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Über Freunde und Helden

von

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Hoch hinaus

Der Tag war sonnig und angenehm warm und das Gebäude war gut besucht. Auf dem angrenzenden Platz tummelten sich bei diesem Wetter eine Menge Menschen vor dem Eingang und erschwerten es Gogo, Naoko aus dieser Masse heraus zu erkennen. Er hatte ihr gestern, nachdem er sie vor Hiros Haus abgeliefert hatte, noch gesagt, dass er ihr unbedingt etwas zeigen und sie deshalb heute hier treffen wolle. Sie fragte sich, was er ihr wohl unbedingt zeigen wollte, und hoffte dabei inständig, dass sie nicht Honey über den Weg laufen würden. Noch mehr dieser Vermutungen von ihr und sie würde ihr den Hals umdrehen. Andererseits wusste sie auch nicht, warum es sie überhaupt so störte. Soll Honey doch ihre Vermutungen haben, was sollte es sie interessieren. Sie wusste ganz genau, dass da nichts lief und auch nie laufen wird und eigentlich sollte ihr das ja egal sein. Doch trotzdem schien es ihr unendlich peinlich, wenn Honey sie mit derartigen Fragen löcherte. Als ob sie es nötig hätte, sich einen Kerl für solch romantischen Unsinn zu suchen, hatte sie doch absolut kein Interesse an so etwas. Je mehr sie darüber nachdachte, desto aufgeregter wurde sie.

Wo bleibt er nur?

Sie spielte mit dem Gedanken, einfach wieder zu gehen, und vielleicht war das auch besser, doch als sie sich umdrehte und den ersten Schritt in Richtung des Parks tat, prallte sie bereits gegen jemanden. Wütend sah sie nach oben und blickte in eisblaue Augen, die sie freudig ansahen.

"Tut mir leid, die Bahn hatte etwas Verspätung."

erklärte er ihr. Gogo bemerkte erschrocken, dass sie noch immer an seiner Brust lehnte, und wich mit einem schnellen Schritt zurück, blies ihren Kaugummi auf und ließ ihn wieder platzen. Zu seiner normalen Kluft hatte er einen kleinen, zerschlissenen Rucksack dabei.

"Tut mir leid."

wiederholte der junge Mann und verbeugte sich vor ihr.

"Was willst du mir zeigen?"

antwortete Gogo, verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief.

"Hast du Höhenangst?"

fragte er sie mit schelmischem Unterton. Als Antwort gab Gogo ihm einen Schlag in die Rippen. Naoko winkte hustend ab.

"Alles klar."

Mit einem Wink zum Gebäude machten beide sich auf den Weg ins Innere. In der Lobby schien die ganze Bevölkerung der Stadt unterwegs zu sein, so voll war es. Die beiden kamen nur langsam voran und Gogo hoffte inständig, dass er ihr nicht nur den Blick auf San Fransokyo zeigen wollte. Als sie sich durch die Menschen gedrängt hatten, kamen sie zu den Aufzügen. Ein Knopfdruck und wenige Minuten später standen sie auch bereits darin auf dem Weg zur Aussichtsplattform. Das Bild in der Lobby schien sich im Aufzug fortzuführen. Es war unglaublich voll und Gogo wurde quasi gegen Naokos Brust gedrückt. Sie kochte schon. Wie sie so etwas hasste. Wenn Honey jetzt hier wäre, würde sie ihr die nächsten Monate noch damit in den Ohren liegen. Ihr Begleiter jedoch sagte kein Wort und sah sie auch nicht an, was Gogo nur recht war. Eine gefühlte Stunde in peinlicher Umarmung später waren sie an der höchsten Etage angekommen. Als sich die Türen öffneten, ergoss sich eine Menschenmasse auf den viel zu kleinen Platz.

"Du hast mich hoffentlich nicht wegen der Aussicht hier hoch geschleppt."

fuhr sie ihn genervt an und Naoko blickte sie mit seinem unschuldigen Hundeblick an.

"Nicht für diesen hier."

Gogo wollte fragen, was er meinte, doch war er mehr damit beschäftigt, sich umzusehen, als ihr Gehör zu schenken. Plötzlich packte er ihre Hand und lenkte sie durch die Menge. Ihr Blut schoss dabei ins Gesicht und ließ sie glühen, doch konnte sie sich auch nicht loswinden. Wenige Sekunden später, an nervigen Touristen und deren Kindern vorbei, standen die beiden am westlichen Rand, an dem ein Gitter eine kleine stählerne Treppe dahinter verbarg.

"Was wollen wir hier?"

fragte sie ihn, doch schenkte er ihr keine Beachtung, sondern sah sich stattdessen um.

"Alles frei, bist du bereit?"

"Bereit wofür?"

Gogo wusste nicht, was er vorhatte, doch statt zu antworten, murmelte er nur ein kurzes

"Verzeih."

Noch ehe Gogo reagieren oder auch nur etwas sagen konnte, packte er sie an der Hüfte und hob sie an der Wand neben dem Gitter hoch, als wäre sie nur eine Puppe.

"Was zum...?"

wollte sie brüllen, doch er unterbrach sie.

"Greif nach dem Absatz und zieh dich hoch."

Trotz ihrer Wut, tat sie, was er sagte, und zog sich nach oben. Als sie sicher auf dem Absatz saß, sprang Naoko unter ihr mit einem Satz an den Vorsprung und zog sich ebenfalls hoch.

"Wir werden gesehen."

fuhr Gogo ihn an, doch er lachte nur.

"Nein, werden wir nicht. Die Menschen hier sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich nach vorne zu der Mauer zu kämpfen, um die Aussicht zu genießen, als dass sie auf uns achten."

Gogo sah ihn skeptisch an und, als würde er ihre Frage erahnen, antwortete er

"Ich hab das schon ein paar Mal gemacht."

Sie erwiderte nichts, doch musste sie zugeben, so etwas von ihm nicht erwartet zu haben. Als er oben war, stand er auf.

"Folge mir."

Zusammen gingen sie an der Mauer entlang um die Ecke und sprangen hinter dem Gitter auf die kleine Treppe.

Wohin führt die?

fragte Gogo sich, doch wollte sie lieber abwarten. Sie war nur froh, dass sie das Gedränge hinter sich gelassen hatten und sie nicht mehr gezwungen war, ihm so unheimlich nah zu sein. Allerdings hatte es ihr auch irgendwie gefallen, wenn er sie berührte, auf eine seltsame Art und Weise. Sie verdrängte den Gedanken schnell wieder, als sie das Ende der Treppe erreicht hatten. Vor ihr lag ein weiterer Aussichtspunkt, gleich wie der andere, nur kleiner und leer.

"Das wolltest du mir zeigen?"

Naoko lächelte sie an.

"Nein."

Er legte seinen Rucksack ab, kniete sich hin und begann, darin zu wühlen. Dabei sagte er

"Das letzte Mal habe ich dir bei deinem Fahrrad geholfen. Jetzt hoffe ich, dass du mir hilfst."

Gogo hob eine Augenbraue und Naoko zog mit einem stolzen Gesichtsausdruck eine neue Prothese aus seiner Tasche. Sie leuchtete förmlich im Sonnenlicht und sie sah ganz anders aus, als die, die er gerade trug.

"Du hast noch eine?"

Sie blickte ihn kritisch an und er lacht leise.

"Die,die ich gerade trage ist auch nur fürs Arbeiten gedacht. Die hier..."

Er hob sie hoch und zeigte sie ihr.

"... Hat eine andere Aufgabe."

Flink zog er sein Shirt aus und griff nach seinem Werkzeug. Ein, zwei Handgriffe und die Prothese, die er gerade noch am Arm trug, war abmontiert und entblößte das tiefe Loch in seiner Schulter. Neugierig beobachtete Gogo jeden Handgriff, den er tat, und jeden Muskel, der sich bewegte. Erschrocken schüttelte sie den Kopf über den letzten Gedanken.

"Alles in Ordnung?"

fragte er sie gut gelaunt und lächelte sie an. Gogo hingegen erwiderte genervt

"Wird das heute noch was?"

"Bin gleich fertig."

antwortete er und fuhr fort. Die kleinen Schnitte auf seinem Bauch und seiner Brust waren beinahe nicht mehr zu sehen und irgendwie war sie auch froh darum. Es hätte ihn umbringen können, wenn ihn die ganze Wucht getroffen hätte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sich das anfühlen würde. Mochte Honey sie doch aufziehen, sie mochte den Kerl doch irgendwie.

"Fertig."

hörte sie ihn neben sich. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie er wieder alles eingepackt, das Shirt angezogen und neben sie getreten war.

"Wir können weiter."

fuhr er fort und glitt an ihr vorbei.

"Wohin?"

fragte sie, doch stand er bereits an einer kleinen Leiter, die sie auf das Plateau auf dem Dach führen würde. Statt zu antworten, stieg er diese nach oben und Gogo folgte ihm wortlos. Oben angekommen wehte ein leichter, angenehm kühler Wind. Hier auf dem Dach waren zahlreiche Eingänge für die Klimaanlage verbaut worden und auch die drei fliegenden Windballons des Gebäudes für die Stromerzeugung über der Stadt waren hier an dicken Stahlseilen befestigt.

Was wollen wir hier?

fragte Gogo sich und sah neugierig zu Naoko, der an einem der dicken Stahlseile stehen blieb und sie zu sich winkte. Seine Prothese sah eigenartig und futuristisch aus und bewegte sich langsam im gleichen Takt wie sein Atem.

"Was wird das?"

Naoko lächelte sie an und irgendwas an seinem Lächeln gefiel ihr gar nicht.

"Hast du Höhenangst? Letzte Chance."

Sie verstand nicht, worauf er eigentlich hinaus wollte, und sah ihn misstrauisch an.

"Was hast du vor?"

"Dir etwas zeigen."

Sie war an ihn heran getreten und offenbar nah genug für das, was er vorhatte. Blitzschnell legte er den Arm um sie, spannte einen Gurt um sie herum und band sie an sich fest. Gogo konnte gerade noch ein

"Wage es dich!"

herausdrücken, als die Prothese sich öffnete und drei stählerne Räder zum Vorschein kamen, die seltsam surrten, wenn sie sich bewegten. Flink hakte Naoko diese an das Stahlseil, umgriff mit seinem Arm Gogo und mit einen heftigen Ruck verlor sie den Boden unter den Füßen. Mit unglaublicher Geschwindigkeit entfernten sie sich vom Dach und Gogo sackte das Herz in die Hose. Panik machte sich in ihrer Brust breit. Sie schloss die Augen und klammerte sich verzweifelt an Naoko. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten und sie spürte auf einmal, wie sie stoppten, doch wagte sie es nicht, ihre Augen zu öffnen. Sie spürte, wie er sie sanft und vorsichtig auf seinen Rücken bugsierte. Er kletterte offenbar eine Leiter nach oben und langsam nahm der steile Winkel ab. Der Aufstieg dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie ihn die erlösenden Worte sagen hörte und stoppte

"Wir sind da."

Dort standen sie auf dem hellen Stahl eines Turbinenballons und vor ihnen floss ein Meer aus Wolken an ihnen vorbei.

"Das wollte ich dir zeigen."

Gogo entfuhr ein leiser Laut der Bewunderung. Die Aussicht war atemberaubend. Sie wusste, dass Hiro schon einmal auf einem von diesen gestanden hatte, doch waren seine Beschreibungen nichts gegen das, was sie nun mit eigenen Augen sah. Sie war noch immer auf Naokos Rücken und klammerte sich an dessen Schultern, doch war ihr das in diesem Moment völlig egal. Genau genommen genoss sie es gerade sogar sehr.

"Gogo?"

wandte er sich an sie und es schien, als hätte seine Stimme einen leichten, besorgten Unterton. Gogo erschrak, als ihr bewusst wurde, wie nah sie ihm doch inzwischen war. Hastig ließ sie ihn los und löste den Gurt, der sie gesichert hatte.

"Eine ganz schöne Aussicht."

gab sie peinlich berührt zu. Naoko lachte

"Freut mich, dass sie dir gefällt."

Sie spürte, wie sie sich ein wenig entspannte und das Zittern ihrer Beine langsam nachließ. Naoko trat an die Spitze des Ballons, setzte sich hin und ließ seine Beine baumeln. Gogo beobachtete ihn erst ein wenig, ehe sie an seine Seite trat und sich ebenfalls setzte. Unter ihnen erstreckte sich die Beton- und Glaslandschaft der Stadt mit ihren bunten Farben und Formen. Mit einem Mal holte Gogo weit aus und schmetterte ihre Faust gegen seine Brust. Keuchend hustete er und sah sie überrascht wie fragend an.

„Mach so was noch einmal und ich breche dir irgendwas.“

„Was denn?“

lachte er hustend.

Mich einfach so an dich festzubinden und in die Luft zu heben

grübelte sie vor sich hin, sprach es jedoch nicht aus. Es folgte eine lange Pause, in der beide einfach nur da saßen und die Aussicht genossen, ehe Gogo schließlich fragte

"Dein Hobby?"

Naoko sah sie fragend an.

"Auf diese Dinger zu klettern."

ergänzte sie und Naoko nickte.

"So was in der Art. Ich liebe das Gefühl, weit über allem stehen zu können. Alles wirkt so klein und bedeutungslos."

schwärmte er und seine Augen wanderten den Himmel ab. Gogo wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

"Wie bist du vorher hier hoch gekommen?"

fragte sie ihn stattdessen, als sie sich die Prothese ansah. Die Räder waren bereits wieder im Inneren verschwunden und das raue, stählerne Schuppengeflecht leuchtete matt im Sonnenlicht.

"Mit der anderen."

Gogo war schockiert.

"Mit dem instabilen Ding?"

Naoko nickte.

"Du bist völlig bescheuert."

"Manchmal."

antwortete er beinahe träumerisch.

"Wie kommt man auf solch eine wahnwitzige Idee?"

Gogo wusste nicht ganz, warum es sie so ärgerte, dass er sein Leben so leichtsinnig aufs Spiel setzte, doch würde sie ihn grade am liebsten dafür ohrfeigen.

"Wenn man den Wunsch zu fliegen hat."

Das überraschte sie allerdings und der Zorn schien verflogen.

"Schon mal was von Flugzeugen gehört?"

fuhr sie ihn jedoch rüde an. Sie wollte nicht nachgeben.

"Natürlich."

antwortete er mit träumerischer Stimme.

"Näher komme ich der Freiheit nun mal nicht."

Gogo erwiderte nichts darauf und Naoko ließ sich auf den Rücken fallen und richtete seinen Blick auf den blauen Himmel und die Wolken über ihnen.

"Warum zeigst du mir das hier?"

Sie wusste nicht, warum diese Frage über ihre Lippen ging, doch irgendetwas in ihr wollte das wissen. Sie ließ sich ebenfalls nach hinten fallen und lag nun neben Naoko, der lächelnd in den Himmel sah.

"Was bringen einem die schönsten Dinge, wenn man sie mit niemandem teilen kann?"

Gogo erwiderte nichts. Das war keine wirkliche Antwort auf ihre Frage, doch wollte sie es erstmal darauf beruhen lassen.

Die Zeit verging und Gogo war überrascht, wie sehr es sie doch entspannte, hier zu liegen und, als sie zu Naoko rüber sah, bemerkte sie, wie dieser bereits die Augen geschlossen hatte. Langsam hob sich sein Brustkorb auf und ab, im gleichmäßigen Takt. Sie war definitiv zu leicht angezogen für diesen kalten Wind hier oben und sie spürte ihre Muskeln zucken. Ohne darüber nachzudenken, robbte sie sich näher an ihn heran, etwas weg vom Abgrund. Sie fragte sich, wie oft er eigentlich hier oben war und wieso er es überhaupt tat.

Natürlich, die Aussicht war atemberaubend, aber wenn es nur darum gehen würde, würde er ja hier nicht schlafen. Vorsichtig legte sie sich auf den Bauch und drehte den Kopf in seine Richtung. Sie wüsste zu gerne, was sich hinter diesen blauen Augen verbirgt und über was er nachdachte.

"Hast du eigentlich Hunger?"

fragte er sie auf einmal, öffnete die Augen und drehte seinen Kopf zu ihr. Gogo überlegte kurz.

"Hast du was dabei?"

fragte sie schließlich zurück und Naoko setzte sich auf. Er griff nach seinem Rucksack und zog ihn heran, öffnete den Reißverschluss mit einem lauten Surren und zog ein kleines Bündel heraus.

"Meine Mutter macht unglaublich guten Reiskuchen."

erzählte er ihr, während er das Bündel öffnete. Warm dampfend kamen mehrere mittelgroße Kugeln aus Reis zum Vorschein. Er nahm eine und reichte sie Gogo. Sie hatte so etwas noch nie zuvor gegessen und war doch überrascht, wie gut Reis schmecken konnte. Am Horizont zog die inzwischen rot glühende Sonne ihre Bahn über die Stadt und der Himmel schien langsam dunkel zu werden. Naoko sah auf seine Uhr.

"Wir sollten uns langsam auf den Weg machen. Es ist schwierig, im Dunkeln hier wieder runterzukommen."

Er lachte nervös. Offenbar hatte er das schon miterlebt, dachte Gogo sich und fragte

"Was ist der Unterschied? Die Stadt ist auch bei Nacht hell genug."

"Das stimmt."

antwortet Naoko und stand auf. Prüfend sah er über den Rand des Ballons hinweg zur Stadt hinunter.

"Aber das Hochhaus unter uns ist dann gesperrt und da wieder raus zu kommen ist etwas kniffliger."

Er lächelte sie warm an und sie durchfuhr ein leichter Schauer dabei, doch sie ließ es sich nicht anmerken.

"Wo wir gerade dabei sind. Wie kommen wir überhaupt hier runter?"

fragte Gogo ihn neugierig. Er grinste sie schelmisch an und trat näher an sie heran, so nah, dass sie glaubte, seinen Atem auf ihrer Haut zu spüren und die Hitze, die von seinem Körper ausging.

"Vertraust du mir?"

fragte er sie auf einmal. Gogo war überrascht über diese plötzliche Frage und wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Stattdessen sah sie ihn nur mit hochgezogenen Augenbrauen an.

"Vertraust du mir?"

wiederholte er die Frage und sah ihr in die Augen. Gogo nickte schwach.

Was sollte schon passieren?

Zufrieden lächelte er sie an und warf sich seinen Rucksack über die Schulter. Er packte sie an der Hüfte und zog sie zu sich, weder zu grob noch zu sanft, und legte ihr den Gurt wieder um wie zu Anfang. Nur diesmal störte Gogo das nicht. Sie sah ihm weiterhin in die eisblauen Augen.

"Weißt du was?"

sagte Naoko leise

"Ich mag dich."

Noch ehe Gogo auf dieses plötzliche Geständnis reagieren konnte, spürte sie, wie sie zu ihm gezogen wurde. Erst, als sich die Stadt mit all ihren Farben und Lichtern hinter ihm erstreckte, begriff sie. Sie fielen. Sie spürte den Wind, der an ihr zog, die Geschwindigkeit, die sie aufnahmen, und sah das warme Lächeln Naokos, der sie noch immer ansah. Alles geschah wie in Zeitlupe und ihr Kopf war wie leergefegt. Als sich die Lippen des Jungen zu Wörtern formten, bekam Gogo nur die Hälfte mit.

"...festhalten!"

Mit dem linken Arm umgriff er sie und drückte sie fest gegen sich. Den rechten erhob er und zielte. Im Bruchteil einer Sekunde schoss die Hand, die eben noch an der Prothese hing, heraus und flog an ein Stahlseil gekoppelt davon. Ein Ruck durchfuhr sie und die Fallrichtung änderte sich abrupt. Als sie hinter sich sah, erkannte sie, dass die Hand an einem anderen Trägerseil hing, an einem anderen Ballon.

Gogo schloss die Augen. Nicht aus Angst, wie sie bemerkte, sondern um das Gefühl der Geschwindigkeit zu genießen. Sie hörte, wie das Herz in seiner Brust heftig gegen seinen Brustkorb schlug, und auf irgendeine seltsame Art und Weise beruhigte sie das. Erst als sie spürte, dass sie zum Stillstand gekommen waren, öffnete sie die Augen wieder. Sie hingen an einem der Seile und unter ihr erkannte sie die hohen, gewundenen Schnellstraßen.

"Du hast die Wahl."

hörte sie ihn sagen.

"Willst du aussteigen?"

Er wies mit den Augen auf das Dach, an dem der Ballon befestigt war. Gogo lächelte ihn an. In ihr machte sich ein unglaubliches Gefühl breit. Euphorisch sah sie ihm in die Augen und Naoko nickte nur.

"Halt dich fest."

sagte er nur. Sie tat, wie ihr geheißen, und hielt sich an ihm fest. Er wiederum hob den linken Arm und hielt sich am Seil fest. Mit dem rechten ließ er los und zielte auf das gegenüber liegende Gebäude. Kaum verankert, ließ er auch schon wieder los. Es war ein unglaubliches Gefühl für Gogo, vergleichbar mit einer schnellen Fahrt auf der Achterbahn und sie lachte. Immer wieder schwangen sie von Gebäude zu Gebäude, ließen die Menschen unter sich. Viel zu schnell war es dann auch schon wieder vorbei und sie standen gemeinsam auf dem Vorplatz des Wolkenkratzers, den sie vor Stunden noch bestiegen hatten. Gogo richtete ihre Haare, die vom Wind völlig zerzaust waren, wieder zurecht, und blies dabei ihren Kaugummi immer wieder auf. Naoko indes war damit beschäftigt, seine Prothesen zu tauschen.

"Jetzt muss ich die Daten morgen nur noch auswerten."

sagte er und grinste dabei von Ohr zu Ohr. Gogo befand, dass er dabei wie ein Zehnjähriger aussah, der gerade seinen Geburtstag hatte, doch auch sie musste lächeln. Der "Flug" lag ihr noch immer in den Knochen. Ihre Beine zitterten leicht und ihr Herz schien zu explodieren. Gleichsam wie dieses unglaubliche Kribbeln.

"Das war nicht übel."

versuchte sie mit Fassung zu sagen, was ihr wohl nur mäßig gut gelang, denn Naoko grinste sie wieder schelmisch an.

"Ja."

antwortete er nur, packte sein Werkzeug und seine Erfindung wieder in den Rucksack und warf diesen über die Schulter.

"Ich sollte mich dann mal auf den Weg machen, sonst bringt mein Vater mich noch um."

Er lachte leicht, während er das sagte.

"Dann sehen wir uns morgen."

erwiderte Gogo und erhob die Hand.

"Morgen."

bestätigte Naoko und schlug ein. Erst als er bereits in die nächste Straße eingebogen war, erinnerte Gogo sich wieder an das, was er kurz vor ihrem Fall zu ihr gesagt hatte, und es trieb ihr die Hitze wieder ins Gesicht. Als sie sich umdrehte, ihren Kaugummi aufblies und ihre Schritte in Richtung ihres Zuhauses lenkte, dachte sie

Ja, ich denke, ich mag dich auch

und für einen kurzen Moment flackerte das Kribbeln ihres Fluges wieder auf, auch wenn sie den Gedanken verdrängte, dass es wohl eher an ihm lag.

Verdammt sollst du sein Honey.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  jyorie
2015-07-09T05:24:48+00:00 09.07.2015 07:24
Hallo (^o^)y

Wow, ich hatte ehrlich gesagt darauf getippt, das Naoko in seiner Prothese Flügel hat, und das er sich mit Gogo vom Dach stürzt und die beiden einen Seegelfluch machen, spätestens, als sie vom Balkon herunter kommen. Aber die Idee mit dem Schwingen wie Spiderman war auch cool. Und ich habe mich in dem Kapitel auch etwas über Naoko gewundert, das er Gogo einfach so schnappen und Tragen kann, er muss ja doch schon ganzschön kraft haben, wenn er das packt.

Dieser Balon muss für ihn ein echter Rückzugsort sein, kann mir vorstellen, das er das auch braucht bei den Eltern und der kranken Schwester – einen Ort wo er seine Ruhe hat.

Liebe Grüße, Jyorie


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