicht klar denken ließ. Er war nervös und unruhig, kam nicht zur Ruhe. Er kannte das, dieses Problem hatte er andauernd, immer schubweise. Er spürte die schlechte Laune, die seine Gedanken annahmen.

Das alles führte zu nichts, befand er mit einem Mal und fuhr den Computer runter. Flink packte er seine Sachen und verließ das Labor. Auf seinem Weg zum Ausgang kam er an der Treppe zum Dach vorbei. Er blieb stehen, dachte kurz nach und beschloss, diese zu nehmen. Die kühle Abendluft streichelte seine Haut und er atmete tief durch. Vor ihm erstreckten sich die schwarzen Metallplatten des Daches, umzäunt von einem kleinen Geländer.

Schon viel besser

Ihn umströmte wieder diese Leichtigkeit, die er so liebte, doch das reichte ihm noch nicht. Zielstrebig ging er auf die Kante zu, warf seine Tasche auf den Boden und sprang mit Schwung auf das Geländer. Er hob die Arme und balancierte ein wenig, setzte einen Fuß vor den anderen. Links gähnte die Tiefe und mit jedem Blick hinunter spürte er den schwachen Rausch, der ihn durchzog. Zu schwach, wie er fand. Mit einer schnellen Drehung begann er auf dem Geländer zu hüpfen, brachte sich an den Rand seiner Balance.

Keine Wirkung

erkannte er. Mit Anlauf griff er den Stahl des Geländers und hob seine Beine in die Luft. Einen direkten Blick nach unten und er sah die ganzen Studenten, die mal zielstrebig, mal etwas unkoordiniert herum gingen und ihre Kurse zu suchen schienen oder sich auf dem Weg nach Hause oder in die Stadt befanden.

Zwanzig, dreißig Meter

schätzte er und begann seinen Körper in Richtung Boden abzusenken, um ihn anschließend wieder nach oben zu drücken. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Er spürte das leichte Brennen in seinen Armen und der Brust.

Doch die Anspannung löste sich nicht. Nichts tat sich.

Ich brauche mehr
 

Es war bereits dunkel geworden und er erinnerte sich, was er diesbezüglich noch zu Gogo gesagt hatte. Doch er ignorierte diese Tatsache wissentlich. Dies war sein Rückzugsort, seine Hängematte zum Entspannen. Hier oben über den Dächern der Stadt wehte ein kühler Wind und spielte mit seinen Haaren. Doch war er nicht zum Schlafen hierhergekommen. Noch immer spürte er diese extreme Anspannung in seiner Brust, er musste etwas tun. Er verstaute seine Tasche sicher in der Mitte der Plattform und stieg die Leiter wieder hinab. Unten am Bauch der fliegenden Stahlkugel waren einige Stäbe angebracht worden. Naoko hob seine Prothese, ließ seinen Enterhaken an eine der Stangen klammern und zog sich zu ihr hoch. Er spürte, wie das Adrenalin durch sein Blut schoss, spürte das leicht betäubende Kitzeln, das seine Kletteraktion verursachte. Kaum hatte er das Metall auch mit der anderen Hand ergriffen, zog er sich auch schon hoch. Am obersten Punkt, kurz bevor sein Kopf gegen die Metallwand stoßen würde, ließ er sich wieder runter und wiederholte das Ganze. Unter ihm erstreckte sich die Stadt mit ihrem Meer aus Lichtern und Farben, untermalt mit den Geräuschen von Mensch und Maschine gleichermaßen. Er zählte seine Klimmzüge nicht, sondern tat es wie immer, bis seine Muskeln vor Schmerz zu schreien schienen. Der Schmerz tat ihm gut und machte seinen Kopf frei von Sorgen und dunklen Gedanken.

Laut atmend legte er eine Pause ein und ließ sich an seiner Prothese hängen. Der Schweiß ran ihm über die Haut und seine Lungen füllten sich mit kalter Nachtluft. Nur eine kurze Pause, dann ging es weiter. Manchmal fragte er sich, wie es wäre, wenn er einfach loslassen würde, doch diese Art von Gedanken unterdrückte er meist sehr schnell wieder.

Der dritte Durchgang und seine Muskeln fühlten sich an, als stünden sie in Flammen. Er holte Schwung und hakte sich mit seinen Füßen über der Stange ein. Ein kurzer Test ob er sicher hing, dann ließ er los. Mit angespanntem Oberkörper ließ er sich langsam nach unten fallen. Mit der Stadt über sich und den Ballon zu seinen Füßen hing er da, die Arme über dem Kopf hängend.

Ein wenig wie fliegen

Vor seinen Augen tanzten die Lichter der Stadt, seine Ohren nahmen den beschäftigten Klang hunderter Autos und Menschen wahr, während seine Gedanken sich mit Sorgen und Ängsten füllten. Und ganz tief verborgen in seinem Kopf ein Verlangen. Eine Stimme, die nach mehr giert. Flüsternd, doch hörbar. Naoko wusste, dass dies nur bedeutete, dass seine Medikamente nachließen, doch gab es auch eine temporäre Medizin dagegen. Er spannte die Bauchmuskeln an und zog sich nach oben, bis er mit den Fingern den blanken Stahl des Ballons berührte, dann ließ er sich wieder nach unten gleiten. Wieder und wieder machte er diese Bewegung und versuchte sich auf die Schmerzen und die vielen hundert Meter unter sich zu konzentrieren. Doch immer und immer wieder spürte er diese Anspannung, die ihm den Atem raubte, diese innere Leere.

"Geh aus meinem Kopf!"

brüllte er in die Nacht heraus, riss seinen Oberkörper hoch und schlug auf den Stahl, mit jedem Hochkommen wieder. Doch beim vierten Mal, kurz vor dem höchsten Punkt, spürte er die Vibration seines Handys. Das warf ihn völlig aus dem Konzept und mit einem Mal war jedwede Anspannung und Schmerz wie weggefegt. Ohne nachzudenken und in aller Eile griff er nach seiner Tasche, doch statt das Handy zu ergreifen, glitt es an seiner Hand vorbei. Flink griff er mit der rechten zu, als es an seinen Augen vorbeisegelte, doch war die Bewegung zu hastig gewesen. Er verlor den Halt mit seinen Füßen. Eilig zog er sich noch einmal hoch, ehe sie ganz abrutschten und griff mit der Linken das Rohr. Er atmete tief durch und spürte seinen Herzschlag, der wie ein Donner durch seine Adern jagte. Noch immer vibrierte das Handy und, als er den Namen las, klickte er aufgeregt auf den grünen Hörer

"Hey!"

"Hey."

antwortete ihm die Frauenstimme ruhig am anderen Ende der Leitung. Naoko wusste nicht ganz, wie er anfangen sollte, als Gogo ihn unterbrach

"Tut mir leid, dass ich nicht geantwortet hatte. War ´ne Menge los heute."

Naoko lachte atemlos.

"Kein Problem."

Tatsächlich war es für ihn eine unglaubliche Erleichterung, von ihr zu hören.

"Alles in Ordnung?"

fragte sie ihn.

"Ja klar, alles in Ordnung."

Er konnte seine Anstrengung nicht verbergen und versuchte es auch gar nicht.

"Du klingst so atemlos."

fuhr sie fort.

"Ja, ich habe ein paar Runden Basketball gespielt."

"Verstehe. Ziemlich windig bei dir."

Naoko bemerkte, dass sie etwas hilflos wirkte und sie offenbar nicht wirklich wusste, was sie sagen sollte. Stattdessen antwortete er

"Ja, hier weht einiges."

Gogo seufzte am anderen Ende.

"Gut, ich wollte mich nur kurz gemeldet haben. Nur damit du Bescheid weißt."

"Ich verstehe. Nun… Danke."

antwortete Naoko leise.

"Keine Ursache, wir sehen uns."

"Ja."

Ein kurzes Klicken und sie hatte aufgelegt. Es hinterließ einen bitteren Beigeschmack und all die im Hintergrund versunkenen Eindrücke um ihn herum drangen mit aller Macht wieder in seinen Verstand. Vor allem der Schmerz in seinem linken Arm, an dem er sich noch immer in der Luft hielt. Doch die Anspannung war weg, nur der Schmerz seiner Übungen war geblieben. Dieser und die Frage, was geschehen war.
 

„Du bist spät.“

Die sorgenvolle Stimme seiner Mutter hallte ihm leise entgegen, als er die Haustür hinter sich schloss und die Schuhe auszog. Sie lehnte an der Wand und sah ihn aus müden Augen heraus an. Das Haus war bereits dunkel. Lediglich eine kleine Kerze in der Hand der Frau erhellte den Flur.

„Verzeih.“

antwortete Naoko und erhob sich.

„Die Auswertung der Ergebnisse hat leider etwas länger gedauert, als ich gedacht hatte.“

Seine Mutter schüttelte nur lächelnd den Kopf.

„Warst du heute schon bei Sora?“

fragte er sie. Wieder schüttelte sie den Kopf, lächelte diesmal jedoch nicht.

„Nein… Es… es kam mir was dazwischen.“

Er sah sie nur ungläubig an, sagte jedoch nichts dazu. Er war es inzwischen gewöhnt, dass sie nur selten ihre Tochter besuchte, obwohl sie nur wenige Stockwerke unter ihr arbeitete. Es machte ihn wütend und traurig zugleich, doch war er es inzwischen leid, mit ihr darüber zu diskutieren. Als Naoko mit einem leisen

„Achso…“

an ihr vorbeiging, sagte sie

„Dein Vater erwartet dich im Dojo.“

Das überraschte ihn und er sah sie fragend an.

„Das Dojo ist doch geschlossen, oder sind die anderen Lehrlinge noch da?“

Sie verneinte und fügte hinzu

„Er sagte nur, dass du anfangen sollst, das Training ernst zu nehmen.“

Naoko nickte und verließ den Flur Richtung Garten. Das Dojo lag etwas außerhalb des Hauses am Ende des großen Grundstücks. Eine einsame Lampe leuchtete an der Wand des hölzernen Gebäudes, doch konnte er durch den dünnen Stoff der Schiebetür erkennen, dass im Inneren mehrere Kerzen brannten. Als er die Tür leise aufschob, erstreckte sich vor ihm der mit Tatami gepflasterte Raum, erhellt vom rötlichen Kerzenlicht. Das Gebäude war gut fünf Meter hoch und eine kleine Tribüne war ringsum auf Höhe des nicht vorhandenen ersten Stocks aufgebaut. Sein Vater hatte ihm mal erzählt, dass hier früher zu Zeiten seines Großvaters auch Turniere hochrangiger Kendokämpfer stattgefunden hatten und dass dieser Dojo im ganzen Land bekannt war.

Am anderen Ende des Raumes kniete sein Vater vor einem Schrein aus Kerzen, die ein altes Bild an der Wand in warmes Licht tauchten. Er erkannte das Bild seines Großvaters. Als er leise an ihn herangetreten war, kniete er nieder und neigte seinen Kopf auf den Boden, während er in leisem Japanisch

„Verzeih.“

flüsterte.

„Du bist spät.“

war die Antwort, die er bekam, ebenfalls in Japanisch, doch drehte sein Vater sich dabei nicht um.

„Ja.“

antwortete Naoko. Er wusste, dass er erst gar nicht von der Uni anfangen brauchte, um sich zu rechtfertigen, da jede Diskussion hier überflüssig wäre. Sein Vater murmelte ein paar leise Worte, ehe er das Räucherstäbchen, das er in der linken Hand trug, in einen Tonkrug legte.

„Warum stellst du deine persönlichen Interessen immer über die der Familie?“

Naoko spürte die Wut in sich aufkochen. Diese Anschuldigung war für ihn nichts Neues, doch kränkte es ihn wie beim ersten Mal. Er hatte noch immer sein Haupt geneigt und kämpfte gegen den Drang, einfach aufzustehen und zu gehen.

„Deine Familie braucht dich.“

fuhr sein Vater fort und drehte sich zu ihm um. Naoko platzte beinahe der Kragen

Und Sora braucht euch, ihre FAMILIE

schrie er innerlich und versuchte diese Worte zu verschlucken. Stattdessen brachte er ein gequältes

„Ja, Vater.“

heraus.

„Du kannst dich erheben.“

Als Naoko seinen Kopf hob, sah ihn sein Vater mit seinen eisblauen Augen an. Doch zu Naokos Überraschung, fuhr sein Vater ihn nicht an, sondern seufzte nur, bevor er sprach

„Eines Tages werde ich zu alt sein, um die Pflichten dieses Dojos weiter ausüben zu können. Es wird an der Zeit, dass du dich deiner Aufgabe bewusst wirst.“

Naoko antwortete nicht, sah ihn nur an, während es in seinem Inneren brodelte.

„Hier, ich möchte dir etwas zeigen.“

Sein Vater erhob sich, ging an den kleinen Schrank am anderen Ende des Raumes. Die Türen öffneten sich laut quietschend und heraus zog er ein Katana, umhüllt von einer schwarzen, ledernen Scheide. Er setzte sich mit diesem in der Hand wieder gegenüber seinem Sohn und reichte ihm das Schwert. Naoko wusste nicht, was er sagen sollte, und sah ihn nur fragend an. Als sein Vater nickte, packte er das Heft des Schwertes und zog es heraus. Sein Stahl war blutrot und schimmerte im Licht der Kerzen. Kleine Zeichen waren in die Mitte der Klinge eingraviert worden. Naoko sah seinen Vater an

„Was…?“

Dieser erhob jedoch die Hand und Naoko schwieg.

„In unserer Sprache bedeutet es so viel wie: Der Schatten ist Mantel wie Rüstung in den Augen derjenigen, die ihn verstehen.“

„Und warum erzählst du mir das?“

fragte Naoko ihn, als er den Blick wieder auf das Schwert richtete.

„Dieses Schwert besitze ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr.“

Er sah seinen Sohn ernst an.

„Ich habe es damals selbst geschmiedet.“

Als der Stahl mit metallenen Kreischen in der Scheide versank und Naoko es auf seinen Beinen ablegte, machte sich in seinem Körper ein ungutes Gefühl breit.

„Du zeigst es mir nicht einfach so.“

Sein Vater schüttelte den Kopf

„Nein. Dazu gehört eine Geschichte, wie mein Vater mir einst beibrachte, meine eigene Klinge zu schmieden und…“

Er seufzte kurz und hielt inne, ehe er fortfuhr

„… und was ich mit diesem Wissen gemacht habe.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  jyorie
2015-07-09T07:54:01+00:00 09.07.2015 09:54
Hallo (^o^)y

ö.Ö das klingt ja direkt nach einem Adrenalin Junkie, was Naoko da alles tut, damit er sich besser fühlt. Ein Tanz am Abgrund, kaum zu glauben das ihm der Kick nicht ganz langt – ich frag mich was er da für Medikamente nimmt, die ihm helfen sonst ausgeglichen zu sein. (Ob er vielleicht auch auf die Art seinen Arm verloren hat, das er ein bisschen Leichtsinnig gewesen ist? ... aber vielleicht war es auch ein Unfall, seine Schwester ist ja im KH) und wenn jemand mit so einer Inneren Unruhe sich beginnt zu verlieben, ist es dann wohl noch schwerer, sich ausgeglichen zu fühlen.

Die Szene im Dojo war interessant – ob der Vater dann doch etwas mit den Einbrüchen zu tun hat? Ich bin mal gespannt, auf die Geschichte die er mit dem Katana erzählen will :)

Liebe Grüße, Jyorie
Antwort von:  GrauW0lf
01.08.2015 22:59
Hey :)

Ja, jeder hat sein Päckchen zu tragen, sonst wäre das Leben ja auch zu einfach.^^

LG GrauW0lf


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