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Blind Date

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben.

Lang ist es her, dass ich diese Geschichte weiter geschrieben hab ^^"
Ich möchte euch auch nicht lange aufhalten.
Nur kurz zum Verständnis:
Der erste Absatz spielt im Hier und Jetzt, nachdem Itoe Kira kennengelernt hatte.
Alles weitere beschreibt die Geschehnisse, die direkt nach Miros Tod stattgefunden haben.
Es ist in sofern nicht direkt eine Erinnerung von Itoe,
sondern eher eine eigenständige Geschichte, ein Kapitel über Itoes Verlust.

Es ist ein bisschen düster, trotzdem wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen.

Eure May_Be Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hey meine Lieben ^^

Wow, ich hab's endlich geschafft! Dafür könnt ihr euch gern bei Soralai bedanken, die mir mit Ihrem Kommentar Feuer unterm Hintern gemacht hat :D

Ansonsten bleibt nur zu sagen, viel Spaß beim Lesen und danke an alle, die geduldig auf den nächsten Teil gewartet haben :* Komplett anzeigen

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Kiras Plan

Itoe kamen die letzten Tage vor wie im Traum. Wenn sie daran zurück dachte, sah sie nur verschwommene Bilder ihrer Erinnerung. Es war nicht einfach, Kiras Tod zu verarbeiten. Nicht nur, weil sie ihn vom Herzen geliebt hatte, nein. Sie hatte nicht einmal Zeit zum Trauern gehabt. Sie musste formelle Dinge erledigen, den Transport von Kiras Leichnam nach Tokyo organisieren und seine Familie aufsuchen. Das schwierigste war der letzte Teil. Sie war noch gar nicht bereit, seiner Familie entgegenzutreten. Sie wusste, dass keiner sie kannte, weil Kira seiner Familie nichts von ihr erzählt hatte. Sie war praktisch eine Fremde. Wie würde es rüber kommen, wenn sie verkündete, dass sie Kiras Frau sei? Würde man ihr überhaupt glauben?

Itoe drückte ihre Tasche und dachte kurz an den Inhalt. Darin befand sich ein Brief an Kiras Bruder. Das sollte Beweis genug sein. Sie wusste sehr wenig über seine Familie. Nur dass sie wohlhabend war. Und dass er einen Bruder hatte. Mehr jedoch nicht.

Itoe atmete tief durch, als sie vor dem riesigen Anwesen stand und klingelte. Kurzen Augenblick später wurde die Tür geöffnet.

Itoe wurde ganz schwindlig als sie in das vertraute Gesicht blickte. Nein, das konnte nicht sein. Kira war tot. Warum bestraften die Götter sie so grausam?

Intuitiv wusste sie, dass es Kiras Bruder war, aber dass er gleichzeitig Kiras Zwilling war, hatte er nie erwähnt.

 

Als Kira die Tür aufschloss, hatte er mit so einer hübschen Besucherin nicht gerechnet. Zu wem sie wohl wollte? Hier lebten nur seine Eltern. Er war nur zu Besuch gekommen - und das eher aus seinem Pflichtgefühl heraus. Vielleicht war das auch die Geliebte seines Vaters, die jetzt reinen Tisch machen wollte. Wie dem auch sei. Das Mädchen sah ihn mit ihren großen Augen an, als wäre er ein Geist.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Er ergriff ihren Arm, da sie kurz vorm Umkippen war.

„Ja... ich dachte nur...“

Sie brach ab und entzog ihm ihren Arm. Sie schien sich zu beruhigen und sah erst dann wieder zu ihm auf.

„Ich bin Itoe Tamada, Kiras Frau. Ich bin hier um Ihnen mitzuteilen, dass Kira leider verstorben ist.“

Kira hob eine Augenbraue. Kiras Frau? Etwas stimmte hier nicht. Er war Kira.

„Eh... Moment. Sie meinen Miro“, betonte er, „er war mein Zwilling.“

Kira hatte es schon länger gespürt, dass es Miro nicht länger aushalten würde. Vor einigen Tagen hatte Kira seinen Tiefpunkt gehabt. Vielleicht war genau das der Moment, als Miro aus dem Leben schied.

Kira ließ sich auf die Stufen nieder, um die Nachricht zu verarbeiten. Sein Bruder war tot und er würde nie wieder zurückkehren.

 

Itoe wollte mit ihm nicht über Namen streiten. Sie wusste doch genau, wie ihr Mann hieß. Stattdessen holte sie den Brief aus der Tasche und reichte ihm diesen.

„Der ist für Sie. Kira hatte ihn Ihnen hinterlassen.“

Kiras Bruder nahm den Umschlag entgegen und holte zwei Briefe heraus.

„Ich glaube, der ist an Sie“, meinte er und reichte ihr das Blatt Papier, auf dem ihr Name stand.

Itoe war überrascht, dass Kira ihr auch einen Abschiedsbrief geschrieben hatte. Ihre Hände zitterten, als sie das Blatt auseinander faltete und die Zeilen las.

 

Liebste Itoe,

du warst für mich die Liebe meines Lebens, doch nun bin ich fort und enttäusche dich wahrscheinlich sehr mit meinen letzten Worten.

Leider muss ich dir jetzt gestehen, dass ich eigentlich Miro bin... und nicht dein Mann.

Ich weiß, das ist alles sehr verwirrend für dich, aber ich hatte meine Gründe.

Ich wollte, dass du meinen Bruder Kira kennenlernst. Er ist ein wunderbarer Mensch, wahrscheinlich der bessere von uns beiden... Er wird gut auf dich achtgeben, wenn ich nicht mehr bin.

Natürlich verstehe ich, wenn du dich von ihm scheiden lassen willst, aber ich will nur dein Bestes, mein Engel, denn du hast mir Freude ins Leben gebracht und ich wollte es irgendwie wieder gut machen. Bitte, gib ihm eine Chance. Ihr habt beide Glück verdient.

Ich hoffe, du kannst mir irgendwann vergeben, dass ich dich angelogen habe.

In ewiger Liebe Miro

 

Itoe war ziemlich verwirrt. Dann hatte sie die ganze Zeit Miro geliebt? War jetzt aber rechtlich an Kira gebunden? Ihre Gefühle überströmten sie mit heftiger Wucht. Sie wischte sich über die feuchten Augen und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.

 

Kira las derweil seinen eigenen Brief:

 

Hallo lieber Bruder,

wenn du das hier liest, bin ich von dieser Erde geschieden und bedauere es zutiefst, dass ich dir nicht Lebewohl sagen konnte.

Auf meiner Reise habe ich zudem einen Engel gefunden, den ich nun zu dir schicke.

Itoe, sie kommt auch aus Japan und ist nun... deine Frau! Ja, du hast richtig gelesen. Ich habe mich als dich ausgegeben, denn ich war mir sicher, dass du ohne mich noch total versauerst.

Du brauchst sie und sie braucht dich. Bitte Kira... es ist mein einziger Wunsch. Lass sie nicht ziehen... Ich weiß, hinter deiner harten Schale steckt ein weicher Kern und du wirst sie mögen.

Pass auf diesen Schatz auf und werdet glücklich.

In brüderlicher Liebe

Miro

P.S. Das war meine Mission auf dieser Welt.

 

Während Kira den Brief las, fluchte er leise vor sich hin. Was hatte sich sein verrückter Bruder bloß dabei gedacht? Er konnte doch nicht einfach dieses Mädchen mit ihm verheiraten! Aber das sah Miro mal wieder ähnlich. Er war bekannt für seine eigensinnigen Ideen.

Kira fuhr sich nachdenklich durchs Haar, ohne eine Ahnung, was er von der ganzen Sache halten sollte. Nun ergab die Verwechslung mit dem Namen einen Sinn.

Kira erhob sich von den Stufen und sah zu dem fremden Mädchen, das nun seine Frau sein sollte. War das vielleicht ein Trick? Wollte sie ihn hereinlegen? War sie die Betrügerin? Er war nicht reich, zählte aber zur wohlhabenden Mittelschicht. Sie könnte es irgendwie herausgefunden haben...

Er nahm das Mädchen genauer in Augenschein. Ihre Trauer schien echt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieses zarte Ding so einen perfiden Plan aushecken konnte. Außerdem war das zu hundert Prozent Miros Handschrift.

Dann blieb nur die Möglichkeit, dass das, was in dem Brief stand, der Wahrheit entsprach.

Aber selbst wenn... Was sollte er mit ihr? Er konnte nichts mit einer wie ihr anfangen. Und mit einer Ehe noch weniger.

„Lass uns reingehen. Meine... unsere Familie wartet auf deine Nachricht.“

Er betonte es extra, denn nun gehörte sie, ob gewollt oder nicht, zu seiner schrägen Familie.

Verdammt, Miro. Was hast du dir nur dabei gedacht?

Kira führte sie ins Haus. Schon allein der Flur war so groß wie manch andere Wohnung, was auf einen gewissen Wohlstand hindeutete.

„Kira, wer war an der Tür?“, wollte eine Frauenstimme wissen.

„Das ist meine Mutter“, meinte er emotionslos zu Itoe.

Er führte sie ins Wohnzimmer, wo seine Eltern, seine zwei Tanten und Onkel saßen. Alle Augen richteten sich auf die beiden, als sie hinein traten.

„Oh, wer ist das liebreizende Kind?“, meinte eine der Tanten neugierig und musterte Itoe eindringlich.

Kira hätte wetten können, dass es Itoe unangenehm war, so offen angestarrt zu werden.

Ohne lange darüber nachzudenken, legte er seinen Arm um ihre Schulter und ließ die Bombe platzen.

„Sie ist meine Frau.“

Die unerwartete Nachricht versetzte alle ins Staunen. Keiner schien mit dieser Neuigkeit gerechnet zu haben, Kira eingeschlossen. Er erzählte in Kürze und mit präziser Sachlichkeit, dass Miro verstorben sei und dass Itoe nun seine Frau war. Die Familienmitglieder kamen aus dem Schluchzen und Weinen, Fluchen und Staunen nicht mehr heraus. Nur Kira sah sich die unterschiedlichen Gefühlsausbrüche seiner Familie emotionslos an.

„Und was erhofft sich nun das Mädchen? Nur weil sie an Miro gebunden ist...“ Tante Reika war schon immer eine falsche Schlange gewesen. Die hatte immer nur Geld im Kopf.

„Sie ist an mich gebunden“, machte Kira deutlich.

Er hasste seine Familie. Er hasste sie alle. Diese Menschen waren hinterhältig und durchtrieben. Giftig. Verdorben.

Miro, du Idiot, warum hast du sie hineingezogen?

Itoe schien aus einem ganz anderen Holz geschnitzt zu sein, das musste Miro doch erkannt haben. Sie sah vernünftig und aufrichtig aus. Ein guter Mensch, der ohne Kira sicher besser dran war.

„Ich möchte nichts und ich erhoffe mir nichts“, meldete sich das Mädchen an seiner Seite zu Wort und das Tuscheln und Schluchzen wurde leiser. Alle Augen waren aufmerksam auf sie gerichtet, doch sie sprach unbeirrt weiter. „Ich wollte sie nur aufsuchen, um mein Beileid auszusprechen. Und ich wollte Miros Leichnam seiner Familie übergeben. Wenn ich Umstände bereitet habe, tut es mir leid.“

Itoe verbeugte sich tief und verließ das Wohnzimmer.

Kira spürte einen Anflug von Wut gegenüber diesem Gesindel. Er warf einen verächtlichen Blick in die Runde und eilte Itoe hinterher.

 

Itoe hatte sich noch nie so unerwünscht gefühlt. Hatte Kira ihr deswegen nichts von seiner Familie erzählt? Sie meinte natürlich Miro... Ach, verdammt. Wer war er überhaupt? Kira, Miro... was spielte das noch für eine Rolle? Ihr Mann war tot...

Itoe stolperte die Treppen hinunter und wurde plötzlich am Arm gepackt.

Immer wenn sie ihn erblickte, dachte sie, ihren Geliebten zu sehen. Ihren Mann. Aber das war er nicht. Kiras Züge... des echten Kiras... waren härter, gröber. Das war nicht der Mann, den sie liebte. Das war ein Fremder.

Als er vorhin gesagt hatte, sie wäre seine Frau, hatte sich alles in ihr dagegen gesträubt. Sie wollte schreien, dass sie Miros Frau war, nicht seine. Doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.

„Bitte, lass mich gehen. Ich wollte euch nicht belästigen. Und ich will auch nichts von euch. Ich wusste ja nicht einmal, dass ihr so reich seid. Und selbst jetzt ist es mir egal“, versuchte sie sich zu rechtfertigen, doch Kira hielt sie immer noch in seinem eisernen Griff fest.

„Ich werde die Worte meines Bruders ernst nehmen, Itoe und das solltest du auch tun“, sagte er entschlossen und gebrauchte das vertrauensvolle Du. Seine Worten berührten sie unerwartet und tief in ihrem Herzen war sie erleichtert, dass er ihr nicht falsche Motive unterstellte, so wie seine Familie.

Kira ließ ihren Arm los und gab ihr einen Augenblick, um sich zu beruhigen.

„Wir werden zunächst Miro beerdigen und dann sehen wir weiter“, sagte er anschließend, „es gibt noch vieles zu bereden, aber das verschieben wir auf später.“

Kiras Entschlossenheit, Miros letztem Wunsch nachzugehen, ließ Itoe an ihrer eigenen Entscheidung zweifeln. Vielleicht sollte sie Kiras, bzw. Miros, Plan eine Chance geben.

Verabschiede Dich

Am selben Abend saß Itoe in ihrer kleinen Wohnung und ließ die Ereignisse des Tages Revue passieren. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, Kiras Frau zu sein. Des echten Kiras. Miros Zwillingsbruder. Wie hatte sich Miro das alles überhaupt vorgestellt? Er brachte sie und seinen Bruder in eine verzwickte Lage. Einerseits fühlte sie sich verpflichtet, Miros letzten Wunsch zu erfüllen, doch andererseits fühlte es sich nicht richtig an. Wie sollte das überhaupt funktionieren? Sie war sich sicher, dass Kira ähnliche Gedanken hatte.

Es klingelte unerwartet an der Tür. Wer konnte das zu der späten Stunde sein? Itoe sah durch den Spion, zögerte kurz und öffnete dann die Tür.

„Kira, was tust du hier?“

Moment mal, wie hatte er sie überhaupt gefunden? Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihm ihre Adresse gegeben zu haben.

Kira hatte sich in den Türrahmen gelehnt und sah sie mit seinen glasigen Augen an.

„Bist du betrunken?“, fragte sie fassungslos. Sie roch seine Fahne und widerstand dem Drang, sich die Nase zuzuhalten.

Kira verzog sich die Lippen und zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Darf ich rein?“, fragte er etwas lallend und trat an ihr vorbei, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten.

Itoe ließ ihn passieren und schloss hinter ihm die Tür.

„Wie hast du mich gefunden?“

Kira ließ sich auf einen Sessel fallen, der in ihrem kleinen Wohnzimmer stand, und wedelte mit dem Handy, das er bereits die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.

„Kontakte.“

Itoe verstand nicht so recht, was er damit meinte, aber gut. Viel wichtiger erschien ihr die Frage, was er hier überhaupt wollte.

Kira ließ das Handy in seinen Schoß fallen und lehnte sich zurück, die Arme auf die Lehnen des Sessels gestützt. Itoe wartete geduldig, bis er ihr von selbst erklärte, was sein Anliegen zu so später Stunde war.

„Du sollst mir helfen...“, sagte er und sein Blick irrte rastlos durch die kleine Wohnung. „In diesem Loch wohnst du? Echt jetzt?“

Itoe überging seine letzte Frage, in der so viel Verachtung mitschwang. Das war sehr unhöflich von ihm, aber sie ließ es ihm ausnahmsweise durchgehen.

„Wobei soll ich dir denn helfen?“

Kira fing ihren Blick auf und machte eine schwungvolle Geste.

„Na bei der Vorbereitung der Beerdigung, wobei sonst...“

Itoe setzte sich ihm gegenüber auf das Sofa und massierte sich nachdenklich die Schläfe.

„Das mach ich, aber lass uns das auf morgen verschieben. Du bist betrunken und...“

„Nein!“, widersprach Kira ihr, „es muss jetzt sein... Ich will heute alles erledigen... schnell hinter mich bringen... verstehst du?... Es muss jetzt sein...“

Itoe sah etwas ratlos drein. Sie konnte ihn nicht einfach aus ihrer Wohnung schmeißen. Nicht wenn er in diesem Zustand war. Davon abgesehen würde sie das wahrscheinlich auch gar nicht schaffen.

Sie seufzte resigniert.

Miro war nie so stur gewesen. Und getrunken hatte er auch nie.

„Was würde sich Miro bei seiner Beerdigung wünschen, hm?“, fuhr Kira fort, „er war ein Philosoph und ein hoffnungsloser Träumer... Aber anscheinend kannte ich ihn nicht so gut, wie ich dachte, wenn er das Mädchen, das er liebt, an mich verheiratet...“

Seine Gedanken waren ausgesprochen klar für jemanden, der Alkohol im Blut hatte.

„Vielleicht kanntest du ihn besser, den guten, alten Miro... erzähl mal...“

Sein Blick war unverblümt auf Itoe gerichtet, erwartungsvoll, vorwurfsvoll, als würde sie sich einbilden, Miro tatsächlich besser zu kennen als er. Itoe rutschte unsicher auf ihrem Platz hin und her, wich seinem Blick jedoch nicht aus. Sie war zu schlau, um mit einem Betrunken zu diskutieren.

„Was würde Miro gefallen, was denkst du?“, fuhr Kira fort, „vielleicht Jazz-Musik? Ja, die liebte er. Und wenn jeder von der Familie was sagen würde über den tollen Miro... Ja, das wäre nach seinem Geschmack, wenn sich alle versammelten und um ihn trauerten... Er ist abgehauen, einfach abhauen...! Verdammter Scheißkerl...! Ich... Ich konnte mich nicht einmal verabschieden...“

Die Worte prasselte einfach aus seinem Mund und plötzlich weinte Kira wie ein kleiner Junge. Erschrocken sah Itoe zu, wie Kira einen Zusammenbruch erlitt. In so einem Moment halfen keine tröstenden Worte, das wusste sie allzu gut. Deswegen schwieg sie. Sie überwand lediglich die kleine Distanz zwischen ihnen und stellte sich neben dem Sessel hin. Sein herzzerreißendes Schluchzen drang durch die Stille. Vorsichtig streckte Itoe ihre Hand nach ihm aus und berührte sein Haar. Sie hatte das Verlangen ihn zu trösten, das Verlangen mit ihm zu weinen und zu trauern.

 

In diesem Augenblick der Schwäche empfand Kira kein Schamgefühl. Ob es am Alkohol lag oder generell an seiner Gleichgültigkeit, spielte letztendlich keine Rolle. Er war zu betrunken, um darüber nachzudenken.

Ihr zärtliches Streicheln schenkte ihm überraschenderweise ein wenig Trost. Er war ihr dankbar dafür, dass sie ihn nicht aus ihrer Wohnung schmiss, denn es war ihr gutes Recht. Theoretisch war er ein Niemand für sie, trotz der Heiratsurkunde.

Kira konnte sich an alles, was danach folgte, nicht erinnern. Irgendwann gegen frühen Morgen wachte er auf dem Sofa auf und musste kurz überlegen, wo zum Teufel er war. Sein Schädel dröhnte, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Außerdem hörte er Stimmen! Aber ihm wurde im selben Moment bewusst, dass es sich nur um den Fernseher, der leise im Hintergrund lief, handelte.

Auf dem Sessel saß das Mädchen, Itoe, zusammengekauert und schlief. Ihre Position sah nicht gerade bequem aus, sodass er sich kurzerhand dazu entschlossen hatte, sie ins Bett zu tragen. Kira war noch etwas betrunken, aber er schaffte es ohne Probleme sie hochzuheben. Bedauerlicherweise musste er nach wenigen Augenblicken feststellen, dass sie gar kein Bett besaß... Wie konnte ein Mensch ohne ein richtiges Bett leben? Er konnte sich das gar nicht mehr vorstellen, nachdem er sich an diesen Luxus gewöhnt hatte. Wahrscheinlich lag irgendwo im Schrank ein Futon, aber er hatte keinen Nerv, diesen zu suchen.

Kira legte Itoe auf das Sofa und deckte sie mit einer Tagesdecke zu. Sie schlief so fest wie ein Stein und schien gar nicht ihren Positionswechsel mitbekommen zu haben. Kira ging vor dem Sofa in die Hocke und musterte das ihm fremde Mädchen. Sein Bruder hatte eine gute Wahl getroffen, das musste er ihm lassen. Sie hatte für eine Japanerin markante Gesichtszüge und hob sich somit sehr von der Masse ab. Selbst ungeschminkt war sie hübsch anzusehen.

Kira beneidete seinen Bruder. Im Gegensatz zu ihm hatte er nie ein Mädchen getroffen, für das er so viel empfunden hatte, um sie zu heiraten. Er glaubte auch nicht daran, je ein solches Mädchen zu treffen. Selbst wenn es geschehen sollte, er war bereits an Itoe gebunden, ob er nun wollte oder nicht. Er würde sich nicht von ihr scheiden lassen, das konnte er nicht. Wenigstens das war er seinem Bruder schuldig.

Kira schüttelte seine Gedanken ab und verließ leise die Wohnung. Er musste sich ausnüchtern und dann... musste er die Beisetzung hinter sich bringen.

 

Zwei Tage später fand Miros Beerdigung statt. Nach dem nächtlichen Überfall hatte Kira tagsüber Kontakt zu ihr aufgenommen, um die Trauerfeier im nüchternen Zustand zu planen. Am Ende konnten nur wenige Ideen realisiert werden, da Kiras Mutter ganz andere Vorstellungen hatte. Aber letztendlich war das alles nebensächlich, denn nun war der Moment gekommen, an dem sie sich verabschieden mussten.

Die Kirche war voller Menschen, die um Miro trauerten. Manche hatten nicht einmal Platz und mussten stehen. So viele Menschen, dachte Itoe bei sich. Sie saß in der dritten Reihe, da die ersten beiden durch seine Eltern, Tanten und Onkel, Nichten und Neffen und andere Verwandte besetzt war. Seine Familie. Sie hingegen zählte man nicht dazu. Und obwohl Kira darauf bestanden hatte, dass sie in der ersten Reihe saß, setzte sie sich vorsichtshalber an einen anderen Platz weiter hinten. Sie kannte seine Familie inzwischen gut genug, um sie nicht zu verärgern. Das letzte, was sie wollte war, dass diese Beerdigung durch unnötigen Streit besudelt wurde.

Im Hintergrund spielte leise Jazz-Musik, die Miro so gerne mochte, während nach und nach die engsten Verwandten und Freunde nach vorne traten, um einige Worte des Abschieds zu sprechen. Irgendwann war Itoe an der Reihe. Wenigstens das haben sie ihr gelassen.

Als sie vorne stand, waren alle Augen auf sie gerichtet. Im Mittelpunkt zu stehen war nie eine Freude gewesen, aber für Miro tat sie es gern. Sie hatte sich eine kleine Rede überlegt, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nicht in der Lage war, die Worte auf dem Blatt vorzulesen. Itoe nahm sich einen Augenblick und dann sprudelte die Worte nur so aus ihrem Mund.

Es war eine ergreifende Rede, zumindest meinten das einige Gäste, die sie nach der Beisetzung bei Tee und Kuchen kennengelernt hatte. Itoe lächelte verlegen, sprach hier und da ihren Beileid aus und wünschte sich nichts lieber, als ein wenig allein zu sein. Sie fühlte sich elend, bedrückt und schwer. Ihre Trauerphase war noch nicht vorbei. Noch hatte sie keinen Abschluss gefunden. Doch hier, inmitten all dieser fremden Menschen, konnte sie sich nicht fallen lassen.

Irgendwann im Laufe des Tages zog sie sich zurück. Die Trauerfeier fand im Garten des großen Anwesens statt, das Miros und Kiras Eltern gehörte. Das Haus selbst stand leer, sodass Itoe dort einen Augenblick der Ruhe suchte. An den Wänden hingen wunderschöne Gemälde und auf den stilvollen Kommoden fand sie Familienfotos. Auf einem davon waren Miro und Kira gemeinsam abgebildet. Der eine legte dem anderen seinen Arm auf die Schulter, beide lachten und schienen glücklich zu sein. Egal, wie sehr Itoe sich auch anstrengte, sie konnte einfach nicht erkennen, wer von beiden wer war. Erschreckend.

„Was tust du hier?“

Itoe zuckte zusammen und drehte sich abrupt um.

Miro, schoss es ihr als erstes durch den Kopf. Miro ist tot, du Närrin.

Kira trat näher, bevor sie antworten konnte. Er erblickte die Fotos und nahm genau jenes in die Hand, auf dem die beiden Zwillinge so identisch aussahen.

Itoe sah zu Kira auf und musterte sein Profil. Er war nicht mehr der glückliche, lachende Junge auf dem Bild. Er war... kalt. Ein kalter, ernster Mann, der seine Gefühle nicht nach außen dringen ließ. Ja, diese Beschreibung traf ihn ziemlich gut. Aber wenn sie an seinen Besuch vor zwei Tagen dachte...

„Ich wollte etwas allein sein“, gestand Itoe und trat an ihm vorbei, „tut mir leid. Ich sollte gehen.“ Sie kam sich gerade wie ein Eindringling vor. Es war irgendwann einmal Miros Zuhause, aber Miro war nicht mehr da und dieses Haus würde für immer ein fremder Ort für sie bleiben. Außerdem... Kiras Nähe war kaum zu ertragen. Es fühlte sich an, als sei Miro immer noch da. Sie wollte einfach nur fliehen.

Itoe eilte den Flur entlang, Richtung Ausgang. Dummerweise folgte er ihr.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“

Sein Vorschlag war einerseits ihre Rettung und gleichzeitig ihr Untergang.

„Es würde reichen, wenn du mir ein Taxi rufst.“

Ohne sich umzudrehen lief sie weiter auf die Haustür zu, doch bevor sie hinaustreten konnte, hielt er sie auf.

„Das, was du über meinen Bruder gesagt hast... danke.“ Er bezog sich auf ihre Rede.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm, ihr Blick auf die Tür gerichtet, Kira direkt hinter ihr. Der Ausgang so unglaublich nah. „Ich habe nur das gesagt, was ich fühle. Nicht mehr und nicht weniger.“ Dafür musste er sich nicht bedanken. Kira sagte nichts darauf, sondern trat noch einen Schritt näher. Beinahe konnte sie seinen Atem im Nacken spüren.

„Warum siehst du mich nicht an?“

Diese Frage hatte sie am meisten gefürchtet. Itoe griff nach der Türklinke, doch er stemmte seine Hand gegen die Tür und ließ diese verschlossen.

„Weil ich aussehe wie er?“

Die Antwort lag auf der Hand, doch Itoe konnte sie nicht laut aussprechen. Ihr Schweigen schien ihm als Antwort zu genügen. Er ließ seinen Arm sinken und trat einen Schritt zurück.

„Du solltest dich von ihm verabschieden. Jetzt bist du meine Frau.“

Trautes Heim

Du solltest dich von ihm verabschieden. Jetzt bist du meine Frau.

Kiras Worte hallten in ihrem Kopf wieder und wieder. Itoe lief Gänsehaut über den Rücken, wenn sie an diesen Moment zurück dachte. Vielleicht war das doch keine so gute Idee, Miros letzten Wunsch erfüllen zu wollen. Ihre Zweifel ließen das schlechte Gewissen aufkeimen. Es war schließlich Miros letzter Wunsch! Sie konnte ihn nicht einfach ignorieren. Dennoch...

Es verging kein ganzer Tag, da stand Kira bereits vor ihrer Tür. Das überraschte sie mittlerweile nicht, denn er hatte ihr überaus deutlich zu verstehen gegeben, dass er Miros Wunsch sehr ernst nahm.

Ohne viel Smalltalk betrat er ihre kleine Wohnung, die am Randbezirk von Tokio lag, und gab ihr die Anweisung, ihre Sachen zu packen. Itoe tat wie ihr geheißen, denn Widerrede war zwecklos. Sie würde nur ihre Kraft verschwenden. Obwohl sie die Befürchtung hatte, dass sie es bereuen würde, wenn sie ihm jetzt folgte, packte sie brav ihre Sachen in die Kartons, die er mitgebracht hatte.

Sie hatte eine wage Vermutung, wohin sie umziehen würde.

Als sie ihre Sachen in den Wagen transportiert hatten, fuhren sie los. Während der Fahrt sagte Kira kein einziges Wort, und auch Itoe hatte nicht viel zu erzählen. Die Fahrt schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie dann schließlich vor einem Wolkenkratzer hielten. Itoe sollte nicht überrascht sein, dass er in so einem luxuriösen, mehrstöckigen Gebäude lebte, aber sie war ziemlich überwältigt. Wenn man Geld hatte, konnte man sich so etwas ohne Probleme leisten. Wenn sie dagegen an ihre kleine Wohnung dachte, schämte sie sich beinahe dafür.

Kira nahm ihren Koffer mit den wenigen Habseligkeiten und betrat mit ihr gemeinsam das Gebäude. Sie wurden von dem Portier höflich begrüßt, bevor sie zum Fahrstuhl gingen. Kira drückte den Knopf für die dreizehnte Etage. So hoch, dachte Itoe bei sich. Langsam wurde sie ganz aufgeregt. Wie Kiras Wohnung wohl aussah? Bestimmt war die Einrichtung genauso kühl wie sein Besitzer.

In der dreizehnten Etage angekommen, führte Kira sie zu der Wohnung, schloss auf und ließ sie eintreten. Erst dann ergriff er das Wort.

„Das ist Miros Wohnung. Ich dachte, Miro würde wollen, dass du hier wohnst.“

Itoe hätte damit nun gar nicht gerechnet. Hier, in dieser idyllischen, stilvollen Wohnung, hatte ihr Miro gelebt. Es fühlte sich so an, als würde sie in seine Welt eintauchen. Hier wollte sie bleiben und nie wieder zurückkehren.

„Schau dich um. Das gehört nun alles dir. Hier gibt es sogar ein richtiges Bett.“

Itoe trat durch den langen Flur, wo an den Wänden liebevoll ausgesuchte Bilder hingen, direkt in das geräumige Wohnzimmer. An der einen Wand stand ein riesiges Regal mit einer Schallplattensammlung, das ihr sofort ins Auge fiel. Ein großes hellgraues Sofa stand mitten im Raum, sodass man einen guten Blick auf den Fernseher hatte. Aber vor allem begeisterten sie die großen, langen Fenster, die fast bis zum Boden reichten und massenhaft Licht hineinließen. Itoe ließ es sich nicht nehmen, ans Fenster zu treten und einen Blick nach draußen zu riskieren. Die ganze Stadt lag zu ihren Füßen. Dieser gewaltige Anblick überwältigte sie.

„Falls du was brauchst, ich wohne genau gegenüber“, meinte Kira, nachdem er ihr ein wenig Zeit gelassen hatte, sich umzuschauen. Itoe merkte gar nicht, wie er sie beobachtete. Sie nickte nur automatisch.

„Na dann... ich lass dich mal allein.“

Itoe wandte sich zu ihm um, als er bereits gehen wollte.

„Kira?“

Es war ungewohnt, diesen Namen auszusprechen. Konnte sich etwas so fremd und gleichzeitig so vertraut anfühlen?

Sie wartete, bis er stehen blieb und sich zu ihr umwandte.

„Danke.“

Er nickte nur knapp und verließ die Wohnung.

 

Kiras erster Gedanke war, sie zu sich zu holen, aber das erschien ihm nach langem Überlegen nicht richtig. Er wollte, dass sie sich wohlfühlte und vielleicht würde sie irgendwann von selbst zu ihm ziehen wollen. Nein. Dieser Gedanke war dann doch zu absurd. Sie würde niemals mit ihm zusammenwohnen wollen. Er glaubte doch nicht ernsthaft, dass er seinen Bruder ersetzen konnte? Und wollte er das überhaupt? Nein, ganz sicher nicht. Er gab Itoe nur die Möglichkeit, Miro ein Stückchen näher zu sein. Vielleicht war aber genau das der Fehler, denn so würde sie sich niemals von ihm verabschieden können.

Kira betrat seine Wohnung und hing seine Lederjacke auf. Es gab noch so viel zu klären. Aber er wollte sie mit seinen Forderungen nicht überfordern, deswegen zog er sich erst einmal zurück.

Sein Bruder war gegangen und hinterließ ihm ein schönes Geschenk. Nur was sollte er damit anfangen, ohne es kaputt zu machen? Kiras Charakter war nicht grade einfach und manch einer bezeichnete ihn als einen kaltherzigen Bastard. Und wenn schon. Er konnte auch anders sein, aber das musste man sich erst verdienen. Was gar nicht so einfach war, wie er selbst wusste. Denn Kira ließ niemanden an sich heran. Wozu auch? Zu viele Gefühle blendeten den Verstand.

Kira hatte sich in seinen bequemen Sessel niedergelassen und sah nachdenklich aus dem riesigen Fenster. Seine Wohnung war von der Raumaufteilung mit Miros identisch nur spiegelverkehrt.

Vielleicht würde er Miros, nein, seine Frau, irgendwann in sein Herz lassen. Doch er bezweifelte stark, dass sie es wollte – und dass er es wollte. Sie liebte Miro und würde Miro immer lieben, egal, was auf dem Papier stand, egal, was Miros letzter Wunsch war. Sie war rechtlich gesehen Kiras Frau, aber ihr Herz würde ihm niemals gehören.

Kira schüttelte den Kopf. Warum machte er sich überhaupt solche Gedanken? Er wollte dieses Mädchen doch gar nicht haben und ihre Liebe brauchte er auch nicht. Außerdem konnte sein Bruder doch nicht einfach von ihnen verlangen, dass sie eine Ehe führten. Das war unmöglich. Aber tragische Umstände haben die beiden zusammen geführt und nun mussten sie das beste daraus machen.

 

Itoe hatte sich schneller eingelebt als gedacht. Sie war einfach glücklich hier sein zu dürfen, Miros Welt ein bisschen besser kennenzulernen. Sie hatte gedacht, alles über ihn zu wissen, aber sie erfuhr durch diese Wohnung so viel mehr. Zum Beispiel dass er viele Klassiker der russischen und japanischen Literatur gelesen hatte, dass er eine Ansammlung von Jazz-Platten hatte, dass er ein Kunstliebhaber war und dass er sogar Gedichte schrieb. Alles in allem war er ein Romantiker.

Diese Wohnung war ein Schatz und jeden Tag gab es etwas neues zu entdecken. Fast hätte Itoe vergessen, dass es noch Kira gab und ihre Pflicht, die sie erfüllen musste. Seit zwei Tagen hatte er nun nichts mehr von sich hören lassen. Sie wusste nicht, wo er war oder was er tat. Sie wusste gar nichts von ihm und er genauso wenig von ihr. Itoe beschloss das zu ändern. Sie backte zunächst ein paar Kekse und klingelte dann an seine Tür. Sie wartete eine Weile, aber niemand öffnete ihr. Womöglich war er nicht zu Hause. Itoe sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach 9 Uhr abends. Könnte doch sein, dass er ausgegangen war. Doch als sie bereit war zu gehen, wurde die Tür aufgeschlossen. Kira stand halb nackt vor ihr, nur mit einem Handtuch um die Hüfte. Er fuhr sich durchs nasse Haar und blickte überrascht auf sie herab.

Itoe reichte ihm die Kekse. „Für dich“, meinte sie. „Ich dachte, wir könnten bisschen reden.“ Sie fand selbst, dass sie etwas unsicher klang. Vielleicht lag es auch an seiner Erscheinung?

Kira nahm ihr die Schüssel aus der Hand. „Grade ist es wirklich unpassend. Ich wollte bald los“, erwiderte er, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen und fügte schnell hinzu, „du kannst mitkommen, wenn du willst. Dann reden wir.“

„Wohin willst du denn?“

Itoe sah in Kiras unergründliches Gesicht, auf der Suche nach einer Antwort.

„Das wirst du schon sehen.“

Night Club

Die Musik dröhnte mit einem heftigen Bass in den Ohren, als sie den Club betraten. Die Lichter flackerten in allen erdenklichen Farben und tanzten im Rhythmus der Beats. Kira ging voraus, dicht gefolgt von Itoe. Es wäre ein Leichtes sich in der Menge zu verlieren. Kira grüßte hier und da einige Bekannte, selbst die Türsteher kannte er. Vermutlich war er hier Stammgast, nahm Itoe an.

Auf dem Weg hierher hatten sie nicht viel miteinander geredet. Kira war ja nicht für seinen Smalltalk bekannt und Itoe wusste nicht recht, wo sie hätte anfangen sollen. Ihr fiel es sonst nie schwer, sich mit Männern zu unterhalten, denn anders als Frauen waren diese unkompliziert. Aber zwischen ihnen schien es eine unsichtbare Barriere zu geben.

Kira führte sie an einen freien Tisch am Ende des Raumes, wo der Bereich etwas von dem Rest des Clubs abgeschirmt war. Hier war es zumindest etwas ruhiger, sodass man sich gut unterhalten konnte. Außerdem hatte man einen guten Blick auf die Tanzfläche und die Bar.

„Setz dich, ich hole uns etwas zu trinken.“ Ohne sie zu fragen, was sie denn gerne trinken wollte, war er auch schon verschwunden.

Itoe folgte ihm mit ihrem Blick, als er Richtung Bar ging. Eigentlich hatte sie sich den heutigen Abend ganz anders vorgestellt. Er hätte sie zu sich herein bitten sollen, sie hätten ein bisschen geredet, sich besser kennengelernt. Das war der Plan. Stattdessen war sie mit ihm in diesen Club gegangen. Hätte sie gewusst, wohin er vorhatte zu gehen, wäre sie vermutlich gar nicht erst mitgekommen. Es hätte sie gleich stutzig machen sollen, als er zu ihr meinte, sie sollte sich schick machen...

Itoe stieß einen Seufzer aus und beobachtete ein wenig die tanzende Menschenmenge. Die Leute verfielen in Ekstase, gaben sich der Musik hin. Itoe war kein Fan von solchen Clubs, auch wenn sie Tanzen an sich mochte. Miro hatte dieselbe Einstellung. Er verbrachte seine Zeit lieber gemütlich zu Hause oder in einem netten Café. Das hier war nicht seine Welt.

Während sie ihren Gedanken nachging, traf ihr Blick auf Kira. Er bestellte die Getränke und wandte sich zu einer Frau um, die ihn an der Schulter antippte. Diese beugte sich vertraut zu ihm rüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. War das eine Freundin von ihm? Oder sogar seine feste Freundin? Konnte doch sein, dass er eine hatte. Schließlich wusste sie fast nichts über ihn. Itoe verspürte einen kleinen Stich und das irritierte sie, schließlich sollte es ihr egal sein, ob es noch andere Frauen in seinem Leben gab. Er war nicht Miro. Das durfte sie nicht vergessen. Auch wenn sein Äußeres zum Verwechseln ähnlich war.

Minuten später kehrte Kira mit zwei Gläsern zurück. Er setzte sich neben sie und stellte das hübsch geformte Glas mit der roten Flüssig vor ihr ab.

„Was ist das?“, fragte sie ihn und er sah sie an, als käme sie von einem anderen Stern.

„Cosmopolitan. Ihr Frauen steht doch auf so ein süßes Zeug.“

Itoe hatte von diesem Getränk schon gehört, probiert hatte sie es jedoch noch nie. Sie wagte einen Schluck und es schmeckte wirklich gar nicht mal so übel.

„Bist du öfters hier?“, fragte sie ihn, während sie weiterhin an ihrem Getränk nippte.

„Kann man so sagen.“

Wer war die Frau an der Bar? - wollte sie fragen, traute sich dann aber doch nicht diese Frage zu stellen. Und eigentlich ging es sie auch nichts an.

Itoe stellte das Glas auf dem Tisch ab und lehnte sich in die weichen Kissen zurück. Alles war in diesem Club sehr nobel eingerichtet. Der Besitzer hatte sich dabei anscheinend große Mühe gegeben. „Wem dieser Club wohl gehört...“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu ihm.

Kira richtete seinen Blick auf sie, sodass sie nicht umhin kam, ihn anzusehen.

„Mir.“

Itoe fiel aus allen Wolken.

„Dir?!“

Kira nickte knapp.

„Ja, mir. Und Miro. Aber nach seinem Tod habe ich wohl die Ehre, die Clubs weiter zu führen.“

„Die Clubs?“

„Ja, es gibt fünf davon.“

Itoe musste ihre Gedanken neu ordnen. Dass dieser schicke Club Kira gehörte, hatte sie ziemlich überrascht, aber dass Miro ebenso der Besitzer war, hätte sie nie im Leben erwartet. Vor wenigen Minuten hatte sie noch geglaubt, er wäre am Nachtleben nicht interessiert, und jetzt erfuhr sie, dass er einen eignen Club besaß. Wieso hatte Miro ihr nie etwas davon erzählt?

„Hey, Kira! Na, lange nicht mehr hier gewesen! Wer ist denn dieser hübsche Fang?“

Itoe wurde aus ihren Gedanken gerissen, als eine unbekannte männliche Stimme sich an Kira wandte. Itoe hob ihren Blick und sah einen hochgewachsenen Mann vor ihnen stehen. Er hatte langes Haar, das ihm elegant auf den Schultern lag und dieses smarte Lächeln, das wahrscheinlich schon viele Frauenherzen gebrochen hatte.

 

Kira nickte seinem Freund zu, der sich daraufhin zu ihnen gesellte. Ja, er hatte Freunde.

„Das ist Jiro. Achte nicht auf ihn, er redet wie ein Wasserfall. Das ist alles, was du über ihn wissen brauchst.“

Jiro fasste sich theatralisch ans Herz.

„Du verletzt mich.“

Er setzte sich zu den beiden und reichte Itoe seine Hand.

„Sag mir, kleiner Vogel, wie hat dich dieser kaltherzige Mann in seinen Bann gezogen? Wenn du Hilfe brauchst, dann klopfe zwei Mal auf den Tisch und ich rette dich“, meinte Jiro grinste.

Itoe reichte ihm ihre Hand und lächelte amüsiert. Kira fand das gar nicht witzig. Er war niemand, vor dem man gerettet werden musste.

„Ich heiße Itoe.“

Da das alles war, was sie sagte, fügte Kira noch etwas hinzu: „Sie ist meine Frau.“

Jiros Augen weiteten sich.

„Nicht dein Ernst, Mann!“ Er sah erneut zu Itoe. „Sorry, Süße, nichts für ungut, aber du hast eindeutig die falsche Wahl getroffen.“

Als ob sie eine Wahl gehabt hätte, dachte Kira bei sich und trank einen Schluck, während sein Freund diese Information erst mal verdaute.

„Manchmal kann man sich das nicht aussuchen“, erwiderte Itoe mit einem leichten Lächeln.

Jiro nickte zustimmend. „Genau, man kann sich nicht aussuchen, wen man liebt.“ Er interpretierte ihre Worte vollkommen falsch, aber Kira, und wie es schien auch Itoe, hatten nicht vor, ihm die eigentliche Bedeutung zu erläutern.

 

Jiro wollte alles haargenau wissen. Wann die Hochzeit stattgefunden hatte und warum ihn niemand eingeladen hatte. Doch Kira wehrte seine Fragen gekonnt ab. Irgendwann gab sein Freund nach und sie unterhielten sich über das Geschäft und andere Dinge, über die Itoe wenig verstand. Irgendwann hörte sie dann gar nicht mehr zu. Während sie sich unterhielten, sah Kira ab und an zu ihr. Sie konnte deutlich seinen Blick spüren. Aber Itoe nippte weiterhin still an ihrem Getränk, ohne darauf zu reagieren, und ließ ihre Gedanken schweifen. Miro besaß also ganze fünf Clubs. Das war unglaublich. Aber warum hatte er alles hinter sich gelassen? Es musste doch einen Grund dafür geben. Er hatte alles, was ein Herz begehrt und trotzdem schien es nicht genug zu sein. Ein weiterer Gedanke plagte sie. Dass Kira Itoe überall als seine Frau vorstellte, war immer noch ziemlich ungewohnt. Und zugleich unangenehm. Sie war nicht seine Frau. Nun ja, war sie schon, aber... Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie wollte nicht dem Zwillingsbruder von Miro gehören. Das war doch nicht richtig. Vielleicht war das alles ein großer Fehler. Ruhig Itoe, du wolltest ihn kennenlernen. Gib ihm eine Chance. - ermutigte sie sich.

„...Wirst du das Projekt jetzt ohne Miro angehen?“

Itoe horchte auf, als der Name fiel. Sie sah zu den beiden, die unbeirrt mit ihrer Unterhaltung fortfuhren. Wie konnten sie einfach so über Miro sprechen? Jetzt. Hier.

„Das muss ich mir noch überlegen. Eigentlich sollte es von uns beiden auf die Beine gestellt werden, aber...“

Kira brach ab, als Itoe sich erhob, und sah fragend zu ihr.

„Ich bin gleich zurück.“

Itoe ließ die beiden allein und suchte die Toilette auf. Irgendwie war sie nicht in Stimmung noch mehr Informationen zu verarbeiten, die in irgendeiner Weise mit Miro zu tun hatten. Ihr Bild von ihm veränderte sich langsam, je mehr sie erfuhr und das gefiel ihr nicht. Was würde sie noch alles über ihn herausfinden?

Itoe stand vor dem Spiegel und betrachtete ihr Spiegelbild. Wie es wohl wäre selbst einen Zwilling zu haben? Jemanden, der genauso aussah wie man selbst. Und dann würde man ihn verlieren. Wahrscheinlich war Kiras Schmerz größer als ihrer, auch wenn er ihn nicht offen nach außen trug. Sie war da genauso. Sie hatte nicht einmal auf der Beerdigung weinen können. Itoe schüttelte die düsteren Gedanken ab und holte ihren Lippenstift raus. Ein Mädchen betrat den Raum und stellte sich zu ihr an den Spiegel. Ihre Augen trafen Itoes. „Schöne Farbe“, sagte sie und wies auf ihre rosa schimmernden Lippen. Itoes Mundwinkel umspielte ein leichtes Lächeln. „Danke.“

Das Mädchen kam ihr bekannt vor. Genau. Es war dasselbe, das Kira an der Bar angesprochen hatte. Das Mädchen richtete ihre Haare und Make-up. „Bist du mit Freundinnen hier?“ Sie hatte anscheinend das Bedürfnis zu reden. Oder besser gesagt zu erzählen, denn ohne Itoes Antwort abzuwarten, schnackte sie einfach weiter. „Heute wird ein geiler Abend. Ich werde diesen heißen Typen klarmachen, dem dieser Club gehört. Ich habe ihn schon angequatscht und der war voll interessiert. Man, der ist mega scharf, oder?! Kennst du ihn?“

Itoe runzelte die Stirn. „Jeder kennt ihn“, erwiderte sie, doch es klang eher nach einer Frage. Doch das Mädchen war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihre Intention herauszuhören.

„Zumindest alle Frauen kennen ihn! Ich gehe dann mal, sonst schnappt ihn mir eine andere weg!“

Itoe sah dem Mädchen hinterher und steckte ihren Lippenstift in ihr Täschchen.

„Na dann viel Glück.“

 

Nachdem Itoe gegangen war, sprach Jiro Klartext. Kira hatte ihm schon während des gesamten Gespräch ansehen können, dass er sich stark zurückhielt.

„Erzähl endlich, was hier abgeht. Das Mädchen ist doch nicht wirklich deine Frau!“

Kira wollte ihm nicht alles erklären, das würde auch zu lange dauern, und versuchte ihn stattdessen mit einer schlichten Antwort zufrieden zu stellen. „Es ist kompliziert.“

„Ja, das seh ich“, erwiderte Jiro und lachte auf. „Sie ist ziemlich heiß, aber...“

Kira musste sich eingestehen, dass es ihm nicht gefiel, wie sein Freund über Itoe sprach. Natürlich war sie eine attraktive Frau, das war nicht zu leugnen. Aber es aus dem Mund seines Freundes zu hören, fühlte sich komisch an. Als wäre sie irgendeine heiße Nummer für eine Nacht, nicht mehr und nicht weniger.

„Red nicht so über sie.“

Kiras scharfer Ton überraschte Jiro und er hob abwehrend die Hände. „Sorry, Mann. Ganz ruhig. Versteh mich nicht falsch, ich meine nur, sie sieht gut und passt in dein Beuteschema, aber irgendwie auch nicht... Ihr seid nicht wirklich auf einer Wellenlänge. Deswegen frag ich, was da zwischen euch abgeht. Und komm, deine Frau? Echt jetzt?“

Kira war das alles bewusst. Sein Freund glaubte ihm kein Wort und damit hatte er auch nicht gerechnet. Aber er hatte keine Lust den verrückten Plan seines Bruder auszudiskutieren. Sollten die Leute lieber ihn, Kira, für verrückt erklären, dass er so plötzlich geheiratet hatte. „Glaub, was du willst. Aber Itoe ist meine Frau.“

Jiro schüttelte resigniert den Kopf. „Weiß sie eigentlich davon? - Wie hieß sie doch gleich?“

„Makoto.“

„Ja, richtig. Was ist denn nun mit ihr?“

„Was soll schon mit ihr sein?“

Makoto war Kiras Freundin. Nun ja, wenn man eine Bettgeschichte so nennen konnte. Nicht, weil er dachte, sie hätte kein Potential als richtige Freundin. Kira pflegte nun mal nur solche Beziehungen zu Frauen. Er war schlichtweg nicht mehr an festen Beziehungen interessiert.

Makoto war eine hübsche Erscheinung, sie war klug und unterhaltsam. Aber es war nichts Ernstes, er hatte nie vorgehabt, den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen. Besonders jetzt, da Itoe in sein Leben getreten war. Seit er von Itoe erfahren hatte, hatte er sich nicht mehr bei Makoto gemeldet. Sie würde ziemlich sauer auf ihn sein, so wie er sie kannte, aber ein schlechtes Gewissen quälte ihn deswegen nicht.. Itoe hatte jetzt Priorität. Apropos... Wo war sie überhaupt so lange?

„Ich schau mal nach Itoe“, sagte Kira unvermittelt und erhob sich, um auf die Suche zu gehen und gleichzeitig um den lästigen Fragen seines Freundes zu entgehen. „Wenn sie wieder kommt, sag ihr, sie soll hier auf mich warten.“

Nach langer Suche fand er sie schließlich etwas abseits des Trubels. Sie lehnte an einer Wand, ihre Augen glasig, ihre Haltung etwas instabil.

„Ich habe dich gesucht“, sagte er, als er vor ihr stand. Itoe sah ihn an, als würde sie ihn erkennen und gleichzeitig auch nicht. „Ich dachte, du wolltest nur kurz auf die Toilette.“

Itoe drückte sich von der Wand ab und taumelte, sodass Kira sie am Arm packen musste, damit sie nicht hinfiel. „Bist du etwa betrunken?!“ Kira war sichtlich schockiert. Da ließ er sie kurz aus den Augen... Wie konnte sie sich nur so schnell so sehr betrinken?

„Die Cosmos waren gut.“

„Ja, das sehe ich. Wir fahren jetzt nach Hause“, sagte er entschieden.

„Meine Tasche“, murmelte Itoe und sah ihn mit ihren großen Augen an.

Kira seufzte. „Wo ist das verdammte Ding?“, fluchte er leise und sah sich suchend um. „Ich finde es jetzt nicht, aber wir können...“ Als er sich wieder zu ihr umwandte, war Itoe in der Menge verschwunden.

„Scheiße...“

Kira wurde ungeduldig. Er hatte keine Lust auf Spielchen. Er sah sich um, doch er konnte sie nirgends entdecken. Er fluchte. Musste er jetzt etwa den Babysitter spielen? War es das, was sein Bruder gewollt hatte? Kira fuhr sich genervt durchs Haar und suchte noch einmal den Club nach ihr ab. Es dauerte eine Weile bis er sie gefunden hatte. Itoe war auf der Tanzfläche, zu seiner Überraschung. Kira beobachtete, wie sie trotz des Alkohols ihre Bewegungen perfekt dem Rhythmus der Musik anpasste. Er hätte ihr noch ein bisschen mehr Zeit gelassen, aber als sie angetanzt wurde, sank seine Toleranzgrenze. Er ging geradewegs auf sie zu und zog sie an sich.

„Wenn du tanzen willst, hättest du es einfach sagen sollen“, sagte er nah an ihrem Ohr, da sie ihn ihn sonst wegen dem Lärm nicht verstanden hätte. Doch Itoe schien auch so seine Worte gar nicht richtig wahrzunehmen.

„Komm, Miro, tanz mit mir!“ Sie legte seine Hände auf ihre Hüfte und tanzte unbeirrt weiter.

Da veränderte sich Kiras Blick, wurde dunkler. Hatte sie ihn gerade tatsächlich Miro genannt? Kira war bewusst, dass der Alkohol ihren Verstand aussetzen ließ, ihre Sinne trübte. Dennoch... Er konnte seine Wut nicht unterdrücken, die in seinem Inneren brodelte. „Wir gehen“, sagte er forsch und ergriff grob ihren Arm, damit sie ihm nicht wieder davonlief.

Itoe protestierte, doch er zog sie unbeirrt von der Tanzfläche Richtung Ausgang.

Die kühle Nachtluft, die ihnen entgegenkam, als sie den Club verließen, fühlte sich großartig an. Doch sie kühlte nicht Kiras hitziges Temperament.

„Miro ist tot, Itoe!“, sagte er aufbrausend, „tot! Merk's dir endlich!“

Die Worte verließen schneller seinen Mund als er denken konnte. Kira fuhr sich aufgeregt durchs Haar und griff nach seinem Handy, um seinen Chauffeur anzurufen. Während er rastlos auf und ab schritt, sank Itoe auf den Boden.

„Was machst du denn da?! Steh auf!“

Kira hatte das Gefühl, er würde es heute mit einem Kind zu tun haben. Itoe schüttelte trotzig den Kopf und blieb sitzen.

„Steh auf, hab ich gesagt!“

Er hatte heute genug von ihr. Wenn sie nicht endlich das tat, was er wollte, dann... Itoe hob ihren Blick und erst dann sah er ihre Tränen. Seine Wut und sein Ärger über ihr infantiles Verhalten lösten sich augenblicklich in Rauch auf.

„E-entschuldige...“, murmelte sie und die ersten Tränen kullerten über ihre Wangen.

Ihr Anblick gab ihm den Rest. Er hatte sie noch nie weinen sehen. Nicht einmal auf der Beerdigung hatte sie geweint.

Kira trat zu ihr und zog sie sanft auf die Beine.

„Wir fahren jetzt nach Hause, ja?“

Itoe nickte und drückte sich an ihn. Ihre plötzliche Nähe war ungewohnt und neu. Kira strich ihr beruhigend über den Rücken, als sie in sein Hemd schluchzte. Sein Auto fuhr vor und sie stiegen hinten ein. Kira rief im Club an, dass man nach der Tasche von Itoe Ausschau halten sollte. Danach lehnte er sich zurück, wandte seinen Kopf in ihre Richtung. Itoe sah aus dem Fenster, die Tränen auf ihren Wangen waren noch nicht getrocknet. Kira streckte seine Hand aus, um darüber zu streichen, doch er zögerte und ließ sie wieder sinken. Wie konnte er so etwas Unüberlegtes sagen? Natürlich war Miro tot, das wusste sie genauso wie er. Er musste das Offensichtliche nicht auch noch aussprechen. Eine Entschuldigung lag ihm auf den Lippen. Stattdessen richtete er seinen Blick aus dem Fenster, wo die nächtliche Stadt an ihnen vorbei raste.

Der Tag danach

Miros Wohnung hatte sich nicht wesentlich verändert, seit Kira das letzte Mal hier gewesen war. Itoe hatte anscheinend das meiste so gelassen, wie Miro es eingerichtet hatte. Nur an wenigen Stellen merkte man, dass hier eine Frau wohnte. Im Bad standen ihre Kosmetikartikel, im offenen Kleiderschrank hingen ihre Sache.

Kira hatte Itoe in ihre Wohnung getragen, da sie im Auto eingeschlafen war. Einen Ersatzschlüssel für ihre Wohnung hatte er immer dabei. Im Schlafzimmer legte er sie auf das große Bett und setzte sich zu ihr. Sie schlief immer noch tief und fest und hatte von ihrem Ortswechsel nichts mitbekommen. Kira spielte mit dem Gedanken in seine Wohnung zu gehen, aber nach einem kurzem Augenblick überlegte er es sich anders. Das Bett war ziemlich groß und sah verführerisch aus. Die Tatsache, dass er müde war, erleichterte ihm die Entscheidung und somit legte er sich kurzerhand mit einem guten Abstand zu ihr auf das Bett. Er verschränkte seine Arme unter dem Kopf und starrte eine Weile die kahle Decke an, bis ihn die Müdigkeit überrollte.

Der Morgen brach bereits wenige Stunden später an. Die warmen Strahlen der Sonne fielen durch das gardinenlose Fenster, sodass Kira unmöglich weiterschlafen konnte. Noch bevor er seine Augen öffnete, spürte er ihren Körper an seinem. Sie musste irgendwann in der Nacht an ihn gerückt sein. Er versuchte sich vorsichtig aus ihrer Umarmung zu lösen, doch unglücklicherweise weckte er sie dabei auf.

 

Itoe blinzelte den Schlaf aus ihren Augen und stellte erschrocken fest, dass sie nicht allein in ihrem Bett war. „Was tust du hier?!“ Ihre Stimme klang heiser und vollkommen fremd. Dann verzog sie sich das Gesicht, als sie einen stechenden Schmerz spürte, und drückte mit ihrem Zeige- und Mittelfinger auf ihre Schläfe.

„Ich kann gern deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen“, erwiderte Kira gelassen, während er sich aufsetzte. Er betrachtete sie, wie sie ihre Gedanken ordnete und ihn mit großen, verständnislosen Augen ansah. Dann schien der Groschen zu fallen und Itoe stöhnte leise auf. „Nein, schon gut. Jetzt weiß ich es wieder...“

Kira nahm das nickend zur Kenntnis und stand vom Bett auf. Sein Hemd war zerknittert und komischerweise fast vollständig aufgeknöpft. Dabei konnte er sich nicht daran erinnern, es getan zu haben.

„Möchtest du einen Kaffee?“, fragte er sie. Am liebsten würde er jetzt erst einmal duschen, aber das musste wohl warten.

Immer noch ein wenig desorientiert nahm sie sein Angebot an. „Ist es okay, wenn ich mich kurz frisch mache?“

„Klar. Du bist hier schließlich zu Hause“, erwiderte Kira und ging schon mal in die Küche.

Während sie sich frisch machte, setzte er Kaffee auf und kochte ein paar Eier zum Frühstück. Als Itoe in die Küche trat, war der Tisch bereits gedeckt.

„Wow. Das ist echt lieb von dir, dass du Frühstück gemacht hast.“

Sie nahm ihm gegenüber Platz und langte zu. Es schien ihr besser zu gehen, das merkte man nicht nur an ihrem gesunden Appetit.

„Ich habe nur bei dir geschlafen für den Fall, dass es dir nicht gut geht, wenn du aufwachst“, rechtfertigte sich Kira plötzlich und füllte damit die Stille. Er hatte den Eindruck, als schuldete er ihr eine Erklärung. Itoe sah zu ihm auf und schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Das ist wirklich sehr aufmerksam. Vielen Dank.“ Itoe schien noch etwas auf der Seele zu haben.

„Ich finde, wir sollten...“, sagten beide wie aus einem Mund und wechselten einen überraschten Blick miteinander.

„Du zuerst“, meinte Kira und ließ ihr den Vortritt. Er war gespannt, was sie ihm zu sagen hatte.

Itoe hielt kurz inne und sah auf ihre Tasse, die sie in den Händen hielt. „Wir sollten es lassen.“

Ihre Worte trafen ihn heftiger als erwartet, denn eigentlich wollte er genau das Gegenteil vorschlagen.

„Ich finde, wir machen uns nur etwas vor. Ich wünschte, es wäre so einfach, wie Miro es sich vorgestellt hatte, aber so ist das nicht.“ Itoe erhob sich und wusch ihre Tasse ab. Eine unpassende Geste, wie er fand. Als wollte sie vor dieser Unterhaltung fliehen, nur weil sie ihre Meinung bereits gesagt hatte. Dann wandte sie sich wieder zu ihm. „Du und ich, wir gehören nicht zusammen. Wir sind wie Tag und Nacht. Oder siehst du das anders?“

Kira dachte einen kurzen Augenblick darüber nach, bevor er ihr eine Antwort gab. „Mag sein, dass du recht hast. Vielleicht ist das auch nur eine verrückte Idee meines Bruders, aber er wollte es. Es war sein letzter Wunsch und das ist es, was für mich zählt.“

„Aber was möchtest du?“, erwiderte Itoe ein wenig ungehalten und machte eine ausdrucksvolle Geste mit der Hand. „Willst du nicht lieber dein eigenes Leben aufbauen, als das von deinem Bruder weiterzuführen? Du hast doch sicher selbst eine Freundin oder willst wenigstens eine haben, die du dir selbst aussuchen darfst! Du willst doch bestimmt selbst mal heiraten!“

Kira hörte sich in Ruhe alles an und trank einen Schluck von seinem Kaffee. In einigen Punkten hatte sie wahrscheinlich recht. Aber was heiraten anging, diese Idee hatte er schon lange verworfen. Ihre Argumentation klang vernünftig und sehr erwachsen, aber er hatte seine Entscheidung längst getroffen. „Du kannst sagen, was du willst. Aber du bist und bleibst meine Frau. - Ich kann dich nicht zwingen, Miro zu vergessen oder mich nicht mit ihm zu vergleichen. Damit muss ich wohl leben. Aber das nehme ich in Kauf.“ Er konnte ihr ansehen, wie angespannt sie wirkte. Dachte sie etwa, sie könnte ihn so leicht loswerden?

„Man hat ja gesehen, wie gut du damit umgehst“, meinte sie dann etwas leiser.

Kira musste erst kurz überlegen, worauf sie anspielte. Als dann die Erkenntnis kam, presste er die Lippen aufeinander. Dass sie ihn mit dem Namen seines Bruders angesprochen hatte, hatte ihn verärgert. Aber das gab ihm nicht das Recht, so auszuflippen. Es war nicht richtig von ihm gewesen, was er gestern zu ihr gesagt hatte, aber dass sie es jetzt gegen ihn verwenden würde, hatte er nicht erwartet.

„Ich werde lernen damit umzugehen. Aber auch du musst einiges lernen, Itoe.“

Kira erhob sich und trat nah an sie heran. Näher, als er sollte. Sie lehnte an dem Küchentresen und sah zu ihm auf, als er direkt vor ihr stand. Er stützte seine Arme links und rechts von ihr auf der Arbeitsplatte ab, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. Sie hatte keine Chance zu fliehen und war gezwungen, ihm zuzuhören. Itoe stand wie angewurzelt da und starrte ihn wieder mit ihren großen Augen an. Wie hatte sie wohl Miro angesehen? Bestimmt mit mehr Zuneigung, als sie für Kira je aufbringen würde. Er konnte deutlich spüren, wie sie ihren Atem anhielt und sich nicht rührte.

„Was... meinst du damit?“, brachte sie stotternd hervor und senkte ihren Blick.

Darauf hatte Kira gewartet. Er ignorierte ihre Frage und sagte stattdessen: „Du siehst mich wieder nicht an. Siehst du immer nur ihn, wenn du mich ansiehst?“

Kira durchbohrte sie mit seinen kühlen, klugen Augen, bis Itoe endlich wieder aufsah. Mit diesem Schmerz, der in ihren Augen lag, hatte er nicht gerechnet. Kira fühlte sich gezwungen, Abstand zu nehmen.

„Ich werde lernen damit umzugehen, dass Miro immer zwischen uns stehen wird. Aber du solltest langsam verstehen, dass ich nicht er bin. Lerne mich zu sehen. Nicht ihn.“

Mit diesen Worten trat er an den Tisch und setzte sich wieder. Seine Worte hatten einen bitteren Nachgeschmack, aber das musste gesagt werden.

„Ich weiß“, hörte er sie murmeln. „Das weiß ich doch.“

Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er dachte, sie würde weiterhin darauf beharren, diese zum Scheitern verurteilende Beziehung aufzugeben, aber sie sagte nur jene Worte.

 

Itoe tat es schrecklich leid. Sie hatte ihn damit nie verletzen wollen, sie hatte ihn nie vergleichen wollen. Doch dieses Vorhaben war leichter gesagt als getan. Itoe gab ihm das Gefühl, ständig nur Miro in ihm zu sehen. Damit hatte er nicht einmal Unrecht.

Gestern, als er diese schrecklichen aber wahrheitsgetreuen Worte ausgesprochen hatte, brach plötzlich die Welt noch einmal über ihr zusammen. Miro ist tot. Ja, das war er. Aber tief in ihrem Herzen wollte sie es immer noch nicht glauben, sie konnte es nicht, wenn sie das Ebenbild von ihm vor der Nase herumlaufen sah. Da saß er doch. Genau jetzt, in diesem Augenblick. Natürlich war das nicht Miro, ihr Verstand wusste das, aber ihr Herz konnte das nicht akzeptieren. Wenn sie jetzt auch noch seinen Zwillingsbruder verlor, was hätte sie dann noch?

Dieser Gedanke war ziemlich egoistisch, das erkannte sie plötzlich. Es war nicht das Pflichtgefühl, Miros letzten Wunsch zu erfüllen, zumindest nicht nur. Es gab noch ein anderes Motiv, ein egoistisches. Sie wollte nicht allein sein, sie wollte Miros Tod nicht endgültig akzeptieren. Wenn sie Kira verließ, sich scheiden ließ und ein neues Kapitel aufschlug, wie stark wäre dann der Schmerz ihres Verlustes? Könnte sie das noch einmal überstehen? Sie hatte nicht die Kraft, es herauszufinden. Für einen kurzen Moment schien sie sich gegen Kira entschieden zu haben, doch kaum redete er auf sie ein, schwand ihr Entschluss und sie gab sich ihrer Schwäche hin. Selbst wenn es nicht Miro war, war es immer noch besser, als alleine zu sein.

„Tut mir leid für mein Verhalten gestern“, murmelte Itoe in die bedrückende Stille hinein. „Ich war unmöglich, hatte mich betrunken und dir nur Ärger bereitet.“ Sie legte vor Scham ihre Hände aufs Gesicht und hoffte auf seine Vergebung. „Normalerweise verhalte ich mich nicht so.“

„Schon okay“, erwiderte Kira kurz und knapp, „das kann jedem mal passieren. Aber für gewöhnlich gibt es immer einen Grund.“

Als Itoe ihre Hände vom Gesicht nahm, trafen sich ihre Blicke und sie musste verlegen blinzeln. Da verstand sie, dass er sie durchschaut hatte. Doch sie wollte jetzt nicht wieder von Miro anfangen, denn genau das war der Grund, der sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. All diese Geheimnisse, die er hatte und von denen sie nichts wusste. Es war einfach zu viel für einen Abend. Nie hatte er auch nur ein Wort darüber verloren, dass er ganze fünf Clubs besaß. Er war unglaublich reich, reicher als sie es sich vorstellen konnte. Aber das Schlimmste war, dass sie sich vorgemacht hatte, ihn zu kennen. Das Bild, das sie von ihm hatte, entsprach nicht dem Menschen, den sie jetzt nach und nach kennenlernte. Seine Persönlichkeit. Sein Verhalten. Alles war anders. Er hatte ein aufregendes Leben geführt, war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Warum hatte er ihr dann diese Rolle vom ruhigen, bodenständigen Kerl vorgespielt, der lieber zu Hause hockte, statt auszugehen? Warum zur Hölle hatte er dieses Leben hinter sich gelassen?

„Itoe? Itoe?!“ Kiras Stimme riss sie jäh aus ihren Gedanken. „Alles in Ordnung? Du siehst ganz blass aus.“

Itoe schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und plötzlich fing ihr Mund wie von selbst an zu reden. All ihre Gedanken sprudelten aus ihr heraus. Mit einem Mal fiel ihr ein Stein vom Herzen, denn es tat so gut, sich ihre Gedanken und Zweifel von der Seele zu reden. Kira hörte ihr aufmerksam zu, aber sein Gesicht verriet seine Emotionen nicht. Nachdem sie geendet hatte, schien er über ihre Worte nachzudenken.

„Es tröstet dich vielleicht nicht, aber bestimmt hatte mein Bruder einen Grund für sein Verhalten. Ich möchte ihn nicht rechtfertigen, denn um ehrlich zu sein, finde ich es nicht richtig, dass er dir so vieles von sich vorenthalten hatte. Er hat dich schließlich geheiratet. Du hattest das Recht, alles von ihm zu erfahren. Aber so war Miro nun mal. Er liebte solche Spielchen.“

Itoe horchte auf. „Was willst du damit sagen? Dass das ganze nur ein Spiel für ihn war?“ Itoes Stimme zitterte. Nein, das konnte einfach nicht sein. Sie hatten sich geliebt und sie liebte ihn noch immer. Ihre Liebe zueinander war aufrichtig und rein. Das konnte nicht alles gespielt sein.

Kira verzog keine Miene. „Nein, das wollte ich damit nicht sagen. Er hat dich geliebt, das steht außer Frage. Du kannst dir nicht vorstellen, mit welcher Liebe er von dir in seinem Abschiedsbrief gesprochen hat. Er hat dich geliebt. Ganz sicher.“ Kira machte eine Pause, bevor er fortfuhr. „Aber Miro schlüpfte gerne in verschiedene Rollen. Er war ein Naturtalent, was das anging. Somit hatte er die Fr...“ Kira stockte und Itoe lächelte bitter, als ihr bewusst wurde, was er sagen wollte.

„Na los, sag schon. Mich stört es nicht. Miro hatte andere Frauen vor mir. Na und?“ Sie fuhr sich durchs zerzauste Haar, als würde ihr der Gedanke nichts ausmachen. „Das ist schon in Ordnung. So läuft es nun mal.“

Itoe fing an vom Tisch abzuräumen. Das Gespräch hatte sie nun doch etwas aufgewühlt, sodass sie jäh aus ihren Gedanken gerissen wurde, als Kira sie am Handgelenk packte. Sein Griff war fest, doch sein Blick unerwartet sanft. „Er hat dich wirklich geliebt, Itoe. Du darfst nicht daran zweifeln. Er hätte dich sonst niemals geheiratet.“

Kiras Worte taten unglaublich gut. Sie erwärmten ihr Herz und ließen es schneller schlagen. Langsam ließ er sie los und half ihr beim Aufräumen. Die Stille breitete sich wieder aus, doch war sie diesmal nicht unangenehm. Das einvernehmliche Schweigen schien von beiden akzeptiert zu sein.

Auf den Schwingen des Todes

Die Tage verstrichen wie Sandkörner einer Sanduhr, gnadenlos unaufhaltsam. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und ließ den Herbst gewähren. Bäume wurden kahler, gefallene Blätter verzierten die Straßen mit einem goldroten Teppich. Die Natur war ungerührt über alle Ereignisse, die das menschliche Herz zum Zerreißen spannten. Unabhängig davon, welcher Schicksalsschlag als nächstes eintrat, die Welt würde sich weiterdrehen, die Natur ihrem Drehbuch folgen. Und wie man mit Schmerz und Kummer umging, interessierte die Außenwelt nicht.

 

Als Miro verstarb, stand für Itoe die Zeit still. Die Zeiger der Uhr blieben auf halb 5 Uhr abends stehen, Miros Todeszeitpunkt. Sein Tod war unumgänglich, die Ärzte konnten ihn nicht retten, das hatte sie von Anfang an gewusst. Dennoch wollte Itoe diese unumstößliche Tatsache nicht wahrhaben und hoffte auf ein Wunder. Es war naiv und dumm. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, aber er überrollte sie trotzdem gnadenlos, vernichtend.

Nachdem alle Geräte abgeschaltet wurden und Miros Tod festgestellt wurde, hatte Itoe noch einige Minuten mit ihm allein, um Lebewohl zu sagen. Sie trat an sein Bett, in dem er seelenruhig zu schlafen schien. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut weiß, beinahe transparent. Itoe fuhr mit ihren Fingern über sein noch warmes Gesicht und biss sich fest auf die Unterlippe, als sich Tränen in ihren Augen sammelten.

Er hatte ihr von seiner Krankheit nicht sofort erzählt, aber Itoe hatte schnell herausgefunden, wie es um sein gesundheitliches Befinden stand. Trotz dieser Tatsache hatte sie ihn nicht verlassen und blieb bis zur letzten Stunde an seiner Seite. Vor kurzem erst hatte er um ihre Hand angehalten und so verliebt wie sie war, hatte Itoe seiner wahnsinnigen Idee zugestimmt.

„Lebe wohl, Kira“, murmele sie mit zitternder Stimme und hauchte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen. Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass es sich eigentlich um Miro handelte. Sie schloss die Augen und ihre Tränen liefen über ihre Wangen, tropften auf sein Gesicht nieder. Itoe wischte sie mit dem Ärmel ihres Pullis ab und wandte sich ab. Sie packte Miros wenige Habseligkeiten in den kleinen Koffer, den sie mitgebracht hatte, und verließ daraufhin das Krankenzimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Der Weg bis zu Miros Wohnung dauerte eine halbe Stunde zu Fuß, aber Itoe nahm sich diese Zeit. Sie brauchte die frische Luft, um ihre Gedanken zu ordnen. Morgen musste sie alles für seinen Transfer nach Tokio vorbereiten. Sie wohnten in der Präfektur Yamaguchi, das würde demnach eine lange Fahrt werden. Wie Itoe das alles hinkriegen sollte, war ihr noch unklar. Itoe verdrängte schnell diese Gedanken. Sie wollte und konnte noch nicht an morgen denken, sie musste doch erst einmal mit dem Hier und Jetzt fertig werden.

Miro wohnte in einem kleinen Apartment eines fünfstöckigen Gebäudes. Itoe stieg die Treppe hinauf in den zweiten Stock und schloss die Tür auf. Ein Gefühl von innerer Unruhe durchfuhr ihren Körper, als sie die Wohnung betrat. Sie stellte ihre Tasche und den Koffer auf dem Boden ab und trat ins Wohnzimmer. Alles war noch genau so, wie Miro es hinterlassen hatte. Itoe ging in jedes Zimmer hinein, als wäre sie auf der Suche. Auf der Suche nach Miro, der in einem der Zimmer auf sie wartete. Einen Augenblick später kam sie sich lächerlich vor und gab ihre vergebliche Suche auf.

Itoe griff nach dem Koffer und ihrer Tasche, die im Flur auf sie warteten, und nahm beides mit ins Schlafzimmer. Sie legte ihre Tasche und den Koffer auf das Bett und öffnete dann das zweite. Dann holte sie Miros T-Shirt heraus und trat zu seinem Schrank, um es dort zu verstauen. Sie schob die Türen des Schranks auf und erstarrte. Seine Sachen waren ordentlich aufgehängt und verströmten Miros unverkennbaren Duft. Itoes Herz krampfte sich schmerzvoll zusammen. Mit großer Mühe faltete sie das T-Shirt und legte es in das dazugehörige Fach.

Warum tat sie das? Musste sie seine Sachen nicht eher verpacken? Itoe fuhr sich mit beiden Händen aufgelöst durchs Haar, ließ den Schrank offen stehen und ging zum Bett, setzte sich. Wie sollte sie mit dieser ganzen Situation fertig werden, wenn sie nicht einmal die Kleinigkeiten hinbekam? Vielleicht war das ganze doch zu viel, als dass sie es ertragen konnte. Itoe spürte erneut, wie die Tränen ihre Augen füllten und den Weg über ihre Wangen fanden. Es ist zu viel, ging es ihr noch einmal durch den Kopf, ich kann das nicht... ich kann das nicht! Ihre Hand glitt automatisch in ihre Tasche. Nach langem Durchwühlen fand sie immer noch nicht das, wonach sie suchte, bis sie schließlich den ganzen Inhalt auf dem Bett verteilte. Da! Sie griff nach dem Plastikdöschen mit den Pillen und betrachtete diese geistesabwesend. Eine neue Woge der Trauer erschütterte sie. Es sollte aufhören, sie wollte doch nur, dass es aufhörte. Dieser Schmerz... Dieser unaufhörliche Schmerz, der ihr Innerstes zerriss.

Mit einem Ruck öffnete sie die Dose und füllte sich die Hand voll mit Pillen, bevor sie sich diese in den Mund steckte. Ohne großartig nachzudenken, schluckte sie den Haufen Pillen mühsam herunter. Sie kauerte sich auf das Bett und schloss die Augen.

In diesem Augenblick dachte Itoe nicht an die Konsequenzen, an ihre trauernden Familien, ihre Freunde. Sie dachte nur an sich, Miro und ihren Schmerz. Es existierte nichts mehr auf dieser Welt und nichts mehr war wichtiger.

Ihr Körper fühlte sich schwer an. Ob die Tabletten schon wirkten? Gleich wäre es vorbei. Alles vorbei.

Sie hätte nicht gedacht, dass sie so weit gehen könnte.

Konnte sie denn noch zurück?

Nein.

Sie wollte nicht zurück. Zurück zu ihrem Schmerz.

Gleich wäre es vorbei. Alles vorbei...

 

Als Itoe am nächsten Morgen erwachte, dachte sie, das alles sei ein Traum. Sie griff nach ihrem Handy und wählte Miros Nummer. Am anderen Ende meldete sich nur eine automatische Nachricht: Der Teilnehmer ist nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt.

Itoe biss sich schmerzvoll auf die Unterlippe und blinzelte ihre Tränen weg. Kein Traum sondern bittere Realität.

Sie erblickte die Dose mit den Pillen, die sie hätten für immer schlafen lassen sollen. Warum hatten sie nicht gewirkt? Warum war sie nicht tot? Sie griff nach der verfluchten Dose und schleuderte diese mit einem Schrei gegen die Wand. Sie war so wütend und gleichzeitig so erleichtert am Leben zu sein.

Itoe kroch vom Bett und taumelte ins Badezimmer. Die Pillen machten sie träge und müde. Sie öffnete den Wasserhahn und wusch sich das Gesicht. Plötzlich wurde ihr übel und sie übergab sich. Das Waschbecken war voller Blut. Itoe wurde etwas schwindlig und sie glitt zu Boden, sich am Rand des Waschbeckens haltend. Was hatte sie getan... würde sie jetzt sterben?

Schluchzend hielt sie sich eine Hand vor den Mund, die nun ebenfalls mit Blut beschmiert war. Itoe versuchte sich zu beruhigen und rappelte sich langsam auf. Sie spülte sich den Mund mit kaltem Wasser aus und wischte sich die letzten Tropfen mit dem Handrücken von den Lippen.

Sie hob ihren Blick und betrachtete die magere Gestalt im Spiegel. War sie das wirklich? Eingefallene Wangen, blasse Haut, dunkle Augenring. Sie erkannte sich kaum wieder.

„Du siehst erbärmlich aus“, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu und brachte ein kleines Lächeln zu Stande.

Itoe wandte sich von der elenden Gestalt ab und verließ das Badezimmer. Sie kroch zurück ins Bett unter die Decke und umklammerte eines der vielen Kissen ganz fest. Miros Duft stieg ihr in die Nase und erinnerte sie daran, wie sie in diesem Bett lagen und über Gott und die Welt diskutierten. Sie erinnerte sich auch an seine sanften Küsse, seine Berührungen. Doch zu mehr war es nie gekommen. Miro hatte immer gesagt, sie sollten warten und irgendwann war es zu spät.

Itoe tastete nach ihrem Ring, den sie am Ringfinger trug, und drehte ihn im Kreis. Sie war für immer an ihn gebunden. Nein, falsch. Der Tod hatte sie getrennt. Für immer. Der Gedanke daran, dass sie ihn nie wiedersehen würde, erfüllte sie mit unbeschreiblicher Trauer und dem erneuten Wunsch, sich das Leben zu nehmen. Itoe unterdrückte ihren Impuls, indem sie sich so fest es ging an das Kissen klammerte, als wäre es ihre einzige Rettung.

 

In einem lichten Moment erinnerte sich Itoe daran, dass sie noch alles für den Transfer vorbereiten, seine Sachen in Kartons packen, seine Familie kontaktieren musste. Sie konnte diese Aufgaben nicht liegen lassen, vielleicht würde es sie auch ein wenig ablenken. Kraftlos stand sie wieder auf und sah sich um. Wo sollte sie nur anfangen?

Am besten mit seiner Kleidung.

Itoe holte einige Kartons unter dem Bett hervor und stellte diese vor sich ab. Sie ging zum Schrank und räumte ein Fach nach dem anderen aus. Ihre Bewegungen waren automatisch, monoton. Sie verstaute seine Sachen in den Kartons und holte den nächsten Stapel heraus. Ungeschickt wie sie in diesem Moment war, fielen ihr die T-Shirts aus der Hand und landeten verstreut auf dem Boden. Itoe ging in die Hocke, um die Sachen vom Boden aufzuheben, da entdeckte sie zwischen seiner Kleidung einen Umschlag auf dem An meinen Bruder stand. Auf der Rückseite standen ein paar Worte an Itoe:

 

Liebste Itoe,

 

Bitte überreiche diesen Brief an meinen Bruder.

 

In Liebe Kira

 

Darunter stand eine Adresse in Tokio. Es war keine Telefonnummer hinterlassen worden. Itoe wüsste gern, was in dem Brief stand und warum er ihn nicht selbst an seinen Bruder abgeschickt hatte. Aber aus Respekt vor ihrem toten Mann würde sie diesen Brief nicht öffnen und ihn persönlich seinem Bruder übergeben. Sie verstaute den Brief in ihrer Tasche, hob dann Miros Sachen vom Boden auf und verpackte diese in die Kartons.

Sie würde bald seine Familien kennenlernen, seine Eltern, seinen Bruder. Und dann würde sie noch einmal richtig um ihn trauern und versuchen, ihn gehen zu lassen.

Happy Birthday, Itoe!

Nach und nach verstrichen die Tage und der Herbst breitete seine Flügel immer weiter aus. Draußen wurde es kälter und zu Hause gemütlicher. Itoe hatte einen Nebenjob in einem luxuriösen Restaurant gefunden und arbeitete jetzt jeden Abend dort. Kira hatte sie davon abbringen wollen, ohne Erfolg. Seine Argumentation sah folgendermaßen aus: Er hatte genug Geld für sie beide, sodass Itoe sich darüber keine Sorgen machen musste. Wenn sie wollte, konnte sie studieren oder sich irgendwie anders beschäftigen. Wenn sie wollte, würde er ihr alles kaufen. Aber Itoe war nicht so simpel gestrickt. Er konnte sie damit nicht anlocken, sie hatte an seinem Geld kein Interesse. Sie wollte aus ihrer eigenen Kraft etwas erreichen, Geld verdienen und sich diverse Dinge selbst finanzieren. Sie wollte unabhängig sein und das respektierte Kira letztendlich.

Nach dem ersten Besuch im Club war schon einige Zeit verstrichen und in dieser Zeit hatte Itoe einiges mit Kira erlebt. Sie waren im Kino, gemeinsam Essen, haben Museen und verschiedene Ausstellungen besichtigt. Kira hatte Itoe Tokio gezeigt, nicht nur die weltberühmten Sehenswürdigkeiten, sondern auch kleine, versteckte Gassen mit niedlichen Cafés und Bars. Sie hatten sich auch mit Kiras Freunden getroffen, darunter auch wieder der gesprächige Jiro, der ohne Unterlass versuchte Itoe dazu zu bringen, ihre Beziehung zu Kira noch einmal zu überdenken. Sie lernte außerdem Katsuya und Ren kennen. Katsuya war ein ebenso ruhiger Typ wie Kira, doch er strahlte etwas Gefährliches aus, das Itoe, jedes Mal wenn sie ihn sah, den Atem raubte. Ren war das komplette Gegenteil. Er war sehr freundlich und zuvorkommend. Er hatte ein gutes Gespür für Menschen und Situationen und er ging sehr sensibel mit dem Verlust von Miro um. Keiner von Kiras Freunden kannte den wahren Grund für Kiras plötzliche Ehe mit Itoe. Sie ahnten vermutlich, dass es mehr Schein als Sein war. Und als wäre es nicht schlimm genug, dieses Geheimnis mit sich herumzutragen, hatte Jiro an einem Abend, als sie wieder im Club waren, etwas total Unmögliches gesagt. Zugegeben, er war betrunken und erinnerte sich am nächsten Tag sicher nicht mehr daran. Aber Itoe wünschte sich in jenem Augenblick auf der Stelle im Boden zu versinken.

„Warum habe ich euch beide noch nie knutschen sehen, hm?“

Zum Glück waren zu diesem Zeitpunkt nur Kira und Itoe anwesend, sonst wäre die Sache noch unangenehmer gewesen. Vielleicht hätte sich Kira in der Verantwortung gesehen, ihr Geheimnis aufrecht zu erhalten und hätte sie vor all den Leuten geküsst. Was hätte sie dann getan? Dieser Gedanke war gar nicht so abwegig, denn manchmal sah er sie mit diesem Blick an, den sie von Miro kannte. Dieses Verlangen, diese Begierde. Oder bildete sie sich das nur ein? Wie auch immer es war, es bereitete ihr jedes Mal Herzklopfen.

 

Itoe sah Kira fast jeden Tag und es wurde langsam zu einer Selbstverständlichkeit, dass sie sich regelmäßig trafen. Manchmal bekam Kira merkwürdige Anrufe, bei denen er nicht ran ging, und Itoe ertappte sich dabei, dass sie sich neugierig fragte, wer diese hartnäckige Person war.

Heute war Freitag und Kira holte Itoe nach der Arbeit ab, um sie auszuführen. Sie gingen in ein schickes Restaurant essen, das im 10ten Stockwerk eines Wolkenkratzers lag. Sie saßen direkt am Fenster und hatten eine wunderschöne Panoramaaussicht über das nächtliche Tokio. Dabei wäre das der perfekte Abend für morgen, denn da hatte sie Geburtstag. Aber das hatte sie Kira noch nicht erzählt, denn er würde es sicher übertreiben und etwas Großes für sie organisieren - und genau das wollte sie nicht. Er tat eh schon so viel für sie. Sie plante eher etwas Schlichtes. Bei dem Gedanken daran, was für Augen er machen würde, wenn er von ihrem Geburtstag erfuhr, musste sie sich ein Grinsen verkneifen.

„Was ist das eigentlich für ein Projekt, von dem du mit Jiro neulich wieder gesprochen hast?“, interessierte sich Itoe. Sie waren bereits beim Nachtisch angelangt. Einer süßen Speise namens Mitsumame.

„Es ist ein Projekt von Miro und mir, das wir noch vorhatten zu realisieren. Wir wollten noch einen weiteren Nachtclub eröffnen. In Osaka. Es soll auf dem Dach eines zwanzigstöckigen Gebäudes liegen. Den Ort haben wir uns schon ausgesucht und mit Vorbereitungen bereits angefangen“, erzählte Kira ihr. Er hatte immer diesen begeisterten Ausdruck in den Augen, wenn er von seiner Arbeit sprach.

„Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie ihr überhaupt auf diese Idee gekommen seid. Ich weiß nur, dass euer Vater selbst mal einen Club hatte, oder?“

„Ja, richtig. Aber es lief nicht so gut. Er hatte fragwürdiges Klientel und die ganze Aufmachung kam einfach nicht gut rüber. Da entstand unsere Idee.“ Kira hob seinen Blick und begegnete Itoes. „Hast du eigentlich auch einen Traum?“

Itoe hatte sich mit dieser Frage noch nie auseinander gesetzt. Sie zuckte unwissend mit den Schultern. „Ich habe ehrlich gesagt noch keinen richtigen Traum. Aber ich bewundere dich, dass du deinen Traum bereits jetzt verwirklicht hast. Das kann nicht jeder von sich behaupten.“

Itoe mochte die Gespräche mit Kira. Sie waren oft tiefgründig und gingen über standardmäßige Floskeln hinaus. Selbst wenn er fragte, wie es ihr ging, wollte er es wirklich wissen. Er interessierte sich aufrichtig für sie.

Sie aßen ihren Nachtisch, plauderten noch etwas über verwirklichte und unverwirklichte Träume und neue Projekte, und machten sich langsam auf den Weg nach Hause.

 

Draußen war die Luft ziemlich kühl, sodass der Atem weiße Wölkchen bildete. Kira hatte trotz der Kälte vorgeschlagen, ein bisschen spazieren zu gehen und Itoe war damit einverstanden. Ihr Kommentar, dass es ihr sicherlich nicht schaden würde, da sie sonst wie ein Kloß aufgehen würde, brachte Kira zum Lachen. Er hielt es nicht für möglich, so schlank wie sie war. Natürlich war es schwer, ihre Figur zu beurteilen unter den vielen Schichten aus Pullis und dicken Jacken. Aber wenn sie diese engen Kleider anzog, sah sie perfekt aus.

Seit er Itoe in den letzten Monaten näher gekommen war, erwischte er sich öfters dabei, bessere Laune zu haben. Er wurde lockerer, lachte sogar. Kira hatte mittlerweile eine gute Vorstellung davon, was Miro in Itoe gesehen hatte. Sie war ein aufrichtiges und liebevolles Mädchen, mit dem man sich über alles unterhalten konnte. Sie war eigenständig und besaß eine gute Portion Humor.

Sie schlenderten die Straße entlang und kamen bei einer Ampel zum Stehen. Kira sah zu ihr, wie sie ihre Schultern hochzog, und von einem Bein auf das andere trat.

„Kalt?“

Er stellte sich vor sie und zog ihren Schal enger, damit die kalte Luft nicht auf ihre nackte Haut traf. Itoe schenkte ihm ein Lächeln und er erwiderte es. In letzter Zeit hatte er sich verändert. Sie hatte ihn verändert. Er lächelte mehr und lief selten wie Sieben-Tage-Regenwetter herum.

„Ich rufe uns ein Taxi.“ Kira holte sein Handy heraus und sie warteten auf ihr Taxi, das sie nach Hause brachte.

Kira brachte Itoe bis zu ihrer Tür und wünschte ihr eine gute Nacht.

„Gute Nacht, Kira“, erwiderte sie und holten ihren Schlüssel aus der Tasche. Bevor sie ihm jedoch den Rücken zukehrte, hielt er sie auf. Itoe sah fragend zu ihm auf, ihre Wangen rosig vor Kälte, ihre Lippen einladend. Er wollte das schon vorhin tun, als sie an der Ampel standen, aber hatte sich erst jetzt dazu durchringen können. Kira dachte in diesem Augenblick einfach nicht nach, sonst würde er sich umentscheiden.

Er umfasste ihr Gesicht und legte seine Lippen auf ihre. Er rechnete jeden Augenblick mit einer Abfuhr, aber die bekam er nicht. Kira küsste sie sanft, dann fordernder. Er erforschte ihre Lippen und sie ließ ihn gewähren, erwiderte sogar seinen Kuss. Sie öffnete bereitwillig ihre Lippen für ihn und ließ seiner Zunge Eintritt. Kira vertiefte den Kuss, wurde leidenschaftlicher. Er vergrub seine Hand in ihrem dichten Haar und drückte sie gegen die Haustür, sein Körper fest gegen ihren gepresst. Gott, er wollte sie... Wie lange konnte er sich noch beherrschen?

Itoe musste sein Verlangen gespürt haben, denn auf einmal drückte sie ihn sanft von sich. „Kira, warte...“ Doch Kira schien wie in Trance. Er öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und ließ seine Hände sofort unter ihren Pulli gleiten. Seine kalten Finger trafen auf ihre warme, weiche Haut. Es fühlte sich wunderbar an. Wie hatte er sich so lange zurückhalten können?

„Kira, bitte...“, wiederholte sie entschiedener und schob seine Hände von sich weg. Ihr Blick verriet ihm, dass er zu weit gegangen war. Verdammt. Er wollte doch nur ihre Lippen küssen und jetzt hatte er alles verdorben.

„Ich sollte jetzt gehen...“, sagte sie schnell und schloss die Tür auf.

Kira hielt sie nicht auf, sondern wartete, bis sie in ihrer Wohnung verschwand. Er hatte das ungute Gefühl, dass er all seine Bemühungen zu Nichte gemacht hatte. Er hätte es bei einem Kuss belassen sollen, aber er war zu gierig gewesen.

Wütend, seine Beherrschung verloren zu haben, schenkte er sich erst einmal ein Glas Whisky ein, bevor er sich auf sein Ledersofa niederließ. Er wüsste gern, was in ihr vor sich ging. War sie wütend, enttäuscht, verletzt? Eins war jedoch sicher, er war zu weit gegangen.

Nach vier Gläsern reines Alkohols, klingelte es an seiner Tür. Itoe – schoss es ihm durch den Kopf. Er erhob sich schwankend und eilte zur Tür. Sie war gekommen. Sie war nicht sauer. Trotzdem würde er sich sofort bei ihr entschuldigen.

Doch zu seiner Enttäuschung war es nicht Itoe, die ihm gegenüber stand sondern Makoto.

„Was machst du denn hier?“

Kira konnte seine Enttäuschung nicht verbergend. Sie tauchte auch immer zu ungünstigen Momenten auf.

„Bitte? Ist das die Art, wie man seine Freundin begrüßt?“, sagte Makoto aufmüpfig.

Kira zog sie hinein in die Wohnung, da sie so einen Krach machte und er nicht wollte, dass Itoe etwas davon mitbekam.

„Du hast mich nicht angerufen!“, beschwerte sie sich, als die Tür ins Schloss fiel, „du nimmst meine Anrufe nicht an! Wie lange soll ich noch hinter dir herlaufen, hm? Und dann erfahre ich über vier Ecken, dass du verheiratet bist!? VERHEIRATET?!“

Kira hatte genug von ihren Vorwürfen. Aber um sie zum Schweigen zu bringen, genügten keine Worte. Er umfasste ihre Schultern und stieß sie gegen die Wand, bevor er ihre Lippen in Besitz nahm.

„Was... soll das?“, wisperte sie zwischen zwei Küssen, „ich... bin noch nicht fertig!“

„Sei einfach still.“

 

Itoe wachte am nächsten Morgen mit gemischten Gefühlen auf. Sie hatte kaum geschlafen, so aufgewühlt war sie seit gestern. Der Abend hatte schön angefangen und der Abschluss war auch nicht zu bemängeln, aber als Kira fordernder wurde, bekam sie Panik. Was wäre, wenn er mit in ihre Wohnung gekommen wäre? Hätte sie ihn dann aufhalten können? Hätte sie selbst standhaft bleiben können? Ihre Panik wurde nicht allein dadurch ausgelöst, dass Kira ganz offensichtlich mit ihr schlafen wollte, sondern weil sie nichts dagegen einzuwenden hatte. Bei dem Gedanken daran, wurde ihr ganz heiß. Selbst eine kalte Dusche verschaffte ihr keine Linderung.

Itoe ging in die Küche, frühstückte und machte sich dann ans Werk. Sie wollte heute eine richtig coole Torte backen, natürlich nicht nur für sich sondern auch für Kira. Damit wollte sie sich bei ihm bedanken, dass er für sie da war und dass er sie nicht gehen ließ, damals, als sie Miros Plan in Frage stellte.

Es kostete sie ganze drei Stunden, bis die Torte endlich fertig war. Auf die Verzierungen und die schwungvollen Schriftzeichen war Itoe besonders stolz: Danke für alles! PS: Heute habe ich Geburtstag ^w^ Itoe hoffte nur, dass Kira es nicht allzu kitschig fand.

Nun musste sie sich lediglich zurecht machen. Doch was sollte sie bloß anziehen? Das ewige Problem der Frauen! Sie konnte sich einfach nicht entscheiden. Zu sehr auftakeln wollte sie sich ja nicht, aber ein hübsches Kleid musste es auf jeden Fall sein. Itoe entschied sich letztendlich für ein dunkelblaues, knielanges Kleid, das Kira ihr einmal ohne jeden Grund geschenkt hatte. Ihre Haare ließ sie offen, legte sie aber über die linke Schulter. Mit einem Lächeln schlüpfte sie in die passenden Ballerinas, nahm die Torte und klopfte an seine Tür. Ihr Herz raste wie verrückt. Doch kaum wurde diese geöffnet, war ihr Lächeln wie weggewischt. Vor ihr stand eine junge Frau, vermutlich in ihrem Alter. Sie war auffällig geschminkt, hatte knallrote Lippen und ihr Haar fiel in perfekten Wellen auf ihren Schultern. Die Fremde lehnte sich mit verschränkte Armen in den Türrahmen und sah Itoe skeptisch an. Sie hatte ein breites, männliches T-Shirt an, Kiras T-Shirt. Itoe schluckte den schweren Kloß im Hals herunter und fand endlich ihre Stimme.

„Ist Kira zu Hause?“

Die Frau sah sie weiterhin neugierig an, warf einen Blick auf die Torte und verzog sich die Lippen. „Er schläft.“ Ihre Stimme klang wie dunkle Schokolade, bitter und verführerisch.

„Können Sie ihm bitte ausrichten, dass ich hier war?“

„Und wer soll dieses ich sein?“

Natürlich. Woher sollte diese Frau auch wissen, wer Itoe war? Als würde Kira dieser Schönheit erzählen, dass er verheiratet war. Schließlich hatte er sie nicht freiwillig zu seiner Frau genommen. Auch wenn es offensichtlich war, mochte Itoe sich nicht ausmalen, warum diese Frau in Kiras Wohnung war, warum sie sein Shirt trug und was da überhaupt zwischen den beiden lief.

„Ich heiße Itoe.“

„Dein Name interessiert mich nicht.“

Itoe dachte, sich verhört zu haben. „Bitte?“

Die vertrauensvolle Du-Form war weniger unhöflich als ihre trotzige Art.

Die hübsche Frau streckte angriffslustig das Kinn vor. „Du bist nicht zufällig seine Frau?“ Sie wies auf Itoes Ringfinger. „Ich sag dir mal was, Schätzchen, und ich sag es nur einmal. Kira gehört mir. Ich weiß nicht, mit was du ihn erpresst oder wie du es sonst hinbekommen hast, dass er dich heiratet, aber bilde dir ja nichts darauf ein. Sein Bett und sein Herz gehören mir. Also wenn ich dich noch einmal sehe, kann ich für nichts garantieren.“

Itoe runzelte ungläubig die Stirn. Hatte sie ihr gerade tatsächlich gedroht?

„Und diesen kitschigen Kuchen solltest du auch beseitigen. Wie alt bist du, 12?“

Itoe reichte es für heute an Beleidigungen. Von einer wildfremden Person würde sie sich das nicht gefallen lassen.

„Richten Sie es ihm einfach aus.“

Itoe wandte sich ab, bereit zu gehen.

„Das werde ich ganz sicher nicht tun. Und falls du es immer noch nicht gecheckt hast, Kira hatte heute eine heiße Nacht mit mir! Nicht mit dir, du Möchte-gern-Frau.“

Dann knallte sie mit voller Wucht die Tür zu.

Itoe kehrte in ihre Wohnung zurück, stellte die Torte auf den Tisch in der Küche und ließ sich müde auf den Stuhl sinken. All ihre Freude und Kraft waren aus ihrem Körper gewichen. Diese Frau. Wie konnte Kira mit einer solchen Frauen zusammen sein? Er hatte ihr nie etwas von dieser Frau erzählt. Ob sie schon die ganze Zeit seine Freundin oder seine Geliebte war? Aber was hatte sie denn erwartet? Dass er brav auf sie wartete, bis sie bereit war? Sie waren nicht freiwillig zusammen, lediglich auf Miros Wunsch. Hatte sie allen Ernstes geglaubt, es würde zwischen ihnen funktionieren? Das war reine Wunschvorstellung und das wurde ihr endlich klar.

Itoe nahm eine Geburtstagskerze, die sie vorhin auf dem Tisch vergessen hatte, und steckte diese in die Torte, zündete sie an und beobachtete die kleine Flamme, die langsam vor ihren Augen verschwamm. Schnell wischte sich Itoe mit dem Handrücken über die Augen und lächelte über ihre eigene Dummheit. Sie wusste, dass diese Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Und doch hatte sie auf das Gegenteil gehofft.

„Happy Birthday, Itoe“, murmelte sie leise und pustete die Kerze aus.

Dem Geheimnis auf der Spur

Sie zog ihn mit in ihre Wohnung, schloss die Tür hinter ihnen zu und lächelte ihn an. Ihre Jacke fiel wie von selbst von ihren Schultern, gefolgt von ihrem Schal und ihrem Pullover.

Zieh dich aus...“, flüsterte sie ihm ins Ohr und half ihm dabei, seinen Mantel abzustreifen. Kira gehorchte ihr aufs Wort, knöpfte sein Hemd auf, bevor sich ihre Hände auf seine Brust legten und sanft darüber strichen. Sie machte ihn verrückt...

Gierig verschlang er ihre Lippen und lotste sie ins Schlafzimmer, stieß sie aufs Bett und stieg über sie. Seine Hände glitten über ihren traumhaften Körper, erkundigten ihn und zogen ihn ungeduldig aus, bis sie nackt unter ihm lag.

Itoe...“, hauchte er und sah kurz auf, um sie vollends zu betrachten. Sie war perfekt. Noch besser, als in seiner Vorstellung. Kiras Lippen senkten sich auf ihre Brust und er entlockte ihr ein leises Stöhnen. Er wusste nicht, wie lange er es noch aushalten konnte, ohne zu explodieren. Kira schlüpfte aus seiner Hose und seiner Boxershorts und legte sich wieder zu ihr. Er würde sie erst schnell und leidenschaftlichen nehmen, dann langsamer und sanfter. Aber jetzt konnte er sich nicht länger beherrschen...

 

Der laute Türknall weckte Kira aus seinem heißen Traum. Nein! Doch nicht jetzt...! Es sollte doch gerade so richtig zur Sache gehen! Er setzte sich seufzend auf, benommen vom Schlaf und vom heißen Traum, und fuhr sich durchs wirre Haar. Er spürte immer noch ihre Lippen auf seinen, ihren Körper unter sich, ihren heißen Atem auf seiner Haut... als sei das Szenario real gewesen.

Der gestrige Abend war bedauerlicherweise ganz anders verlaufen, als in seinem Traum. Natürlich hatte er nicht die Absicht gehabt, sofort mit ihr zu schlafen, aber... er hatte gehofft, der Gute-Nacht-Kuss würde ihre Beziehung vertiefen. Aber das hatte er haushoch vermasselt.

Kira sah auf, als Makoto sein Schlafzimmer betrat und zu ihm aufs Bett stieg. Sie bewegte sich wie eine Raubkatze, die ihre Beute im Visier hatte, um jeden Augenblick zuzuschnappen.

„Na, bist du endlich wach, mein Süßer?“, säuselte sie und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Mir war ganz schön langweilig ohne dich. Außerdem musst du das von gestern wieder gut machen!“

Während sie sprach, vergrub sie ihre Hände in seinem Haar und legte ihre Lippen auf seine. Kira erwiderte ihren Kuss nicht, sondern überlegte angestrengt, was sie damit meinte. Was sollte er wiedergutmachen? Für einen kurzen Augenblick war er sogar überrascht, sie hier zu sehen. Die Erinnerung an gestern Abend fiel mit einem Mal über ihn her. Kira löste sich aus ihrem Griff und drückte sie entschieden von sich.

„Lass die Spielchen“, sagte er gereizt und erhob sich vom Bett.

„Welche Spielchen bitte?!“, fuhr Makoto ihn an, „du bist doch derjenige, der hier die ganze Zeit Spielchen spielt! Gehst nicht an dein Handy, rufst mich nicht zurück. Und wenn ich schon mal da bin, machst du mich erst heiß und lässt mich dann links liegen!!“

Letzte Nacht war Makoto bei ihm aufgetaucht, daran erinnerte er sich. Er hatte sie in die Wohnung gelassen, sie geküsst... Oh man, er hatte sie geküsst! Verdammt. Hatte er es so nötig? Kira seufzte innerlich. Zum Glück ist nichts weiter passiert. Oder? Er erinnerte sich daran, wie sie es bis zu seinem Bett geschafft hatten und dass ihm plötzlich die Lust verging, weil er nur an Itoe denken konnte. Dann hatte er sich auf die andere Seite gedreht und war eingeschlafen. Er atmete erleichtert auf, als er sich sicher war, dass er nicht mit Makoto geschlafen hatte.

„Sag doch was, verdammt! Warum schweigst du? Gibst du endlich zu, dass du deine Freundin scheiße behandelt hast?!“

Kira drehte sich bei ihren Worten abrupt um, als sei es sein Stichwort, und fixierte sie mit seinen kühlen Augen.

„Du bist nicht meine Freundin, Makoto. Schon vergessen? Wir haben eine Vereinbarung. Außerdem hattest du mir letztens in einer SMS geschrieben, dass du dich von mir trennst.“

„Ha! Die hast du also gelesen? - Ja, aber ich meinte das doch nicht ernst! Ich wollte nur eine Reaktion von dir!“, unterbrach sie ihn aufgebracht, „außerdem machen wir doch immer Schluss und kommen wieder zusammen. So war das schon immer!“

„Jetzt nicht mehr.“ Er griff nach einem Shirt und zog es an. „Du solltest jetzt besser gehen.“

Makoto ließ sich jedoch nicht so leicht abwimmeln, sie war noch längst nicht fertig mit ihm. „Das lass ich mir nicht bieten! Du bist so ein Arsch, Kira! Was willst du überhaupt von dieser kindischen Schlampe!?“ Sie sprang vom Bett und rannte auf ihn zu, damit er sich nicht von ihr abwandte. „Ist sie so viel besser als ich? Weiß sie, worauf du stehst?“ Ihre Hand glitt zwischen seine Beine, doch Kira sah sie unbeeindruckt an, ohne jede Regung. Dann funkelte etwas in seinem Blick. Zorn. Verachtung. Er packte ihre Hand, die ihn soeben berührt hatte.

„Sprich nicht so von ihr.“ Seine Stimme klang leise, bedrohlich.

„Ach ja? Ich kann über jeden reden, wie ich will, verstanden?! Du hast mir gar nichts zu sagen!“

Kira hatte genug von diesem Kindergarten. Mit ihr zu streiten war anstrengend, sie hatte ihn schon immer erschöpft. Er ließ ihre Hand los und sammelte ihre Sachen zusammen, die er ihr dann in die Hände drückte.

„Zieh dich an und verschwinde“, befahl er und verließ das Zimmer.

Es war seine Schuld, dass er überhaupt diese Auseinandersetzung mit ihr hatte. Hätte er sie gestern bloß nicht in seine Wohnung gelassen! Aber was hätte er sonst tun sollen? Sie hätte vor seiner Tür Terror gemacht. Und zu allem Übel hätte Itoe das mitbekommen.

Kira kochte Kaffee und war erleichtert, dass Makoto ihm nicht hinterher lief. Erst als sie fertig gekleidet war, betrat sie die Küche. In ihrem engen roten Kleid und der Lederjacke sah sie wie ein Model aus, aber das reizte ihn nicht mehr.

„Du machst einen riesengroßen Fehler, Kira“, zischte sie und etwas an ihrem selbstgefälligen Blick verriet ihm, dass sie mit ihm noch lange nicht fertig war, „du und ich, wir passen perfekt zueinander, wir verstehen uns. Unser Schmerz, unser Leid... das hat uns doch immer verbunden und das willst du wegwerfen?“

Kira erwiderte nichts darauf. In ihren Worten lag ein Funke Wahrheit. Es gab eine Zeit, da hatten sie sich gegenseitig im Leid des anderen gesuhlt, fühlten sich zueinander hingezogen, miteinander verbunden. Doch letztendlich war diese Beziehung zerstörerisch und ungesund. Er hätte es schon längst beenden müssen. Dass Itoe in sein Leben getreten war, war seine Rettung. Wäre nicht sie, hätte er diesen Schritt vermutlich immer noch nicht gewagt. Vielleicht konnte sie ihn sogar aus seiner inneren Dunkelheit befreien, ihn erlösen mit ihrem strahlenden Licht.

Da Kira schwieg, wandte Makoto sich zum Gehen. „Ach übrigens, deine Frau war heute hier... wie hieß sie doch gleich, irgendwas mit I...“

Kira hielt mitten in seiner Bewegung inne und erreichte Makoto in nur wenigen Schritten. Er packte sie am Arm und drehte sie abrupt zu sich um. „Itoe war hier? Was hast du zu ihr gesagt?“ Kira ahnte Schlimmes. Sein Herz schlug wild in seiner Brust.

Makoto lächelte triumphierend. Nun hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. „Dass du schläfst, was sonst? - Ach ja, und vielleicht noch eine Kleinigkeit. Dass du und ich miteinander Sex hatten und es großartig war.“

Kiras Schläfe pochte und er packte ihren Arm noch fester. „Das hast du nicht getan...“ Seine Stimme klang ruhig, aber warnend.

„Ohhhh doch, mein lieber Kira. Und jetzt lass mich gefälligst los, du tust mir weh!“

Nachdem er seinen Griff gelockert hatte, riss sie sich von ihm los und trat aus der Wohnung. „Wir sehen uns.“ Sie warf ihm einen Handkuss zu und stolzierte davon, während die Tür ins Schloss fiel.

Kira stand wie angewurzelt da und starrte fassungslos ins Leere. Das konnte doch nicht wahr sein. Wie leichtsinnig war es von ihm, Makoto in seine Wohnung zu lassen... Aber wie hätte er wissen sollen, dass sie auf Itoe treffen würde? Hatte Makoto wirklich zu Itoe gesagt, sie hätten miteinander geschlafen? Das war eine Katastrophe. Wie sollte Kira das alles erklären? Die Tatsache, dass Itoe Makoto in seiner Wohnung vorfand, ließ an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Kira wurde übel bei dem Gedanken daran. Würde Itoe ihm überhaupt glauben, dass da nichts zwischen ihnen gelaufen war? Nichts war vermutlich der falsche Ausdruck. Er hatte zwar nicht mit ihr geschlafen, aber er hatte sie geküsst und das war schon schlimm genug.

Kira fluchte.

 

Erst Stunden später stand er endlich vor ihrer Tür und klingelte. Es schien still auf der anderen Seite zu sein und er holte den Ersatzschlüssel heraus. Er hatte sich das letzte Mal des Schlüssels bedient, als Itoe das erste Mal in seinem Club gewesen war und sich betrunken hatte. Er erinnerte sich gut an jene Nacht, als sei es gestern gewesen. Damals hatte er schreckliche Dinge zu ihr gesagt. Seitdem waren bereits einige Monate vergangen und seine Beziehung zu Itoe hatte sich in eine positive Richtung entwickelt. Wenn das nun alles zerstört war, weil er sich wie ein Idiot verhalten hatte...

Unschlüssig drehte er den Schlüssel in seiner Hand und schloss dann die Tür auf. Leise betrat er die stille Wohnung und schaltete das Licht ein.

„Itoe?“

Keine Antwort.

„Bist du da?“

Er sah sich in jedem Zimmer um, aber sie war nicht da. Kira vernahm den leckeren Geruch nach Gebäck und betrat automatisch die Küche. Auf dem Tisch entdeckte er die Quelle für jenen leckeren Duft: den Kuchen. Oder viel mehr die hübsch verzierte Torte. Wow. Für wen die wohl war? Kira trat näher an den Tisch heran und las die Worte, die darauf standen: Danke für alles! PS Heute habe ich Geburtstag ^w^

Etwas in seinem Inneren krampfte sich schmerzvoll zusammen. Itoe hatte heute Geburtstag? Wieso wusste er nichts davon? Dann setzte sein Gehirn die Puzzleteile zusammen und ließ das Szenario durch seinen Kopf gleiten. Er sah vor seinem inneren Auge, wie Itoe die Torte zubereitete und liebevoll verzierte, in der Erwartung sie ihm zu präsentieren. War sie deswegen heute morgen bei ihm gewesen? Makoto! Sie hatte Makoto getroffen. Verdammt! Wütend holte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte Itoes Nummer, doch sie ging nicht ran. Kira stieß einen lauten Fluch aus und verließ eilig die Wohnung. Er musste sie finden und ihr alles erklären.

 

Dass Itoe nicht in ihrer Wohnung war, hatte einen einfachen Grund. Sie arbeitete. Sie hatte sich für heute eigentlich extra frei genommen, aber nachdem sie Kiras Freundin, oder wer auch immer die Frau war, getroffen hatte, entschied sie sich doch arbeiten zu gehen. Sie wollte nicht die ganze Zeit an diese wunderschöne, aber äußerst unfreundliche Frau denken und daran, dass sie mit Kira geschlafen hatten. Und falls du es immer noch nicht gecheckt hast, Kira hatte heute eine heiße Nacht mit mir! Doch wie sehr sich Itoe auch ablenken wollte, es gelang ihr einfach nicht.

Am Samstag war das Restaurant Matsumi, in dem Itoe arbeitete, überfüllt und man war für Itoes Hilfe sehr dankbar. Sie hatte sich schnell ihre Uniform angezogen und machte sich an die Arbeit, Bestellungen aufzunehmen.

„Heute ist die Hölle los!“, meinte Nari, während einer kurzen Pause zu ihr. Sie war ein Jahr jünger als Itoe und arbeitete nur am Wochenende hier, da sie nebenbei studierte. „Aber hattest du heute nicht frei?“

Itoe zupfte ihre Uniform zurecht und nickte. „Meine Pläne haben sich geändert“, erwiderte sie etwas geknickt und wechselte das Thema, „wir sollten, glaube ich, wieder an die Arbeit. Da kommen schon wieder neue Gäste.“

Itoe schnappte sich ein paar Speisekarten und eilte, die neuen Gästen zu begrüßen. Schon beim Näherkommen erkannte sie Katsuya und Ren, nur ihre weiblichen Begleiterinnen und zwei weitere Begleiter kannte sie nicht.

„Herzlich Willkommen in Matsumi“, begrüßte sie die Gruppe, führte sie an einen freien Tisch und verteilte die Menükarten.

„Hallo, Itoe“, begrüßte Ren vertraut und schenkte ihr sein freundliches Lächeln. Aus dem Augenwinkel spürte sie Katsuyas Blick, der sie praktisch durchbohrte. Daran würde sie sich wohl niemals gewöhnen. Als würde er bis in die Abgründe ihrer Seele blicken und ihre dunkelsten Sehnsüchte durchschauen. Itoe spannte sich unwillkürlich an und hoffte, dass man ihr ihre Unsicherheit nicht anmerkte. Katsuya war der einzige Freund von Kira, bei dem sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühlte.

„Wusste gar nicht, dass hier so hübsche Frauen arbeiten“, meinte einer aus der Gruppe um Ren und Katsuya. Er nahm Itoe haarscharf in Augenschein und grinste anzüglich. „Ich werde wohl öfters vorbeikommen.“

Er bekam einen Stoß in die Rippen von einem der Mädchen, das an seiner Seite saß.

„Heeey! Was soll das, Hitomi? Ist doch wahr!“

Das Mädchen, Hitomi, rümpfte die Nase und musterte Itoe abwertend. „Kellnerin, bring uns doch lieber schon mal was zu trinken.“

Itoe zwang sich zu einem Lächeln, nahm die Getränkebestellungen auf und ging davon. Sie seufzte innerlich.

Wirklich ein toller Geburtstag, Itoe.

Itoe sah zu der Bar und erblickte ihr Spiegelbild in der glasbesetzten Wand. Die markanten Gesichtszüge, die langen, hellbraunen Haare, die ihr gewöhnlich in Wellen um die Schultern lagen, jetzt aber zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, und die hell braunen Augen. Mit ihrem Aussehen hob sich Itoe schon immer von der Masse ab. Manchmal war das ein Segen, doch meistens ein Fluch, denn Männer liebten ihr Äußeres und Frauen hassten es. In der Schule war das gar nicht so einfach gewesen, Freundschaft mit Mädchen zu schließen. Ihre Klassenkameradinnen waren von ihrem untypischen Aussehen erst einmal angetan, aber nach einer Weile sahen sie sie als Konkurrenz. Oft wurde sie ausgeschlossen, gemobbt und ihr vergeblicher Versuch, sich mit jemanden anzufreunden, endete oft in einem Desaster. Irgendwann hatte sie ihr Aussehen drastisch verändert. Sie hatte ihre Haare sehr kurz geschnitten, schwarz gefärbt, und dunkle Kontaktlinsen getragen. Zu jener Zeit war sie in einem Sommercamp gewesen und dort hatte sie viele Freundschaften geschlossen, besonders mit einem Jungen, dessen Namen sie immer noch kannte: Shiro. Aber all das war Ewigkeiten her und hatte ebenfalls nicht lange gehalten.

Itoe wurde aus ihren Gedanken gerissen, als die Getränke für den Tisch sieben, an dem Ren und seine Freunde saßen, fertig waren. Itoe brachte den Gästen die Getränke und nahm die Bestellung für Essen auf, das sie 20 Minuten später servierte.

„Wann hast du Feierabend?“ Es war wieder der eine Typ aus der Gruppe, der sie schon vorhin angesprochen hatte. „Wir wollten später weiter ziehen. Wenn du willst, kannst du dich uns anschließen.“

Itoe lehnte höflich ab und entfernte sich wieder, bevor er oder jemand anderes noch etwas sagen konnte. Hätte sie bloß ihren Ring am Finger gelassen, dann würde sie solche Angebote gar nicht erst bekommen. Sie machte sich auf der Toilette kurz frisch und trat in den langen Flur. Das WC lag unten im Keller und war sehr edel ausgestattet. Itoe sah auf, als Katsuya plötzlich vor ihr stand. Sein eisiger Blick war noch beängstigender als der von Kira. Zu allem übel war in diesem Moment niemand hier unten, sodass Itoe automatisch einen Schritt zurück trat. Sicherheitsabstand. Sie wünschte sich auf einmal, ganz weit weg zu sein.

„Ich hoffe, das Essen hat euch geschmeckt“, meinte Itoe in ihrer netten Art, lächelte jedoch unsicher.

„Was geht eigentlich zwischen dir und Kira wirklich ab?“, fragte Katsuya geradeheraus.

Itoe blinzelte perplex. Mit dieser unerwarteten Konfrontation hatte sie nicht gerechnet.

„W-was meinst du?“, brachte sie stotternd hervor und versuchte seinem Blick standzuhalten. Sie war eine schlechte Lügnerin und Katsuya schien das zu ahnen. Es war klar, dass die Wahrheit irgendwann ans Licht kommen würde, aber musste es ausgerechnet Katsuya sein, der sie zur Rede stellte?

Kiras Freund ergriff unverblümt ihre Hand, an der der Ehering stecken sollte, und hielt sie ihr vor die Nase. „Ich meine das hier. - Wo ist dein Ring? Ich dachte, ihr seid verheiratet.“

Itoe wollte grade zu einer Antwort ausholen, doch er ließ ihr keine Gelegenheit dazu. „Ich kenne solche Mädchen wie dich. Sie sind hübsch, begehrenswert und sehr manipulativ. Hast du etwas gegen Kira in der Hand? Spielt ihr deswegen diese Scharade?“

Itoe stockte der Atem. Was erlaubte er sich überhaupt... Sie war innerlich hin und her gerissen. Die Angst vor ihm, lähmte sie, doch die Wut darüber, was er ihr an den Kopf warf, ließ sie sprechen.

„Was soll das?! Du hast nicht das Recht, mir so etwas vorzuwerfen!“ Itoe war entsetzt, dass er das dachte. Die Frau aus Kiras Wohnung hatte ihr Ähnliches vorgeworfen. Warum sagten das alle? Nur weil Kira wohlhabend war, hieß es noch lange nicht, dass sie sein Geld wollte.

Itoe zerrte an ihrer Hand, die er in seinem eisernen Griff hatte.

„Du willst also behaupten, ihr seid tatsächlich zusammen? - Ich kenne Kira fast mein ganzes Leben, er würde sich niemals an jemanden binden. Zumindest nicht freiwillig. Also frag ich dich noch einmal, was geht hier vor?“

Itoe fühlte sich in die Ecke gedrängt. War das der Moment, in dem sie Katsuya die Wahrheit sagen musste? Aber was war so schlimm an der Wahrheit? Vielleicht würde er es dann verstehen. Es war definitiv eine bessere Erklärung, als die, die er sich zusammengereimt hatte. Nein. Es bestand die Gefahr, dass er Kira davon überzeugte, diese unfruchtbare, gefakete Beziehung aufzulösen. - Itoe hatte plötzlich das Bild von Makoto vor Augen. - Ach, was spielte das alles noch für eine Rolle, ob Katsuya ihm diese Idee ausredete. Kira hatte doch eh eine andere Frau. Miros Plan war gänzlich gescheitert.

Itoe senkte traurig den Blick, ohne sich dessen bewusst zu sein, ganz anders als Katsuya, der seinen Griff unerwartet lockerte.

„Na ihr zwei!“

Itoe erkannte die Stimme sofort. Es war Ren, der gerade um die Ecke kam. Er musterte die beiden fragend und sah von einem zum anderen. Katsuya hatte mittlerweile Abstand genommen.

„Hab ich euch grade bei etwas gestört?“

Itoe sah unsicher zu Katsuya, dessen Gesicht nichts von seinen Gefühlen Preis gab, und sah dann zu Ren.

„Nein, hast du nicht“, sagte Itoe und strich sich eine Strähne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinters Ohr. Ren hob skeptisch eine Braue, nahm das aber schweigend hin.

„Die anderen sind schon fertig mit dem Essen, wir wollen gleich los“, sagte Ren zu Katsuya und wandte sich dann an Itoe, „wir wollen gleich in einen Club. Willst du mitkommen?“

Itoe schüttelte den Kopf. „Ich muss arbeiten.“

„Das ist doch kein Hindernis“, meinte Ren zwinkernd.

Itoe rang sich ein Lächeln ab und suchte krampfhaft nach einer Ausrede, doch Ren ließ ihr keine Zeit dafür.

„Das regle ich gleich“, meinte er vielsagend, „geh dich schon mal umziehen. Wir treffen uns draußen.“

Itoe wollte protestieren, doch gegen Rens charmantes Durchsetzungsvermögen kam sie einfach nicht an.

Bitteres Ende

Dass Ren aufgetaucht war, hatte sie ungemein erleichtert. Sie wusste nicht, wie lange sie Katsuyas Verhör noch durchstehen würde. Er hätte die Wahrheit ganz sicher aus ihr herausbekommen, egal wie. Itoe fuhr ein Schauer über den Rücken, als sie daran dachte, wie es war, mit ihm allein zu sein. Aber heute würde das sicher nicht mehr passieren. Sie würde sich einfach an Ren halten, denn Itoe glaubte nicht, dass Katsuya vor seinem Freund das Thema noch einmal anschneiden würde.

Das Grüppchen wartete bereits draußen auf sie. Die kühle Luft fühlte sich nach der Hektik, die im Restaurant zuging, richtig wohltuend an, erfrischend und beruhigend.

„Na, wer ist denn da doch mitgekommen!“ Das war wieder dieser eine schmierige Kerl, der sie schon den ganzen Abend im Visier hatte. Den hatte sie beinahe vergessen. Jetzt bereute sie es wieder, mitgekommen zu sein. Itoe spürte außerdem einen weiteren Blick auf sich haften, der sie durchbohrte und ein Unwohlsein in ihr auslöste.

Unerwartet trat Ren an ihre Seite, nahm ihren Arm und legte ihn um den seinen.

„Lass die Finger von ihr, Yagami. Sie ist bereits vergeben. Kümmere dich lieber um deine Begleitung“, konterte Ren und wies auf Yagamis Freundin, die schon die ganze Zeit missmutig drein schaute. Ren lächelte zufrieden, als Yagami seinen Tadel stillschweigen hinnahm, und zog Itoe die Straße entlang, gefolgt von seinen Freunden.

„Nimm's ihm bitte nicht übel. Er kann ziemlich aufdringlich sein, ist aber ganz harmlos.“

Itoe fühlte sich an Rens Seite wohl und vor allem sicher. Genauso fühlte sie sich auch bei Kira. Der Gedanke an ihn stimmte sie augenblicklich traurig, weswegen sie ihre Aufmerksam lieber ihrem Begleiter widmete.

„Ist schon okay. - Wie hast du das eigentlich mit meinem Chef geregelt?“ Itoe wechselte das Thema. „Ich hoffe, er kündigt mich nicht!“

Ren gab ein leises Lachen von sich. „Nein, mach dir keine Sorgen. Ich hab ihm für heute zwei Mädchen zur Verfügung gestellt. Die beiden schuldeten mir eh noch einen Gefallen.“

Itoe sah ihn überrascht an und lachte dann.

„Du bist unglaublich. Jetzt bin ich dir aber was schuldig.“

„Unsinn. Sieh es als eine Freundschaftsgeste an.“ Ren machte eine kleine Pause, bevor er ein neues Thema ansetzte. „Was war eigentlich vorhin zwischen dir und Katsuya los? Irgendwie hast du auf mich angespannt gewirkt.“

Sie befanden sich in einem guten Abstand zu Katsuya und den anderen, sodass niemand von ihrem Gespräch mitbekommen konnte. Trotzdem verkrampfte sie sich. Warum musste er das unbedingt ansprechen? Es war schon eine heikle Situation gewesen, dass Katsuya sie überhaupt auf ihre Beziehung zu Kira ansprach. Wenn jetzt auch noch Ren damit anfing... Die einzigen, die von der Sache halbwegs wussten, waren Mitglieder aus Kiras Familie. Itoe erinnerte sich an ihre Reaktion, als sie ihnen das erste Mal gegenüber stand. Auch sie stellten wilde Vermutungen an, ob Itoe nicht hinter Miros oder Kiras Geld her war. Warum dachte das bloß jeder? Machte sie wirklich solchen Eindruck? Oder war das die typische Einstellung der Reichen gegenüber der armen Bevölkerung?

Itoe hatte einen Job, sie stand auf eigenen Beinen und trotzdem wurde sie misstrauisch von der Seite beäugt. Itoe überkamen erneute Zweifel, ob das überhaupt das Richtige war, Miros letzten Wunsch um jeden Preis erfüllen zu wollen. Sie hatte es wirklich versucht. Auch wenn sie sich gestehen musste, dass ihre Absichten zum Teil nicht edel waren. Sie hatte Angst allein zu sein, sodass sie Kira zunächst als einen Ersatz, einen Platzhalter für ihren geliebten Miro eingetauscht hatte. So hatte es jedenfalls angefangen. Aber je mehr sie Kira kennenlernte, desto mehr löste sich das Bild von Miro auf und sie sah Kira als eine eigenständige Persönlichkeit an, die sie langsam aber sicher in ihr Herz geschlossen hatte. Aber nun war all die Mühe umsonst, dachte Itoe betrübt. Das Spiel von Mann und Frau war gar nicht so einfach zu spielen, wenn noch eine dritte Person in das Spiel integriert war. Itoes Gedankengang wurde abrupt unterbrochen, als Ren einen leichten Druck auf ihren Arm ausübte.

„Itoe, du kannst es mir sagen. War er fies zu dir? Seine Art kann einem ganz schön zusetzen. Manchmal hab ich selbst Angst vor ihm“, meinte Ren grinsend und versuchte ihr damit eine Antwort zu entlocken, doch Itoe wurde das Gefühl nicht los, dass er das ernst meinte.

Itoe versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie war abgeschweift.

„Mach dir keine Sorgen, Ren. Katsuya hat nichts Falsches gemacht. Er ist zwar in seiner Art wirklich beängstigend, aber ich glaube, er macht sich Sorgen um Kira.“

Nun sah Ren neugierig drein. „In wie fern?“

Itoe wählte ihre Worte mit Bedacht. „Katsuya denkt, ich würde Kira irgendwie dazu zwingen, mit mir zusammen zu sein. Er denkt, ich könnte ihn ausnutzen. Aber so ist das nicht.“ Zumindest hatte sie ihn nie materiell ausgenutzt, was ja Katsuyas Annahme war. Sie hatte ihn nur für ihren seelischen Frieden missbraucht. Aber sie glaubte, es beruhte auch irgendwo auf Gegenseitigkeit. Beide hatten sie einen geliebten Menschen verloren und mussten irgendwie damit klar kommen, ihre innere Leere füllen. Da kam eine tröstende Schulter nur gelegen.

Ren dachte einen Augenblick über ihre Worte nach. „Katsuya fällt gerne mit der Tür ins Haus. - Aber... darf ich ehrlich sein? Es kam für uns alle sehr überraschend, als Kira uns von dir erzählte. Wo kamst du plötzlich her, wer warst du überhaupt, haben wir uns gefragt. Und dass ihr beiden verheiratet seid, war die größte Überraschung schlecht hin. Okay, es geht uns einerseits nichts an, mit wem er zusammen ist, aber wir waren oder sind zum Teil noch skeptisch, was wir von der Hochzeit halten sollen. Für uns kam das alles sehr überstürzt rüber. Du kannst es doch verstehen, dass wir uns als seine Freunde Sorgen machen, oder?“

Itoe war ihm dankbar für seine Ehrlichkeit und jetzt konnte sie auch Katsuyas Beweggründe besser verstehen. Er wollte scheinbar nur seinen Freund beschützen.

„Na ja, ihr müsst wissen, was ihr tut, richtig?“, fuhr Ren fort und zuckte gelassen mit den Schulter, „aber eins steht auf jeden Fall fest: Du tust Kira richtig gut. Ich habe ihn schon lange nicht mehr so gut gelaunt gesehen. Ich glaube, er ist wirklich glücklich.“

Itoe bekam starkes Herzklopfen. War Kira wirklich glücklich? Fast wäre ihr die Frage über die Lippen gerutscht. Ob Ren diese Frau aus Kiras Wohnung kannte? Itoe hatte so viele Fragen, doch ihr Mund blieb verschlossen. Sie entschied für sich, dass Kira sie nicht zu seinem Glück brauchte. Diese Beziehung, diese Gefühle, all das baute auf einer Lüge auf. Es war nicht echt.

Zu Fuß erreichten sie in wenigen Minuten den angestrebten Club, der den Zwillingen gehörte. Vor dem Eingang hielt Itoe kurz inne und machte keine Anstalten reinzugehen. Das war ihre letzte Chance umzukehren, nach Hause zu fahren, sich unter der Decke zu verkriechen, denn sie wollte auf keinen Fall auf Kira treffen und schon gar nicht auf seine Freundin, oder wer auch immer diese Frau von heute Morgen war. Aber andererseits... was sollte sie zu Hause? In ihrer leeren Wohnung warteten nur Einsamkeit und deprimierende Gedanken auf sie... und die Torte, die sie alleine essen würde. Sie war extra aus ihrer Wohnung geflohen, um möglichst weit weg von ihm zu sein. Aber wenn er doch hier war... Ein ewig währender Teufelskreis.

„Alles in Ordnung?“, fragte Ren nach und berührte Itoe leicht an der Schulter. Diese nickte entschieden. Sie wollte kein Spielverderber sein, schließlich hatte Ren extra zwei Freundinnen für sie einspringen lassen. „Dann komm. Ich hab mir schon die Hände abgefroren.“

Ren zog Itoe hinter sich her, gab ihre Jacken an der Garderobe ab und führte sie ins Herz des Clubs, wo die Party bereits im vollen Gange war.

Itoe fühlte sich sofort unpassend gekleidet. Sie hatte eine verwaschene, alte Jeans und ein einfaches, kariertes blaues Hemd an. Schließlich hatte sie nicht damit gerechnet, heute Abend noch auszugehen.

Für ihre Gruppe war ein Platz in der Lounge reserviert. Itoe setzte sich zu Ren, da er der einzige war, mit dem sie sich verstand, und beugte sich sogleich zu ihm vor.

„Ich bleibe aber nicht lange, okay?“

Ren sah sie einen Augenblick lang an und seufzte. „Ich war nicht ganz ehrlich zu dir“, meinte er schuldbewusst, „der Grund, warum ich dich mitgenommen habe ist, weil Kira mich vorhin angerufen hatte. Er klang ein wenig aufgeregt und besorgt und meinte, ich soll nach dir Ausschau halten. Und da ich mit Katsuya und den anderen sowieso in dem Restaurant verabredet war, wo du arbeitest, dachte ich, dass du vielleicht dort sein könntest.“

Itoe hatte damit nicht gerechnet. Hätte sie das gewusst, wäre sie ganz sicher nicht mitgekommen. „Also weiß Kira, dass ich hier bin?“, fragte sie ihn in der Hoffnung, dass es nicht so war. Sie wollte ihn nicht sehen und schon gar nicht mit ihm reden. Noch nicht.

Ren legte den Kopf etwas schief und schien seine nächsten Worte abzuwägen. „Nein. Noch nicht. - Soll er es denn nicht erfahren?“

Itoe wich Rens fragendem Blick aus. Es wäre nicht fair, wenn sie Kiras Freund ihre Gedanken, die sie nicht einmal Kira selbst anvertraute, mitteilte. Obwohl Kira für sein Verhalten selbst verantwortlich war, mochte sie nicht schlecht über ihn reden.

„Entschuldige mich kurz“, meinte Itoe, ohne ihm zu antworten, und stand auf. Sie konnte Ren nicht vorschreiben, was er zu tun hatte. Wenn er Kira anrufen wollte bzw. musste, dann sollte er das tun. Außerdem konnte sie ihre Enttäuschung nicht verbergen. Ren hatte sie im indirekten Sinne angelogen, er hatte sie unter einem Vorwand hierher gelockt. Dabei hatte Itoe angenommen, er hätte sie als Freund eingeladen, weil sie dazugehörte. Aber letztendlich war und blieb er Kiras Freund, nicht ihrer.

Da Ren sie nicht aufhielt, wofür sie ihm dankbar war, steuerte sie direkt die Bar an. Zuerst wollte sie den Club verlassen, aber dann hatte sie es sich anders überlegt.

Itoe setzte sich an die Bar und bestellte sich eine Cola. Ehrlich gesagt hatte sie Lust auf etwas Härteres, aber seit dem letzten Mal, als sie sich maßlos betrunken hatte, wollte sie keinen Alkohol mehr anrühren. Bis jetzt hatte es ganz gut funktioniert.

„Zwei Tequila“, hörte sie von der Seite jemanden bestellen und sah in seine Richtung. Yagami stand in unmittelbarer Nähe. Bevor Itoe ihren Blick abwenden konnte, hatte er sie entdeckt. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und er bahnte sich direkt einen Weg zu ihr, mit den zwei Kurzen in der Hand.

„Na Hübsche, warum bist du denn abgehauen?“ Er stellte das eine Glas vor ihr auf dem Tresen ab, den anderen immer noch haltend. „Ich dachte, wir trinken einen zusammen.“

Itoe schüttelte den Kopf. „Ich trinke nicht.“

Yagami lachte leise. „Das sagen sie alle. Aber nach zwei, drei Kurzen ändern sie ihre Meinung.“

Itoe warf einen Blick auf das Glas, das vor ihr stand. Innerlich kämpfte sie mit sich. Alkohol war keine Lösung, das wusste sie, aber sie wollte ihren Schmerz betäuben, wenigstens für einige Stunden. Sie wollte Kira und diese Frau vergessen, sie wollte nicht daran denken, was sie miteinander getrieben hatten, wer sie für ihn war. Ebenso wollte sie die Enttäuschung über Rens Verhalten verdrängen. Sie wusste, er meinte es nur gut, aber er hatte ihr dennoch nicht die Wahrheit gesagt, den Grund, weshalb sie mitkommen sollte.

Nur dieser eine Kurze.

Innerlich gab sie sich ein Versprechen, nahm die Zitrone, die auf dem Glas lag, und hob den Kurzen.

„Na dann! Kanpai!“ Itoe prostete Yagami zu, kippte die Flüssigkeit in einem Zug runter und biss in die Zitrone hinein. Der saure Geschmack trieb ihr Tränen in die Augen, ihre Kehle brannte. Itoe verzog kurz das Gesicht und schüttelte sich. Ätzendes Zeug. Aber nach drei weiteren Kurzen, die sie alle von Yagami spendiert bekam, tat der Tequila seine Wirkung und schmeckte auch gar nicht mal übel. Sie fühlte sich leicht angetrunken und das tat wirklich gut. Ihre Laune stieg langsam an und sie musste plötzlich ohne jeden Grund lachen. Ihren Vorsatz nicht zu trinken, hatte sie kurzerhand verworfen.

„Hab' ich was verpasst?“, meinte ihr Trinkkumpane und Itoe schüttelte den Kopf, lachte weiter, bis ihr der Bauch weh tat.

„Noch einen!“, meinte sie dann und schlug mit der Handfläche auf den Tresen. „Barkeeper! Hierher.“

Sie tranken zwei weitere.

„Hab' ich's nich' gesagt? Zuerst ziert ihr euch und dann könnt ihr nich' aufhören“, lallte Yagami grinsend und zeigte mit dem Finger auf sie.

„Frauen, was“, erwiderte Itoe und stützte sich etwas auf dem Tresen ab. „Hab' heute Geburtstag, weißt du“, erzählte sie ihm wie aus dem Nichts. Sie hatte nun das Bedürfnis sich jemandem mitzuteilen.

Yagami sah sie überrascht an. „Na dann herzlichen Glückwunsch! - Darauf trinken wir!“ Er bestellte ihnen noch je zwei Kurze, die sie ohne Umschweife hinter die Binde kippten. Mittlerweile brannte die Flüssigkeit nicht mehr in ihrer Kehle, sondern ging weich und angenehm runter. Itoe fühlte sich pudelwohl, auch wenn sie sich eine bessere Gesellschaft als Yagami vorstellen konnte. Aber das dachte sie im nüchternen Zustand. Jetzt war sie betrunken und die Gesellschaft spielte keine Rolle.

„Muss mal für kleine Mädchen“, meinte Itoe kichernd und glitt schwankend vom Barhocker. Dabei verlor sie das Gleichgewicht, doch Yagami packte sie noch rechtzeitig am Arm und bewahrte sie von einem schmerzvollen Sturz.

„Hoppla“, meinte er grinsend und hielt sie fest.

„Wo is' eigentlich deine Freundin?“, fragte Itoe unvermittelt und sah sich um. Sie erinnerte sich plötzlich an das Mädchen, das heute Abend seine Begleitung war.

„Wer? Meinst du Hitomi? - Ah, keine Ahnung. Sie sucht mich vielleicht. Aber sie is' nich' meine Freundin. Nur... ein Zeitvertreib.“

Itoe hatte sich so etwas Ähnliches schon gedacht. Sie nahm seine Worte halbwegs zur Kenntnis, denn der Alkohol verlangsamte ihre Informationsaufnahme und -verarbeitung.

„Lässt du mich jetzt los? Ich muss ma'.“

„Schaffst du's denn allein? Du kannst ja kaum stehen.“

Itoe stützte sich tatsächlich schon die ganze Zeit an seinem Oberkörper ab, ohne es zu bemerken. Sie sah zu ihm auf und begriff viel zu spät, dass er sie küssen wollte. Im nächsten Augenblick presste er auch schon seine Lippen auf ihre. Trotz des Alkohols, der in ihrem Körper gerade noch tausende von Glückshormonen auslöste, schlugen auf einmal alle Alarmglocken. Itoe vernahm seinen intensiven Geruch nach After Shave und Tequila. Kira hatte ganz anders gerochen. Überhaupt nicht aufdringlich, sondern angenehm, vertraut. Widerwillig öffnete sie ihre Lippen und ließ diesen Kuss über sich ergehen. Yagami vergrub seine Hand in ihren Haar und küsste sie fordernd, hier vor all den Leuten. Aber keiner schien ihnen Beachtung zu schenken.

 

Keiner außer Kira. Ren hatte ihn vor einer halben Stunde angerufen und gemeint, dass Itoe im Club sei. Er war wie ein Irrer hierher gerast, um sich bei ihr zu entschuldigen, um ihr alles zu erklären, aber auf das hier war er nicht vorbereitet. Wut packte ihn. Rasende Wut. Er steuerte die beiden an und zerrte Itoe grob von Yagami weg. Ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sie nicht erwartet hatte, von ihm erwischt zu werden. Kira fixierte Yagami mit einem vernichtenden Blick.

„Du küsst meine Frau?“, meinte er drohend. Ohne Yagamis Antwort abzuwarten, landete seine Faust in seinem Gesicht. Yagami schwankte, verlor das Gleichgewicht und stieß gegen einen Typen, der direkt in der Nähe stand. Einige glotzten zu ihnen rüber, doch keiner mischte sich ein. „Wenn du sie noch einmal anfasst, bring ich dich um!“

Kira war voller Zorn. Eifersucht trieb ihn zu solch einem unüberlegten Verhalten. Nun wandte er sich an Itoe, die erschrocken vor ihm zurückwich. Er nahm keine Rücksicht darauf, dass sie offensichtlich schockiert von seinem Kontrollverlust war, sondern packte ihren Arm und zog sie mit sich. Er spürte, wie sie sich in seinem Griff wandte, aber er beachtete es nicht, sondern zog sie unnachgiebig mit sich.

„Kira... du tust mir weh...“, hörte er sie klagen, doch auch das brachte ihn nicht dazu, seine Wut oder seinen Griff zu mildern.

Er ging mit ihr in den zweiten Stock, wo sich sein Büro befand. Hier waren sie vor den Augen der neugierigen Menge geschützt, niemand hatte Zutritt. Erst jetzt ließ er sie los. Dabei stieß er sie leicht von sich, ohne zu ahnen, dass dieser minimale Kraftaufwand ausreichen würde, um sie zu Fall zu bringen. Itoe verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Kira tat es augenblicklich leid, er hatte noch nicht begriffen, dass sie dermaßen betrunken war, dass sie sogar Schwierigkeiten hatte, sich auf den Beinen zu halten. Er trat zu ihr, um ihr aufzuhelfen, doch sie schlug seine Hand weg.

„Fass mich nicht an...“

Itoes Stimme zitterte und ließ ihn vermuten, dass sie kurz davor war, zu weinen. Er sah ihr dabei zu, wie sie sich an einen Stuhl klammerte und versuchte, sich aufzurichten.

„Wie konntest du mit diesem Schwachkopf Yagami rummachen...“, warf er ihr vor, auch wenn er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich mit ihr in diesem Zustand zu unterhalten.

Itoe schaffte es, sich auf den Stuhl zu hieven. Sie sah zu ihm, ihre Augen glasig vom Alkohol und von angesammelten Tränen. Doch dann fing sie plötzlich an zu lachen, was Kira noch wütender machte.

„Was ist so verdammt lustig? “

Itoe konnte sich nicht einkriegen. „Das alles... Findest du nich'?“

Kira ballte eine Hand zur Faust, als könnte er so seine Wut festhalten. „Nein“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Schade... denn ich find's überaus amüsant, wenn mein Mann mit einer anderen schläft und dann solches Theater veranstaltet, weil ich einen ander'n geküsst hab'...“

Diese Worte trafen ihn tiefer als erwartet. Er konnte nicht leugnen, dass sie Recht hatte. Zwar hatte er nicht mit Makoto geschlafen, aber er hatte sie geküsst. Er hatte nicht das Recht, ihr ihren Fehltritt vorzuhalten, da er nicht besser war als sie. Aber in dem Moment, als er sie mit Yagami gesehen hatte, waren bei ihm alle Sicherungen durchgebrannt und er konnte sich nicht beherrschen.

„Lass uns damit aufhör'n, Kira... mit diesem Spielchen von Mann und Frau... diese Ehe is' ein Witz... nichts davon is' echt... du und ich, wir sind nich' echt... Es war von Anfang an ein Fehler...“

Kira konnte seinen Ohren nicht trauen. Sie hatten es versucht und es hatte doch gut funktioniert, warum war auf einmal alles wieder so kompliziert geworden? Dann kam ihm Makoto in den Sinn, diese Unheilbringerin. Nein. Er konnte ihr nicht die ganze Schuld geben. Er hatte sie schließlich zu sich in die Wohnung gelassen, er hatte sie geküsst, sie hatte sogar bei ihm übernachtet. Er hatte sich in dem Moment gar nicht darüber Gedanken gemacht, dass er Itoe damit verletzen könnte.

„Du willst es beenden?“

Er brachte die Worte kaum über die Lippen. Warum redete er überhaupt mit ihr? Sie war nicht sie selbst, das wusste er. Aber ihre Worte stachelten ihn an, darauf einzugehen.

Wieder lachte sie. Diesmal klang ihr Lachen bitter.

„Was beenden, Kira? Was, hm? Es gibt nichts, was wir beenden könnten...“

Fassungslos starrte er sie an. Das mochte zu Beginn so gewesen sein, aber doch nicht jetzt, wollte er sie anschreien. Doch er presste nur seine Lippen aufeinander und das, was er als nächstes sagte, war alles andere als klug. Als wollte er zur Zerstörung ihrer Beziehung, ja, sogar zur Selbstzerstörung, beitragen.

„Wenn nie etwas zwischen uns war, warum regt es dich dann auf, dass ich was mit Makoto hatte?“

Seine Worte schienen sie nicht kalt zu lassen, denn sie sah zu ihm auf, als wäre sie ein kleiner, geprügelter Welpe, der seinem grausamen Herrchen ausgeliefert war. Sofort hatte er das Verlangen, seine Worte zurückzunehmen. Doch seine Wut auf sie war stärker als die Vernunft.

Itoe schwieg. Anscheinend hatte er mit seinen Worten einen wunden Punkt getroffen. Gleichzeitig hatte er gestanden, dass zwischen ihm und Makoto tatsächlich etwas gelaufen war, nur ließ er sie in Unkenntnis, dass es sich lediglich um einen Kuss handelte.

Er sah ihr dabei zu, wie sie sich etwas unbeholfen die Tränen aus den Augen wischte.

„Verdammt“, fluchte Kira leise und ging einen Schritt auf sie zu. Er war zu weit gegangen, das sah er ein, aber ihr diesen Fehler laut einzugestehen und sich bei ihr zu entschuldigen, konnte er nicht.

„Ich wünschte... Miro wäre noch hier...“, murmelte sie.

Kira war sich erst nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte, da sie so leise sprach. Die Bedeutung ihrer Worte ließ ihn innehalten. Miro. Es ging immer nur um Miro. Natürlich wünschte er sich auch, dass sein Bruder am Leben war, aber das war nicht der Punkt. Itoe wünschte sich Miro zurück. Ihn, Kira, brauchte und wollte sie nicht. Dieser Gedanke ließ seine Wut neu entfachen. Miro war schon immer der Liebling gewesen. In seiner Familie stand er schon immer an erster Stelle. Er konnte verstehen, dass jeder Miro mit Samthandschuhen anfasste, aufgrund seiner Krankheit. Aber es war trotzdem nicht fair. War er denn nicht liebenswert? Musste er um jedes Stückchen Zuneigung kämpfen?

Innerlich war Kira immer noch dieses kleine Kind, das sich verzweifelt nach Liebe und Glück sehnte. Umso vernichtender fühlten sich diese Worte aus ihrem Mund an. Und nun... sollte sie sich genauso scheiße fühlen.

„Ich habe genug davon... genug von Miro und genug von dir! Lebe ruhig weiter in deiner Erinnerung an den heiligen Miro. - Ein Dreck war er! Hat rumgehurt, sich zugedröhnt, gesoffen. Und so einen liebst du? Du kanntest ihn überhaupt nicht, du dummes Ding! Aber behalte dir bloß deine falschen Erinnerungen! Ich bin fertig mit dir! Mit euch beiden!“

Kira wandte sich von ihr ab und verließ sein Büro mit einem lauten Türknall. Sein Schädel pochte, sein Puls raste. Seine Worte hallten ihm immer noch nach. Er wusste schon jetzt, dass er spätestens morgen alles bereuen würde, was er zu ihr gesagt hatte. Doch leider war das die Wahrheit über seinen Bruder. Es war an der Zeit, dass auch Itoe begriff, wer Miro wirklich war.

Der Beginn einer Freundschaft

Itoe erwachte mit starken Kopfschmerzen und einigen Erinnerungslücken. Der gestrige Abend hatte einen schrecklichen Verlauf genommen. Den Streit mit Kira hatte sie noch vage in Erinnerung, aber was danach geschah, wusste sie nicht mehr. Itoe setzte sich mit einem gequälten Stöhnen auf und hielt sich den Kopf. Das dumpfe Pochen machte es unmöglich, klar zu denken. Sie brauchte jetzt unbedingt eine kalte Dusche und einen Kaffee.

Itoe stand vorsichtig vom Bett auf und knöpfte sich ihr Hemd auf. Sie war wohl in ihren Klamotten eingeschlafen. Sie streifte sich Hemd von den Schultern und ließ es zu Boden fallen. Sie fühlte sich immer noch ziemlich betrunken, ihre Bewegungen waren träge, ihre Wahrnehmung langsam.

Während sie durchs Zimmer auf die Tür zuging, knöpfte sie sich bereits die Jeans auf. Grade als sie die Tür öffnen wollte, wurde diese von außen aufgeschlossen und zu ihrer Überraschung stand Ren mit einem Kaffee in der Hand vor ihr.

Itoe stieg die Röte ins Gesicht, als er seinen Blick kurz über sie gleiten ließ. Sie stand nur in ihrem BH und der aufgeknöpften Jeans vor ihm.

„Ren, was tust du denn hier?!“

Itoe verdeckte ihren Oberkörper mit den Armen, während er sich, ebenso verlegen, mit der freien Hand durchs Haar fuhr. Sein Blick fixierte irgendeinen unbestimmten Punkt in der Luft.

„Ähm, ich wohne hier“, sagte er und wagte einen Blick in ihre Augen, die vor Staunen noch größer geworden waren.

„Du bist bei mir zu Hause“, erklärte er.

Itoes Gehirn ratterte, versuchte sich verzweifelt zu erinnern, was gestern alles geschehen war, wie sie hierher gekommen war.

„Wieso bin ich bei dir? Wie sind wir überhaupt hierher gekommen? - Ich... kann mich gar nicht erinnern“, gab sie beschämt zu und senkte den Blick.

Ren lächelte mitfühlend. „Ich habe Kaffee gemacht. Möchtest du? Dann können wir reden.“

Itoe nickte. „Ich zieh mir nur mein Hemd wieder an, ok?“

Ren nahm das nickend zur Kenntnis und ließ sie allein.

Wie konnte das sein, dass sie bei ihm zu Hause war? Was war gestern alles passiert, nachdem Kira sie allein gelassen hatte? - Kira. Der Streit mit ihm machte ihr zu schaffen. Es hätte alles gar nicht so weit kommen müssen, aber... er hatte sie betrogen. Konnte man das überhaupt so nennen? Ja, das konnte man. Schließlich waren sie zusammen, oder nicht? Aus welchen Gründen auch immer, letztendlich waren sie ein Paar. Ein Ehepaar. Aber jetzt... Jetzt war alles aus, endgültig. Sie hatten schreckliche Dinge zueinander gesagt. Gott, und was für Dinge! Itoe wusste nicht mehr den genauen Wortlaut, aber der Sinn jener Worte und der bittere Nachgeschmack hafteten immer noch in ihrem Bewusstsein. Was Kira über Miro gesagt hatte, wollte sie einfach nicht glauben. Miro war niemand, der wahllos mit vielen Frauen schlief und viel Alkohol konsumierte. Sie erinnerte sich daran, dass sie ihn nie hatte alkoholische Getränke trinken sehen. Und was Sex anging, er hatte nicht ein einziges Mal versucht, mit ihr zu schlafen. Itoe schob das ganze zum Teil auf seine Krankheit, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Miro ein gänzlich anderer Mensch war als der, den sie kennengelernt hatte. Dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie tatsächlich nicht alles über ihn wusste. Dass er zum Beispiel ganze 5 Clubs besaß und somit ziemlich viel Geld hatte, hatte sie erst von Kira erfahren. Itoe seufzte resigniert, schnappte sich ihr Hemd und zog es sich an. Sie wusste einfach nicht, was sie von Kiras Behauptungen über seinen Bruder halten sollte.

Um sich auf andere Gedanken zu bringen, widmete sie ihre Aufmerksamkeit dem Schlafzimmer, das beim näheren Betrachten gar nicht wie ihr eigenes aussah. Das Zimmer war viel größer und geräumiger. Auf der Wand über dem Bett hing ein riesiges Bild von einer traumhaften Landschaft irgendwo in den Bergen. Links vom Bett stand ein großer Kleiderschrank mit einem Spiegel auf den Schiebetüren. Itoe warf einen Blick auf ihr Spiegelbild und war erstaunt, dass sie gar nicht so fertig aussah, wie sie sich tatsächlich fühlte.

Nachdem sie einen ersten Eindruck von Rens Zimmer gewonnen hatte, trat sie in den Flur. Von hier aus konnte sie direkt in das Wohnzimmer blicken, wo sie Ren auf dem Sofa entdeckte. Itoe atmete tief durch, da sie sich an die peinliche Situation von vorhin erinnerte. Mit rotem Kopf und klopfendem Herzen betrat sie das Wohnzimmer. Obwohl ihre Schritte leise waren, wandte Ren augenblicklich seinen Kopf in ihre Richtung. Itoe spürte, wie ihr die Hitze erneut in den Kopf schoss, und auch Ren sah etwas verlegen drein.

„Setz dich“, meinte er zu ihr und wies auf den Platz neben sich auf dem Sofa. Seine Stimme klang sanft und seine Art wirkte beruhigend auf sie, sodass Itoe sich in kürzester Zeit entspannte. Ren reichte ihr den Kaffee, den sie dankend annahm. Sie schwiegen sich eine Weile lang an, bis Ren endlich das Wort ergriff.

„Wie geht's dir?“

Itoe trank einen Schluck von dem starken Kaffee, bevor sie ihm eine Antwort gab. "Nicht so gut", gestand sie, „ich habe Kopfschmerzen... aber da bin ich wohl selbst Schuld.“

Ren schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. „Du sahst auch gestern nicht so gut aus, als ich dich gefunden hab.“

Itoe runzelte überrascht ihre Stirn. „Wo hast du mich denn gefunden?“

„In Kiras Büro. Du lagst auf dem Boden, hast geschlafen. Man, du hast mir echt einen Schrecken eingejagt.“

Itoe sah ihn schuldbewusst an. „Entschuldige“, murmelte sie kleinlaut.

„Ich hatte gedacht, dass Kira bei dir wäre. Hatte euch nämlich gesehen, wie ihr nach oben gegangen seid.“

Itoe erinnerte sich vage daran. Manche Erinnerungsfetzen waren etwas verschwommen. Dann weiteten sich ihre Augen und ihr wurde ziemlich unbehaglich zumute. „Hast du gesehen, wie ich...“ Ihr kamen die Worte einfach nicht über die Lippen, doch das mussten sie auch gar nicht, denn Ren hatte augenblicklich verstanden auf was sie hinaus wollte.

„Du meinst, ob ich dich und Yagami gesehen habe? - Ja.“

Ren trank in Ruhe seinen Kaffee, als würden sie über das Wetter plaudern.

Itoe wollte gerne etwas von seiner Ruhe abhaben. Sie biss sich schmerzvoll auf die Unterlippe. Das war verdammt peinlich, dass sie am liebsten im Boden versinken wollte. Was dachte Ren jetzt bloß von ihr?

„Ich schäme mich so", murmelte Itoe, stellte ihre Tasse auf dem kleinen Tisch ab und erhob sich langsam. „Ich gehe jetzt lieber.“

Das ganze war mehr als unangenehm für sie. Vor allem weil Ren einer von Kiras engsten Freunden war. Ren sah zu ihr auf. „Du musst nicht gehen, Itoe Ich wollte selbst mit dir reden. Oder besser gesagt, mich entschuldigen.“ Itoes fragender Blick ließ ihn tatsächlich verlegen erscheinen. „Ich glaube, du hast einen falschen Eindruck von mir bekommen.“ Seine Worte verstärkten nur noch mehr ihren fragenden Gesichtsausdruck. Sie sollte von ihm einen falschen Eindruck bekommen haben? War sie im falschen Film? Eher war sie diejenige, die sich bei ihm entschuldigen sollte, für dieses unreife Verhalten gestern. Ren fuhr fort. „Ich hatte gestern zu dir gemeint, dass ich dich nur wegen Kira in den Club mitgenommen habe. Das ist ehrlich gesagt auch die Wahrheit gewesen. Aber das ändert nichts daran, dass du für mich mittlerweile auch zu meinen Freunden zählst.“

Damit hätte Itoe jetzt gar nicht gerechnet. War das wirklich sein Ernst? Ihr Herz schlug Purzelbäume, denn nach Freundschaft hatte sie sich ihr Leben lang gesehnt. Und sie nahm jedes Stückchen Glück an, das sie in diesem Zusammenhang bekam.

Innerlich ermahnte sie sich jedoch, sie sollte sich nicht zu früh freuen. Denn es gab da noch diese eine Sache, die zwischen ihr und Yagami vorgefallen ist. Warum sollte Ren sie als Freundin haben wollen? War er nicht eher auf Kiras Seite? Wollte er ihr denn keinen Vortrag halten? Itoe war hin und her gerissen zwischen ihrer Freude, dass Ren sie zu seinen Freunden zählte, und ihrem Misstrauen, weil das ganze zu schön war, um wahr zu sein.

„Meinst du das wirklich ernst?“, fragte sie direkt und musterte Ren eingehend. „Ich meine, du bist einer von Kiras besten Freunden und ich... ich habe...“

„Das, was zwischen dir und Kira, oder dir und Yagami, vorgefallen ist, ändert nichts daran, dass ich dich zu meinen Freunden zähle. Findest du das etwa so verkehrt?“

Itoe schien einen Augenblick darüber nachzudenken. Ren war von Anfang an nett zu ihr gewesen, er war ganz anders als Katsuya, der sie die ganze Zeit nur misstrauisch ansah, und auch anders als Jiro, der keine Gelegenheit ausließ, um mit ihr zu flirten, auch wenn es nur scherzhaft gemeint und ziemlich harmlos war. Aber Ren, ja, er war anders. Er war wie ein großer Bruder für sie.

„Außerdem gebe ich mir auch ein wenig selbst die Schuld dafür, dass das zwischen dir und Yagami überhaupt passiert ist. Ich sollte auf dich aufpassen, aber dann habe ich dich mit meinen Worten verletzt und wollte dir bisschen Zeit geben. Dabei hätte ich dir folgen sollen, um wenigstens in deiner Nähe zu sein. Yagami ist zwar harmlos, aber du hast es ihm anscheinend angetan, dass er sich nicht beherrschen konnte.“

Rens reumütiges Geständnis brachte Itoe völlig durcheinander. „Was redest du denn da?! Ich bin selbst schuld daran, bitte entschuldige!“

Sie verbeugte sich tief, soweit es ihr die sitzende Position möglich machte. Es beschämte sie, dass Ren sie in Schutz nahm, und einen Teil der Schuld auf sich lud.

Ren packte sie sachte an den Schulter und richtete Itoe auf, damit sie sich nicht mehr verbeugte. „Das reicht jetzt“, sagte er lächelnd, als sie ihn unsicher ansah. „Du akzeptierst doch meine Freundschaft?“ Es war wie eine Frage formuliert, doch sie hörte seiner Stimme an, dass er keine Widerrede duldete.

Wenn Liebe einfach wäre

Das Zimmer war abgedunkelt. Die Jalousien verschlossen die Fenster, sodass kaum ein Lichtstrahl hinein konnte. Kira mochte die Dunkelheit, er mochte die Nacht. Der Tag verhieß oftmals nichts Gutes, sondern kündete nur den Anbeginn neuer Probleme an, mit denen man sich auseinander setzen musste. Doch diese Nacht hatte ihm keine Ruhe gebracht. Er lag wach auf seinem Bett und starrte die weiß gestrichene Decke an. Er hatte einfach nicht schlafen können, die ganze Nacht nicht. Seine Gedanken ließen ihn nicht los, hielten ihn fest bei Bewusstsein, quälten ihn.

Er hätte sie nicht in diesem Zustand allein lassen dürfen, das war einfach nicht richtig gewesen. Gleichgültig, wie wütend er auf sie war. Aber was sagte das bitte über seinen Charakter aus? - Er wollte es gar nicht erst wissen. Zum Glück hatte ihm Ren eine Stunde später, nachdem Kira den Club verlassen hatte, geschrieben, dass Itoe bei ihm war und es ihr gut ging. Das hatte ihn ungemein erleichtert, denn sonst wäre er vermutlich umgekehrt.

Kira schloss kurz die Augen, atmete tief durch und öffnete seine schweren Lider.

Wie konnte er sich nur so idiotisch verhalten? Itoe war betrunken und nicht ganz bei sich. Sie wusste nicht, was sie sagte. Aber der Alkohol konnte nicht alle ihre Taten rechtfertigten. Hätte sie bloß nicht Yagami geküsst! Diesen Aufreißer! Kira wurde schlecht. Schon allein bei dem Gedanken daran, wurde er wieder wütend und eifersüchtig. Er hatte Yagami nie zu seinen engsten Freunden gezählt, aber er hätte ihn vermutlich umgebracht, wäre er irgendein Fremder gewesen. Doch etwas anderes bereitete Kira größeres Unbehagen. Die Tatsache, dass Itoe Yagami geküsst hatte, tat halb so sehr weh, als die, dass sie sich Miro zurück wünschte.

Ich wünschte, Miro wäre noch hier... - Nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, zerbrach etwas in seinem Inneren. Vielleicht war es die Hoffnung, dass er mit ihr ein bisschen Glück finden würde. Mit ihr zusammen zu sein, hatte ihn verändert. Es hatte ihn glücklich gemacht, ihn erfüllt. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass es in seinem Leben noch einmal ein Mädchen geben würde, das er aufrichtig gern hatte. Aber er hatte es sich wahrscheinlich zu einfach vorgestellt, denn es war unmöglich, sie für sich zu gewinnen, wenn ihr Herz weiterhin für seinen Bruder schlug. Die ganze Sache zwischen ihnen war eh schon kompliziert genug und jetzt hatte jeder auf seine eigene Weise, alle Bemühungen zur Nichte gemacht. Hätte er Makoto nicht in seine Wohnung gelassen, sie geküsst und sie bei sich übernachten lassen, hätte Itoe wahrscheinlich auch nicht Yagami geküsst. Aber dieses hätte war nun einmal passiert und ließ sich nicht mehr rückgängig machen.

Kira drehte sich auf die Seite und vergrub sein Gesicht im Kissen.

Die Welt hatte sich schon immer mehr um Miro gedreht als um ihn. Sein Bruder wurde von seinen Eltern bevorzugt und verhätschelt. Das lag nur daran, dass Miro seit seiner Geburt ein schwaches Herz hatte. Alle versuchten es ihm recht zu machen und verhielten sich dabei wie die größten Idioten. Nur Kira war anders. Er sagte immer seine Meinung und machte niemandem etwas vor, nicht einmal seinem kranken Zwilling. Vielleicht war das der Grund, warum Kiras Beziehung zu Miro so gut lief. Miro mochte Aufmerksamkeit, aber er hasste heuchlerisches Getue um seine Krankheit und Verhätscheln, als würde er jeden Augenblick den Löffel abgeben. Niemand kannte sein wahres Ich besser als Kira und niemand verstand ihn so gut wie er. Sie waren nicht nur Brüder, sondern beste Freunde, unzertrennlich. Aber es gab auch Tage, da ergriff Kira eine bittere Eifersucht auf seinen Zwilling, weil er selbst von seiner Familie nicht die Zuneigung bekam, die er sich wünschte. Gegen diese Gefühle kam Kira manchmal nicht an.

Irgendwann war es an der Zeit gewesen, sein eigenes Leben zu leben und sich abzukapseln. Das entschieden zumindest Miros und Kiras Eltern. Sie mischten sich gerne in ihr Leben ein, als würden sie sich für die beiden aufrichtig interessieren. Doch in Wirklichkeit wollten sie ihre Kinder nach ihren Vorstellungen und Prinzipien leben lassen. Und so kam es, dass beide in ihrem 14. Sommer das erste Mal getrennt wurden. Die Eltern schickten sie in unterschiedliche Sommercamps, weit weg voneinander. Auf diese Weise sollten sie lernen, eigenständig und voneinander unabhängig zu sein. Kira hatte am Anfang Schwierigkeiten, mit der Trennung klarzukommen. Die ersten Tage im Camp waren die schlimmsten. Er fühlte sich einsam, vor allem weil er nicht darin geübt war, Freundschaften zu schließen. Seine Freunde zu Hause waren eher Miros Verdienst, und da Miro und Kira unzertrennlich waren, wurden das letztendlich auch seine Freunde. Und das waren sie noch heute: Katsuya, Ren und Jiro. Sie kannten sich bereits seit der Grundschule.

Aber im Sommercamp gab es keinen Miro, der für ihn Freundschaften schließen konnte. Es gab auch keinen Ren, Katsuya oder Jiro. Er war auf sich allein gestellt. Doch schon nach kurzer Zeit der Einsamkeit hatte Kira es eigenständig geschafft, sich anzufreunden. Aus jener Zeit ist ihm besonders ein Mädchen in Erinnerung geblieben. Nur wusste er leider ihren Namen nicht mehr.

Nachdem Kira und Miro aus dem Camp zurückgekehrt waren, hatten sich beide auf ihre eigene Weise verändert. Miro war draufgängerischer geworden, hatte angefangen sich extrem für Mädchen zu interessieren und drängte Kira, dieselben Interessen zu entwickeln wie er. Dieser jedoch hatte nur das Mädchen aus dem Sommercamp im Kopf. Sie hatten ihre Adressen ausgetauscht und hatten sich das Versprechen gegeben, einander zu schreiben. Natürlich hatte Kira seinen Teil der Abmachung eingehalten und ihr geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten.

Die Enttäuschung saß tief, als er begriff, dass sie ihm nicht antworten würde. Und so endete seine erste Liebe im tagelangen Liebeskummer. Selbst Miros Aufmunterungsversuche blieben erfolglos. Nach dieser schmerzvollen Erfahrung fand Kira die Liebe einfach nur ätzend. Er wollte nie wieder auf diese Art empfinden und das hatte er auch geschafft. Bis jetzt.

Im Laufe der Jahre, nachdem sie Vaters Club übernommen und weitere eröffnet hatten, lernte Kira Makoto kennen, aber zwischen ihnen war nie Liebe im Spiel. Zumindest von seiner Seite aus nicht. Bei ihr fand er Trost, Zuneigung und guten Sex, aber nicht dieses Gefühl von damals.

Während dieser Zeit hatte Kira sich von seinem Bruder mehr und mehr distanziert und auch Miro hatte sich verändert. Er trank viel, schlief mit unzählig vielen Frauen und probierte auf der einen oder anderen Party Drogen aus. Kira nahm an, dass Miros Krankheit ihm zu schaffen machte, auch er es nie gezeigt hatte, und er deswegen bis an seine Grenzen ging. Miro hasste Schwäche und Hilflosigkeit, aber genau das hatte ihm die Krankheit eingebrockt.

Irgendwann kam es zum Streit zwischen den Zwillingen. Worüber, das wusste Kira nicht mehr. Er wusste nur, dass sie nicht im Guten auseinander gegangen waren, dass sie schlimme Dinge zueinander gesagt hatten. Und dann, ohne jede Vorwarnung, war Miro eines Tages einfach verschwunden. Ohne sich zu verabschieden. Ohne einen Brief zu hinterlassen. Ohne sich wenigstens einmal zu melden. Man wusste nicht, wo er war, was er tat und ob er überhaupt noch lebte. Dann tauchte Itoe auf, mit dem Abschiedsbrief in der Hand und der Nachricht über seinen Tod. Sein Bruder war fort. Für immer. Und der Gedanke daran, dass er sich nie richtig bei ihm entschuldigen konnte, machte ihn fertig. Das war mit der Grund, weshalb er sich so verantwortlich gefühlt hatte, Itoe in seine Obhut zu nehmen und somit Miros letzten Wunsch zu erfüllen. Er war ihm was schuldig.

Kira erhob sich müde vom Bett. Er fühlte sich schlapp und ausgelaugt, obwohl er sich körperlich nicht angestrengt hatte. Diese schwermütigen Gedanken waren Schuld. Er konnte sie einfach nicht loswerden.

Ob Itoe schon zu Hause war?

Kira sah auf die Uhr. Es war bereits 9:10 Uhr.

Vielleicht sollte er bei ihr vorbeischauen?

Diesen Gedanken verwarf er sofort.

Es war vorbei. Das hatten sie beide einvernehmlich entschieden.

 

Kira ging ins Bad, zog sich aus und stieg unter die heiße Dusche. Er hasste sich dafür, was er zu Itoe über seinen Bruder gesagt hatte. Das hatte sie nicht verdient, auf diese Weise zu erfahren. Miro war nicht der ehrenhafte Mensch, den sie in Erinnerung hatte. Diesen Miro gab es schon ewig nicht mehr. Aber er hatte nicht das Recht, so über ihn zu reden. Und er hatte insbesondere kein Recht, ihre Liebe zu seinem Zwilling zu vergiften. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Ganz klar, dass er seine Gefühle nicht mehr im Griff hatte. Und warum? Weil er dieses Mädchen in sein Herz gelassen hatte. Ein dummer Fehler. Denn letztendlich gehörte sie nicht ihm, egal, was auf dem Papier stand. Sie war zwar rechtmäßig seine Frau, aber ihr Herz und ihr Körper würden ihm niemals gehören.

Das Bild von dem leidenschaftlichen Kuss, den er sich erst gestern gestohlen hatte, breitete sich vor seinem inneren Auge aus. War das wirklich erst gestern gewesen? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er spürte noch immer ihren Geschmack auf den Lippen. Diese süßen, weichen Lippen. Dieselben Lippen hatte auch Miro geküsst, schoss es ihm jäh durch den Sinn. Scheiße. Warum dachte er denn plötzlich daran... Alles an ihr hatte Miro berührt. Ihre Lippen, ihren Körper, ihr Herz. Wollte er wirklich das Mädchen haben, das seinen Bruder liebte?

Kira schüttelte diese Gedanken ab und tröstete sich mit einem anderen. Itoe hatte seinen Kuss erwidert. Sie hatte es zugelassen, also musste er ihr doch etwas bedeuten! Außerdem hatte sein Intermezzo mit Makoto Itoe eifersüchtig gemacht. Sonst hätte sie sich garantiert nicht mit Yagami eingelassen. Aber welche Rolle spielte das noch?

Ich bin fertig mit dir! Mit euch beiden!

Die Erinnerung an seine vernichtenden Worte brachte ihn auf den Boden der Tatsachen. Es war vorbei.

Kira hatte Miros letzten Wunsch mit aller Kraft erfüllen wollen, sodass er krampfhaft versucht hatte, diese Ehe aufrechtzuerhalten. Dabei hatte er gar nicht an seine und schon gar nicht an Itoes Gefühle gedacht. Wie schwer musste es ihr gefallen sein, sich auf diese Beziehung einzulassen. Mit jemandem, der genauso aussah, wie der Mann, den sie geliebt und dann verloren hatte. Für Kira war das ganze aber auch nicht einfach. Er hatte sie zwar noch nie in seinem Leben gesehen, sie war wunderschön, klug, humorvoll, eine Herausforderung. Aber sie war auch jemand, der seinem Bruder unglaublich wichtig war. Itoe hatte ihm bis zum Schluss beigestanden, sie war im Zeitpunkt des Todes an seiner Seite. Wenn sie Miro nichts bedeutet hätte, hätte er sie ganz sicher nicht geheiratet. Aber warum musste er sie an Kira binden? War das seine Rache dafür, dass Kira sich am Ende von ihm abgewandt hatte? Hier, Bruder, ein hübsches Abschiedsgeschenk für dich, das dich immer an mich erinnern wird. So hatte es Kira noch gar nicht betrachtet...

Na ja, er würde niemals das wahre Motiv erfahren, also warum sich den Kopf zerbrechen?

Miros verrückter Plan hatte aber auch etwas Gutes. Kiras harte Schale bröckelte, je besser er Itoe kennenlernte, seine Gefühle tauten auf und er empfand für sie mehr, als er zugeben wollte. Sein Fehler war, zu hoffen, sie würde dasselbe für ihn empfinden. Es hatte sich sogar danach angefühlt, aber er konnte sich auch irren. Liebe war ein fremdes Gebiet für ihn und es wäre möglich, dass er ihre Gefühle fehlinterpretierte. Besonders nachdem, was sie gestern zu ihm gesagt hatte, war das wahrscheinlich auch der Fall.

Distanz würde ihm gut tun. Er brauchte eine klare Sicht auf die Dinge. In letzter Zeit handelte er nicht gerade nach seinen Prinzipien. Zu viele Gefühle vernebelten den Verstand, das war die Devise. Und mittlerweile handelte er fast ausschließlich emotional. Seine Eifersucht, seine Wut. Und das alles nur wegen diesem Mädchen.

Aber Distanz hin oder her, Kira hatte endlich begriffen, was er von Anfang an gewusst hatte und nur nicht wahrhaben wollte: Itoe war zwar rechtlich seine Frau, aber ihr Herz würde ihm niemals gehören. Unabhängig davon wie sehr er sich abmühte, sie zu begeistern oder zu beeindrucken. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er machte sich nur zum Affen.

Wütend über seine eigene Dummheit und Naivität schlug er mit der Faust gegen die Duschwand.

Kira erinnerte sich an die erste Nacht im Club mit ihr. Da war der Abend ähnlich ausgegangen. Itoe hatte sich betrunken und angefangen, Miro zu erwähnen. Damals hatte er das noch toleriert, aber jetzt konnte er das nicht mehr. Sie liebte Miro immer noch, sie brauchte seinen Bruder. Nicht ihn.

Kira stellte das Wasser ab und trocknete sich ab. Seine Bewegungen waren automatisch, träge. Er fühlte sich immer noch nicht fit. Die deprimierenden Gedanken machten ihm zu schaffen. Seit wann ließ er sich emotional so niederdrücken? Er war wieder weich geworden. Er hatte sich ihr geöffnet, sie in sein Herz gelassen. Aber damit hatte er sich doch nur zum Trottel gemacht. Es passte nicht zu ihm, so weich und nett zu sein. Das war einfach nicht er, redete er sich ein. Seine Gegenwart war Itoe doch auch zu wider, sonst würde sie sich Miro nicht zurückwünschen. Kira wurde wütend, je länger er über das ganze Dilemma nachdachte.

Vielleicht sollte er nicht so leicht aufgeben?

Diese plötzliche Wendung seiner Gedanken hatte auf einmal seine volle Aufmerksamkeit.

Vielleicht war er an die Sache völlig falsch ran gegangen?

Während er so darüber nachdachte, keimte langsam ein neuer Plan auf.

Kira war Itoe nicht gut genug? - In Ordnung. Dann würde sie jetzt den anderen Kira kennenlernen.

Hinter der Fassade ist das wahre Ich

Am Nachmittag, es war immer noch derselbe Tag nach ihrem Geburtstag, kam Itoe endlich nach Hause. Ren hatte sie freundlicherweise nach Hause gefahren und bestimmt hatte er Kira bereits darüber informiert. Sie nahm es Ren nicht übel, hoffte aber, dass Kira nicht hier auftauchen würde, denn sie schämte sich noch zu sehr für ihren gestrigen Auftritt. Sie wollte Kira auf keinen Fall jetzt schon unter die Augen treten. Am besten nie wieder.

Itoe nahm eine heiße Dusche, die ihr das Gefühl gab, all das Elend von sich abzuwaschen. Danach cremte sie sich mit ihrer Lieblingsbodylotion, Erdbeer-Vanille-Duft, ein, woraufhin das ganze Badezimmer herrlich duftete. Itoe schlüpfte in bequeme Klamotten, eine breite Stoffhose und T-Shirt, und ging in die Küche.

Die Ereignisse der letzten Nacht hatten sie erledigt. Sie wollte heute nichts mehr unternehmen, sich einfach nur aufs Sofa hocken, sich mit einem netten Film ablenken und an nichts, was in den letzten 24 Stunden geschehen war, denken. Doch das war leichter gesagt als getan.

In der Küche stand immer noch die Torte, den sie für Kira und sich gebacken hatte. Sie stand einsam und verlassen auf dem Tisch, als hätte sie jemand bestellt und nicht abgeholt. Itoe nahm ein Messer und schnitt sich ein dickes Stückchen davon ab. Sie machte sich einen Kaffee und ging dann mit Teller und Tasse ins Wohnzimmer, um es sich auf dem Sofa bequem zu machen und .

Miros Wohnzimmer war ziemlich schlicht eingerichtet, aber er hatte volle Regale mit Büchern, CDs, DVDs und sogar Schallplatten. Dadurch wurde der Raum mit Leben erfüllt und bekam eine persönliche Note. Itoe fühlte sich wohl hier, als gehöre sie tatsächlich hierher. Als wäre sie Miro auf diese Weise ein Stückchen näher.

Sie schaltete den Fernseher an, aß ihre Torte, der nebenbei erwähnt ziemlich vorzüglich schmeckte, und trank ihren Kaffee. Sie versuchte, sich auf all diese Eindrücke zu konzentrieren, aber ihre Gedanken fanden dennoch einen Weg an die Oberfläche.

Die gestrigen Ereignisse hätte Itoe gerne rückgängig gemacht. Sie wusste gar nicht, was sie schlimmer fand: Dass sie ihren Kummer seit sie in Tokio war gerne im Alkohol ertränkte, dass sie irgendwelches Dummes Zeug redete, wenn sie dann betrunken war, oder, was ziemlich neu war, dass sie mit fremden Typen herumknutschte. All das tat sie stets wegen Miro oder Kira. Wegen diesen beiden tat sie unüberlegte Dinge, die sie im Nachhinein bereute. Selbstverständlich wusste sie, dass sie ihnen nicht die ganze Schuld in die Schuhe schieben konnte, das wäre nicht fair. Sie war schließlich für ihr Handeln selbst verantwortlich. Aber sobald es um Miro oder Kira ging, verabschiedete sich ihr rationaler Verstand und schaltete sich um in den Idiotinnen-Modus. Anstatt wie Erwachsene zu reden und Kira auf die Frau aus seiner Wohnung anzusprechen, hatte sie sich maßlos betrunken und die ganze Situation nur noch schlimmer gemacht.

Grandiose Leistung, Itoe!

Hätte Kira ihr bloß vorher gesagt, dass er noch jemand anderen hatte, dann wäre es gar nicht erst zum Problem geworden und Itoe hätte sich nicht betrunken, um Rache zu üben, was eigentlich eh vollkommen kindisch von ihr war. Sie hatte Kira am Anfang ihrer Kennenlernphase gefragt, ob er jemand anderen hatte oder ob er nicht jemand anderen wollte. Sie hatte ihm die Wahl gelassen, sich von ihr scheiden zu lassen. Stattdessen entschied er sich für sie. Dabei hatte er nebenbei noch jemand anderen...

Die ganze Sache mit der anderen Frau hätte sie nicht so sehr verletzt, wenn sie nicht so viel Zeit mit ihm verbracht hätte. Denn dadurch fühlte sie sich unglücklicherweise zu ihm hingezogen. Bei dem Gedanken daran, dass sie Gefühle für Kira hatte, bekam sie ein schlechtes Gewissen gegenüber Miro. Sie durfte für Kira keine romantischen Gefühle empfinden! Es war nicht richtig. Es war genauso, als würde sie Miro hintergehen. Dass Itoe Gefühle für Kira haben würde, hatte Miro sicher nicht im Sinn gehabt, als er sie mit seinem Bruder verheiratet hatte. Miro wollte vermutlich nur, dass sich jemand um Itoe kümmerte, wenn er nicht mehr da war, da war sie sich ganz sicher.

Itoe betrachtete gedankenverloren ihren Ehering. Ihre Gefühlswelt war ein einziges Chaos. Sie liebte Miro, aber nun hatte sie Gefühle für Kira. Sie war eifersüchtig auf die wunderschöne Frau aus Kiras Wohnung. Sie war wütend über ihr eigenes dämliches Verhalten im Club, weil sie sich betrunken und Yagami geküsste hatte. Was war nur los mit ihr? Seit wann wusste sie nicht, was richtig und was falsch war?

Eine weitere Frage drängte sich auf. War ihre Beziehung mit Kira nun endgültig vorbei?

Ich bin fertig mit dir! Mit euch beiden!

Kira hatte anscheinend genug von ihr und von Miro, was sie verständnisvoller Weise nachempfinden konnte. Sie hatte Kira mit ihren Worten und Taten gekränkt. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich Miro zurückwünschte und es Kira offen ins Gesicht sagte. Obwohl sie komischerweise immer betrunken war, wenn sie es sagte, war dies keine Entschuldigung. Außerdem... wenn sie sich recht entsann, hatte sie gesagt, ihre Beziehung mit Kira sei nicht echt. Kein Wunder, dass Kira endgültig die Nase voll von ihr hatte. Aber vielleicht war es auch besser so. Dann konnte sie ihre Gefühle für ihn im Keime ersticken, bevor sich daraus noch mehr entwickelte. Kira konnte glücklich mit dieser einen Frau werden und sie würde ihre reine Liebe zu Miro bewahren.

 

Die nächsten Tage schafften sie es irgendwie, sich aus dem Weg zu gehen. Wenn Itoe zur Arbeit ging, begegnete sie ihm nicht im Flur. Im Restaurant ließ er sich auch nicht blicken, er holte sie nicht mehr von der Arbeit ab und besuchte sie nicht mehr zu Hause. Das hatte sie erwartet und trotzdem stimmte es sie traurig. Es sah nicht danach als, als wollte er die Angelegenheit zwischen ihnen klären. Er hatte es wohl ernst gemeint, als er sagte, er wäre fertig mit ihr.

Itoe spielte mit dem Gedanken den ersten Schritt zu machen, auf ihn zugehen, sich entschuldigen. Aber... wenn er wirklich vorhatte, sich von ihr scheiden zu lassen, machte es da noch Sinn sich zu versöhnen?

 

„Habt ihr immer noch nicht miteinander gesprochen?“, fragte Ren nach, als er einmal bei Itoe zu Besuch war. Er hatte sich zunächst gewundert, warum Itoe in Miros Wohnung lebte. Aber für diesen Fall hatte sich Itoe bereits eine Antwort zurecht gelegt. Sie erklärte, dass Kira ihr Miros Wohnung als eine Art Rückzugsort angeboten hatte. Für Ren erschien das plausibel. Er fand es sogar sehr großzügig von Kira, ihr diese Möglichkeit anzubieten.

Seit dem Streit mit Kira hatte Itoe wenigstens einen neuen Freund gewonnen. Sie hatte sich mit Ren schon von Anfang an gut verstanden, aber die beiden hatten sich nie zu zweit getroffen, um etwas gemeinsam zu unternehmen. Mittlerweile war es das normalste von der Welt, dass sie einander besuchten oder ausgingen, als Freunde versteht sich.

Heute hatte sie ihn zum Kaffee und Kuchen eingeladen, aber es lag nicht in ihrer Absicht, über ihre Probleme mit Kira zu reden. Außerdem kannte sie Rens Standpunkt. Er war der Meinung, sie sollte sich mit Kira aussprechen. Das riet er ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Itoe schüttelte den Kopf, als eine Antwort auf seine Frage.

„Wie lange habt ihr euch jetzt schon nicht gesehen?“

„Zwei Wochen“, meinte sie und unterdrückte einen bedrückenden Seufzer. „Ich hab diesmal ein neues Rezept ausprobiert“, wechselte sie prompt das Thema, „wie schmeckt dir der Kuchen?“

Ren war nicht blöd, um den Wink zu verstehen, dass sie nicht über Kira sprechen wollte, und ging netterweise auf den Themawechsel ein.

„Wirklich lecker“, meinte er nach einem Bissen, „du bist wirklich eine sagenhafte Bäckerin. Wie wär's mit einer eigenen Konditorei?“

Itoe winkte ab. Mit diesem Gedanken hatte sie noch nie gespielt. Selbst wenn, sie hatte nicht genügend Geld und Erfahrung, um ein eigenes Geschäft aufzubauen.

„Vielleicht irgendwann“, sagte sie darauf, ohne es ernst zu meinen.

Itoe war Ren dankbar, dass er ihr keine Leviten bezüglich Kira las. Mit ihm konnte sie sich über Gott und die Welt unterhalten. Es gab immer etwas zu bereden und manchmal lachten sie aus vollem Hals. Ren war ein guter Freund und durch seine Anwesenheit konnte sie ihre Sorgen für einen Moment vergessen.

„Wie war eigentlich Miro?“, fragte Itoe unvermittelt während einer längeren Pause. Sogleich spiegelte sich Überraschung auf Rens Gesicht wieder.

„Warum fragst du plötzlich?“ Seine Gegenfrage war berechtigt. Itoe hatte nie nach Kiras Bruder gefragt und jetzt wollte sie wie aus dem Nichts etwas über ihn erfahren. Da Ren nichts von ihrer Vergangenheit mit Miro wusste, musste Itoe sich einen anderen Grund für ihre Neugierde ausdenken. „Kira spricht selten von seinem Bruder“, erklärte sie und das war nicht einmal gelogen. Das letzte Mal hatte Kira diese hässlichen Sachen über Miro gesagt. Itoe wusste bereits seit längerem, dass Miro nicht der Mensch war, für den sie ihn hielt, aber dass er so schlimme Dinge getan haben soll, wollte sie immer noch nicht glauben. Vielleicht konnte Ren ein wenig Licht ins Dunkeln bringen. „Ich würde gerne wissen, wie Kiras Bruder war.“

Ren nahm das nickend zur Kenntnis. Anscheinend reichte ihm diese Erklärung aus.

„Hm, wo soll ich bloß anfangen... - Miro war ein sehr offener und kontaktfreudiger Mensch. Er ließ sich von niemandem unterkriegen, ganz besonders nicht von seiner Krankheit. Na ja, bevor er verschwand, sah das natürlich schon anders aus.“ Ren machte eine Pause, als würde er sich an die Zeit zurückerinnern, von der er gerade erzählte. „Miro war ganz anders als Kira und doch waren sie gleich. Es ist schwer zu begreifen, wenn man die beiden nicht persönlich kennt... kannte. - Während Miro offen war, war Kira eher verschlossen. Miros freundliche Art wurde an jeden verteilt, während man zu Kiras weichem Kern erst vordringen musste. Doch beide konnten mit ihrem netten Charme alle verzaubern, wenn sie wollten. Aber wenn jemand die beiden verletzte oder hinterging, verschlossen sie sich, zogen sich innerlich zurück, und es war schwer, wieder zu ihnen vorzudringen.“

Ren aß seinen Kuchen auf, bekam von Itoe noch ein Stückchen serviert und lächelte genüsslich, als er sich wieder eine Gabel in den Mund schob.

„Du hast gesagt, Miro ließ sich nicht unterkriegen, bis zu dem Zeitpunkt vor seinem Verschwinden...“, half Itoe nach, damit Ren seine Erzählung fortsetzte.

„Ja, genau. Da hatte er sich stark verändert. Ich sag's mal so, Miro mochte schon immer das freizügige Leben. Er genoss jeden Moment und lebte in den Tag hinein. Er hatte viele weibliche Bekanntschaften und da er ziemlich beliebt war, nutzte er das gerne aus.“

Itoes Atem stockte. Die Bestätigung, dass Kira die Wahrheit über seinen Bruder gesagt hatte, traf sie heftiger als erwartet. Miro, der Frauenheld. Das ergab doch irgendwie keinen Sinn. Warum war er dann mit ihr zusammen gewesen? Warum hatte er sie sogar geheiratet? Die Frage lag ihr auf den Lippen, aber die konnte sie Ren leider nicht stellen.

„Irgendwann wurden seine Liebschaften extremer. Er hatte fast jeden Tag eine Neue. Das war schon krass. “ Ren hielt inne, als er in Itoes geschocktes Gesicht sah. „Oh man, das wolltest du sicher gar nicht wissen oder? Ich hör lieber auf.“

„Nein, erzähl bitte weiter“, sagte Itoe schnell, auch wenn ihr das wirklich schwer viel. Aber sie wollte einfach alles, was sie über Miro noch nicht wusste, erfahren. Sie wollte verstehen, wer dieser Menschen, den sie so sehr geliebt hatte, war.

Ren wog ab, ob er ihrer Bitte nachkommen sollte und entschied sich dafür. „Auf jeden Fall waren wir alle ziemlich besorgt, weil wir ihn so nicht kannten. Er hatte irgendwie den Sinn seines Leben verloren. Er hatte sich sehr für Musik interessiert. Er hatte sogar eine Zeit lang Saxophon gespielt, da er Jazz-Musik liebte. Doch irgendwann war ihm selbst das egal, das machte zumindest den Eindruck. Er griff sogar öfters zu Partydrogen. Wir versuchten es ihm auszureden, ohne Erfolg. Kira hatte sich oftmals heftig mit ihm darüber gestritten.“

Die Informationen rauschten durch Itoes Kopf. Nun sah sie Miro in einem vollkommen anderen Licht. Wer war dann der Miro, den sie kennengelernt hatte? War das alles nur Fassade?

„Jetzt hab ich dir sicher ein ganz schlechtes Bild von ihm gemacht“, meinte Ren schuldbewusst, „du musst bedenken, dass Miros Krankheit ihn zu vielen Dingen verleitet hatte. Wir wissen nicht, was wir in seiner Situation getan hätten.“

Itoe stimmte ihm zu. „Richtig.“

„Vielleicht mag dir Kira irgendwann mehr von seinem Bruder erzählen. Wenn du endlich mit ihm reden würdest...“

Itoe blickte still in ihren Kaffeebecher, den sie schon seit einigen Minuten nicht angerührt hatte. Der Kaffee darin war bereits kalt.

„Ich denke nicht, dass er mit sich reden lässt. Meintest du nicht selbst vorhin, dass er niemanden mehr an sich heran lässt, wenn er hintergangen wurde?“

Ren seufzte leise. „Ja, das habe ich. Aber du bist seine Frau, Itoe. Das ist etwas anderes. Ich hätte schließlich auch nicht gedacht, dass er irgendwann mal heiratet.“

Wenn du wüsstest...

„Bitte versprich mir, dass du mit ihm sprichst. Es wird Zeit, dass ihr euch endlich versöhnt“, fügte Ren hinzu und lächelte zuversichtlich.

Wenn das doch so einfach wäre. „Ich verspreche es.“ Ren hätte sie nicht in Ruhe gelassen, solange sie ihm dieses Versprechen nicht gab. „Noch ein Stück Kuchen?“

Der gestohlene Ring

Die Tage ohne Itoe verliefen sehr trist. Die Sehnsucht nach ihr war größer als Kira sich eingestehen wollte. Er musste sich sogar einige Male zusammenreißen, um seiner Schwäche nicht nachzugeben, sie nicht aufzusuchen, sich bei ihr entschuldigen. Kira mangelte es nicht an Selbstbeherrschung, aber ausgerechnet sie brachte ihn an seine Grenzen. Das war abzusehen, denn sie hatten fast jeden Tag miteinander verbracht und nun hatte er sie zwei ganze Wochen nicht zu Gesicht bekommen.

Das Gute an dem Abstand war, dass Kira genug Zeit hatte, um über alles sorgfältig nachzudenken. Und er kam zu dem Schluss, dass es nicht richtig war, sie gehen zu lassen. Nicht wegen seiner Gefühle für sie, sondern wegen Miro. Miro hatte Itoe sicherlich nicht umsonst an ihn gebunden. In seinem Abschiedsbrief hatte er geschrieben, dass Kira Itoe brauchen würde. Als hätte Miro gewusst, dass Kira vor seinem Untergang stand... Gleichzeitig fragte er sich, wie sein Zwilling sich das ganze vorgestellt hatte. Lag es in Miros Interesse, die beiden einander näher zu bringen? Oder sollte Itoe lediglich eine emotionale Stütze sein? Da er auf diese Frage nie eine Antwort erhalten würde, blieb ihm nur eines übrig: Miros letzten Wunsch zu erfüllen, ohne diesen zu hinterfragen.

Er konnte sich nicht richtig von ihm verabschieden und hatte bei ihrem letzten Treffen schreckliche Dinge zu ihm gesagt. Es würde sicher nicht leicht werden, weiterhin mit Itoe zusammen zu sein, mit dem Wissen, dass sie seinen Bruder immer noch liebte. Aber Kira würde das in Kauf nehmen, er musste. Seine aufkeimenden Gefühle würde er tief in seinem Herzen vergraben. Das konnte er doch gut. Er würde die gemeinsamen Tage mit ihr, und all die Freude, die diese Tage gebracht haben, in seinem Inneren verbannen und seiner kühlen Fassade die Oberhand überlassen. So wäre es auf jeden Fall leichter. So könnte sie ihn nicht mehr verletzen.

Er beschloss, diese fruchtlose Beziehung mit allem Mitteln aufrecht zu erhalten. Und wenn Itoe sich weigern würde, würde er sie eben dazu zwingen.

 

Nach zwei Wochen Funkstille begegneten sich beide im Flur. Ein Wunder, dass es nicht schon früher passiert war. Kira war gerade auf dem Weg zum Club. Er musste noch ein paar organisatorische Sachen erledigen und die Weihnachts- und Silvesterpartys vorbereiten. Bis dahin dauerte es zwar noch, aber er plante gerne im Voraus. Als er gerade seine Tür abschloss, hörte er ihre Wohnungstür aufgehen. Mitten in seiner Bewegung hielt er inne und wandte sich dann langsam um.

Itoe stand in unmittelbarer Nähe zu ihm, da beide Wohnungen gegenüber lagen, und sah unsicher zu ihm rüber. Ihre Haltung wirkte angespannt.

„Hey“, sagte sie dann schließlich und Kira entgegnete ihren Gruß mit einem knappem Nicken. Es gab so einiges zu bereden. Kira wollte einige Veränderungen bezüglich ihrer Beziehung vornehmen, aber jetzt war noch nicht der richtige Zeitpunkt, um mit ihr darüber zu sprechen. Er wandte sich zum Gehen, hörte dann ihre leisen Schritte hinter sich und spürte dann ihre Hand auf seinem Arm. „Warte bitte...“

Kira hielt an und wandte sich überrascht zu ihr um. Sofort nahm sie ihre Hand wieder weg und trat einen Schritt zurück. Geduldig wartete er darauf, was sie ihm zu sagen hatte. Dabei drang ihm ein vertrauter, süßlicher Duft von Erdbeer-Vanille in die Nase.

„Ich...“, fing Itoe langsam an und senkte den Blick. Offensichtlich fiel es ihr schwer, ihm in die Augen zu sehen. „Ich wollte mich entschuldigen.“

Kira runzelte verdutzt die Stirn. Eine Entschuldigung war das letzte, womit er gerechnet hatte. Außerdem hatte er sich ebenfalls nicht gentlemanlike benommen. Er war ihr auch eine Entschuldigung schuldig, aber... „Wofür?“, fragte er stattdessen. Für den Kuss mit Yagami? Für ihre Worte?

Nun blickte Itoe doch zu ihm auf. Ihre großen Rehaugen sahen ihn beinahe flehend an. „Für alles“, antwortete sie, doch Kira wollte ihr nicht so recht glauben. Er konnte es nicht. Eine Entschuldigung machte nichts wieder gut.

„Zu spät“, gab er kühl von sich und hielt ihren Blick gefangen.

„Kira, ich weiß, ich habe dich verletzt und...“, versuchte sie es erneut, doch Kira fiel ihr ins Wort.

„Und was? - Es tut dir leid?“ Kira schnaubte. „Dass du mit Yagami rumgemacht hast, kann ich dir nicht übel nehmen. Ich war schließlich nicht besser. Aber was du gesagt hast... Das werde ich dir nicht verzeihen.“

Kira ließ sie stehen und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Jetzt war es raus. Er würde ihr das nicht noch einmal verzeihen. Es war ihm egal, dass sie das nur gesagt hatte, weil sie betrunken war. Tief in ihrem Herzen wünschte sie sich trotzdem nur Miro. Er war nie mehr für sie gewesen als ein Ersatz, ein Lückenbüßer, auch wenn es sich eine kurze Zeit lang ganz anders angefühlt hatte... Als sähe sie ihn, Kira, und nicht seinen Bruder.

Der Aufzug öffnete sich und Kira stieg ein. Er drückte bereits auf den Knopf, da stellte sich Itoe zwischen die Türen.

„Und was ist nun mit uns?“

Diese Frage hatte er nicht kommen sehen. Kiras harte Fassade wollte für einen Augenblick bröckeln, doch er sammelte seine Gedanken und ließ seine wahren Gefühle nicht an die Oberfläche dringen.

„Was soll mit uns sein? Es ist doch alles nicht echt.“

Er benutzte ihre Worte. Sie sollte denselben Schmerz fühlen wie er.

Itoe erwiderte nichts darauf, sondern sah ihn nur mit ihren traurigen Augen an. Doch Kira ließ sich nicht davon beirren.

Itoe nickte leicht und trat einen Schritt zurück, damit die Türen sich schließen konnten. Erst jetzt atmete Kira tief durch und lehnte sich zurück an die Wand. Das hatte er überstanden, auch wenn ein bitterer Nachgeschmack zurückblieb. Er musste einfach fies sein, denn sonst würde er in seine alte Gewohnheit zurückfallen, nett und verständnisvoll sein, und am Ende würde sie ihm das Herz noch einmal herausreißen.

Den ganzen Weg nach unten hatte er das Gefühl, von ihrem Erdbeer-Vanille-Duft verfolgt zu werden.

 

Nachdem Kira sie zurück gelassen hatte, musste Itoe erst einmal wieder die Fassung zurückgewinnen. Sie hätte nicht gedacht, dass er sie zurückweisen würde und noch weniger hätte sie gedacht, dass es so schmerzvoll sein würde. Sie hatte zumindest gehofft, dass er ihre Entschuldigung annahm. Aber er hatte sich vor ihr verschlossen und war zu dem Menschen geworden, den sie am Anfang kennengelernt hatte, kühl und abweisend. Ren hatte somit Recht behalten, dass sich Kira verschloss und zurückzog, sobald ihn jemand verletzte. Womit er allerdings falsch lag war, dass Kira bei ihr eine Ausnahme machen würde. Sie war schließlich seine Frau, hatte Ren behauptet. Und auch wenn Itoe es besser wusste, hatte sie trotzdem darauf gesetzt, dass Kira das berücksichtigen würde. Doch das war nicht der Fall gewesen. Er hatte sie abgewiesen, wollte ihre Entschuldigung nicht einmal annehmen. Aber das hatte sie verdient.

Itoe nahm den anderen Aufzug daneben und fuhr nach unten. Sie musste zur Arbeit. Dass sie heute auf Kira treffen würde, war nur ein Zufall gewesen. Aber da sie eh geplant hatte, sich in den nächsten Tagen bei ihm zu entschuldigen, traf sich diese Gelegenheit ganz gut. Leider war der Ausgang dieses Treffens nicht der gewünschte, aber was hatte sie erwartet? Dass ihre Worte keine Spuren hinterließen? Niedergeschlagen verließ sie das Gebäude und nahm die Bahn zur Arbeit.

Es fing um diese Uhrzeit bereits an zu dämmern, der Tag wurde kürzer, der Abend länger. Vor allem wurde es immer kälter. Itoe versteckte ihre Nase im großen Schal und zog die Mütze mehr über die Ohren, als sie das letzte Stückchen zu dem Restaurant lief.

Heute war zum Glück nicht allzu fiel los, trotzdem kam ihr die Arbeit heute besonders mühsam vor. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu ihrer Begegnung mit Kira ab.

„Itoe, bediene bitte den Tisch fünf“, wies ihr Chef an, nachdem sie sich umgezogen hatte. Itoe nahm ihren Block und trat zum Tisch. Sie begrüßte höflich die Gäste, doch erst beim zweiten Blick erkannte sie, wer da vor ihr saß.

„Na sieh mal einer an“, sagte die Frau amüsiert, „heute ist wohl mein Glückstag.“

Itoes Glückstag war das definitiv nicht.

„Kennst du sie etwa, Makoto?“, fragte eine ihrer Freundinnen am Tisch.

„Klar kennen wir uns, nicht wahr, Schätzchen?“, meinte Makoto an Itoe gewandt.

Itoe sah ausdruckslos zu ihrer Rivalin hinab und neigte etwas den Kopf. Sie wollte nicht unhöflich sein, indem sie protestierte, da die einmalige Begegnung sie noch lange nicht zu Bekannten machte. Itoes Herz zog sich zusammen, als daran dachte, wie sie Makoto in Kiras T-Shirt angetroffen hatte.

„Wissen Sie schon, was Sie gerne trinken möchten?“, wechselte sie das Thema und ging ihrer Arbeit nach. Sie musste höflich und professionell bleiben, persönliche Gefühle gehörten nicht hierher. Doch hinter ihrer höflichen Fassade, fühlte sie sich ausgesprochen unwohl und unsicher. Nicht nur deswegen, weil Kira mit dieser Frau geschlafen hatte. Sie kam sich vor, wie damals auf der High School. Makoto war wie eine dieser hübschen Mädchen, die den Charme hatte, alle anderen gegen eine einzelne Person aufzubringen. Niemand mochte sich gegen solche Mädchen auflehnen. Wenn man erst einmal in ihr Visier geraten war, konnte es ziemlich ungemütlich werden. Solche Mädchen fühlten sich durch andere, die mindestens genauso gut aussahen wie sie selbst, bedroht und suchten sich diese dann als Opfer aus. Itoe hatte diese Erfahrung leider machen müssen, aber nachdem sie die Schule überlebt hatte, hätte sie nicht gedacht, dass sich das jemals wiederholen würde.

Nachdem die Frauengruppe ihre Bestellung aufgegeben hatte, ging Itoe an die Bar, um die Getränke zu holen. Sie hoffte, sie musste diese Truppe nicht den ganzen Abend bedienen. Tisch fünf fiel nicht einmal unter ihren Zuständigkeitsbereich. Doch das Schicksal meinte es heute nicht gut mit ihr. Itoe servierte später auch das Essen und wurde für jeden noch so kleinen Wunsch an den Tisch gerufen. Sie war trotzdem erstaunt, wie problemlos das ganze ablief. Sie musste gestehen, sie hatte am Anfang ein komisches Gefühl gehabt. Aber wahrscheinlich lag das einfach nur an den Mobbing-Erlebnissen.

Itoe wurde wieder an den Tisch fünf bestellt, an dem es schon heiter zuging.

„Schätzchen, da bist du ja endlich“, meinte Makoto überschwänglich, auch wenn in ihrem Blick etwas Teuflisches lag. „Der Wein schmeckt mir nicht. Ist das wirklich ein Chardonnay?“

Makoto fuchtelte mit dem zierlichen Weinglas herum und behielt Itoe stets im Blick.

„Ja, natürlich. Den hattest du doch bestellt“, meinte Itoe. Sie versuchte ein sicheres Auftreten an den Tag zu legen, aber Makoto schien sie zu durchschauen.

„Hast du mich grade geduzt?“, zischte Makoto, „ich glaube nicht, dass ich es dir erlaubt habe.“

Im Restaurant bedurfte es der Höflichkeit, seine Gäste zu siezen, es sei denn diese wünschten den vertrauten Umgangston. Die Gäste dagegen konnte die Bedienung mit jedem Titel ansprechen, den sie für angemessen hielten.

„Verzeihung. Kommt nicht wieder vor“, entschuldigte sich Itoe und verbeugte sich leicht. Sie spürte förmlich, wie die Anspannung zwischen ihnen anstieg. Plötzlich ließ Makoto das Weinglas fallen, sodass es auf dem Boden zerbrach und die rote Flüssigkeit sich vor Itoes Füßen verteilte.

„Hoppla. Wie ungeschickt von mir“, meinte Makoto und lächelte bösartig. „Heb' schon auf, was stehst du noch rum!“

Itoe ging auf die Knie und sammelte die Scherben auf. Was für kindisches Verhalten, würde sie am liebsten sagen, doch befahl sich innerlich still zu sein. Sie durfte auf keinen Fall frech werden, denn sie konnte sich gut vorstellen, dass Makoto sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen und sich bei der Geschäftsführung beschweren würde. Der Gast war immer König und Itoe wollte diesen Job gerne behalten.

„Komm, ich helfe dir“, meinte Makoto plötzlich, doch anstatt tatsächlich Hilfe zu bekommen, trat sie mit ihrem High Heel auf Itoes Hand. Die Scherben schnitten in ihre Haut und bohrten sich tiefer hinein, als Makoto den Druck verstärkte.

Itoe gab ein leises Keuchen von sich. Der Schmerz war unerträglich und trieb ihr Tränen in die Augen. Aber sie hatte sich geschworen, nie wieder wegen solchen Dingen zu weinen und daran würde sie sich auch halten. Sie schluckte den Kloß im Hals herunter und sah trotzig zu Makoto auf. Makoto schien überrascht und gleichzeitig verärgert darüber zu sein, dass Itoe sie unverhohlen ansah.

„Ich hatte dir schon mal gesagt, dass du Kira in Ruhe lassen sollst. Aber anscheinend war ich nicht deutlich genug. Jetzt musst du mit den Konsequenzen leben.“

Makoto beugte sich zu Itoe hinab und ergriff ihre verletzte Hand.

„Den hier werde ich behalten“, meinte sie und zog Itoe den Ehering aus.

„Gib ihn mir wieder!“, verlangte Itoe nun aufgebracht und wollte mit der anderen Hand nach Makoto greifen, doch diese drückte Itoes verletzte Hand schmerzvoll zusammen, sodass Itoe aufstöhnte und sich wie gelähmt fühlte. Keine von Makotos Freundinnen sagte auch nur ein Wort, eine von ihnen kicherte sogar, und niemand sonst mischte sich ein.

„Gib ihn mir wieder“, wiederholte Itoe verzweifelt, „bitte!“

Makoto ließ ihre Hand los. „Nein. Er ist von Kira, oder? Aber er gehört dir nicht. Er sollte mir gehören.“ Makoto wollte sich den Ring auf den Finger stecken, doch er war ihr zu klein. Verärgert steckte sie ihn in die Tasche und gab ihren Freundinnen ein Zeichen, dass es an der Zeit war zu gehen. Sie hinterließen genug Geld auf dem Tisch und verließen das Restaurant. Kaum waren sie fort, kam auch schon Nari angelaufen.

„Itoe...“ Nari ging in die Hocke, um Itoe aufzuhelfen und bemerkte ihre blutige Hand. „Oh mein Gott. Was haben sie nur gemacht... Wir müssen das sofort behandeln!“

Während Nari auf sie einredete, konnte Itoe nur an eines denken: Makoto hatte den Ring. Miros Ring. Es war sein einziges Geschenk, die einzige Erinnerung, die sie an ihn hatte.

Die Hilflosigkeit lähmte sie. Itoe biss sich schmerzvoll auf die Unterlippe und versucht die Tränen zu unterdrücken, die sich unnachgiebig anbahnten.

Der Umzug

Während der nächsten Tage kam Itoe ganz normal zur Arbeit, obwohl ihr der Arzt Ruhe und Erholung verschrieben hatte. Sie sollte ihre Hand schonen und auf keinen Fall belasten. Am besten nahm sie sich drei, vier Tage frei. Doch Itoe weigerte sich, dem Rat ihres Arztes zu folgen. Sie hoffte inständig, dass Makoto wiederkommen würde. Wenn es sein müsste, würde Itoe sie anflehen, ihr den Ring wiederzugeben. Sie hatte sich sogar dazu entschlossen ihr zu erklären, dass der Ring nicht von Kira sondern von seinem Zwillingsbruder stammte. Itoe würde ihr alles erzählen, bis ins letzte Detail. Nur so bestand noch Hoffnung, ihren Ring zurückzubekommen.

Makoto schien das letzte Mal davon überzeugt zu sein, dass Itoe weiterhin mit Kira zusammen war. Mochte sein, dass der Ehering sie in dem Glauben ließ. Aber das war schon ziemlich seltsam in Anbetracht dessen, dass sie Kiras Geliebte war und es besser wissen musste. Dennoch bezweifelte Itoe nicht, dass Makoto entweder Kiras feste Freundin oder seine Geliebte war. Er hatte dem nie widersprochen.

Nun wollte Itoe endlich klarstellen, dass zwischen ihr und Kira nichts lief, damit Makoto sie endlich in Ruhe ließ. Natürlich war da immer noch dieses Bündnis, die Ehe. Aber das ließe sich einfach regeln. Itoe hatte sich bereits vorgenommen, erneut mit ihm zu sprechen und ihm diesmal zu sagen, dass es an der Zeit war, sich scheiden zu lassen. Diese Ehe hatte keinen Sinn, das hatte er garantiert selbst eingesehen. Besonders nach ihrem letzten Gespräch gab er ihr zu verstehen, dass es vorbei war. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit, wenn sie daran dachte, die Ehe zu beenden. Dann gab es nichts mehr, was sie verband. Sie musste Miros Wohnung verlassen und sich eine neue suchen. Ob sie in Tokio blieb, hatte sie noch nicht entschieden. Vermutlich würde sie nach Yamaguchi zurückkehren.

Seit Makoto den Ring gestohlen hatte, vergingen bereits drei Tage, doch die Frau tauchte nicht wieder auf. Vielleicht sollte Itoe sich an Kira wenden und ihm alles erzählen. Mit seiner Hilfe würde sie den Ring eventuell zurückbekommen.

Sofort verwarf sie diesen Gedanken wieder. Das war keine gute Idee. Er hatte ihr klar und deutlich gemacht, dass es nichts mehr zwischen ihnen gab. Das würde sie respektieren und mit ihren Problemen selbst fertig werden.

 

Nach einem langen Arbeitstag kehrte Itoe müde und erschöpft nach Hause. Sie wollte nur noch duschen und ins Bett fallen.

Itoe schloss die Wohnungstür auf, schaltete das Licht ein und blieb verwundert vor ein paar Kisten stehen. Wo kamen die denn auf einmal her? War Kira etwa hier gewesen? Er war nämlich der einzige, der außer ihr einen Schlüssel zu Miros Wohnung besaß. Sie musste ihm wohl sagen, dass ihre Wohnung kein Abstellraum war.

Itoe wollte ihre Jacke aufhängen, dann fiel ihr auf, dass ein Bild, das über dem Haken hing, fehlte. Sie hielt kurz inne und sah sich dann genauer im Flur um. Alle Bilder, die an der Wand hingen, fehlten.

„Was zum...“, murmelte sie erschrocken und betrat hastig das Wohnzimmer. Ihr wurde ganz mulmig, als sie den leeren Raum betrat. Wo waren die ganzen Sachen?! Es war alles weg. ALLLES. Itoe lief ins Schlafzimmer, das ebenfalls leergeräumt war. Nur die Küche und das Bad waren noch vollständig. Allerdings war keine Spur von ihren persönlichen Sachen.

Gerade wollte sie in den Flur laufen, um Kira nach dem Rechten zu fragen, als dieser bereits ihre Wohnung betrat.

„Kira, meine ganzen Sachen sind weg! Was geht hier vor?!“, fragte sie panisch und machte eine ausholende Geste mit der Hand. Während Itoe verzweifelt versuchte zu verstehen, was hier los war, hob Kira völlig entspannt einen der Kartons, die im Flur standen, hoch.

„Ich habe deine Sachen gepackt. Du ziehst um.“

Itoes Herz fing heftig an zu schlagen. „Ich... muss ausziehen?“ Sie traute sich kaum, diese Worte laut auszusprechen. Sie hatte ja selbst gewusst, dass es bald so weit sein würde, aber doch nicht so bald!

Kira gab ihr keine Antwort, sagte stattdessen nur, dass sie einen Karton nehmen und ihm folgen sollte. Als er nach draußen trat, blieb Itoe noch einen kurzen Augenblick stehen. Er schmiss sie einfach raus, ohne ihr vorher etwas zu sagen. Fassungslos starrte sie die Kartons an. Wo sollte sie denn hin? Sie hatte nicht einmal eine andere Wohnung. Die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, war ein Hotel. Und wo waren überhaupt Miros ganze Sachen? Er hätte sie doch rausschmeißen können, ohne gleich die ganze Wohnung leerzuräumen...

Itoe nahm resigniert einen Karton und verließ die Wohnung. Kiras Wohnungstür stand offen, sodass sie hinein spähen konnte. Sie sah ein paar Kartons in seinem Flur stehen und fragte sich, ob es ihre waren. Aber warum sollten ihre Kartons in Kiras Wohnung sein?

Kira trat aus seiner Wohnung und sah zu Itoe. „Was stehst du hier rum? Trag sie schon rein.“

Itoe runzelte skeptisch die Stirn. „In deine Wohnung?“, fragte sie vorsichtshalber nach.

Kira nickte. „Ja. Du ziehst bei mir ein oder ist das nicht offensichtlich?“

Er ging an ihr vorbei und holte den nächsten Karton. Itoe stand völlig perplex da. Ihr Gehirn konnte diese Information nicht schnell genug verarbeiten. Meinte er das wirklich ernst? Hatte er nicht gesagt, es wäre aus und vorbei? Itoe verstand die Welt nicht mehr.

„Willst du hier noch lange rumstehen?“

Kira ging wieder an ihr vorbei, trug den Karton in seine Wohnung. Nun folgte Itoe ihm endlich. Für einen kurzen Augenblick hatte sie tatsächlich gedacht, er würde sie einfach rausschmeißen. Aber dass sie bei ihm einziehen sollte... das war doch sicher nur ein Scherz...

Sie trugen die letzten Kartons zu ihm rüber und Itoe versuchte die ganze Zeit über zu verstehen, warum er sie bei sich einziehen ließ. Schließlich hatte er ihr letztes Mal mehr als deutlich zu verstehen geben, dass es aus war. Nachdem alle Kartons in Kiras Wohnung rüber getragen wurden, zog sie ihre Schuhe aus und hing ihre Jacke auf.

„Ich hab dir ein paar Schubladen im Schlafzimmer frei geräumt. Du kannst deine Sachen einräumen.“

Itoe stand unschlüssig da und spielte an den Ärmeln ihres Pullovers herum. „Kira, sag mal, warum lässt du mich bei dir einziehen? Ich dachte, es sei vorbei...“

Kira sah sie ausdruckslos an. „Ist es auch. Aber es war Miros letzter Wunsch, schon vergessen?“

Itoe legte leicht den Kopf schief und versuchte sein Verhalten nachzuvollziehen. „Nein, das habe ich natürlich nicht vergessen. Aber wie soll das funktionieren? Wir haben das nicht hinbekommen, als wir getrennt gelebt haben und jetzt, auf engstem Raum? Wie soll das funktionieren?“ Itoe äußerte offen ihre Bedenken. Ihre Freude darüber, dass er sie nicht auf die Straße setzte, hielt sich in Grenzen. Bestimmt wäre es sogar besser, wenn er das tun würde.

„Das werden wir sehen.“

Mit diesen Worten ging er voraus ins Schlafzimmer und deutete ihr an, ihm zu folgen. Das war der Kira, den sie am Anfang kennengelernt hatte, dem nur der Wunsch seines Bruders heilig war. Wollte er das wirklich durchziehen? Itoe hatte da ihre Zweifel, ob das nicht in einer Katastrophe enden würde. Sie wollte das gerne ausdiskutieren, aber er schien ihre Sorgen nicht länger anhören zu wollen. So nahm sie einen der Kartons und folgte ihm ins Schlafzimmer.

 

Kira hatte durch Ren herausgefunden, an welchen Tagen Itoe arbeitete, damit er eine Umzugsfirma engagieren konnte. Ren hatte Kira geraten, sich endlich mit Itoe auszusprechen. Natürlich hatte sein Freund Recht, aber Kira wollte nichts davon hören. Er meinte, Ren sollte sich nicht einmischen und seine klugen Ratschläge für sich behalten.

Die Umzugsfirma hatte viele von Miros Sachen in einem Lager verstaut, irgendwie hatte Kira es nicht übers Herz gebracht, alles wegzuschmeißen oder zu verkaufen.

Kira zeigte Itoe die Schubladen und Schränke, in denen sie ihre Sachen verstauen konnte und half ihr, ein paar Kisten ins Schlafzimmer zu tragen. Er hatte mit einem größeren Widerstand gerechnet, aber sie war heute ganz handzahm. Nicht dass sie es sonst nicht wäre, aber er hätte wenigstens damit gerechnet, dass sie gegen den Umzug protestieren würde.

Während sie ihre Sachen auspackte, ließ er sie allein und beschäftigte sich mit seinen eigenen Sachen. Er musste einige finanzielle Angelegenheiten bezüglich seines neuen Projekts klären, aber das konnte er getrost von zu Hause aus machen.

Kiras Wohnung war genauso konstruiert wie die von seinem Bruder, nur war seine spiegelverkehrt. Die Ausstattung unterschied sich aber gänzlich von der seines Bruders. Kiras Wohnung war praktisch eingerichtet aber mit Stil. Er hatte nicht die vollgestopften Regale mit Büchern, keine Musiksammlung oder sonst etwas in der Art. Es war schlicht und modern. Bücher, Musik, Kunst, das alles interessierte ihn zwar genau so wie seinen Bruder, aber er musste aus seiner Wohnung keine Ausstellung machen. Das erdrückte einen doch.

Kira nahm seine Unterlagen und ließ sich auf dem Ledersofa im Wohnzimmer nieder. Es war schwer sich zu konzentrieren, wenn man wusste, dass gleich im Nebenzimmer eine andere Person war, dass es sie war. Er war so daran gewöhnt, allein zu sein, dass er jedes noch so leise Geräusch wahrnahm. Kira versuchte sie sich in seinem Schlafzimmer vorzustellen, wie sie ihre Sachen in die Schränke räumte. Aber am liebsten würde er sie sich in seinem Bett vorstellen.

Kira schüttelte den Kopf und versuchte sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Da hörte er plötzlich einen lauten Knall, als wäre etwas auf den Boden gefallen.

Er legte seine Papiere beiseite und ging ins Schlafzimmer. Eine Kiste schien umgefallen zu sein, der Inhalt lag auf dem Boden zerstreut. Itoe hockte auf den Knien und hielt sich die Hand. Als sie bemerkte, dass Kira ins Zimmer trat, ließ sie diese sofort los und fing an, die Sachen aufzusammeln. Kira kniete sich zu ihr und half ihr wortlos, sein Blick wanderte zu ihrer verbundenen Hand.

„Tut deine Hand weh?“, fragte er wie nebenbei und ließ sie nicht aus den Augen. Er spürte deutlich ihre Anspannung.

„Es geht schon.“

Sie war eine schlechte Lügnerin.

Kira ergriff ihr Handgelenk. Trotz ihrer Proteste sah er sich ihre Hand genauer an. Durch den weißen Verband war bereits an einigen Stellen Blut durchgesickert.

„Wie hast du dich verletzt?“

Itoe riss ihre Hand los.

„Das geht dich nichts an!“

Sie stand eilig auf und lief aus dem Zimmer. Ihr Ausbruch ließ ihn perplex zurück. Kira sah ihr irritiert hinterher, ohne zu verstehen, warum sie sich so aufregte. Er sammelte die restlichen Sachen, die auf dem Boden zerstreut lagen, auf und ging wieder an die Arbeit. Seine Konzentration war nun vollkommen dahin. Ihn beschäftigte vielmehr die Frage, wie sie ihre Hand verletzt hatte und warum sie so komisch auf seine Nachfrage reagierte.

 

Itoe schloss sich im Badezimmer ein. Zuerst lief sie in die falsche Richtung, weil in seiner Wohnung alles spiegelverkehrt war. Sie schalt sich einen Dummkopf, weil sie ihm gereizt geantwortet hatte. Jetzt wusste er erst recht, dass etwas nicht stimmte. Allerdings hatte er sie so unerwartet darauf angesprochen, dass ihr spontan keine Lüge einfallen konnte. Darüber hinaus war sie eine ganz schlechte Lügnerin. Besonders wenn er sie mit seinen kühlen, klugen Augen ansah, blieben ihr die Worte praktisch im Hals stecken. Die Wahrheit erzählen wollte sie nicht. Sie wollte nicht vor ihm bloßgestellt werden, sich schwach zeigen. Wenn er erfuhr, dass Makoto ihr das angetan hatte, würde sie sich nur für ihre Schwäche schämen.

Itoe seufzte und setzte sich auf den Badewannenrand. Es waren bereits drei Tage seit ihrer Auseinandersetzung mit Makoto vergangen. Trotzdem tat ihre Hand immer noch höllisch weh.

Sie öffnete vorsichtig den Verband und betrachtete ihre misshandelte Hand. Das würde sicher ein paar kleine Narben hinterlassen. Itoe wusch vorsichtig das geronnene Blut ab und suchte in Kiras Schränkchen nach schmerzlindernden Salbe und neuem Verband. Sie wurde leider nicht fündig.

Früher oder später musste sie das Badezimmer verlassen und auf Kira treffen. Sie hatte nicht viele Optionen, um zu fliehen. Leise öffnete sie die Tür und trat auf den Flur. Sie ging am Wohnzimmer vorbei, wo Kira auf dem Sofa saß und las, und hoffte, dass er sie nicht wieder darauf ansprechen würde. Zum Glück hatte er sie nicht bemerkt und Itoe konnte ungestört ins Schlafzimmer gehen, um Salbe und Verband in einem der Kartons zu suchen.

 

Später am Abend gegen 23 Uhr war Kira mit seiner Arbeit fertig. Er hatte irgendwann die Gedanken an Itoe verdrängen können. Apropos... Er horchte auf. Stille, als wäre er wieder allein.

Kira warf einen Blick ins Schlafzimmer. Einige Kisten waren bereits leer, andere standen noch vollbeladen da und warteten darauf, ausgepackt zu werden. Itoe lag auf dem Bett und schlief. Das Nachttischlämpchen leuchtete gedämpft.

Sie hatte sich nicht umgezogen. Vielleicht wollte sie sich nur kurz hinlegen und war dann eingeschlafen. Kira trat leise ans Bett und betrachtete sie. Sein Blick wanderte zu ihrer verletzten Hand, die unter keinem Verband versteckt war. Er ging in die Hocke und ergriff vorsichtig ihre kleine Hand. Ihre sanfte, zierliche, misshandelte Hand war mit feinen Schnittwunden überseht. Woher hatte sie diese bloß? Ihm fiel keine vernünftige Erklärung dafür ein, wie sie zu solchen Schnittwunden kam. Kira legte ihre Hand behutsam auf dem Bett ab. Dann zog er sich aus, ließ nur seine Boxershorts an, schaltete das Licht aus und kroch unter die Decke.

Zusammen mit ihr in einem Bett zu liegen, erforderte starke Zurückhaltung. Kira drehte sich auf die Seite, mit dem Rücken zu ihr, und versuchte zu schlafen.

Zusammen leben ist nicht leicht

Am nächsten Morgen erwachte Itoe vor Kira. Sie musste sich zunächst orientieren, wo sie sich überhaupt befand und vor allem mit wem im Bett. Ihr Blick wanderte zu der Person neben ihr. Kira. Die gestrigen Ereignisse fielen ihr mit einem Mal wieder ein. Kira hatte die Wohnung seines Bruders leergeräumt und sie bei sich einziehen lassen.

Itoe wusste nicht, was sie davon halten sollte. Es war nicht gerade seine beste Idee. Tief im Inneren war sie jedoch erleichtert, dass er sie nicht auf die Straße setzte, denn das war ihr erster Gedanke, als sie in der leeren Wohnung die Kartons vorfand. Aber... würde das Zusammenwohnen überhaupt funktionieren? Und wenn ja, für wie lange? Seit ihrem letzten Streit hatten sie nicht mehr richtig miteinander geredet und jeder Versuch dies zu ändern, endete in einem Desaster. Es ergab doch gar keinen Sinn, dass sie bei ihm wohnen sollte. Er hatte sie doch abgeschrieben, oder nicht? Die naheliegende Antwort für sein widersprüchliches Verhalten lag in Miros Abschiedsbrief. Sein letzter Wunsch, den Kira offensichtlich um jeden Preis erfüllen wollte. Gleichgültig welche Qualen und Anstrengungen das erforderte.

Itoe stieg leise aus dem Bett, um Kira nicht aufzuwecken, suchte ein paar frische Klamotten zusammen und tapste auf den Zehnspitzen ins Bad. Aus Gewohnheit schloss sie nicht ab. Sie zog sich aus und stieg unter die Dusche. Früh am Morgen fühlte sich eine kühle Dusche sehr erfrischend an. Der perfekte Start in den Tag, um alle Müdigkeit zu verbannen. Itoe merkte erst jetzt, dass sie es noch gar nicht geschafft hatte, ihr Shampoo und Duschgel im Bad zu verstauen, weshalb sie sich mit Kiras Sachen bedienen musste. Dann würde sie eben nach Männershampoo riechen. Sie duschte sich ab und stieg aus der Dusche, um sich abzutrocknen, als plötzlich die Tür aufging und Kira ohne Vorwarnung das Badezimmer betrat. Er hielt mitten in seiner Bewegung inne, als er sie erblickte und sie genauso geschockt ansah wie sie ihn. Itoe stieg die Röte ins Gesicht. Verdammt, diese blöde Angewohnheit, nicht die Tür abzuschließen! Itoe griff hastig nach dem Handtuch und wickelte es sich ungeschickt um den feuchten Körper. Sie erwartete, dass er mit einer Entschuldigung das Bad verließ, doch Kira tat genau das Gegenteil. Er entschuldigte sich nicht, verließ nicht den Raum, sondern trat unverschämterweise näher zu ihr.

Itoe sah überrascht zu ihm auf und ging automatisch einen Schritt zurück. „Geh raus“, verlangte sie, doch er kam immer näher. Bald gab es keine Möglichkeit ihm auszuweichen. Itoe stieß hinten gegen die Duschkabine und sah nun verärgert aus.

„Kira, was... soll das? Raus hier...!“

Doch Kira gehorchte ihr nicht. Er stützte sich mit einer Hand gegen die Duschkabine ab und stand ihr so nah, dass nur noch wenige Zentimeter zwischen ihnen lagen. Itoes Atem stockte, als sie zu ihm aufsah und feststellte, wie schamlos er ihr in die Augen blickte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ihre Wangen glühten. Ihr gefiel es nicht, dass er diese Wirkung auf sie hatte.

„Kira, du bist zu nah...“ Sie legte ihre Hände an seine nackte Brust und drückte dagegen, um Distanz zwischen sich und ihn zu bringen. Vergebens. Kira stand wie ein Fels in der Brandung und rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle.

 

Bevor Kira ins Badezimmer kam, hatte er vollkommen vergessen, dass er eine neue Mitbewohnerin hatte. Wenn man schon so lange alleine lebte, musste man sich erst einmal an die Veränderung gewöhnen. Er war aufrichtig überrascht, Itoe im Badezimmer anzutreffen, noch dazu völlig nackt. Aber... dieser Anblick. Schade, dass sie sich so schnell in das Handtuch gehüllt hatte.

Sein erster Gedanke war das Badezimmer zu verlassen, wie es sich gehörte, doch dann entschied er sich kurzerhand dagegen. Warum sollte er den Gentleman spielen? War doch egal, was sie von ihm hielt. Kira hatte von Anfang an keine Chance bei ihr. Also wozu sich erneut abmühen?

Kiras Blick suchte den ihren. Er hatte das Verlangen sie zu ärgern, sie verlegen machen. Und das schien ihm ganz gut zu gelingen. Ihre geröteten Wangen und ihr nervöser Blick waren Beweis genug. Aber das war nicht der einzige Grund, wenn er es recht bedachte. Sie hatte bei ihrem letzten Streit gemeint, dass es nichts zwischen ihnen gäbe, dass alle Gefühle nicht echt wären. Trotzdem hatte es sie verletzt, als sie von ihm und Makoto erfuhr. Sie musste also etwas für ihn empfinden, selbst wenn es nur Gefühle für seinen Bruder waren, die sie auf ihn projizierte. Kira wollte ihr irgendeine Reaktion entlocken, die ihm zeigte, dass er ihr doch nicht gleichgültig war, wie sie behauptete. Dass sie nicht schreiend davon lief, war ein gutes Zeichen.

Ihre Finger auf seiner nackten Haut lösten bei ihm Gänsehaut aus. Das hätte sie nicht machen dürfen. Wenn sie wüsste, dass seine Selbstbeherrschung an einem seidenen Faden hing.

Er beugte sich zu ihr hinab, als wollte er sie küssen. Doch bevor sich sein Deckvermögen gänzlich von ihm verabschieden konnte, legte Itoe ihre Finger auf seine Lippen.

„Nicht“, flüsterte sie und sah ihn beinahe flehend an.

Sein Verstand meldete sich zurück. Beinahe hätte er eine Grenze überschritten. Wenn er sie geküsst hätte, dann hätte er vermutlich vollkommen die Kontrolle verloren. Ein Kuss führte zum nächsten und der nächste zum Sex. Die Tatsache, dass sie halbnackt vor ihm stand, machte diese Situation auch nicht leichter.

Kira war froh darüber, dass er sich rechtzeitig besinnen konnte. Er löste sich von ihr, griff nach seiner Zahnbürste und putzte sich die Zähne, als wäre nichts gewesen.

 

Itoe stand mit pochendem Herzen da. Er hätte sie geküsst, da war sie sich ganz sicher. Hätte sie ihn nicht aufgehalten. Doch das war gar nicht mal das größte Übel. Beinahe hätte sie den Kuss zugelassen. Tief im Inneren hatte sie sogar gehofft, er würde es tun. Dieses Herzklopfen. Warum hatte sie bloß immer dieses verdammte Herzklopfen, wenn er in ihrer Nähe war... Es war falsch.

Itoes Blick folgte ihm. Sie verstand ihn nicht. Es war doch aus zwischen ihnen. Warum tat er dann so etwas? Sie wüsste zu gern, was in seinem Kopf vorging.

Ohne ihn nach seinen Absichten zu fragen, verließ sie hektisch das Badezimmer mit ihren frischen Klamotten in der Hand und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Diesmal schloss sie die Tür ab. Itoe wollte den Geruch nach Männerduschgel loswerden und suchte ihre Bodylotion, mit der sie sich ruckzuck eincremte. Dann schlüpfte sie in ihre Jeans und ein weites T-Shirt, band sich das feuchte Haar zu einem Dutt und öffnete wieder die Tür.

Fast wäre sie in Kira hineingelaufen. Er stand im Türrahmen und schien geduldig darauf zu warten, bis sie ihn hereinließ. Itoe warf einen flüchtigen Blick über seinen Körper und wandte dann verlegen ihren Blick ab. Sein Anblick machte sie ganz kirre. Konnte er sich denn nicht endlich etwas anziehen?! Was lief er auch nur in einer Boxershorts herum...

Itoe hatte noch nie mit einem Mann zusammengelebt. Als Miro noch am Leben war, war sie oft bei ihm zu Besuch und blieb über Nacht, aber sie war nie bei ihm eingezogen. Sie hatte Miro ebenso nie in einer Boxershorts und schon gar nicht ohne gesehen. Zwischen ihnen war es nie zu mehr als Küssen gekommen. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte. Aber er hatte stets gemeint, sie sollten sich Zeit lassen. Was Itoe mittlerweile nicht nachvollziehen konnte, angesichts seiner zahlreichen Frauen. Itoe hatte es damals auf seine Krankheit geschoben und ihm die Zeit gegeben, die er brauchte. Aber jetzt musste sie sich zwangsläufig die Frage stellen, warum er nicht mit ihr geschlafen hatte. Itoe merkte, wie ihre Gedanken eine falsche Richtung annahmen, während sie immer noch vor dem halbnackten Kira stand.

„Willst du mir nicht endlich sagen, was mit deiner Hand passiert ist?“, fragte Kira unvermittelt und riss sie jäh aus ihren Gedanken.

Itoe war gezwungen ihn anzusehen. Unbewusst umfasste sie ihre verletzte Hand mit der anderen. „Ein kleiner Arbeitsunfall“, murmelte sie und gab sich größte Mühe, ehrlich zu klingen. Itoe unternahm den Versuch, an ihm vorbei zu treten, doch Kira ließ sie nicht durch.

„Ach ja? Wie ist es denn genau passiert?“, hakte Kira nach.

Itoe suchte nach einer plausiblen Erklärung, aber sein dominantes Auftreten machte sie nervös, um einen klaren Gedanken zu fassen.

 

Kira ahnte, dass sie ihn anlog, aber bevor er ihr etwas unterstellte, fragte er vorsichtshalber nach. Vielleicht war das wirklich ein Arbeitsunfall. Aber da sie ihm nicht auf Anhieb sagen konnte, wie genau es passierte, konnte er das getrost ausschließen.

„Ich warte“, drängte Kira.

Itoe nahm eine abwehrende Haltung ein.

„Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen“, verteidigte sie sich, versuchte entschlossen zu klingen.

Kira formte seine Augen zu Schlitzen, da sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Es ging ihn einerseits wirklich nichts an, aber andererseits fühlte er sich dazu verpflichtet, sie zu beschützen.

„Ich denke schon, dass du das musst. Du bist meine Frau, schon vergessen?“ Kira spielte liebend gern diese Karte aus, wenn es zu seinem Vorteil war. Mit einem Schritt stand er direkt bei ihr. Er ergriff ihr Handgelenk und führte ihr die verletzte Hand noch einmal vor Augen. „Warum willst du mir nicht die Wahrheit sagen?“ Er suchte in ihren Augen nach irgendeinem Anzeichen für eine Erklärung, aber Itoe sah ihn nur trotzig an. Sie würde wohl nicht bereitwillig kooperieren.

Als Kira sich ihre Hand noch einmal ansah, fiel ihm etwas anderes auf. Er fragte sich, warum ihm das nicht schon gestern aufgefallen war. Ihr Ehering fehlte. Miros Ring. Sie zog ihn sonst nie aus, außer wenn sie im Restaurant arbeitete.

Kira ließ ihre Hand los. „Wie du willst“, sagte er schließlich. Er würde noch dahinterkommen, aber das ließ er unerwähnt. Kaum trat er zur Seite, schlüpfte sie an ihm vorbei aus dem Zimmer.

 

Itoe verließ hastig das Schlafzimmer, sobald er ihre Hand losgelassen hatte, und ging zielstrebig in die Küche. Sie brauchte Abstand. Ganz dringend.

Für einen kurzen Augenblick, als Kira sich ihre Hand prüfend angesehen hatte, blitzte Erkennen in seinen Augen auf. Da ahnte sie, dass ihm das Fehlen des Rings aufgefallen war. Sie war jedoch ungemein erleichtert, dass er sie nicht darauf angesprochen hatte. Sie wüsste sonst nicht, ob sie die Sache mit Makoto noch länger für sich behalten konnte.

Itoe sah sich in der Küche um und musste sich kurz orientieren, bevor sie den Kaffee aufsetzte und ein kleines Frühstück zubereitete. Sie hoffte inständig, dass Kira sie nicht länger auf ihre Verletzung und schon gar nicht auf den Ring ansprechen würde.

Nach wenigen Minuten kam Kira in die Küche. Er sagte kein Wort zu ihr, nahm sich stattdessen eine Tasse Kaffee und trank ihn hastig aus.

„Warte heute Abend nicht auf mich. Kann spät werden“, meinte er zum Abschied und verließ daraufhin die Wohnung. Itoe war erleichtert, dass er gehen musste und die Diskussion somit verschoben wurde. Doch damit war das Problem nicht gelöst. Irgendwann würde er sie wieder zur Rede stellen und dann, das wusste sie, konnte sie dem Gespräch nicht entfliehen.

Katsuyas Misstrauen

Nachdem Kira früh morgens weggegangen war, frühstückte Itoe allein, räumte das Geschirr weg und nahm sich etwas Zeit, sich ein wenig in der Wohnung umzuschauen, angefangen mit seinem Wohnzimmer.

Kiras Wohnung war das genaue Gegenteil von Miros. Es gab kaum Gegenstände, die seine persönlichen Interessen widerspiegelten wie zum Beispiel Bücher, CDs oder gar DVDs. Nichts. Als würde er sich für nichts interessieren. Natürlich wusste sie es besser, denn sie hatte ihn in den wenigen Wochen, in denen sie sich noch gut verstanden haben, ein wenig kennenlernen können. Er interessierte sich genauso für all diese Dinge wie andere Menschen auch, aber nicht in solchem Ausmaß, dass seine ganze Wohnung damit voll gestellt sein musste. In diesem Zusammenhang musste Itoe sich fragen, wo Kira die ganzen Sachen von Miro untergebracht hatte. Ob er sie wegschmeißen oder doch eher verkaufen wollte? Was auch immer er plante, Itoe hoffte nur, er würde ihr rechtzeitig Bescheid sagen, denn sie würde gerne ein paar von Miros Sachen behalten. Wehmütig dachte sie an Miros gemütliche Wohnung, in der sie sich pudelwohl gefühlt hatte. Kiras Wohnung dagegen hatte eine kühle Atmosphäre. Der Wohnstil beschrieb perfekt Kiras Persönlichkeit, kühl und ernst wie seine Einrichtung. Kira zeigte selten überflüssige Regungen, jede Emotion schien kontrolliert, sodass man Schwierigkeiten hatte, seine wahren Gedanken und Gefühle zu durchschauen. Das einzige Mal, dass Itoe es tatsächlich geschafft hatte, ein paar Emotionen aus ihm herauszulocken, war in der Kennenlernphase. Doch all die Mühe schien jetzt umsonst. Er hatte sich abgekapselt und ging seinen alten Gewohnheiten nach, indem er wieder eine Maske der Kälte und Distanz aufsetzte.

Itoe ging ins Schlafzimmer und begann, die restlichen Kartons auszupacken. Sie hängte ihre Kleidung in den Schrank, verstaute die Sachen in den Schubladen und verteilte ihre Beautyprodukte im Badezimmer. Viel hatte sie nicht, deswegen reichte ihr der zugeteilte Bereich optimal aus.

Nachdem sie damit fertig war, war es bereits Mittagszeit. Sie musste bald zur Arbeit, hatte aber genügend Zeit, um das Mittagessen zuzubereiten. Wenn Kira nach Hause kam, hatte er eventuell Hunger. Da sie jetzt zusammenlebten, konnte sie nicht nur an sich denken. Sie checkte den Kühlschrank und stellte fest, dass nicht alle Zutaten für ihr gewünschtes Gericht vorrätig waren. Also ging sie einkaufen.

Sie hatte Lust auf Chicken Teriyaki. Auch Kira mochte dieses Gericht, wenn sie sich nicht irrte. Vielleicht konnte sie den alten Kira mit leckerem Essen zurückgewinnen? Sie lächelte bei dem Gedanken daran, verwarf ihn aber wieder. Dafür war viel zu viel zwischen ihnen vorgefallen. Sie schüttelte ihre naive Idee ab und konzentrierte sich auf ihre Einkaufsliste. Kira würde nie wieder so freundlich und zuvorkommend sein, dafür hatte sie ihn zu sehr verletzt. Mit ihren Worten und ihren Taten. Er würde sich ihr nie wieder so öffnen. Er würde sie nie wieder küssen... Küssen?! Was dachte sie da bloß? Unwillkürlich schoss ihr die Badezimmerszene von heute Morgen in den Sinn und trieb ihr Hitze in die Wangen. Beinahe hätte er sie geküsst. Wenn sie gezögert und ihn nicht aufgehalten hätte... Sein Verhalten war so überraschend, dass sie ihm in ihrer Panik hilflos ausgeliefert war. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er konnte sie doch nicht einfach in die Ecke drängen und mit diesem Blick ansehen!

Und dennoch...

Obwohl sie wusste, dass es nicht richtig war, obwohl sie wusste, dass das, was auch immer zwischen ihnen war, vorbei war, reagierte ihr Körper automatisch auf ihn. Sie bekam Herzrasen, die Hitze stieg ihr zu Kopf, sie wollte nichts anderes, als seine Lippen noch einmal auf ihren zu spüren. War das damals bei Miro auch so gewesen?

Halt! Dieser Vergleich ging zu weit.

Itoe bezahlte die Produkte an der Kasse und eilte nach Hause, da sie beim Einkaufen getrödelt hatte.

 

Kira musste früh am Morgen ins Büro. Im Frühling des nächsten Jahres sollte sein Projekt, das er damals mit Miro geplant hatte, losgehen, und er musste noch einige Dinge vorbereiten und klären. Der neue Club sollte mitten in Shibuya auf einem der größten Gebäude errichtet werden. Eine Zeit lang war das Projekt kurz vor dem Kippen gewesen, als Miro einfach verschwunden war. Kira hatte die ganze Sache beenden wollen, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte. Doch Kiras Freunde ermutigten ihn dazu, das langgeplante Projekt nicht einfach aufzugeben und die harte Arbeite über den Haufen zu werfen.

Nachmittags traf er sich mit Katsuya in einem Café, um einige finanzielle Angelegenheiten bezüglich seines Projekts zu besprechen. Katsuya arbeitete in der Firma seines Vaters, bei einem Finanzunternehmen, das er irgendwann übernehmen würde. Er passte perfekt in die Finanzbranche und sein wirtschaftliches Verständnis, das ihm bereits in die Wiege gelegt wurde, war von großem Vorteil.

Kira und Katsuya waren sich in vielen Dingen ähnlicher als Kira und sein Zwillingsbruder. Beide Männer trugen nach außen eine kühle, distanzierte Fassade, hinter der sich in Wirklichkeit ein weicher Kern verbarg. Obwohl Katsuya seine positiven Eigenschaften seltener zeigte als Kira. Die beiden waren auf derselben Wellenlänge und verstanden sich auch ohne viele Worte.

Sie unterhielten sich sachlich über das Projekt, bevor Katsuya unvermittelt das Thema wechselte.

„Wie läuft es mit deiner Frau?“

Kira sah augenblicklich fragend auf. Er war nicht daran gewöhnt, dass Katsuya ihn direkt auf sein Privatleben ansprach. Wenn er es recht bedachte, hatten sie nie über ihre jeweiligen Beziehungen gesprochen. Sie waren zwar gute Freunde und konnten sich jederzeit aufeinander verlassen, aber manche Dinge blieben besser ungesagt. Als hätten sie eine stillschweigende Vereinbarung getroffen, dass nicht alles ausdiskutiert werden musste.

Bevor Kira ihm eine Antwort geben konnte, fuhr Katsuya fort: „Ich habe mitbekommen, was damals im Club passiert ist. Das mit Yagami.“

Kira wusste sofort, worauf Katsuya hinauswollte. Itoe hatte Kira praktisch vor allen Augen betrogen und Katsuya wollte anscheinend sichergehen, dass sein Freund diese Frau verlassen hatte.

„Wir reden wieder miteinander“, meinte Kira und lehnte sich zurück. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber er konnte seinem Freund nicht alles erzählen.

„Seid ihr etwa immer noch zusammen?“

Kira nickte entschieden und sah gleichzeitig Erstaunen in Katsuyas Augen aufblitzen. Kira wollte seine Entscheidung nicht ausdiskutieren, obwohl er Katsuyas Verständnislosigkeit nachvollziehen konnte.

„Es ist kompliziert“, antwortete Kira, als wäre damit alles geklärt.

„Kompliziert“, wiederholte Katsuya nachdenklich und ließ das Wort auf der Zunge zergehen. „Erzähl mir nichts von kompliziert. Sie hat dich vor allen bloßgestellt und du bist noch mit ihr zusammen? Ich erkenne dich gar nicht wieder.“

Kira griff nach seinem Glas und trank einen Schluck, bevor er weitersprach. Sein Mund fühlte sich auf einmal trocken an. „Du weißt ja nicht, wieso sie es getan hat. Ich war auch nicht besser“, gestand Kira ein, „ich hatte einen Ausrutscher mit Makoto. Ich hatte sie geküsst, mehr ist nicht gelaufen. Aber Makoto hatte Itoe erzählt, wir wären im Bett.“

Katsuya spannte sich an. „Dieses Miststück“, presste er hervor, „sie ist ein ekelhaftes Weib.“

Diese Aussage überraschte Kira. Katsuya kannte Makoto genauso lange wie Kira sie kannte, aber dass ihn ihr Verhalten dermaßen aufregte, hätte er nicht gedacht.

„Na ja... es war eher meine Schuld“, erwiderte Kira. Er wollte Makoto auf keinen Fall in Schutz nehmen, aber letztendlich gehörten zum Küssen immer noch zwei, auch wenn es ihr nicht das Recht gab, Lügen über ihn zu verbreiten.

„Ich weiß auch nicht, was mit mir an dem Tag los war. Ich wollte Itoe, aber... Es hatte nicht geklappt, wie ich es mir vorgestellt habe. Dann kam Makoto... Ich habe meine Lust dummerweise auf sie übertragen.“

Nachdem Kira es ausgesprochen hatte, fiel ihm eine Last von den Schultern. Er konnte den Fehler nicht beheben, aber sich einem anderen Menschen anzuvertrauen, erleichterte sein Gewissen.

„Verteidigst du etwa Makoto?“ Katsuya verschränkte seine Arme auf dem Tisch und sah Kira direkt in die Augen. „Ich hatte dich vor Makoto gewarnt und du hast nicht auf mich gehört.“

Kira erinnerte sich daran. Das war Ewigkeiten her. Obwohl Katsuya sich in das Leben seiner Freunde selten einmischte, hatte er ihm offen seine Meinung gesagt. Diese Frau wird dich verderben, sie ist nicht gut für dich. Seine Worte. Doch so stur wie Kira war, hatte er nicht auf seinen Freund gehört. Die Beziehung mit Makoto dauerte für seine Verhältnisse lange, sie hatte ihre Hoch- und Tiefpunkte. Besonders Tiefpunkte. Makotos besitzergreifende Ader hatte ihn erdrückt. Doch sie hatte ihm auch in schwierigen Augenblicken seines Lebens beigestanden und lange Zeit dachte er, er würde ohne sie nicht überleben. Bis ihm endlich klar wurde, dass sie ihn eher zerstörte als ihn heilte. Letztendlich hatte Katsuya Recht.

„Ich weiß. Aber warum fängst du wieder davon an? Weil ich diesen Ausrutscher hatte? - Das wird nicht mehr passieren.“

Katsuyas Mund war zu einem geraden, strengen Strich gezogen, doch seine Augen erzählten eine andere Geschichte. Als würde er mit sich ringen, als würde ihm noch etwas auf der Seele brennen. Dann verschwand dieses Feuer darin, als hätte es nie existiert.

„Warum bist du mit Itoe zusammen? - Sei ehrlich. Hochzeit? Das war doch noch nie dein Ding. Erpresst sie dich?“

Kiras Mundwinkel zuckten, als würde ein Lächeln nach außen dringen wollen. Als könnte dieses Ding ihn erpressen. Sie konnte nicht mal einer Fliege was zu Leide tun. Die Frage amüsierte ihn, doch er bekam das Gefühl nicht los, dass Katsuya eigentlich etwas anderes sagen wollte.

„Was? Dein Ernst?“

Katsuya antwortete nicht. Es war sein bitterer Ernst.

„Du gehst auch immer vom Schlimmsten aus, Katsuya. Du misstraust einfach jedem.“

„Nur Frauen“, meinte er trocken.

Katsuya hatte tatsächlich Vertrauensprobleme. Seit seine Mutter vor Jahren seinen Vater wegen eines anderen Mannes verlassen hatte, war Katsuya gegenüber dem anderen Geschlecht äußert misstrauisch. Manchmal war das von Vorteil. Doch in der Regel hatte er Probleme sich an irgendeine Frau zu binden, ihr zu vertrauen. Er hatte eher flüchtige Bekanntschaften, anstelle von ernsten Beziehungen.

Kira sah flüchtig auf die Uhr. „Ich muss los. Wir reden ein anderes Mal weiter.“

Katsuya nahm das nickend zur Kenntnis. Falls es ihm nicht passte, dass Kira gehen wollte, ließ er es sich nicht anmerken.

Um ehrlich zu sein, wollte Kira dieser Unterhaltung einfach entfliehen. Wenn sie das nächste Mal das Gespräch fortsetzten, würde er Katsuya vielleicht die Wahrheit sagen müssen. Sein Freund war nicht dumm. Keiner von seinen Freunden war das. Sie kannten ihn zu gut, um dieser unerwarteten Heirat nicht misstrauisch gegenüber zu stehen.

Während er die Straße zu seinem Büro überquerte, keimte der Gedanke in ihm auf, dass jeder seine Geheimnisse hatte. Das komische Gefühl von vorhin verfolgte ihn. Als sie das Thema Makoto angeschnitten hatten, hatte Katsuya so seltsam reagiert. Kira war sich sicher, dass Katsuya etwas vor ihm verbargt. Er hatte ihm etwas sagen wollen, sich jedoch im letzten Moment umentschieden.

 

Als Kira spätabends nach Hause kam, war Itoe noch nicht da. Er nahm an, dass sie um diese Uhrzeit noch im Restaurant arbeitete. Er zog seine Jacke und Schuhe aus, bevor er in die Küche trat und sich eine Tasse Tee machte. Draußen war es eiskalt, sodass er sich ganz schnell aufwärmen wollte.

Er entdeckte auf dem Kühlschrank einen Zettel.

Ich hoffe du hast Hunger. Im Kühlschrank steht essen.

Kira warf einen Blick hinein und entdeckte sein Lieblingsgericht. Er kam nicht umhin, daran zu schnuppern. Es roch fantastisch. Leider hatte er keinen Hunger, da er bereits gegessen hatte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie für ihn kochen würde. Er stellte die Dose mit dem Chicken Teriyaki zurück, nahm seinen Tee und machte es sich auf dem Sofa bequem.

Wenig später klingelte es an der Tür. Wer konnte das um diese Uhrzeit sein? Kira hoffte, dass es nicht Makoto war. Er öffnete die Tür und sah Itoe vor sich stehen, die ihn entschuldigend ansah.

„Tut mir leid, dass ich geklingelt habe. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Aber... ich hatte vergessen, dich nach einem Schlüssel für mich zu fragen.“

Kira ließ sie eintreten und suchte sogleich einen Zweitschlüssel. Er hatte heute morgen irgendwie gar nicht daran gedacht, ihr einen zu geben.

„Hier.“ Er reichte ihr den Schlüssel, als er ihn gefunden hatte.

„Danke.“

Kira kam nicht umhin, sie zu betrachten. Wie sie ihre Jacke auszog, ihre Mütze und den Schal auf der Kommode ablegte. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, ihr Haar war ein wenig zerzaust. Selbst in diesem schlabbrigen Pulli, den sie anhatte, sah sie immer noch hinreißend aus. Kira musste unwillkürlich an seinen heißen Traum, mit ihr als Protagonistin, denken. Warum konnte die Realität nicht genau so sein?

„Wie war dein...“, setzte sie grade an, da wandte er sich bereits ab, und ließ sie im Flur alleine stehen. Es war unhöflich von ihm, mitten in ihrer Frage zu gehen, aber sollte er sie wie ein wildes Tier anfallen? In diesem Moment empfand er seine Entscheidung, sie bei sich wohnen zu lassen, als einen dummen, sehr dummen Fehler. Seine Selbstbeherrschung wurde auf eine harte Probe gestellt. Wie sollte er das überstehen? Wie gegen sein Verlangen ankämpfen? Das erschien ihm praktisch unmöglich. Am besten sollte er ab jetzt auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Denn wenn er daran dachte, wieder in einem Bett mit ihr zu liegen, wurde ihm erneut ganz heiß. Und der Teufel auf seiner Schulter flüsterte ihm unanständige Dinge zu, die er mit ihr anstellen sollte...

Kira hörte leise Schritte hinter sich, die ihm bald darauf ins Schlafzimmer folgten, und er spannte sich unbewusst an.

„Hast du etwas gegessen?“, fragte sie ihn, während sie nach irgendetwas in der Schublade suchte.

„Ja, aber nicht das, was du gekocht hast.“ Das klang gemein, anders, als er es beabsichtigt hatte.

„Oh. Okay... Soll ich morgen etwas anderes kochen? Ich dachte, du magst das.“

Kiras Herz setzte einen Augenblick aus. Sie hatte sich sein Lieblingsgericht gemerkt.

Ihre Erwartung auf eine positive Antwort schlug Kira mit seinen nächsten Worten zur Nichte.

„Du brauchst nichts für mich zu kochen.“

Itoe sah ihn mit ihren großen, braunen Augen an und nickte leicht. War sie enttäuscht? Sie schien gefunden zu haben, wonach sie suchte, denn jetzt stand sie mit ihren Schlafsachen in der Hand vor ihm. Dann wandte sie sich ab und verschwand im Badezimmer, um sich umzuziehen.

Kira seufzte leise, schlüpfte aus seinen Sachen und stieg ins Bett. Irgendwie kam nur gemeines Zeug aus seinem Mund. Aber das war gut so. Sie sollte ihn ruhig für einen miesen Kerl halten. So wäre es für beide leichter, keine Dummheiten zu begehen.

Als Itoe wieder ins Zimmer trat, wanderte sein Blick verstohlen zu ihr. Sie hatte eine kurze Shorts und ein enges, weißes Top an. Ob sie darunter Unterwäsche trug? Kiras Blick wanderte über ihren schlanken Körper und verharrte auf ihrer Brust. Ganz leicht zeichnete sich ihr BH durch den dünnen Stoff ab. Kira schloss die Augen, atmete tief durch. Er fühlte sich wie ein Spanner... Was war nur los mit ihm? Er spürte ein leichtes Pochen in der südlichen Region seines Körpers. Na prima...

Wollte er nicht eigentlich auf dem Sofa schlafen?

Immer noch mit geschlossenen Augen liegend spürte er, wie sie zu ihm ins Bett stieg und damit auch der Duft nach Erdbeer-Vanille. Kira öffnete langsam seine Augen und traf die ihren, die direkt auf ihn gerichtet waren. Überrascht darüber, dass sie ihn so offen ansah, wurde ihm noch heißer. Er hatte noch nie zuvor mit einer Frau einfach im Bett gelegen, ohne irgendeinen Versuch zu unternehmen, mit ihr zu schlafen. Natürlich konnte er diese Situation nicht schamlos ausnutzen, egal, wie sehr er sie wollte. Ihre Blicke waren einen unendlich langen Augenblick aufeinander gerichtet, bis Itoe verlegen zur Seite sah, als hätte sie seine unanständigen Gedanken erraten. Kira nutzte diese Gelegenheit, um sich auf die andere Seite zu drehen, wieder mit dem Rücken zu ihr. Er wusste schon jetzt, dass es eine schlaflose Nacht werden würde.

Lass mich dich beschützen

Die nächsten Tage versuchten sich beide an das Zusammenleben zu gewöhnen. Doch es stellte sich bald heraus, dass sie nicht zusammen sondern aneinander vorbei lebten. Jeder für sich, wie zwei fremde Mitbewohner.

Kira war mit seiner Arbeit in den Clubs beschäftigt, während Itoe schichtweise im Restaurant arbeitete. Sie sahen sich meistens nur morgens, wenn sie aufwachten, und abends, wenn sie schlafen gingen. Dadurch dass sie sich kaum zu Gesicht bekamen, konnten sich beide wenigstens von ihren Gefühlen ablenken. Doch jedes Mal, wenn sie sich sahen, fing die Folter von vorne an.

 

Kira hatte Itoe nicht mehr auf die Handverletzung angesprochen, denn er war davon überzeugt, dass sie ihn weiterhin anlügen würde. Doch so wollte er das nicht stehen lassen. Ihre Verletzung war fast verheilt, aber er war mit seinen Nachforschungen immer noch nicht weitergekommen. Er hatte sich bereits an Ren gewandt und ihn ausgefragt, ob er nicht etwas über den Vorfall wusste. Er konnte sich gut vorstellen, dass Itoe sich seinem Freund anvertraute. Bedauerlicherweise konnte ihm Ren auch nicht weiterhelfen, aber er versprach, Kira zu benachrichtigen, falls er etwas erfuhr.

Es war frustrierend. Miro hatte ihm Itoe anvertraut, damit er auf sie Acht gab, sie beschützte. Seine Aufgabe war es, für sie zu sorgen, für sie da zu sein. Doch er hatte auf ganzer Linie versagt. Alles, was er tat, war falsch: Es hatte damit angefangen, dass er für sie Gefühle entwickelt hatte, für die Frau seines Bruders wohlgemerkt; er behandelte sie nicht angemessen, war unfreundlich und würdigte nicht ihre Versuche, sich bei ihm zu entschuldigen. Seine distanzierte Haltung hatte gewisse Gründe, aber es war trotzdem nicht fair. Er hätte sie wenigstens beschützen müssen, doch selbst das hatte er nicht geschafft.

 

Eines Abends war Kira mit Ren in Matsumi zum Essen verabredet. Kira wählte nur deswegen dieses Restaurant aus, weil Itoe an diesem Tag frei hatte, sonst hätte er garantiert ein anderes Lokal für das Treffen ausgesucht. Davon abgesehen war das die perfekte Gelegenheit etwas über Itoes Verletzung in Erfahrung zu bringen. Schließlich hatte sie gemeint, es handelte sich um einen Arbeitsunfall. Wenn Kira Glück hatte, würden einer der Angestellten aus dem Nähkästchen plaudern, und wenn das nichts brachte, würde er sich direkt an den Chef wenden.

Nachdem ihre Speisen serviert wurden und sie mit dem Essen längst angefangen hatten, bekam Kira zufällig ein paar Gesprächsfetzen vom Tisch nebenan mit. Die beiden älteren Frauen unterhielten sich auch laut genug, um weghören zu können.

„...grausam, wirklich“, sagte die eine Frau bedauernswert, „und keiner hat etwas unternommen.“

„Und das ist wirklich hier passiert?“, fragte die andere nach, „ich hatte so etwas Schreckliches nicht von so einem angesehenen Restaurant erwartet.“

„Ja, doch. Nanami hat es mir vor ein paar Tagen erzählt. Sie war an jenem Tag hier gewesen und hat es mit eigenen Augen gesehen!“

„Das arme Mädchen. Arbeitet sie heute hier?“

„Ich glaube nicht. Zumindest habe sie heute noch nicht gesehen. Ich an ihrer Stelle hätte hier längst gekündigt. Wenn man mir als Personal nicht einmal zur Hilfe kommt, würde ich keinen Fuß mehr in diesen Laden setzen!“

Kira wechselte einen Blick mit Ren, der genauso erstaunt drein blickte wie er.

„Entschuldigen Sie“, meinte Ren an die älteren Damen gewandt und lächelte charmant. „Wir haben zufällig ihr Gespräch mitbekommen. Was genau ist hier denn passiert?“

Bei einem anderen hätte die neugierige Frage sicher aufdringlich gewirkt, nicht aber bei Ren.

„Nun ja“, fing diejenige an, die die Geschichte bereits ihrer Freundin erzählt hatte, „vor einigen Tagen wurde hier eine Kellnerin sehr schlimm von einem der Gäste behandelt. Ich weiß auch nicht genau, was passiert ist. Mir wurde das auch nur erzählt. Aber es soll ziemlich heftig gewesen sein.“

Kira spannte sich merklich an. War es denn möglich, dass Itoe diese eine Kellnerin war, von der die Frauen sprachen? Aber wer sollte so grausam zu ihr sein? Und warum? Was könnte Itoe jemandem getan haben, um so behandelt zu werden? Das falsche Gericht servieren?

Kira bekam keinen Bissen mehr runter. Wenn das wirklich Itoe war und keiner ihr zur Hilfe gekommen war... Eine tiefe Wut setzte sich in seiner Magengegend an.

Wer auch immer es ihr angetan hatte, Kira würde es herausfinden, und dann Gnade ihm Gott.

 

Als Kira nach dem Treffen mit Ren seine Wohnung betrat, brannte noch Licht im Wohnzimmer.

Itoe saß auf dem Sofa und sah sich irgendeine Sendung im Fernsehen an. Kira lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen und beobachtete sie. Das alles wäre so viel einfacher, wenn er sie durch Zufall in einem seiner Clubs kennengelernt hätte. Er hätte sie mit nach Hause genommen, ohne ein schlechtes Gewissen gegenüber seinem Bruder zu haben. Wahrscheinlich hätte er sie dann am nächsten Tag wieder fortgeschickt oder aber auch nicht... Sie schien nicht eines dieser Mädchen zu sein, die man am ersten Abend abschleppen konnte. Um sie musste man sich bemühen.

Itoe bemerkte seine Anwesenheit, drehte ihren Kopf in seine Richtung und lächelte. Ihr Lächeln war warm und freundlich. Es fiel Kira schwer, nicht darauf zu reagieren.

„Ich habe dich gar nicht hereinkommen gehört“, meinte sie, „wie war das Essen mit Ren?“

Diese Information hatte sie selbstverständlich nicht von ihm erhalten sondern von Ren, ihrem mittlerweile besten Freund. Kira musste gestehen, dass er etwas eifersüchtig auf ihre Freundschaft war. Vor nicht allzu langer Zeit war er derjenige gewesen, mit dem Itoe über vieles reden und dem sie sich anvertrauen konnte. Aber dass dieses kurze Band zwischen ihnen gerissen war, daran war er zum Teil selbst Schuld.

„Hat er dir das denn noch nicht erzählt?“, erwiderte Kira trocken, „kannst ihn ja fragen, wie es war.“

Itoes Lächeln verblasste. Sie schien ihre Frage sofort zu bereuen. Sie wandte ihren Blick ab und fixierte wieder den Fernseher. Gerade als er dachte, sie würde nichts mehr sagen, hörte er sie etwas murmeln.

„Was?“, fragte Kira nach.

„Ich sagte nur, warum du so zu mir bist... Ich versuche mich bei dir die ganze Zeit irgendwie zu entschuldigen, aber...“

„Aber was? Willst du etwa, dass wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben?“

Itoe schüttelte heftig den Kopf und sah vorsichtig zu ihm. Dabei sah sie wieder wie ein kleiner, unschuldiger Welpe aus.

„Nein, natürlich nicht. Aber ich möchte, dass wir wenigstens normal miteinander umgehen. Wir wohnen schließlich zusammen und da sollten wir doch versuchen, das beste daraus zu machen. - Ich weiß, ich habe dich verletzt, aber... wir haben beide Fehler gemacht, Kira.“

Kira schnaubte. Das mochte zwar sein, aber er hatte diese Beziehung, oder was auch immer zwischen ihnen war, nicht verleugnet. Das hatte sie getan. Sie hatte gesagt, dass nichts zwischen ihnen echt sei und dass Miro ihr lieber wäre. Wenn er ehrlich war, dann konnte er sie ein wenig verstehen, Miro war schließlich ihre große Liebe gewesen und er, ja, was war er? Ein Ersatz? Ein Lückenbüßer?

„Nein, ich habe einen Fehler gemacht, als ich mich auf diese ganze Sache eingelassen habe. Aber Miro ist mein Bruder und ich werde mich um dich kümmern, so wie er es wollte. Aber erwarte nicht von mir, dass ich alles vergesse.“

Seine Stimme hörte sich schärfer an, als er es beabsichtigt hatte. Aber er war so wütend auf sie - und auf sich. Aber vor allem auf seinen Bruder, der ihm das alles erst eingebrockt hatte.

„Das verlange ich doch gar nicht. Aber vielleicht... vielleicht könnten wir versuchen Freunde zu sein?“

Dieser Vorschlag warf Kira völlig aus der Bahn. Freunde? Ernsthaft? Nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war... darauf konnte man doch keine Freundschaft aufbauen.

„Weißt du, ich glaube dir nicht...“, meinte er nur und Itoe hob verständnislos die Augenbrauen. Ohne es näher zu erläutern, trat Kira ans Sofa und ging vor ihr in die Hocke. Er war ihr näher, als gut für ihn war.

„W-was meinst du damit?“, brachte sie stockend hervor.

Kira musterte sie eine ganze Weile, bevor er zur Antwort ansetzte.

„Ich glaube dir nicht, dass du nichts für mich empfindest.“

Itoe weitete verblüfft die Augen. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie mit sich rang.

„Kira...“

„Was? Willst du mir etwa sagen, dass du nichts fühlst, wenn du in meiner Nähe bist?“ Er ergriff ihre Hand und legte sie an seine Brust, dahin, wo sein Herz schlug. „Schlägt deines nicht genauso schnell, wenn wir zusammen sind?“

Kira sah den rosigen Schimmer auf ihren Wangen und spürte ihren Puls rasen, als er mit dem Daumen über ihr Handgelenk fuhr. Offensichtlich schien ihr seine Nähe unter die Haut zu gehen, genauso wie ihm.

Einen Moment lang sahen sie sich tief in die Augen. Er hatte ihr schon damals nicht geglaubt, dass sie nichts für ihn empfand. Ihre Worte hatte ihn zwar verletzt, aber er hatte sie nicht für bare Münze genommen.

„Vielleicht bin ich ja nur ein Ersatz für meinen Bruder, aber irgendetwas empfindest du doch für mich.“

 

Itoe war unfähig etwas zu sagen. Ihr Herz schlug mit einem Mal schneller, kaum hatte er ihre Hand an seinen Oberkörper gelegt. Kiras Worte trafen mitten ins Herz. Sie fühlte sich tatsächlich zu ihm hingezogen. Mehr, als sie sollte. Vielleicht war das zu Anfang tatsächlich nur deswegen, weil er Miros Zwilling war, weil er in gewisser Weise ein Ersatz für sie war, aber mittlerweile... Itoe dachte ihren Gedanken nicht zu Ende, sondern biss sich unsicher auf die Unterlippe. Es wäre nicht richtig, es ihm zu sagen.

„Selbst wenn es so wäre. Wir dürfen nicht. Du bist Miros Bruder und ich... ich bin in gewisser Weise seine Frau, Kira, nicht deine“, murmelte sie vorsichtig, „außerdem... was empfindest du schon für mich? Ich glaube nicht viel, wenn du mit Makoto geschlafen hast.“

Dieser Betrug hatte sie so sehr verletzt, dass sie sich sogar auf sein Niveau herunter gelassen hatte. Sie hatte Yagami geküsst und das nicht nur vor irgendwelchen fremden Leuten, sondern vor Kira und seinen Freunden. Sie schämte sich immer noch dafür.

Kira ließ ihre Hand los und erhob sich langsam. „Ich habe nicht mit Makoto geschlafen“, sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit. Itoe musste diese Nachricht erst einmal verarbeiten. „Ich habe sie geküsst, ja. Aber nicht mehr. - Und das hab ich nur getan, weil ich dich nicht haben konnte.“ Sein Blick löste Gänsehaut bei ihr aus. „Das ist keine Entschuldigung, ich weiß. Aber ich habe nie gesagt, dass das, was zwischen uns ist, nicht echt sei. Nie.“

Sein Blick war vorwurfsvoll. Itoe verspürte plötzliches Bedauern, als er Abstand nahm. Sie wollte nach ihm greifen, ihn zu sich ziehen und ihm sagen, dass ihre Worte ein großer Fehler gewesen waren und dass das Gegenteil der Fall war. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen und konnte nichts gegen dieses Gefühl unternehmen. Auch wenn es nicht richtig war, es zerrte an ihr. Sollte sie diese Gefühle zulassen?

Bevor sie sich entscheiden konnte, wie sie als nächstes vorgehen sollte, wechselte Kira unvermittelt das Thema. „Ich habe herausgefunden, was mit deiner Hand passiert ist. - Arbeitsunfall also, hm? Willst du mir nicht endlich verraten, wer dieser Gast war und warum er deine Hand so zugerichtet hat?“

Itoe spannte sich plötzlich an. Wo kam denn das auf einmal her? Woher wusste er das? Sie hatte geglaubt, er hätte den Vorfall ruhen lassen. „Woher weißt du...?“, hauchte sie kaum hörbar. Sie hatte Ren nichts davon erzählt, auch wenn er sie ebenfalls öfters darauf angesprochen hatte. Niemand wusste es, außer den Beteiligten und den anwesenden Gästen.

„Ich war in Matsumi und habe dort ein interessantes Gespräch mitgehört. Außerdem habe ich mit einer deiner Kolleginnen gesprochen. Wie heißt sie doch gleich? Nari?“

Itoe konnte es nicht fassen, dass er ihr nachspionierte. Warum beließ er es nicht dabei, wenn sie nicht darüber sprechen wollte? Aber andererseits wollte er ihr ja nur helfen.

„Warum hast du das getan?“, fragte Itoe und legte ihre Arme um sich, als würde sie frieren. Sie wollte nicht, dass er davon erfuhr. Er sollte nicht wissen, dass Makoto sie so zugerichtet hatte. Aber nicht, weil sie diese grausame Person beschützen wollte....

Diese Frage schien Kira wütend zu machen, denn ein dunkler Schatten legte sich über sein makelloses Gesicht.

„Sag mal, hältst du mich für ein Monster? Habe ich nicht grade gesagt, ich werde mich um dich kümmern? Du machst es mir echt nicht leicht, auf dich aufzupassen. - Sag mir jetzt endlich, wer es getan hat!“, forderte er diesmal, doch Itoe blieb stumm. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, um ihm alles zu erzählen, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Sie war daran gewöhnt, ihre Probleme selbst zu lösen und sie wollte nicht, dass er sie für schwach hielt. Schließlich hatte sie sich sogar Miros Ring abnehmen lassen. Und selbst wenn sie ihm erzählte, dass es Makoto war, würde er ihr überhaupt glauben?

„Lass es, Kira. Ich kümmere mich selbst darum.“

Ohne jede Vorwarnung ergriff er ihre verletzte Hand und zog sie somit vom Sofa auf.

„Ich hab gesehen, wie du dich darum gekümmert hast! Sag mir jetzt endlich, wer es war!“, schrie er sie an und Itoe zuckte vor Schreck zusammen. Sie hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Sein eiserner Griff umschloss fest ihr Handgelenk. Sie waren fast auf Augenhöhe, da Itoe von ihm hochgezogen wurde. Sie war ihm so nah, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte.

Itoe fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und sie nichts dagegen tun konnte. Sie hasste sich dafür. Zu weinen, Schwäche zu zeigen... Das tat sie höchstens, wenn sie betrunken war. Doch in diesem Augenblick lagen ihre Nerven blank.

Kiras Blick huschte irritiert über ihr Gesicht und er schien für einen Augenblick unsicher zu sein, ob seine Methode, die Sache aufzuklären, richtig war, denn langsam lockerte sich sein Griff.

„Ich möchte dich doch nur beschützen“, murmelte er ruhiger und strich zärtlich über ihre Wange, „lass mich dich einfach beschützen.“

Eislaufen für Anfänger

Der Herbst hatte sich endgültig verabschiedet und dem Winter den Einzug gewährt. Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger – und das letzte, aufrichtige Gespräch rückte in weite Ferne.

Seit ihrer letzten Unterhaltung waren die beiden nicht wirklich weitergekommen. Die eisige Kälte, die lange zwischen ihnen herrschte, hatte sich zwar gelegt, doch keiner von ihnen konnte auf einmal so tun, als wäre alles normal. Denn das war es nicht. Sie waren weiterhin Gefangene dieser unfreiwilligen Ehe und hatten Schwierigkeiten, sich darin zurecht zu finden.

Kiras Geständnis, er habe Gefühle für sie, hatte Itoe dazu veranlasst, ihre Einstellung über ihre Beziehung zu überdenken. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre Gefühle für Kira verleugnet, aber er hatte sie durchschaut und ihr diese Tatsache vor Augen geführt. Dennoch konnte sie sich nicht kopflos in seine Arme stürzen. Wäre das nicht in gewisser Weise ein Verrat an Miro? Für Reue war es ein wenig zu spät, das wusste sie, da sie Kira bereits geküsst hatte. Das war Monate her, aber eine unumstößliche Tatsache. Trotzdem... Wenn sie ihren Gefühlen für Kira so schnell nachginge, würde sie keinen Respekt vor sich selbst haben. Sie brauchte Zeit, und es war genau das, was Kira ihr gab.

 

Seit ihrem letzten Gespräch versuchte Kira sie dazu zu bringen, ihren Arbeitsplatz zu wechseln. Da Itoe seiner Forderung nicht nachgehen wollte, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, sie jeden Abend von der Arbeit abzuholen. Wenn Kira wegen seiner eigenen Arbeit verhindert war, übernahm Ren diese Aufgabe für ihn. Beide Männer waren der Ansicht, dass sie nicht alleine spätabends unterwegs sein sollte. Itoe war damit einverstanden. Ein Protest wäre verlorene Liebesmüh. Kira wollte sie auf diese Weise vor unerwünschten Zwischenfällen bewahren. Vielleicht hoffte er sogar, dass sich Itoes Peiniger irgendwann erneut zeigte. Doch Itoe bezweifelte stark, dass Makoto sich in dem Restaurant je wieder blicken lassen würde.

Kira hatte es aufgegeben, sie nach ihrer Verletzung zu fragen und Itoe hatte sich mit dem Gedanken abgefunden, dass sie ihren Ring nie wiederbekommen würde. Letztendlich war das nur ein Gegenstand, ihre Erinnerung hingegen würde ihr niemand wegnehmen.

 

An einem kalten Dezemberabend trat dann das Unvorhersehbare ein: Keiner der beiden, nicht Ren und auch nicht Kira, konnte sie von der Arbeit abholen. Stattdessen hatte Kira einen anderen Freund gebeten einzuspringen: Katsuya.

Bereits beim Lesen von Kiras SMS wurde Itoe ganz unbehaglich zumute. Alleine mit Katsuya? Das würden ihre Nerven nicht aushalten. Das letzte Mal war sie mit ihm alleine im Restaurant, als er sie vor den Toilettenräume verhört hatte. Ihr Magen zog sich schmerzvoll zusammen bei dem Gedanken daran.

Dies war das erste Mal, dass Itoe ihren Feierabend nicht herbeisehnte. Als ihre Schicht um 22 Uhr endete, zog sie sich um und trat in die Kälte. Der eisige Wind kam ihr entgegen und sie zog sich ihre Mütze mehr über die Ohren. Man hatte das Gefühl, es wurde jeden Tag kälter.

Itoe schaute sich nach ihrem unerwünschten Begleiter um, doch Katsuya war nirgends zu sehen.

Trotz der Kälte war noch kein Schnee gefallen. Zu schade. Itoe mochte den Winter. Es war ihre Lieblingsjahreszeit. Die beißende Kälte machte ihr nichts aus. Ganz im Gegenteil. Sie liebte die frische Luft, den kühlen Wind, den Schnee. Als Kind hatte sie gerne im Schnee gespielt. Mit ihren Eltern war sie oft im Park, um Schlitten zu fahren. Die Winterzeit war die schönste Zeit und löste bei ihr glückliche Erinnerungen aus. Erinnerungen an eine besinnliche Zeit mit der Familie. Plötzlich hatte Itoe das Gefühl, Plätzchen zu riechen. Ihre Mutter hatte immer die besten Weihnachtsplätzchen gebacken. Die Sehnsucht nach ihrem Kindheitsort, nach ihrem Zuhause wurde schier unerträglich.

Mama...

Sie musste ihre Eltern auf jeden Fall am Neujahrstag besuchen.

Itoe vergrub ihre Hände tief in den Taschen. Für einen Moment hoffte sie, Katsuya würde nicht auftauchen, doch kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, sah sie ihn um die Ecke kommen.

„Sorry, Kira hatte mir kurzfristig geschrieben“, entschuldigte er sich für seine Verspätung.

Itoe winkte ab und versuchte unbekümmert zu lächeln. „Nicht so schlimm.“

Katsuya nahm das nickend zur Kenntnis und sie machten sich auf den Weg nach Hause.

Es war nicht einfach, ihn zu mögen. Katsuya war sicherlich kein schlechter Mensch, aber er war noch abweisender und kühler als Kira. Besonders seine Abneigung gegen sie ließ er Itoe ständig spüren, sobald sie aufeinander trafen.

Itoe schluckte ihr Unbehagen herunter und hing weiter ihren Gedanken nach. Die Freundschaft mit Ren war das einfachste in ihrem Leben. Sie war unbeschwert und leicht, wie eine warme Sommerbrise. Er hatte sie sofort in ihre kleine Gruppe integriert und mit der Zeit wurde er sogar zu einem guten Freund. Mit Jiro hatte Itoe auch nie Schwierigkeiten. Er war locker drauf und brachte Itoe stets zum Lachen. Selbst seine anzüglichen Scherze waren halb so schlimm im Vergleich zu Katsuyas eisiger Ausstrahlung. Itoe erinnerte sich an ein Gespräch mit Ren, bei dem es um Katsuya ging. Ren hatte ihr erklärt, dass sein Freund sich auf diese Weise um Kira sorgte, nur könnte er es nicht anders zeigen. Kiras Heirat war eine unerwartete Neuigkeit, die sie alle skeptisch gemacht hatte. Doch während Ren und Jiro sich mit der Zeit damit abfanden, konnte sich Katsuya nicht dafür erwärmen.

Itoe stieß ein resigniertes Seufzen aus.

„Katsuya“, fing sie vorsichtig an und sah von der Seite zu ihm auf, „warum hasst du mich?“

Woher auf einmal dieser Mut kam, ihn geradeheraus danach zu fragen, konnte sie sich nicht erklären. Aber diese Frage ging ihr schon seit seiner aufdringlichen Befragung, einschließlich seiner Vorwürfe, durch den Kopf.

„Habe ich irgendwas getan, was dich verärgert hat?“

Itoe merkte in seinem sonst so ausdruckslosen Gesicht eine kleine Regung. War das ein Ausdruck von Erstaunen? Was auch immer es war, es verschwand genauso schnell wie es gekommen war.

„Ich hasse dich nicht“, erwiderte er monoton, ohne sie anzusehen. Sein Atem bildete weiße Wölkchen, als er sprach, und seine tiefe Stimme ließ sie Luft um sie herum vibrieren. „Ich vertraue dir nur nicht.“

Itoe weitete erstaunt ihre Augen. Sie hatte nicht mit einer ehrlichen Antwort gerechnet. Sie hatte überhaupt mit gar keiner Antwort gerechnet.

„Und wie kann ich mir dein Vertrauen verdienen?“

Nun war es an Katsuya sie überrascht anzusehen. Es war das erste Mal, dass sie eine so offensichtliche Gefühlsregung bei ihm wahrnahm.

„Das kannst du nicht.“

Er richtete seinen Blick wieder geradeaus, während Itoe sein Profil betrachtete. Die ausgeprägten Wangenknochen verliehen ihm einen harten Gesichtsausdruck.

Itoe wollte nicht aufgeben. Besonders nicht jetzt, da sie sich so weit vorgewagt hatte. Vertrauen konnte man sich verdienen, davon war sie überzeugt. Nun musste sie nur noch Katsuya dazu bringen, seine Meinung zu ändern.

„Ich verstehe, dass du mir nicht traust. Da tauche ich plötzlich auf, wie aus dem nichts, und bin die Frau deines Freundes. Ich kann verstehen, dass du dir Sorgen um ihn machst. Aber... wenn du mir eine Chance geben würdest... wenn du mich nur besser kennenlernen würdest...“

Katsuyas blieb unvermittelt stehen. Itoe hielt ebenfalls an und sah zu ihm.

„Bilde dir ja nicht ein, dass du mich kennst. Du weißt gar nichts, also tu nicht so, als würdest du meine Ansichten verstehen.“

„Aber ich...“

„Ich brauche dich nicht kennenzulernen. Du bist genauso wie alle anderen.“

Mit diesen Worten trat er an ihr vorbei.

Itoe starrte benommen vor sich hin, unfähig sich zu bewegen. Wie alle anderen?

„Was ist, kommst du?“

Katsuya war gezwungen anzuhalten, da sie ihm nicht folgte.

Itoe löste sich langsam aus ihrer Starre und drehte sich zu ihm herum, doch sie machte keine Anstalten weiterzugehen.

„Du bist hier derjenige, der sich einbildet, mich zu kennen. Du hast dich kein einziges Mal mit mir unterhalten, keinen Versuch unternommen, mich richtig kennenzulernen. Du bist hier derjenige, der so tut, als würde er meine Absichten kennen.“

Itoes Herz klopfte wild in ihrer Brust. Das Adrenalin schoss ihr durch den Körper und ließ sie mutiger werden.

„Wenn du mir schon nicht vertraust, so vertraue Kira. Es hat schon alles seine Gründe, aber ich habe nicht das Recht, dir irgendetwas davon zu erklären. Das sollte Kira tun.“

Itoes Ausbruch kam überraschend, aber sie wollte sich das nicht länger gefallen lassen. Diese falschen Unterstellungen, diese Vorwürfe. Sie hatte genug.

Da Katsuya nichts darauf sagte, was sie auch nicht erwartet hatte, trat Itoe an ihm vorbei.

„Den restlichen Weg schaffe ich allein.“

Er folgte ihr nicht und das war auch gut so. Sie wollte einfach allein sein und sich nicht länger mit ihm streiten. Sie hatte ihre Gedanken mitgeteilt und war stolz auf sich, dass sie sich nicht von ihm einschüchtern ließ. Allerdings glaubte sie nicht daran, dass ihre Worte seine Meinung über sie ändern würden.

 

Am Wochenende verabredete sich das kleine Grüppchen, das aus Ren, Katsuya, Jiro, Kira und Itoe bestand, zum Eislaufen. Dieser kleine Ausflug war Rens Idee. Es war schon eine Weile her, dass sie sich alle zusammen getroffen und etwas unternommen haben.

Auf dem Weg zu Eisbahn erzählte Itoe Kira wie aufgeregt sie war. Sie war noch nie in ihrem Leben Schlittschuhe gelaufen. Ihre Freude war ansteckend. Sie war wie ein kleines Mädchen, aufgeregt und erwartungsvoll.

„Du lächelst ja!“, meinte Itoe plötzlich und Kira sah verwundert zu ihr.

„Tu ich nicht“, entgegnete er und versuchte dabei einen ernsten Gesichtsausdruck zu machen.

Er parkte das Auto auf dem vollgestellten Parkplatz. Ein Glück, dass sie noch einen Platz ergattern konnten.

Itoe grinste ihn an und flüsterte nur tust du doch, doch darauf ging Kira nicht ein.

Vor dem riesigen Gebäude wartete bereits Ren auf sie. Er begrüßte die beiden lächelnd und reichte ihnen die Schlittschuhe.

„Ich hab euch schon welche besorgt.“

„Wo sind die anderen?“, fragte Kira und sah sich um.

„Bereits drinnen.“

Sie gingen hinein und setzten sich auf die Bank, um ihre Schuhe gegen Schlittschuhe einzutauschen. Auf der Eisbahn entdeckten sie Katsuya und Jiro.

„Wer ist das Mädchen an Jiros Seite?“, fragte Kira mit einer erhobenen Augenbraue, doch er konnte sich die Frage eigentlich selbst beantworten.

„Das ist Fumi. Ein echt nettes Mädchen. Sie tut mir jetzt schon leid. Ein weiteres, unschuldiges Opfer von Jiro“, sagte Ren bedauernswert.

Jiro wechselte seine Freundinnen wie am laufenden Band. Er behauptete von sich selbst, kein Beziehungsmensch zu sein. Davon abgesehen gab es so viele hübsche Frauen auf der Welt. Wie könnte man sich da für eine entscheiden?

Kira nahm das nickend zur Kenntnis. Das sah Jiro mal wieder ähnlich. Sie verabredeten sich nur als ihre eingespielte Gruppe und er brachte eine Fremde mit.

Kira half Itoe auf die Beine.

„Einen Fuß vor den anderen setzen. Lass meine Hand nicht los“, instruierte er sie.

Kira lotste sie zur Eisbahn, die er als erster betrat. Itoe tat es ihm nach und setzte vorsichtig den ersten Fuß auf das Eis. Sie fühlte sich wackelig auf den Beinen an, aber er hielt sie fest und zog sie langsam mit sich über das Eis.

„Geht's?“

„Ja. Alles gut. Bring es mir bei“, bat sie ihn und ihre Augen leuchteten vor Aufregung.

Kira erklärte sich ausnahmsweise damit einverstanden, den Lehrer zu spielen. Er erklärte ihr, worauf sie alles achten musste, um ihr Gleichgewicht zu halten, wie sie wie ihr Gewicht verlagern musste, um zu bremsen.

„Am besten versuchen wir es erst einmal zusammen“, entschied er.

Er stellte sich vor sie, nahm ihre Hände in seine und fing an, langsam rückwärts zu fahren, während er sie mit sich zog. „Versuch dich einfach gleiten zu lassen.“

 

Itoe stellte sich gar nicht so tollpatschig an, wie sie befürchtet hatte. Sie fuhren zwei Runden, als Jiro und seine Freundin sich zu ihnen gesellten.

„Hey, Itoe. Das machst du gut!“, sagte Jiro zwinkernd.

„Danke, ich versuch's.“

Jiro umkreiste die beiden und zog seine Freundin mit sich. „Das ist übrigens Fumi“, stellte er vor. Das Mädchen lächelte freundlich. „Freut mich!“

Itoe versuchte, sich auf das Laufen zu konzentrieren, aber das war gar nicht so einfach, wenn man sich gleichzeitig mit jemandem unterhalten wollte. Jiro und Fumi fuhren weiter. Stattdessen tauchte Katsuya in ihrem Blickfeld auf. Seit ihrem letzten Gespräch haben sie sich nicht mehr gesehen. Ob er sich überhaupt Gedanken über ihre Unterhaltung gemacht hatte? Sie wüsste gerne, was er darüber dachte. Itoe sah verstohlen zu ihm. Er sah wie üblich griesgrämig aus. Plötzlich wandte er seinen Kopf in ihre Richtung und ihre Blicke trafen sich. Itoe fühlte sich ertappt und wandte ihren Blick hastig ab, was sie aus dem Gleichgewicht brachte. Sie schwankte, stürzte zu Boden und riss Kira mit sich. Seine Landung sah schmerzvoll aus, nur sie hatte Glück, indem er ihren Aufprall milderte.

„Es tut mir so leid!“, entschuldigte sie sich, „hast du dir sehr weh getan?“

Itoe tätschelte sein Gesicht. Sie hoffte, er war nicht mit dem Kopf aufgeschlagen.

Kira verzog sich etwas das Gesicht. Wenn er starke Schmerzen hatte, dann konnte er es gut verbergen.

„Nein, alles gut“, erwiderte er und setzte sich etwas auf.

„Sicher?“, hakte Itoe nach und sah ihn mitfühlend an, „das war ein harter Aufprall.“

Kira betrachtete ihr besorgtes Gesicht und nickte bekräftigend. „Wirklich. Alles gut.“

Sein Blick löste in ihr ein angenehmes Kribbeln aus, das sie sich nicht erklären konnte, und ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust. Itoe senkte verlegen den Blick.

Kira kam auf die Beine und klopfte sich den Schnee von der Hose. Itoe versuchte es ihm gleich zu tun und aufzustehen, doch sie plumpste stattdessen auf ihren Hintern. Kiras plötzliches Lachen irritiere sie.

„Komm, kleiner Tollpatsch“, sagte er amüsiert, reichte ihr seine Hand, die sie mit Vergnügen nahm, und half ihr hochzukommen.

Sie standen sich gegenüber, ihre Hand lag immer noch in seiner, und obwohl sie beide Handschuhe trugen, spürte sie deutlich seine Wärme. Ihr Herzklopfen wurde stärker und sie schaffte es nicht länger den Blickkontakt zu halten. Was war nur los mit ihr?

Als er ihre Hand losließ, vermisste sie augenblicklich seinen leichten Druck. Itoe sah verstohlen zu ihm auf, als er gerade dabei war, ihre Mütze zurechtzurücken.

„Wir sollten lieber nebeneinander fahren, sonst machst du mich wirklich noch zum Krüppel!“

Es klang nicht nach einem Vorwurf, er schien sie viel mehr necken zu wollen.

„Du bist gemein. Das war doch nicht mit Absicht.“ Itoe zog spielerisch eine Schnute und war erstaunt, dass er darüber lachte. Ihr wurde schlagartig bewusst, wie sehr ihr sein Lachen gefehlt hatte.

 

Nach einer Dreiviertelstunde machte die Gruppe eine kleine Pause und ging eine Kleinigkeit essen. Sie kauften sich Hotdogs und setzten sich an einen der runden Tische. Itoe unterhielt sich mit Fumi, die nach dem ersten Eindruck zu urteilen, ein nettes Mädchen zu sein schien. Sie studierte Naturwissenschaften und arbeitete nebenbei in einem Blumenladen in der Nähe von Shibuya .

„Studierst du auch?“, fragte sie Itoe.

„Nein. Ich arbeite in einem Restaurant“, erzählte Itoe und auf Fumis neugierigen Blick fügte sie noch schnell hinzu, „Schule war mir ehrlich gesagt anstrengend genug. Ich bin froh, dass ich damit durch bin.“

Itoe musste ein bisschen Flunkern, denn sie hatte nie Lernprobleme gehabt. Viel mehr lag es an ihren Mitschülern, dass ihre Schulzeit nicht gerade voll mit schönen Erinnerungen war.

„Wie hast du eigentlich Jiro kennengelernt?“, fragte Itoe, bevor sie das Thema Schulzeit vertiefen konnten.

Fumi sah verliebt zu Jiro. „Er war vor wenigen Tagen im Blumenladen, in dem ich arbeite, und wollte Blumen für seine Mutter kaufen. Er hat mich gefragt, welche ich ihm empfehlen würde.“ Fumi sprach von ihrer ersten Begegnung mit so viel Zuneigung, dass es Itoe beinahe das Herz brach. Jeder am Tisch außer Fumi wusste, dass Jiro sicherlich keine Blumen für seine Mutter kaufen wollte...

„Süß“, meinte Itoe lächelnd. Doch unter dem Tisch trat sie Jiro gegen das Schienbein und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Jiro zuckte vor Schmerz zusammen, lächelte aber nur dümmlich vor sich hin. Mit seinem Blick schien er sagen zu wollen: Was hätte ich denn machen sollen bei so einer schönen Frau?

 

Nach dem Essen wollte die Gruppe noch einige Bahnen fahren. Itoe konnte sich mittlerweile viel besser auf den Schlittschuhen halten.

„Schaffst du's allein?“, fragte Kira skeptisch, „ich bin gleich zurück.“

Itoe nickte und hoffte, dass sie nicht zu viele Unfälle bauen würde. Sie trat aufs Eis und sah Ren, der ihr von der anderen Seite winkte.

Ich schaff das - spornte sie sich innerlich an und fuhr los. Itoe erinnerte sich an Kiras Lektionen und konzentrierte sich. Es klappte wunderbar und Itoe traute sich sogar, mehr Gas zu geben. Aber wie ging denn noch mal das Bremsen? Itoe versuchte ihre Geschwindigkeit zu drosseln, so wie Kira es ihr beigebracht hatte, doch es brachte sie nur aus dem Gleichgewicht. Panisch schloss sie die Augen, während sie unaufhaltsam auf Ren zuraste...

Plötzlich wurde sie von jemandem herumgerissen und fest an sich gezogen. Itoes Herz raste wie verrückt. Heilige Scheiße... Sie hätte Ren über den Haufen gefahren, wenn man sie nicht aufgehalten hätte.

Itoe hob langsam ihren Blick und sah zu ihrem Retter.

„Katsuya“, murmelte sie erstaunt.

Katsuya hielt sie fest im Griff, sein Blick gab keine Emotionen Preis. Als wäre er eine perfekte Statue aus Marmor gehauen, die mit ihrer Erhabenheit alles um sich herum in den Schatten stellte.

Er lockerte seinen Griff, als er sich sicher war, dass sie fest auf ihren eigenen Füßen stand.

„Das wäre beinahe schiefgegangen“, sagte er, „ sei etwas vorsichtiger.“

Itoe nickte rasch und bedankte sich für seine Hilfe. Sie sah ihm hinterher, wie er davonfuhr. Sie bildete es sich vielleicht nur ein, aber sie hätte schwören können, dass seine Stimme heute weicher klang als sonst.

Bevor sie sich weiter mit dem Mysterium Katsuya auseinandersetzen konnte, war Ren bereits an ihrer Seite und hakte sich bei ihr ein.

„Das war knapp, hm“, meinte er besorgt, „zum Glück hat dich Katsuya gerettet. - Wollen wir eine Runde drehen?“

Itoe nickte zustimmend und ließ sich von Ren mitziehen. In seiner Nähe konnte sie sich entspannen und alle Laster fielen wie von selbst von ihren Schultern.

„Ich habe mir überlegt, dass wir mal alle gemeinsam verreisen sollten. In die Berge zum Skifahren. Wer weiß, wann es hier in Tokio schneit und ob wir überhaupt Schnee zu sehen bekommen. Was hältst du davon?“

Rens Vorschlag klang verlockend, aber Itoe wusste nicht, wann und ob sie an Feiertagen arbeiten musste.

„Das kriegen wir hin“, sagte Ren zuversichtlich, nachdem sie es ihm gesagt hatte. Wenn Ren das sagte, würden sie es garantiert hinbekommen.

„Wir mieten uns ein Häuschen und verbringen ein paar gemütliche Tage“, schwärmte er. Seine Begeisterung färbte ab, aber gleichzeitig stieg eine andere Aufregung in ihr auf. Ein paar Tage mit Katsuya, wo sie seinen misstrauischen Blick ausgeliefert war. Nach Gemütlichkeit klang das nicht gerade.

„Kommt Fumi denn auch mit?“, fragte Itoe nach. Dann wäre sie wenigstens nicht die einzige Frau.

Ren zuckte unwissend mit den Schultern. „Wenn Jiro bis dahin immer noch mit ihr zusammen ist, dann vielleicht.“

Das klang ja nicht sehr vielversprechend, aber Itoe blieb zuversichtlich.

Der Ausflug, Teil 1

„Kira, kommst du? Die anderen warten schon auf uns“, rief Itoe ihm aus dem Flur zu.

In der Regel brauchte Kira nie lange, um zu packen. Eigentlich war er schon längst fertig. Er hatte nur das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Nur was?

Kira sah sich nachdenklich im Schlafzimmer um. Sein Blick fiel auf die Kommode, die neben seinem Bett stand. Wie ein Geistesblitz schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihn daran erinnerte, was er beinahe vergessen hätte. Er öffnete mit einem Ruck die Schublade und fand in der hintersten Ecke eine kleine rote Schachtel. Erleichtert verstaute er diese in seiner Tasche, die er sich gleich darauf über die Schulter warf, bevor er das Zimmer verließ.

 

Das gemietete Häuschen befand sich weit oben in den Bergen, wo es bereits in den vergangenen Tagen heftig geschneit hatte. Der Schnee war auf den Straßen bereits geschmolzen, doch über Nacht hatte es gefroren, sodass die spiegelglatten Straßen den Hinweg ein wenig erschwerten. „Hoffentlich kommen wir heil an“, hatte Jiro gesagt, als das Auto einen kurzen Moment ins Schleudern geriet, und hielt sich am Haltegriff der Autotür fest, „ich bin noch nicht bereit zu sterben.“ Dass Jiro so ängstlich sein konnte, überraschte nicht nur Kira. Ren, der am Steuer saß, warf einen kurzen Blick über den Rückspiegel nach hinten und versuchte seinen Freund zu beruhigen. „Wir werden schon nicht sterben. Wie könnte die Frauenwelt sonst diesen Verlust verkraften, wenn du weg wärst?“ Kira grinste und Itoe musste sich ein Lachen verkneifen, selbst über Katsuyas hartes Gesicht huschte der Hauch eines Lächelns. Nur Jiro brummte etwas vor sich hin, hielt sich weiterhin unnachgiebig fest und blickte starr aus dem Fenster.

Die Fünfergruppe erreichte ihr Ziel am frühen Nachmittag. Das Häuschen, das zur Vermietung stand, gehörte einem alten Freund von Rens Vater. Ren hatte bereits am Vorabend den Schlüssel abgeholt, damit sie sich heute Morgen direkt auf den Weg machen konnten.

Es war ein kleines, schlichtes Ferienhäuschen, aber sauber und gemütlich. Leider konnte keiner ein Einzelzimmer bekommen. Ren teilte sich ein Zimmer mit Jiro, Kira mit Itoe und Katsuya musste im Wohnzimmer schlafen. Doch an diesem Platzmangel schien sich niemand zu stören.

Die jungen Leute beschlossen sich erst einmal einzurichten, bevor sie die Piste unsicher machten.

 

Kira brachte seine und Itoes Taschen in ihr gemeinsames Zimmer. Es war kleiner, als er sich vorgestellt hatte. Die Tatamimatten lagen bereits auf dem Boden nebeneinander ausgebreitet. Die einzige Einrichtung in dem Raum bestand aus einem kleinen Tisch mit einem Stuhl, einer Kommode und einem runden Spiegel, der darüber an der Wand hing. Viel Platz bot das Zimmer nicht.

Itoe kam nach ihm herein und machte einen überraschten Eindruck. Auch sie schien nicht damit gerechnet zu haben, dass es so eng werden würde. Ihr Blick verharrte einen langen Moment auf den Tatamimatten. Es war nicht gerade ein Luxus, den zum Beispiel Kiras Wohnung bot.

„Ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht“, sagte er und riss sie aus ihren Gedanken.

„Was?“ Itoe schien nicht zu begreifen, was er meinte.

Kira machte eine ausschweifende Handbewegung, die den ganzen Raum einnahm.

„Na das hier. Vielleicht hast du dir etwas Besseres vorgestellt.“

„Ach so“, entgegnete Itoe, „nein, ich bin nicht enttäuscht.“

„Aber?“

Itoe schien einen Augenblick zu überlegen, schüttelte dann aber den Kopf.

„Kein aber.“

Ihr Lächeln sollte ihre Unbekümmertheit unterstreichen, doch bei Kira hinterließ es lediglich ein seltsames Gefühl der Unzufriedenheit. Es war offensichtlich, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, es ihm aber nicht mitteilen wollte. Selbst wenn es etwas Unbedeutendes war, er wollte es wissen. Er hatte gehofft, die Zeit würde sie zueinander führen, ihre Differenzen beseitigen, die Wogen glätten, doch in Wahrheit fühlte er sich meilenweit von ihr entfernt.

„Wie du meinst“, sagte er ein wenig verstimmt und stellte die Taschen auf dem Boden ab.

Er wusste, warum ihn diese Kleinigkeit, dass sie sich ihm nicht mitteilen wollte, verärgerte, aber es war und blieb nur eine Kleinigkeit. Er wollte sich den Ausflug nicht davon verderben lassen und beschloss, seine grüblerischen, negativen Gedanken in die Tiefen seines Herzens zu verbannen und sie erst dann wieder auszugraben, wenn sie zu Hause wären.

 

Die Skipiste lag einige Gehminuten von dem Ferienhaus entfernt. Ren ging mit Itoe voraus, während die anderen drei die Nachhut bildeten. Sein Freund unterhielt sich angeregt mit Itoe über das Weihnachtsessen, das sie für Morgen geplant hatten. Itoe hatte sich bereit erklärt, den Koch zu spielen, und Ren wollte sie dabei unterstützen. Ihre lockere Unterhaltung und das herzliche Lachen versetzen Kira einen plötzlichen Stich, der ihn sichtlich irritierte. Er hatte nichts gegen diese Freundschaft einzuwenden, aber er wünschte sich, Itoe würde sich ebenso unbeschwert mit ihm unterhalten können. Kira vermisste diejenigen Tage, in denen sie sich kennengelernt hatten und sich näher gekommen waren, bevor sein Kuss mit Makoto und Itoes Ausrutscher mit Yagami alle Mühe zur Nichte machten.

„...darum ist sie nicht hier.“

Kira sah fragend zu Jiro, der gerade mit seiner Erzählung fertig war.

„Was?“

„Alter. Hast du nicht zugehört?“, sagte Jiro ein wenig beleidigt, „ich erzählte dir, warum meine Freundin... ich meine, Exfreundin nicht da ist und du hörst nicht mal zu.“

„Sorry, Mann“, entschuldigte sich Kira, während er überlegte, ob er Jiro überhaupt nach seiner Exfreundin gefragt hatte.

Jiro seufzte. „Ach, egal. Dann erzähle ich es eben noch mal. - Du weißt doch, ich habe Fumi in diesem Blumenladen kennengelernt, in dem sie arbeitet. Na ja, ich war ja nicht einfach so dort. Wollte grade Blumen für Alina kaufen. Sie ist halb Russin, halb Japanerin. Sie besucht gerade ihre Mutter, die noch in Japan wohnt. Habe sie durch Bekannte kennengelernt. Eine klasse Frau. Solche trifft man in Japan selten...“

„Du schweifst ab“, unterbrach ihn Kira mit erhobener Augenbraue. Sein Freund neigte zu ausführlichen Erzählungen und dann konnte es sich nur um Stunden handeln.

„Oh, sorry.“ Jiro räusperte sich. „Kurz gesagt, die Blumen waren für sie. Aber als ich Fumi gesehen habe... Wow, das war Liebe auf den ersten Blick. Kennst du das, wenn dein Herz anfängt zu rasen und du dir nur denken kannst, das ist sie? - Guck mich nicht so an, Kira. So war es.“

Sein Freund machte eine Pause, auf Kiras Reaktion wartend, die ausblieb. Ob er so etwas kannte? Wenn das Herz schneller schlug und man nur dachte, das ist sie?

Kira Blick fixierte eine hellbraunen Schopf, der unter einer roten Wollmütze steckte.

„Na ja, und dann“, fuhr die Stimme seines Freundes fort und riss ihn jäh aus seinen eigenen Gedanken, „dann konnte ich ihr ja schlecht sagen, dass die Blumen für eine andere wären, und deswegen habe ich gesagt, die sind für meine Mutter.“

Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und einen Augenblick lang hatte Kira sich so sehr auf dieses Geräusch konzentriert, dass ihm gar nicht aufgefallen war, dass sein Freund nicht mehr weitersprach und somit die wichtigste Frage noch ungeklärt blieb.

„Und warum ist Fumi nicht mit?“

Jiros Blick versetzte Kira einen leichten Schreck. Die Niedergeschlagenheit in seinen Augen erschien Kira vollkommen fremd, aber aufrichtig.

„Ich sag's mal so: Sie hat herausgefunden, dass die Blumen nicht für meine Mutter waren.“

Kira hätte sich das denken können. Ein Weiberheld blieb ein Weiberheld. Selbst wenn er der Liebesgöttin höchstpersönlich begegnen würde, er würde beim Anblick einer anderen hübschen Frau, sofort wieder der Hals verrenken.

„Ich beneide euch.“

Kira sah überrascht zu seinem Freund. „Wen?“

Jiro machte eine Kopfbewegung nach vorne.

„Na dich und deine zweite Hälfte.“

Seine zweite Hälfte...

Kiras Blick wanderte zu Itoe, die sich immer noch mit Ren zu amüsieren schien.

„Ihr harmoniert so gut miteinander.“

Kira hätte beinahe geschnaubt.

Sie harmoniert wohl besser mit Ren...

Dieser idiotische Gedanke versetzte ihm einen Stich und er schob ihn beiseite.

„Ach, findest du?“, murmelte Kira, auch wenn er die ehrliche Meinung seines Freundes gar nicht hören wollte. Denn dieser schien sich bereits ein Bild von den beiden gemacht zu haben, ein Bild, das mit der Wirklichkeit nichts gemein hatte.

„Ja! Ihr zeigt es zwar nicht offen, aber man spürt es. Ihr werft euch heimliche Blicke zu, als wolltet ihr nicht, dass der andere etwas von euren Gefühlen merkt. Dabei seid ihr doch schon längst verheiratet.“ Jiro lachte leise und verstummte dann wieder. Als er weitersprach schwang in seiner Stimme ein Hauch von Neid und Traurigkeit, aber auch eine tiefe Sehnsucht, irgendwann dasselbe zu erfahren. „Aber genau das ist das tolle an eurer Beziehung. Ihr scheint dieses erste Gefühl, das man hat, wenn man sich gerade erst kennenlernt, beibehalten zu haben. Dieses Gefühl, das schnell verfliegt, sobald man etwas länger mit einem Menschen zusammen ist. Dieses Gefühl, dem ich die ganze Zeit nachjage.“

Die Worte seines Freundes brachten Kira zum Nachdenken, doch er wusste nichts darauf zu erwidern. Entsprachen Jiros Worte der Wahrheit? Warf Itoe ihm wirklich heimliche Blicke zu? Und wenn ja, verbarg sich dahinter wirklich Liebe? Oder sah sie immer noch seinen Bruder, wenn sie in sein Gesicht blickte?

Während Kira seinen Gedanken nachhing, fing es an zu schneien. Einige der Schneeflocken landeten auf seiner Nasenspitze und er richtete seinen Blick gen Himmel. Die graue Wolkendecke lag schwer über ihnen und ließ keine Sonnenstrahlen hindurch. Das Wetter unterstrich ganz gut seinen eigenen Gemütszustand. Die Schwere in seinem Inneren ließ sich nicht einmal durch Jiros unerwartete Worte durchbrechen.

Und so sah er den Schneeball nicht kommen, der ihn an der Schulter traf. Das Gelächter der beiden Übeltäter ließ ihn herumfahren.

„Guter Wurf, Itoe“, sagte Ren lachend. Er warf einen wohlgeformten Schneeball in die Luft und fing ihn mit derselben Hand wieder auf. Itoe sah entschuldigend zu Kira, der sie mit einer Mischung aus Verärgerung und Überraschung ansah. Doch diese Gefühle verflogen genauso schnell wie sie gekommen waren, als er die kindliche Freude in ihren großen Augen sah.

Schweigend ging er in die Hocke und formte sich gleich ein paar Schneebälle.

„Ihr habt den Falschen zum Feind gewählt“, meinte Kira, bevor er zum Gegenangriff überging. Itoe kreischte kurz auf, als er die Bälle auf sie regnen ließ, und lief lachend vor ihm weg. Jiro und Katsuya gesellten sich ebenfalls dazu und es endete in einer wilden Schneeballschlacht, jeder gegen jeden.

Kira hatte es nicht für möglich gehalten, dass eine einfache Schneeballschlacht in diesem Alter noch so viel Spaß machen würde. Sie löste in ihm verloren geglaubte Gefühle aus, die ihn wieder in den kleinen Jungen verwandelten, der er einmal war. Voller Unbeschwertheit und kindlicher Freude. Er hätte nicht gedacht, dass dieser Teil in ihm noch existierte.

Voller Adrenalin landete er mit Itoe im Schnee. Sie hatte ihn vorhin im Nacken getroffen, sodass der kalte Schnee den Weg in seinen Schal fand und ihn erzittern ließ. Das verlangte nach Rache. Doch es war einfacher gesagt als getan. Itoe stellte sich als äußerst flink heraus und ihre Würfe waren ziemlich präzise. Doch in einem unachtsamen Moment bekam er sie zu fassen und sie fielen lachend auf den schneebedeckten Boden. Kira setzte sich rittlings auf sie, damit sie nicht fliehen konnte, und mit einer Hand hielt er ihre Arme über dem Kopf gefangen. Sie lachte immer noch, sogar dann, als er mit seiner freien Hand einen Haufen Schnee schippte und ihn gefährlich nah an ihrem Gesicht hielt.

„Zeit für deine Strafe“, sagte er.

„Das ist unfair“, erwiderte sie und zog spielerisch eine Schnute, „das ist gegen die Regeln.“

„Ach? Wir spielen nach Regeln?“

„So ist es.“

Kira konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Und ich habe die Regeln gebrochen?“

Itoe nickte bekräftigend.

„Genau! Und jetzt musst du mich loslassen.“

Kira beugte sich ein wenig zu ihr herab.

„Und was, wenn ich es nicht tue?“

Für einen kurzen Moment verlor er sich in den Tiefen ihrer Augen, die sich bei seiner Aussage weiteten und ihn erstaunt ansahen.

„Dann...“, hauchte Itoe leise, „dann wirst du disqualifiziert...“

Als sie sprach, huschte sein Blick kurz zu ihren Lippen und dann wieder zurück zu ihren Augen. Kira beugte sich noch ein Stückchen zu ihr, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten.

„Das nehme ich in Kauf.“

Unschlüssig darüber, ob er seinem Drang einfach nachgehen und sie küssen sollte, traf ihn ein Schneeball direkt am Kopf und brachte ihn jäh auf den Boden der Tatsachen zurück.

„Hey! Nehmt euch ein Zimmer!“

Jiro. Dieser verdammte...

Kiras Mundwinkel zuckte. Der Wurf hatte gesessen, die getroffene Stelle schmerzte und hinterließ ein unangenehmes Pochen.

„Entschuldige mich, aber ich muss ihm kurz eine Abreibung verpassen“, presste er hervor, bevor er sich erhob und sich seinen Freund vornahm.

 

Er ging und ließ sie mit klopfendem Herzen zurück. Itoe merkte erst beim Ausatmen, dass sie die Luft angehalten hatte. Gierig atmete sie tief ein und aus.

So nah. Beinahe hätten sich ihre Lippen berührt. Diesen Wunsch hatte sie in seinen Augen sehen können. Ob er in ihren denselben gesehen hatte? Itoe schüttelte den Gedanken ab, doch das Herzrasen ließ sich nicht so einfach loswerden. Selbst dann nicht, als sie in dieser Nacht auf der Tatamimatte lag und kein Auge zumachen konnte. Die Stille bildete einen scharfen Kontrast zu ihrem Kopf, in dem es drunter und drüber ging.

Nach der Schneeballschlacht waren alle ausgelaugt und die Lust auf Skifahren war vergangen. Sie vertagten es auf später und beschlossen erst einmal zum Ferienhaus zurückzugehen, um zu essen und sich etwas auszuruhen. Glücklicherweise mussten sie sich nicht um das Essen kümmern, denn für heute war vorgesorgt. Sie hatten verschiedene Leckereien eingekauft, die sie im Wohnzimmer hungrig verzerrten.

Itoe hatte sich vor der Reise eine weibliche Begleitung gewünscht - und sie fand es immer noch schade, dass Fumi nicht dabei sein konnte, weil sie sich von Jiro getrennt hatte - aber sie fühlte sich in der Gruppe gut aufgehoben. Selbst Katsuya schien in ihrer Gegenwart aufzutauen. Vielleicht hatte das Gespräch mit ihm ja doch seine Wirkung gezeigt.

Itoe drehte sich auf die Seite, sodass sie Kiras Rücken vor Augen hatte. Die Tatamimatten lagen nah beieinander, sodass sie nur ihre Hand auszustrecken brauchte, um den Mann neben ihr zu berühren. Es war viel enger als auf Kiras großem Bett, wo jeder seinen eigenen Privatbereich hatte. Hier dagegen... Das war der Grund für ihre seltsame Reaktion, als sie das erste Mal das Zimmer betreten hatte. Kira hatte sich anscheinend Sorgen gemacht, dass es nicht dem Luxus entsprach, den sie von zu Hause kannte, aber darauf legte Itoe wenig Wert. Sie hatte selbst in einer winzigen Wohnung gelebt, auf einer Tatamimatte geschlafen und nie ein Problem damit gehabt. Nein, es ging ihr um etwas ganz anderes. Und zwar um die unvermeidbare Nähe. Es gab keine Möglichkeit, Abstand zu wahren. Diese Tatsache war so gegenwärtig, dass ihr Herz nicht zur Ruhe kam.

„Kira, schläfst du?“

Ihre Stimme war nur ein Flüstern, aber sie klang unnatürlich laut in ihren Ohren. Sie lauschte in die Stille hinein und bekam als Antwort nur einen ruhigen, gleichmäßigen Atem.

Unsicher hob Itoe ihre Hand und berührte seinen nackten, kräftigen Rücken. Ihre Fingerspitzen wanderten darüber, spürten seine warme, weiche Haut. Was tat sie da nur? Sie konnte ihn doch nicht einfach berühren... Itoe biss sich auf die Unterlippe und nahm ihre Hand wieder weg. Der plötzliche Drang ihm nahe zu sein, ihn zu berühren, hatte sie überwältigt und ihren Verstand für einen Moment ausgeschaltet.

„Hör nicht auf“, hörte sie ihn flüstern. Wie aus dem Nichts drang der Klang seiner Stimme zu ihrem Innersten vor, ließ sie langsam realisieren, dass ihre Annahme, er würde sich im Tiefschlaf befinden, weit verfehlt war. Ihr Herz geriet ins Stolpern, um gleich darauf nur noch schneller zu schlagen.

Sein Körper bewegte sich keinen Millimeter, sodass sich Itoe unwillkürlich die Frage stellte, ob jene Worte nicht doch ein Produkt ihrer lebhaften Phantasie waren.

„Du... bist ja wach“, stellte sie überrascht fest. Die Hitze stieg ihr in die Wangen und sie war ungemein froh, dass er nichts davon mitbekam.

„Ja.“

Erneut breitete sich Stille zwischen ihnen aus. Jetzt würde sie garantiert kein Augen mehr zu tun können. Verlegenheit machte sich in ihr breit und löste den sehnsüchtigen Wunsch aus, vor Scham im Erdboden zu versinken.

„Itoe?“

Überrascht blickte sie seinem Rücken entgegen.

„Ja?“

„Mach bitte weiter.“

Itoe war zu sehr von ihren eigenen Gedanken abgelenkt, um sofort zu begreifen, was er meinte. Sie zögerte, streckte dann aber zielsicher ihren Arm nach ihm aus, um seiner Bitte nachzukommen. Wie wenige Minuten zuvor zeichneten ihre Finger die Muskeln seines Rückens nach. Diesmal auf seinen Wunsch hin. Gänsehaut breitete sich auf seiner Haut aus, wie sie überrascht feststellte. Ihre Finger wanderten über seine Seite hin und her, bis er unerwartet ihr Handgelenk ergriff und sie nah an sich heranzog. Itoe war zu perplex, um zu protestieren. Immer noch mit dem Rücken zu ihr, legte er ihre Hand auf seine Brust und strich nun seinerseits über ihren Arm.

Itoe unterdrückte ein zufriedenes Seufzen, jenes seine Berührung in ihr auslöste. Sie lehnte ihre Stirn an seinen Rücken und schloss die Augen. Nur einen kleinen Moment wollte sie sich ihren Gefühlen ergeben.

Verzeih mir, Miro – dachte sie reuevoll, bevor sie der Schlaf in seine Tiefen zog.

Der Ausflug, Teil 2

Die ersten Sonnenstrahlen fielen in einem sanften Licht durch das Fenster direkt auf ihr friedlich schlafendes Gesicht. Im Gegensatz zu ihr war Kira bereits seit mindestens einer Stunde wach. Als er das erste Mal an diesem Morgen die Augen öffnete und feststellte, dass sie genauso eng umschlungen dalagen wie sie eingeschlafen waren, war alle Müdigkeit verflogen. Eine Weile lag er still auf der Seite, ohne sich zu rühren, aber auf Dauer wurde es zu unbequem. Sein Arm schlief ein, sein Körper fühlte sich steif an, also drehte er sich vorsichtig in ihrer Umarmung um, mit dem Gesicht zu ihr. Der Versuch, seine Position zu wechseln, ohne sie aufzuwecken, gelang ihm einwandfrei. Leider glitt dabei ihr Arm von ihm und landete auf der Bettdecke. Kira verspürte einen Anflug von Bedauern, doch machte keine Anstalten, ihren Arm erneut um sich zu legen. Zu sehr befürchtete er, sie aus ihren süßen Träumen zu reißen. Und dann wäre dieser schöne Moment nur noch eine Erinnerung.

Kira hatte seinen Ellbogen in die Kissen und seinen Kopf in die Hand gestützt, und betrachtete die schlafende junge Frau neben sich. Er konnte sich nicht daran erinnern, je dasselbe bei einer anderen getan zu haben. Einfach daliegen, betrachten und sich am Anblick erfreuen.

Was war nur los mit ihm? Seit wann verhielt er sich wie ein verliebter kleiner Junge?

Die Erinnerung an jenen vergangen Sommer trat ungebeten in sein Bewusstsein. Ja, das musste die Zeit gewesen sein, als er noch so unbedarft und blauäugig durch die Welt gelaufen war. Doch das Leben hatte ihn eines Besseren belehrt. In jenem Sommer lernte er das erste Mal die Liebe kennen – und ihre Schattenseiten. Am Anfang trug sie ihn leicht und schwerelos auf ihren Flügeln und gab ihm das Gefühl, das reine Glück gefunden zu haben. Doch schon im nächsten Augenblick zerfetzte eben jene Liebe diese Flügel und ließ ihn mit voller Wucht zu Boden stürzen. Ohne Vorwarnung. Ohne Gnade.

Damals gab er sich selbst ein stillschweigendes Versprechen, er würde nie wieder solche Gefühle zulassen, und über Jahre hinweg war ihm das auch gelungen. Und jetzt, rund 10 Jahre später, tauchte plötzlich dieses Mädchen in seinem Leben auf und wühlte sein verstaubtes Herz auf. Ein Herz, von dem er nicht geglaubt hätte, es könnte noch einmal auf diese Weise für jemanden schlagen.

Kira betrachtete sie nachdenklich und strich ihr eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. Dabei nutze er diese Gelegenheit, um ihr sanft über die Wange zu streichen.

War es klug, diese heimtückischen Gefühle erneut zuzulassen? Gleichgültig, wie schön es sich zu Beginn anfühlen mochte, es endete doch immer auf die gleiche Weise.

Er erwischte sich dabei, wie er sich langsam zu ihr hinabbeugte, trotz seiner widersprüchlichen Gedanken. Ihre Lippen sahen so einladend aus. Zu lange war es her, dass er diese Lippen berührt hatte. Nur einen kleinen Kuss. Mehr wollte er nicht.

Was für eine Selbstverleugnung... Natürlich wollte er mehr. Viel mehr.

Kira hielt inne, bevor seine Lippen auf ihre trafen.

Ihm wurde schlagartig bewusst, dass es längst zu spät war. Zu spät für Widerstand, zu spät sich gegen seine Gefühle zu wehren. Ja, er wollte mehr. Aber er wollte nicht nur ihren Körper. Er wollte alles. Ihr Vertrauen, ihre Hingabe, ihre Liebe.

Sein Herz verkrampfte sich bei dieser Erkenntnis.

Du armseliger Trottel. Ihre Liebe? Träum' weiter. Sie gehört mir, Bruderherz.

Es fühlte sich an, als würde sein Bruder in Teufelsgestalt auf seiner Schulter sitzen, ihm diese boshaften Worte zuflüstern und ihn verhöhnen.

Hast du das mit Absicht getan, Miro? Wolltest du mich quälen? Wolltest du dich dafür rächen, dass ich mich von dir abgewandt habe?

Statt sie auf den Mund zu küssen, hauchte er ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.

Aber wenn das dein Plan war - führte er in Gedanken fort - warum hast du dann sie hineingezogen? Hat sie dir so wenig bedeutet? War alles nur ein Spiel für dich?

Diese Frage musste Kira sich unweigerlich stellen. Sein Zwilling neigte zu ausgefallenen, verrückten Ideen. Manchmal hatte Kira das Gefühl, dass das ganze Leben für Miro nur ein einziges Spiel war. Das Leben ist zu kurz für Langeweile, Kira - hatte er gesagt und dann vielsagend gegrinst - ich muss es ja wissen.

Doch war das wirklich die Antwort? Nein. So bösartig war Miro dann doch nicht. Kira konnte sich nicht vorstellen, dass sein Bruder dieses Mädchen nur deswegen geheiratet oder eher gesagt, sie an ihn, Kira, gebunden hatte, um ihm eins auszuwischen. Nein. Miros Motive mussten viel tiefer gehen. In seinem Abschiedsbrief klang sein letzter Wille eher danach, als wollte er Kira damit glücklich machen, ihm einen Gefallen erweisen, damit er nicht alleine verendete, wenn Miro aus dem Leben schied. Denn gleichgültig wie schwer ihr Verhältnis manchmal war, sie waren und blieben für immer Brüder, Zwillinge, und tief im Herzen Freunde.

Kira setzte sich auf und fuhr sich durchs Haar, das ihm gleich darauf wieder genauso wirr ins Gesicht fiel. Diese ganzen Gedanken machten ihn ganz hibbelig. Er schaute über die Schulter noch einmal zu Itoe, die immer noch tief und fest schlummerte.

Welchen Grund sein Bruder auch hatte, es änderte nichts an Kiras Gefühlen für sie. Doch wie sah es mit ihr aus?

Kira seufzte schwer und stand langsam auf. Seine Grübeleien wollte er doch auf später verschieben. Der Urlaub sollte genossen werden und das würde er auch tun. Solch einen Ausflug hatte er mit seinen Freunden schon lange nicht unternommen. Soweit er sich erinnern konnte, war das letzte Mal mit Miro zusammen gewesen.

Kira schlüpfte leise aus dem Schlafzimmer und ging ins Bad. Die Stille ließ seine Schritte laut erscheinen. Das ganze Haus befand sich noch im Tiefschlaf, aber das würde sich gleich ändern. Sie waren hier, um etwas zu erleben, nicht um auszuschlafen.

Nach einer erfrischenden Dusche machte Kira sich daran, seine Freunde, einen nach dem anderen, aufzuwecken. Verständlich, dass keiner erfreut darüber war. Jiro schimpfte, Katsuya warf ein Kissen nach ihm. Nur Ren ließ es kampflos über sich ergehen.

Als Kira dann wieder in sein Zimmer zurückkehrte, war Itoe überraschenderweise bereits wach. Sie saß auf dem Futon und streckte sich.

„Was war das für ein Krach?“, meinte sie verschlafen und sah zu ihm. Die Decke war an ihr hinabgerutscht und er hatte eine wundervolle Sicht auf ihren Oberkörper, der nur durch ein knappes Top bedeckt war. Es war schwer, das zu ignorieren und ihr direkt in die Augen zu sehen.

„Entschuldige. Ich habe die anderen aufgeweckt, damit sie nicht zu lange schlafen. Wir sind schließlich hier, um etwas zu unternehmen, oder? Schlafen können die auch zu Hause.“

Itoe grinste etwas.

„Die haben sich sicher alle tierisch gefreut“, sagte sie zynisch, „und jetzt wolltest du mich aufwecken?“

Kira lächelte verschmitzt.

„Nein. Dich wollte ich eigentlich verschonen.“

Gestern Abend, als sie zu Bett gegangen waren, war das Zimmer abgedunkelt, sodass er nicht die Möglichkeit hatte, sie so genau in Augenschein zu nehmen wie jetzt. Kira riss seinen Blick mit größter Mühe von ihr und suchte sich ein paar Klamotten heraus.

„Das Bad ist frei“, sagte er nebenbei. „Du solltest dich beeilen, bevor Jiro es besetzt. Denn dann kann es sich nur um Stunden handeln“, riet er ihr und wartete bis sie aus dem Zimmer schlüpfte. Erst dann erlaubte er sich, entspannt auszuatmen.

Seine Selbstbeherrschung wurde seit Wochen auf eine harte Probe gestellt. Es war eine Herausforderung, mit einer Frau, für die man Gefühle hatte, zusammenzuleben, mit ihr in einem Bett zu schlafen, ihr aber nicht näher kommen zu dürfen. Besonders gestern Nacht, als sie ihn berührt hatte, musste er seine ganze Willenskraft aufwenden, um nicht über sie herzufallen. Aber er hatte es ihr versprochen, ihr Zeit zu lassen, denn er war sich in jenem Augenblick sicher, sie hätte dieselben Gefühle für ihn. Aber was, wenn er sich geirrt hatte und seine Geduld und Zurückhaltung vergebliche Liebesmüh war? Heute Abend würde er hoffentlich erfahren, wie es um ihre Gefühle stand.

 

Der Tag verging wie im Flug. Nach dem Frühstück waren sie auf der Piste Skifahren und als sie zurückkehrten, war es bereits um die Mittagszeit. Hungrig wie sie waren, wollten sich vor allem die Jungs die Bäuche vollschlagen, doch da heute Weihnachten war und ein köstliches Menü anstand, hielt Itoe sie davon ab. Mit Brummen gaben sie nach, doch letztendlichen waren sie froh, gewartet zu haben. Das Weihnachtsessen war ein Augenschmaus. Besonders nach der sportlichen Betätigung am Vormittag hatten alle einen Bärenhunger und hauten mächtig rein. Ren und Itoe hatten ganze Arbeit geleistet. Zum Nachtisch gab es dann noch einen liebevoll verzierten Erdbeerkuchen à la Itoe.

„Uff, ich bin so voll“, gab Jiro von sich, nachdem er das letzte Stück Kuchen verzehrt hatte, und legte seine Hand auf seinen Bauch. „Das war der Hammer. Vielen Dank an die Köche!“

Ren lächelte und prostete Itoe zu.

„Ich habe nur die Anweisungen befolgt.“

Itoe sah etwas verlegen drein.

„Du hast mir sehr geholfen. Ohne dich wäre ich auf einige Sachen gar nicht erst gekommen.“

Ren zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.

„Ideen zu haben ist leicht, aber auf die Umsetzung kommt es an. – Und dein Kuchen war mal wieder richtig lecker. Sag mal, willst du nicht doch eine Konditorei eröffnen?“

Kira verfolgte aufmerksam das Gespräch zwischen den beiden. Wie sie vertraut miteinander sprachen, über Dinge, von denen er keine Ahnung hatte. Seit wann stand es zur Debatte, dass Itoe eine Konditorei aufmachen sollte? Das hatte sie ihm nie erzählt. Gab es noch mehr Dinge, die er nicht über sie wusste? Es war zwar nicht so, dass sie sich nicht miteinander unterhielten, aber über Wünsche und Träume und solchen Kram hatten sie schon lange nicht mehr geredet.

Kira führte nachdenklich sein Glas zu seinen Lippen und trank einen großen Schluck Bier. Ohne es zu merken, erwiderte Itoe seinen Blick, den er schon die ganze Zeit auf sie gerichtet hatte. Erst nach einer Weile merkte er, wie sie ihn anlächelte. In diesem Augenblick konnte er sich jedoch kein Lächeln abringen, zu sehr war er von seinen dunklen Gedanken eingenommen.

Kira erhob sich mit einem Ruck, sodass sein Stuhl wackelte. Alle sahen verwundert zu ihm auf, als er so plötzlich aufstand. Erst jetzt merkte er den Alkohol, der ihm leicht zu Kopf stieg.

„Ey, Kira. Wo gehst du hin?“, fragte Jiro ihm hinterher.

„Auf’s Zimmer“, erwiderte dieser knapp und ließ seine Freunde verblüfft zurück.

Im Schlafzimmer ließ er sich seufzend im Schneidersitz auf die Futons nieder und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.

Was war nur mit ihm los? Was war das für ein dumpfer Schmerz in seinem Inneren? Vielleicht hatte er zu viel gegessen… oder getrunken? Ihm schwirrte allmählich der Kopf. Unwillkürlich drängte sich ein Bild von Ren und Itoe in sein Bewusstsein. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien, dass sie aus seinen Gedanken verschwinden sollten. Stattdessen griff er in seine Hosentasche und holte eine kleine rote Schachtel hervor, die er in seiner Hand drehte und wendete.

Ihn überkamen Zweifel. Vielleicht war es nicht das richtige Geschenk. Vielleicht war nichts von all dem richtig.

Als die Tür leise aufging und Itoe hineinspähte, brachen seine Gedanken abrupt ab. Er steckte die Schachtel zurück in seine Hosentasche, bevor sie den Raum betrat.

„Darf ich?“, fragte sie und wies auf den Platz neben ihm. Nachdem er scheinbar gleichgültig mit den Schultern gezuckt hatte, setzte sie sich neben ihn, zog die Beine an und lehnte sich genauso wie er zurück an die Wand. Ihre Gesten wirkten natürlich, als wäre es die selbstverständlichste Sache auf der Welt, sich zu ihm zu setzen, nachdem er so unhöflich den Tisch verlassen hatte, während alle anderen noch im Gespräch waren.

Kira betrachtete sie verstohlen aus dem Augenwinkel, während sie schweigend nebeneinandersaßen. Sie sah heute besonders hübsch aus. Das rote Kleid passte sich perfekt ihrer schlanken Figur an. Ihr hellbraunes, langes Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern. Sie hatte sich mit ihrem feierlichen Outfit offensichtlich viel Mühe gegeben. Sein Blick wanderte über sie und blieb an ihren rotgeschminkten Lippen hängen.

„Kira?“

Er zuckte zusammen, fühlte sich ertappt, als sie seinen Namen aussprach, und richtete seinen Blick wieder geradeaus.

„Ja?“

Er spürte, wie sie sich zu ihm umwandte und ihn von der Seite betrachtete.

„Geht’s dir gut? Du bist so plötzlich gegangen.“

Er war sich ihres forschenden Blickes bewusst, war aber nicht in der Lage, ihn zu erwidern, denn er befürchtete, sie könnte in seinen Augen seine wahren Gefühle erkennen. Die Hand in seiner Hosentasche umfasste die Schachtel fester.

„Alles bestens“, sagte er ungerührt und in seinen Ohren klangen diese Worte sehr überzeugend.

„Lügst du mich etwa an?“

Ihre direkte Frage brachte Kira ein wenig aus dem Konzept und er kam nicht umhin, sie perplex anzusehen, fasste sich aber schnell wieder.

„Denkst du, ja?“

Itoe nickte nachdrücklich.

„Ich kenne dich doch“, meinte sie zu seiner Überraschung und zwinkerte. „Ich sehe sofort, wenn du etwas hast.“

Ihre Worte und ihr Lächeln verschlugen ihm für einen Moment die Sprache, als er grade zu einer Antwort ansetzen wollte. Was für eine Ironie. Sie hatte das Gefühl, ihn zu kennen, wohingegen er genau das Gegenteil ihr gegenüber empfand.

Kira streckte seine Hand nach ihr aus und strich ihr sanft über die Wange. Um ehrlich zu sein, berührten ihn ihre Worte. Dadurch fühlte er sich viel weniger fremd und er hatte das Gefühl, sie würde endlich Kira sehen und nicht länger seinen Zwillingsbruder.

Ihre großen Rehaugen sahen ihn fragend an und weiteten sich ein wenig vor Überraschung, als er sich zu ihr hinabbeugte und seine Lippen auf ihre legte. Seiner Erwartung zum Trotz wich sie nicht zurück, sondern ließ seinen Kuss zu. Zu lange hatte er darauf gewartet, doch diesmal würde er nicht denselben Fehler machen und seinem Verlangen zu schnell nachgeben.

„Ich habe etwas für dich“, murmelte er an ihren Lippen und holte aus seiner Hosentasche jene kleine Schachtel hervor.

„Für mich?“, fragte sie erstaunt, als sie sein Geschenk entgegennahm.

Kira nickte. Sein Herz pochte wild in seiner Brust. Die Aufregung machte ihn ganz verrückt. Aufmerksam beobachtete er sie dabei, nahm jede kleine Regung an ihr wahr, während sie die Schachtel neugierig betrachtete und schließlich öffnete. Darin befand sich ein silberner Ring mit einem kleinen Diamanten in der Mitte. Bei der Suche nach dem passenden Weihnachtsgeschenk war er auf einen Juwelier gestoßen und als er dann diesen Ring entdeckte, war ihm sofort klar, dass er es sein musste. Der Preis spielte dabei keine Rolle.

Doch nun plagten ihn Zweifel. Je länger sie nichts sagte, desto unruhiger wurde er. Und während dieser gefühlten Ewigkeit rechnete Kira nicht mehr mit einer positiven Reaktion. Was dachte er sich überhaupt dabei, ihr einen Ring zu schenken...

„Er ist wunderschön“, sagte sie schließlich und Kira fühlte sich ungemein erleichtert. Doch etwas an ihrem Gesichtsausdruck und an der Tatsache, dass sie den Ring nicht aus der Schachtel herausnahm, verriet ihm, dass ihr noch etwas anderes auf der Seele lag. Kira ignorierte bewusst diese Anzeichen.

„Willst du ihn nicht anprobieren? Ich musste deine Größe leider raten. Ich hoffe, er passt. Ansonsten lassen wir ihn umändern.“

Bereits als er die ersten Worte aussprach, rückte er der Katastrophe immer weiter entgegen. Zögerlich nahm Itoe den Ring und steckte ihn sich an den Ringfinger. Er saß perfekt, als wäre er für sie gemacht. Sie betrachtete ihre Hand, schien das Funkeln zu bewundern, doch ihre Freude in den Augen verblasste langsam.

„Ich kann ihn nicht annehmen“, sagte sie plötzlich und machte Anstalten den Ring abzunehmen, „es tut mir leid.“

Ihre Worte drangen nicht sofort zu ihm durch, zu sehr war er von ihrem kläglichen Versuch abgelenkt, den Ring abnehmen zu wollen. Doch dieser saß fest.

„Kannst oder willst nicht?“, fragte Kira kühl mit einem Hauch Sarkasmus. „Sieht so aus, als müsstest du dir den Finger abschneiden, um mir den Ring zurückzugeben.“

Seine freudige Aufregung wich einer gleichgültigen Kälte, die seinen tatsächlichen Schmerz nicht nach außen dringen ließ.

Itoe hielt in ihrer Bewegung inne und sah bedauernd zu ihm auf.

„Ich wollte dich nicht damit verletzen. Du weißt genau, warum ich ihn nicht annehmen kann. Nimm es bitte nicht persönlich.“

Kira schnaubte verächtlich.

„Tu ich aber. Du hast mich um Zeit gebeten und die habe ich dir gegeben. Und jetzt kannst du nicht mal diesen verdammten Ring annehmen.“

Itoe sah ihn mit einem schuldbewussten Blick an, doch er ließ sich davon nicht besänftigen.

„Hättest du mir damals gesagt, wer deinen Ring hat, hätte ich ihn dir zurückgeholt. Aber denke ja nicht, dass ich mit meinem Ring Miros Ring ersetzen wollte. Ich wollte dir nur zeigen, wie wichtig du für mich bist.“

Während er sprach, fühlte er sich wie der größte Vollidiot. Warum musste er ihr seine Gefühle auf die Nase binden? Waren sie nicht offensichtlich? Anscheinend ja nicht.

Kira fuhr sich rastlos durchs Haar.

„Aber vielleicht würdest du dich ja mehr über solch ein Geschenk freuen, wenn es von jemand anderem kommen würde“, sagte er vieldeutig und erhob sich.

„Was meinst du damit?“, fragte Itoe verständnislos.

Kira presste die Lippen aufeinander und kämpfte gegen seine Eifersucht an, die ihn dazu drängen wollte, unüberlegte Worte auszusprechen.

„Vergiss es“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und steuerte die Tür an.

„Kira, warte!“

Kira blieb stehen, den Türgriff bereits in der Hand.

Und wieder einmal hatte er verloren. Sei es gegen Miro, oder sogar gegen Ren. Ganz gleich, was er tat. Dabei hatte er sich wirklich Mühe gegeben, hatte ihr Zeit gelassen, sie gut behandelt und sie beschützt, soweit es möglich war. Am Anfang wollte er nur, dass es funktionierte, er wollte nur Miros verdammten letzten Wunsch erfüllen. Doch auf eine unerklärliche Weise wuchs ihm dieses Mädchen so sehr ans Herz, dass jedes ihrer Worte ihn entweder erfreuen oder zerstören konnte.

„Ich habe genug gewartet“, murmelte er mit Bedauern in der Stimme und ließ sie allein in dem kleinen Zimmer zurück.

Der Ausflug, Teil 3

Ich habe genug gewartet…

Die Worte hallten noch eine Weile nach, nachdem Kira das Zimmer bereits verlassen hatte, und hinterließen eine fröstelnde Kälte.

Itoe starrte wie betäubt auf ihre Hand, an der sein Ring ihr spöttisch entgegenglänzte. Sie hatte Kira wirklich nicht verletzen wollen, aber... Wenn sie diesen Ring annahm, war das dann nicht in gewisser Weise ein Verrat an Miro? Ein Verrat an ihren Gefühlen für ihn? Den Ring anzunehmen bedeutete, Miro endgültig loszulassen, doch war sie wirklich bereit dazu? Würde sie je bereit sein? Itoe war das erste Mal in ihrem Leben ratlos. Welches Verhalten war angemessen? Was sollte sie tun? Sie schien das Gefühl für Richtig und Falsch verloren zu haben.

Während sie verzweifelt versuchte, sich über ihre Gefühle klarzuwerden, überschlugen sich ihre Gedanken und überwältigten sie. Sie zerrte an dem Ring, versuchte ihn von ihrem Finger abzuziehen, doch er saß unnachgiebig fest, wie ein verheißungsvolles Omen.

...denk ja nicht, dass ich mit meinem Ring Miros Ring ersetzen wollte...

Die Erinnerung an seine Worte drängte sich unnachgiebig in ihr Bewusstsein und ließ sie jäh innehalten.

Ich wollte dir nur zeigen, wie wichtig du für mich bist.

Kiras Enttäuschung zeichnete sich für den Bruchteil einer Sekunde in seiner Mimik ab und verschwand genauso schnell wieder, bevor er eine vor Gleichgültigkeit und Sarkasmus triefende Maske anlegte, wie eine Art Schutzpanzer. Sobald man ihm zu nahetrat, distanzierte er sich und man drang nicht mehr zu ihm durch. Er hatte seine Verletztheit vor ihr verbergen wollen, doch sie kannte ihn mittlerweile gut genug, um seine wahren Gefühle zu erkennen.

Itoe hatte den Schmerz, für den sie verantwortlich war, deutlich in seinen Augen gesehen. Sein Geschenk abzulehnen bedeutete, Kira abzulehnen und ebenso die Chance, die sie beide nach Miros Tod bekommen hatten.  Den Ring zurückzugeben hieß, Kira für immer zu verlieren.

Bei dem Gedanken daran, wurde ihr ganz schwer ums Herz. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken. Plötzlich erschien ihr der Verrat an ihren Gefühlen für Miro gar nicht das Schlimmste an der Sache zu sein. Die Vorstellung, ohne Kira weiterzuleben, erschien ihr unerträglicher. Doch diesmal lag es nicht an ihren Ängsten, allein zu sein. Vor der Einsamkeit fürchtete sie sich nicht mehr. Ihr anfängliches, egoistisches Motiv, Kira als eine Art Lückenbüßer zu benutzen, war mit der Zeit in den Hintergrund gerückt. Ihre eigentliche Furcht ging viel tiefer und sie wurde sich ihres Dilemmas erst jetzt so richtig bewusst. Das, wovor sie sich tatsächlich fürchtete, waren ihre Gefühle für Kira. Ihre Zuneigung für Miros Zwilling wuchs mit jedem Tag, gleichgültig, wie sehr sie dagegen ankämpfte. Sie hatte versucht sich einzureden, dass ihre Sympathie für ihn falsch und unangemessen war. Doch je mehr sie ihre Gefühle für ihn verleugnete, desto größer schienen sie zu werden.

Ich habe genug gewartet...

Doch nun schien diese Erkenntnis zu spät gekommen zu sein. Er hatte zum unzähligen Mal genug von ihren Faxen. Das zukünftige Szenario malte sich unaufhaltsam vor ihrem inneren Auge aus. Sie würden sich scheiden lassen, sie würde ausziehen. Nie wieder würde sie neben ihm liegen, ihn nie wieder berühren können. Eine andere würde ihre Stelle einnehmen. Sie selbst wäre nur eine lästige Erinnerung, die mit der Zeit verblasste.

Itoe schüttelte den Kopf, als könnte sie diese blöden Gedanken loswerden. Dann rappte sie sich von dem Futon auf und eilte aus dem Zimmer. Als sie ins Wohnzimmer hereinplatzte, unterbrachen Katsuya und Ren ihr Kartenspiel und blickten verwundert zu ihr, wie sie sich suchend umsah.

„Itoe, was hast du?“, fragte Ren besorgt. Er sah ihr stets an, wenn etwas nicht stimmte.

„Wo ist Kira?“, fragte Itoe stattdessen, ohne auf seine Frage einzugehen.

„Ehm, er ist vor kurzen rausgegangen...“

Bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, eilte sie bereits in den Flur und griff nach ihrem Wintermantel, der am Haken direkt neben der Tür hing.

„Hey, bleibt nicht zu lange“, rief Ren ihr hinterher, „es soll heute noch heftig stürmen.“

Itoe hörte ihm gar nicht mehr richtig zu, schlüpfte in ihre Stiefel und verließ eilig das Haus. Ein eisiger Wind begrüßte sie und zerrte an ihrem Mantel, den sie enger um sich zog. Es hatte anscheinend bereits zu stürmen angefangen. Beißender Wind gemischt mit Schnee klatschte ihr ins Gesicht und zwang sie dazu, die Augen zusammenkneifen. Wie sollte sie ihn in diesem Schneegestöber überhaupt finden? Hinzu kam die Dunkelheit, die ihre Suche nicht gerade begünstigte. Die wenigen Laternen vor dem Haus erleuchteten spärlich den Weg, doch Itoe hatte nicht vor, sofort wieder aufzugeben. Sie ging um das Haus herum und rief dabei Kiras Namen, der ab und zu im Heulen des Windes unterging. Doch Kira konnte sie nirgendwo entdecken.

Itoe zitterte binnen kürzester Zeit. Der Wintermantel spendete nicht grade viel Wärme, wenn man darunter nur ein Kleid anhatte und die Beine praktisch nackt waren.

Hinter dem Haus war es stockfinster. Die Fenster der Schlafzimmer waren nach hinten gerichtet und im Moment schien sich dort niemand aufzuhalten. Itoe tastete sich entlang des Hauses vorwärts. Der stürmische Wind und die Dunkelheit behinderten ihre Sicht, sodass sie den kleinen Abhang nicht rechtzeitig bemerkte. Sie gab einen erschrockenen Schrei von sich, als sie abrutschte und diesen hinabglitt.

„Mist…“, fluchte sie, als sie sich auf allen Vieren im Graben wiederfand. Itoe rappelte sich auf und klopfte sich den Schnee ab. Doch dieser Verräter ließ sich nicht so einfach beseitigen, hatte sogar den Weg in ihre Stiefel gefunden und fing bereits an zu schmelzen, was ein unangenehmes Gefühl hinterließ. Itoe rieb sich die eisigen Hände und hauchte ihren Atem darauf, während sie den Hang hinaufblickte. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie einigermaßen die Umrisse erkennen. So tief schien der Graben gar nicht zu sein. Sie würde locker nach oben klettern können, dachte sie überzeugt, doch schon der erste Versuch erwies sich als reiner Misserfolg. Itoe rutschte immer wieder ab, es gab einfach nichts, woran sie sich halten konnte. Nach einiger Zeit gab sie es auf. Sie steckte ihre eisigen Hände in die Taschen ihres Mantels und trat von einem Fuß auf den anderen, um sich ein wenig aufzuwärmen. Dann blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als nach Hilfe zu rufen…

 

Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen, als Kira gedankenverloren den schmalen Pfad zum Haus zurückging. Je länger er draußen war, desto kälter und windiger schien es zu werden.

Er hatte es nicht länger in dem Zimmer mit ihr ausgehalten und war geflohen. Es wäre vernünftiger gewesen zu bleiben und mit ihr noch einmal über alles zu reden, doch so wie es aussah, war alles glasklar.

Kira blieb in einiger Entfernung zu ihrem gemieteten Ferienhaus stehen und beobachtete, wie das Licht der Laternen auf dem Boden glitzerte. Er hatte Abstand gebraucht, um seine Gedanken zu ordnen, um sich zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Er hatte das Gefühl, dass er in letzter Zeit über nichts anderes mehr nachdachte, seit sie in sein Leben getreten war. Die Idee mit dem Ring war der größte Reinfall gewesen. Er wusste nicht, welche Reaktion er erwartet hatte, aber er hätte nicht damit gerechnet, dass diese ihn verletzen könnte. Dass Itoe den Ring nicht annehmen wollte, konnte er im Nachhinein nachvollziehen. Es lag nicht in seiner Absicht, Miros Ring zu ersetzen, er hatte ihr nur seine Gefühle deutlich machen wollen. Aber vielleicht war dieses Geschenk nicht der richtige Weg.

Kira sah zum dunklen, sternenlosen Himmel empor. Ob Miro auf ihn hinabschaute und ihn auslachte? Oder schüttelte er nur enttäuscht den Kopf, weil sein Plan nicht aufgegangen war? Was würde er wohl an seiner Stelle machen? Kira musste sich unwillkürlich fragen, wie sein Bruder Itoe kennengelernt hatte, wie er es geschafft hatte, ihr Herz zu erobern. Miro war darin geübt, Frauen um den Finger zu wickeln, aber Itoe schien nicht die Sorte Frau zu sein, die sich durch Schmeicheleien beeindrucken ließ. Aber vielleicht gab es darauf keine konkrete Antwort. Sie hatten sich einfach kennengelernt und verliebt. Ende der Geschichte. Es war unsinnig, mit seinem toten Bruder konkurrieren zu wollen. Er musste sich endlich mit dem Gedanken abfinden, dass Miro immer zwischen ihnen stehen würde.

Ein resigniertes Seufzen entwich ihm, bevor er seinen Weg fortsetze.

Wieso musste er ausgerechnet für die Frau seines Bruders etwas empfinden? Es gab genug andere hübsche Frauen auf der Welt. Warum ausgerechnet sie?

Sie erinnert mich an jemanden…

Das war ihm erst vor kurzen aufgefallen. Sie erinnerte ihn seltsamerweise an seine erste Liebe aus dem Sommercamp vor rund 10 Jahren. Trotz der langen Zeitspanne, die zwischen damals und heute lag, konnte er sich recht gut an das Mädchen aus dem Camp erinnern. Obwohl ihr Aussehen im Vergleich zu Itoes nicht gerade außergewöhnlich war – sie hatte wie die meisten Japanerinnen schwarzes Haar und braune Augen – waren ihre Gesichtszüge doch äußerst markant und ihre Art war ihm sehr sympathisch. Am Anfang wirkte sie schüchtern und schien sich erst einmal umzusehen, bevor sie neue Kontakte knüpfte. Das war so ziemlich genau seine eigene Taktik gewesen. Kira erinnerte sich sogar noch daran, wie sie das erste Mal ins Gespräch gekommen waren. Beim Fußballspielen hatte er ihr ausversehen den Ball gegen den Kopf geschossen und war sofort zu ihr gerannt, um sich zu entschuldigen. So schmerzhaft der Kopfball auch war, am Ende hatten sie beide darüber gelacht. Obwohl er ihren Namen längst vergessen hatte, so war die Erinnerung an ihre erste Begegnung noch ziemlich präsent.

Etwas an Itoes Art, an ihrem Verhalten, ihren Gesten erinnerte ihn an das Mädchen von damals. Das musste der Grund sein, warum er sich noch mehr zu ihr hingezogen fühlte und warum er nicht so schnell aufgeben wollte. Nicht nur, weil es Miros Wunsch war.

Kira betrat das Haus und war sogleich froh, der Kälte entkommen zu sein. Er hängte seinen Mantel auf, zog die Schuhe aus und trat ins Wohnzimmer, wo noch Licht brannte. Die Jungs saßen am Tisch, spielten Karten und tranken. Nur Jiro lag auf dem kleinen Sofa und schlief. Da Kira der Auseinandersetzung mit Itoe so lang wie möglich entkommen wollte, setzte er sich zu Ren und Katsuya an den Tisch und schenkte sich etwas zu trinken ein.

„Wo ist denn Itoe?“, fragte ihn Ren unvermittelt und Kira zuckte nur mit den Schultern.

„Vielleicht im Schlafzimmer.“

„Hm“, gab Ren nachdenklich von sich, „seid ihr euch draußen denn nicht begegnet?“

Kira horchte nun auf.

„Nein.“

„Seltsam. Sie ist vor kurzem rausgegangen, um dich zu suchen und seitdem nicht wiedergekommen. Ich dachte, sie hätte dich gefunden.“

Ohne lange zu überlegen, stand Kira mit einem Ruck auf und lief zur Tür, schlüpfte hektisch in seine Schuhe und schnappte sich seinen Mantel. Er stürmte hinaus in die eisige Kälte, wo der Wind ihn mit einem kräftigen Stoß begrüßte. Kira schirmte sich die Augen vor dem Schneesturm ab und sah sich ratlos um, während Katsuya und Ren ebenfalls nach draußen traten.

„Wo kann sie sein?“, sprach Ren besorgt aus, worauf er nur ein angespanntes Schweigen erntete.

Die drei beschlossen, sich aufzuteilen, um nach ihr zu suchen. Kira nahm sich die Rückseite des Hauses vor. Mit gemischten Gefühlen kämpfte er sich durch den Schneesturm und rief Itoes Namen. Warum musste sie losziehen, um ihn zu suchen? Sie hätte nur auf ihn warten müssen. Früher oder später wäre er gekommen! Was gab es so Dringendes zu sagen, dass sie seine Rückkehr nicht abwarten konnte?

„Scheiße...“, fluchte er und biss die Zähne zusammen.

Hinter dem Haus war es zu finster, um die Hand vor Augen sehen zu können. Glücklicherweise befand sich Kiras Handy in der Manteltasche. Er kramte es hervor und schaltete die integrierte Taschenlampe ein. Genau rechtzeitig, bevor sich der Anhang vor ihm breitmachte. Er blieb stehen und leuchtete hinab. Unten entdeckte er eine Gestalt auf dem Boden kauern, die langsam ihren Kopf hob, als er sie direkt anleuchtete. Ihr Gesicht war blass wie Schnee, ihre Haare wie Eiszapfen, ihre leuchtend roten Lippen bebten. Sie hielt ihre Arme um sich geschlungen und sah erleichtert zu ihm auf.

„Kira...“ Ihre Lippen schienen seinen Namen zu formen.

Kira ging am Rande der Grube in die Hocke und streckte seinen Arm nach ihr aus. „Versuch meinen Arm zu ergreifen“, instruierte er sie laut und versuchte gegen den heulenden Wind anzuschreien. Er beugte sich, soweit es ihm möglich war, nach vorne und schnappte nach ihrer Hand, als diese in Reichweite war. Das erste Mal rutschte ihre Hand aus seiner, doch beim zweiten Mal hielt er sie fester. Er stemmte sich zurück und zog sie hinauf. Mit einem Ruck landete sie in seinen Armen. Erleichtert, dass er sie unversehrt gefunden hatte, zog er sie auf die Beine.

„Alles ok mit dir?“, erkundigte er sich und versuchte seine Sorge nicht allzu offen zu zeigen.

„Ja“, sagte sie mit zitternder Stimme.

„Lass uns gehen. Ren und Katsuya suchen auch nach dir. Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich, während Kira sich bereits abwandte.

„Hauptsache es geht dir gut“, erwiderte er, war sich aber nicht sicher, ob sie es gehört hatte. Er machte Anstalten vorzugehen, spürte dann aber, wie ihn etwas am Arm festhielt. Er wandte sich überrascht zu ihr um. Das Leuchten seiner Handytaschenlampe war zwar auf den Boden gerichtet, doch er konnte erkennen, wie sie den Kopf gesenkt hielt.

„Was ist?“, fragte er, als sie nichts sagte. „Tut dir doch etwas weh?“

Langsam machte sich die Sorge wieder in ihm breit. Vor allem, wenn sie wie angewurzelt dastand und schwieg.

Itoe schüttelte den Kopf und hob dann ihren Blick.

„Hast du nun genug von mir?“

Kira runzelte verblüfft die Stirn und sah sie sprachlos an. Genug von ihr? Er musste kurz überlegen, bevor ihm klar wurde, dass sie auf seine Worte anspielte. Er presste die Lippen aufeinander und schwieg. Es war schwer, die Worte, die einmal ausgesprochen waren, wieder zurückzunehmen.

Itoe stieß einen leichten Seufzer aus.

„Ich verstehe. Ich bin auch selbst schuld“, sagte sie anscheinend mehr zu sich selbst als zu ihm. „Wenn wir zurück sind, packe ich meine Sachen.“

Nun war sie diejenige, die Anstalten machte, um an ihm vorbeizugehen, doch wurde von ihm aufgehalten.

„Du willst ausziehen?“, fragte Kira fassungslos und hasste sich dafür, dass er seine Schwäche durchsickern ließ.

„Du willst es doch. Du hast genug gewartet, hast du gesagt.“ Itoe trat näher und strich mit ihren eiskalten Fingern über seine Wange. „Ich werde gehen, aber… ich tue es ungern.“

Bevor Kira antworten konnte, stellte sie sich etwas auf und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Die ganze Situation überrumpelte ihn. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er verstand sie nicht. Warum wollte sie ausziehen, wenn sie es eigentlich nicht tun wollte?

Als sie sich von ihm lösen wollte, legte er seine Arme um sie und drückte sie an sich.

„Ich will nicht, dass du ausziehst“, flüsterte er an ihrem Ohr. „Bleib bei mir.“

Auf die Gefahr hin, dass er sich wieder zum Trottel machen würde, bat er sie zu bleiben. Sein Puls raste, das Blut rauschte ihm in den Ohren, während er angespannt auf ihre Antwort wartete. Er schmiegte seine Wange an die ihre und hielt sie fest. Würde er sie diesmal wirklich verlieren? Ihm war von Anfang an klar, dass er seinen Bruder niemals ersetzen konnte. Das wollte er auch gar nicht. Er hatte auch nicht vorgehabt, je etwas für die Frau seines Bruders zu empfinden. Aber es war nun einmal passiert und für einen kleinen Augenblick hatte er gedacht, ja gehofft, dass sie dasselbe für ihn empfinden würde.

Gerade, als Kira seine Umarmung lockern wollte, spürte er, wie sie ihre Arme um ihn legte und sich an ihn drückte.

„Dann bleibe ich...“, hörte er sie sagen.

Kira konnte sein Glück kaum fassen. Er lächelte zufrieden in sich hinein, bevor er sie sanft von sich drückte.

„Lass uns reingehen, sonst erkältest du dich noch“, sagte er und nahm ein Nicken ihrerseits wahr. Er ergriff ihre Hand, in der anderen hielt er immer noch sein Handy, das ihnen den Weg erleuchtete, und sie gingen gemeinsam zurück zu den anderen.

Wie alte Freunde

Das Fieber machte ihm zu schaffen, doch Kira ließ sich davon nicht abhalten. Die Silvesterfeier stand kurz bevor und es musste noch einmal alles auf seine Richtigkeit überprüft werden, damit es am Ende keine bösen Überraschungen gab. Den größten Teil hatte er bereits organisiert: Die Bestellungen für das Essen und die Getränke in Auftrag gegeben; seinen Club, der als Lokation diente, entsprechend von einer externen Eventagentur dekorieren lassen. Kira war ein Perfektionist, wenn es um seine Arbeit ging. Seiner Tätigkeit ging er mit größter Sorgfalt und Leidenschaft nach. Wenigstens gab es eine Sache in seinem Leben, die er gut konnte. Blöd nur, dass ihn, seit sie von ihrem Ausflug aus den Bergen zurückgekommen waren, die Erkältung erwischt hatte. Das überraschte ihn doch sehr, denn Itoe ging es blendend, obwohl sie am letzten Tag bis auf die Knochen durchgefroren war.

Bis Silvester waren es nur noch wenige Tage, da konnte er es sich nicht leisten, krank zu sein. Trotz der ständigen Hitzewellen, die ihm zusetzten, machte er sich für die Arbeit fertig, packte seine Unterlagen zusammen und griff nach dem Schlüsselbund. Es musste noch einiges erledigt werden, am besten schon gestern.

Kira war gerade dabei, seine Schuhe anzuziehen, als Itoe plötzlich im Flur auftauchte und die Arme vor der Brust verschränkte. Ihr strenger Blick versetzte ihm einen Schauer über den Rücken. Oder war das nur das Fieber?

„Wo willst du hin?“

„In den Club. Silvesterparty vorbereiten“, erklärte er knapp und zog sich seine Jacke an.

„Du bist krank, Kira. Bleib besser zu Hause.“

„Es geht mir gut“, beharrte er stur und wandte sich von ihr ab. Sie sollte nicht so einen Aufstand machen, nur weil ihn diese mickrige Erkältung erwischt hatte. „Warte nicht auf mich. Kann spät werden.“

Seine Hand lag bereits auf dem Türgriff, als sich Itoe zwischen ihn und die Tür drängte und ihm den Weg versperrte.

„Es geht dir nicht gut!“ Itoe sah entschlossen zu ihm auf. „Du musst dich ausruhen, sonst liegst du an Silvester immer noch krank im Bett und dann waren all deine Vorbereitungen umsonst.“

Kira knirschte mit den Zähnen. Warum musste sie so verdammt stur sein…

„Itoe, geh mir aus dem Weg“, presste er gequält hervor. Sogar das Sprechen fiel ihm schwer. Sein Versuch, warnend zu klingeln, scheiterte kläglich. Das merkte er daran, wie unbeeindruckt sie den Kopf schüttelte.

Kira packte sie sachte an den Schultern, um sie zur Seite zu schieben, da wurde er von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Kira krümmte sich zusammen und wartete, bis es nachgelassen hatte. Ihr Ich-hab’s-dir-ja-gesagt-Blick konnte ganz schön nerven. Aber sie hatte schließlich gewonnen. Resigniert zog er sich wieder aus.

„Aber nur heute“, sagte er gezwungen.

Itoe nickte zufrieden, nahm seine Jacke ab und hängte sie zurück an den Haken. Sie stellte seine Schuhe ordentlich hin, die er nachlässig stehengelassen hatte, bevor er ins Schlafzimmer schlenderte. Als sie ihm ins Zimmer folgte, lag er bereits auf dem Bett, ohne sich umzuziehen. Itoe lächelte nachsichtig und deckte ihn zu, damit er es warm hatte. Sie strich ihm ein paar Haarsträhnen weg, die auf seiner glühenden Stirn klebten. Obwohl Kiras Erkältung nichts mit Miros Krankheit zu tun hatte und nicht einmal ansatzweise vergleichbar war, fühlte Itoe sich plötzlich an die Stelle ihrer Erinnerung katapultiert, als sie an Miros Bett gesessen und sich um ihn gekümmert hatte. Sie erinnerte sich an das Gefühl von Hilflosigkeit, nichts für ihn tun zu können.

Itoe schüttelte den Gedanken ab, der ihr Herz nach so langer Zeit immer noch aufwühlte, und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Wenigstens konnte sie etwas für Kira tun. Sie wandte sich ab, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, als Kira unerwartet ihren Arm ergriff.

„Wohin gehst du?“

In seiner Stimme schwang Unruhe mit, die Itoe überraschte und zugleich etwas erschreckte. Sein Griff war so fest, dass es beinahe wehtat, als hätte er Angst, sie könnte gehen und nie wiederkommen. Itoe beachtete den Druck an ihrem Arm nicht, sondern legte ihre Hand auf die seine, die sie immer noch festhielt.

„Ich hole dir einen kalten Lappen für deinen Kopf und etwas zu essen. Du hast heute doch noch gar nichts gegessen, stimmt’s?“

Kira nickte kaum merklich und schloss langsam seine Augen. Gleich darauf lockerte er seinen Handgriff, sodass Itoe in der Küche verschwinden konnte. Die Misosuppe, die sie bereits vorhin für ihn vorbereitet hatte, köchelte noch auf niedriger Flamme vor sich hin. Sie stellte den Herd ab und füllte ein Schälchen mit der heißen Brühe. Sie holte aus der Schublade ein Handtuch heraus, jenes sie mit kaltem Wasser durchtränkte und auswrang. Itoe hielt nachdenklich in der Bewegung inne, als ihr Blick auf den zierlichen Ring an ihrem Finger fiel.

Seit sie wieder zu Hause waren, hatten sie nicht über die Ereignisse der vergangenen Tage gesprochen. Aber es fühlte sich so an, als wären sie sich seit dem Ausflug wieder nähergekommen. Äußerlich hatte sich kaum etwas verändert, aber die Veränderung war deutlich zu spüren. Sie waren schon einmal an diesem Punkt angelangt, doch ihrer beider Verhalten hatte ihre Bemühungen zur Nicht gemacht. Itoe war zuversichtlich, dass sie aus ihren Fehlern gelernt hatten und diese sich nicht wiederholen würden. Doch jedes Mal, wenn Itoe sich über ihren kleinen Fortschritt freute, legte sich Miros Schatten über sie. Das schlechte Gewissen ließ sie einfach nicht los. Aber was sollte sie dagegen tun? Sie war hin und hergerissen. Da gab es Miro auf der einen Seite und Kira auf der anderen. Wie sollte sie ihre Gefühle für diese beiden Menschen miteinander vereinbaren?

Unerwartet kam ihr Miros Brief in den Sinn, den er ihr hinterlassen hatte. Stand darin nicht geschrieben, dass es in seiner Absicht lag, sie und Kira zusammenzubringen, damit sie glücklich wurden? Miro hatte gewollt, dass sie Kira eine echte Chance gab und sie eine gemeinsame Zukunft hatten. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht?! Itoe spürte einen Anflug von Erleichterung in sich aufsteigen, doch sie erstickte dieses Gefühl sofort im Keim. So einfach durfte sie es sich nicht machen. Obwohl Miro nur die besten Absichten für die beiden hatte, war das doch nicht in seinem Interesse gewesen, dass sie sich in seinen Zwillingsbruder verliebte!

Itoe schnappte sich die Schüssel und den feuchten Lappen und ging ins Schlafzimmer zurück, wo Kira bereits schlummerte. Sie stellte die Schüssel auf der kleinen Kommode neben dem Bett ab und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Mit dem feuchten Lappen betupfte sie zunächst seine glühende Stirn, bevor sie ihn dann darauflegte.

Itoe war erstaunt darüber, dass sie es geschafft hatte, ihn zum Bleiben zu bewegen. Er war ja auch wirklich ein Sturkopf. Aber irgendwie ein gewissenhafter Sturkopf, der trotz seiner Erkältung arbeiten wollte. Ihre eigene Schicht begann erst heute Abend. Bis dahin hatte sie noch genug Zeit, um aufzuräumen und sich um ihn zu kümmern, wenn er wieder wach war.

Beim Hinausgehen nahm sie die Suppe wieder mit, die sie dann selbst in der Küche verzehrte. Man sollte sich selbst ja nicht loben, aber die Miso war ihr echt gut gelungen. Danach fing sie an, die Wohnung sauber zu machen. Sie versuchte dabei, äußerst leise vorzugehen. Ab und zu sah sie nach ihm, um zur Stelle zu sein, wenn er etwas brauchte. Erst nachmittags wachte Kira auf und kam in die Küche geschlendert, um etwas zu essen.

„Du hättest im Bett bleiben und nach mir rufen sollen. Ich hätte dir dann etwas gebracht“, tadelte Itoe ihn sanft, während sie ihm einen großen Teller Misosuppe auffüllte. „Geh zurück ins Bett. Ich bringe dir gleich das Essen.“

Da Kira sich nicht rührte, sah sie fragend zu ihm. Er sah sie aus seinen glasigen, unergründlichen Augen schweigend an. Sein Gesicht war ganz blass und er atmete schwer. Er schien wirklich in keiner guten Verfassung zu sein.

„Kira, geh bitte ins Bett.“

Doch Kira machte keine Anstalten, ihrer Bitte nachzugehen. Er fuhr sich durchs Haar, um seine wirren Strähnen aus den Augen zu streichen. Eine Bewegung, die bei ihm immer lässig aussah, schien ihn jetzt alle Kraft zu kosten.

„Es hat sich noch nie jemand so um mich gekümmert“, murmelte er. In diesem Augenblick kam unerwartet Kiras verletzliche Seite zum Vorschein. Er musste starkes Fieber haben, denn generell hielt er seine Gefühle sorgfältig unter Verschluss.

Itoe sah bekümmert drein. Gab es denn wirklich niemanden, der sich je um ihn gekümmert hatte? Wenn sie an seine Eltern dachte, dann erschien ihr diese Tatsache gar nicht mal abwegig. Sie hatte Kiras und Miros Eltern kennengelernt und glaubte zu wissen, was dies für Menschen waren. Bei ihrer ersten Begegnung hatte seine Familie sie als eine Betrügerin, die hinter ihrem Geld her wäre, bezeichnet. Selbst Kira pflegte keinen regelmäßigen Kontakt zu seinen Eltern. Nicht jeder schien das Glück mit seinen Eltern zu haben.

Itoe trat zu Kira und umfasste sein blasses Gesicht. Schwermütig richtete er seinen Blick auf sie.

„Jetzt hast du jemanden, der sich um dich kümmert.“

Seine Stimmung schien sich ein wenig aufzuhellen, denn ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Kira legte eine Hand auf die ihre, die an seiner Wange lag, und drehte seinen Kopf, sodass seine Lippen ihre Handfläche berührten.

„Aber du musst mich auch lassen“, fügte sie hinzu und vernahm ein leises Seufzen seinerseits. Sein heißer Atem verursachte ein angenehmes Kribbeln.

„Ich werde mir Mühe geben“, versprach er und erhob sich schließlich vom Stuhl. „Wirst du mir jetzt immer Essen ins Bett bringen?“

Itoe grinste. „Nur wenn du krank bist.“

„Wie schade.“

 

Ohne Itoes Fürsorge hätte er sich sicher nicht so schnell erholt. Bettruhe und leckere, heiße Suppen waren wohl doch die beste Medizin. Kira blieb gerade noch genug Zeit, um die Vorbereitung für die Silvesterparty abzuschließen und die letzten Schliffe vorzunehmen.

Kira hatte gemischte Gefühle im Hinblick auf den morgigen Abend. Abgesehen vom letzten Jahr, hatte er bis jetzt immer mit seinem Bruder gefeiert. Miro wusste einfach, wie man Party machte und die Leute in Stimmung brachte. Ungeachtet ihrer Differenzen begrüßten sie das neue Jahr immer gemeinsam. Letztes Jahr im Frühling war Miro jedoch spurlos verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, und so mussten sie zwangsläufig mit der Tradition brechen. Kira hatte zwar gespürt, dass in den Tagen vor Miros Verschwinden etwas in seinem Bruder vorging, dass er ruhiger und grüblerischer wurde, aber dass er sich ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen aus dem Staub machen würde, damit hätte er nie gerechnet. Ohne ihn würde sich der Start ins neue Jahr wahrscheinlich wieder komisch anfühlen. Trotz allem würde diese Silvesterfeier auch etwas Besonderes sein, denn diesmal wäre Itoe dabei. Apropos wo steckte sie gerade?

Kira sah sich suchend in der Wohnung nach ihr um und folgte den Geräuschen, die aus dem Schlafzimmer kamen. Er lehnte sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen des Schlafzimmers und betrachtete Itoe amüsiert dabei, wie sie den Schrank durchforstete. Im Zimmer sah es aus wie auf dem Schlachtfeld.

„Mistest du zum Neujahr aus?“

Itoe warf ihm einen verzweifelten Blick zu.

„Das müsste ich mal tun. Ich habe nichts für morgen zum Anziehen!“

Mit einem resignierten Seufzen ließ sie sich auf das vollbelagerte Bett nieder. Kira unterdrückte sein Grinsen, um sie nicht zu verärgern. Er stieß sich von dem Rahmen ab und setzte sich zu ihr.

„Soll ich dir helfen?“

Sie sah ihn mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen an.

„Das würdest du tun?“

Kira zuckte ungerührt mit den Schultern. „Klar.“ Er ließ seinen Blick durch die Unordnung gleiten und fragte sich zugleich, ob er sich nicht ein unmögliches Ziel gesetzt hatte. Es würde nicht einfach sein, etwas in diesem Chaos zu finden.

„Das sieht doch gut aus.“

Er entdeckte einen schönen Stück Stoff, der zum Teil durch andere Sachen begraben war, und griff danach. Doch sobald er es herausgezogen hatte, stellte sich heraus, dass das Kleidungsstück eindeutig nicht zur Abendgarderobe gehörte. Er legte den Kopf schief, während er den bordeauxroten BH betrachtete. Dieser wurde ihm schlagartig aus der Hand gerissen.

„Wie kommt der denn dahin…“, nuschelte Itoe mehr zu sich selbst als zu ihm.

Kira unterdrückte sein Schmunzeln, um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen, und setzte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf. Er ließ seine Handflächen geräuschvoll auf seinen Oberschenkeln landen und seufzte.

„So wird das nichts.“

Itoe nickte zustimmend. „Ich hätte mich schon längst um ein Outfit kümmern müssen, aber ich habe es vollkommen vergessen“, rechtfertigte sie sich. „Vielleicht ziehe ich einfach das rote Kleid an, das ich auch schon an Weihnachten anhatte...“

Kira hätte nicken und es dabei belassen können, doch er sah ihr ihre Unzufriedenheit an.

„Wir haben noch reichlich Zeit.“

„Haben wir die?“

„Nun hör auf zu schmollen. Mach dich fertig. Wir gehen dir etwas kaufen.“

Itoe runzelte ungläubig die Stirn, bevor sie ihn neckisch angrinste.

„Du willst mit mir shoppen gehen?“

Wenn sie das so offen aussprach, glaubte er es ja selbst kaum. Kira hob einen Mundwinkel in die Höhe und deutete ein Lächeln an.

„Ja. Und jetzt sei nicht so frech. Sonst überlege ich es mir anders.“

Itoe führte ihre Finger über ihre Lippen, als würde sie einen Reißverschluss zumachen, doch das Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen.

Kira schnalzte mit der Zunge und erhob sich. Was sie konnte, konnte er schon lange.

„Vielleicht finden wir ja etwas in bordeauxroter Farbe…“, sagte er und warf ihr einen verschmitzten Blick zu. Sie sah ihn mit hochrotem Kopf an und warf einige Kleidungsstücke nach ihm, als er aus dem Zimmer flüchtete.

 

Das noble Geschäft in Ginza ließ für seine Kunden keine Wünsche offen, solange man das nötige Kleingeld hatte. Am Eingang wurde man von den Mitarbeitern freundlich begrüßt und danach direkt gefragt, ob man etwas Bestimmtes suchte. Nachdem Kira ihr Anliegen geschildert hatte, wurden sie in den Bereich für Abendgarderobe geführt. Itoe staunte nicht schlecht, als sie die wunderschönen Kleider erblickte, doch bei dem ernüchternden Preis verabschiedete sich ihre Freude schnell wieder. Unschlüssig stand sie da und machte den Anschein sich umzusehen, während sie ab und zu einen verstohlenen Blick zu Kira warf, der sich mit einer jungen Angestellten unterhielt. Die Frau lächelte stets und redete mit so viel Enthusiasmus auf ihn ein, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie ihm nicht um den Hals fiel.

Itoe ertappte sich dabei, wie die gehässigen Gedanken ihre Stimmung trübten, und versuchte sich auf das Stöbern der Kleider zu fokussieren. Doch sobald sie das tat, war sie erneut bei ihrem ursprünglichen Problem, dass sie sich keines dieser Kleider leisten konnte. Ihr entwich ein Seufzer, bevor sich ein Arm um ihre Schultern legte. Sie schaute zu Kira auf, der seinen Blick kurz auf die Kleider richtete und dann interessiert zu ihr hinabsah. Itoe schluckte angesichts dieser unerwarteten Nähe.

„Hast du etwas Passendes gefunden?“

„Eh“, brachte sie krächzend hervor und räusperte sich, „nicht wirklich. Wollen wir nicht in einen anderen Laden gehen?“

Kira runzelte überrascht die Stirn, zuckte dann aber mit den Schultern.

„Wenn du willst.“

Erleichtert, dass er keinen Einwand hatte, verließen sie den Laden wieder.

„Wie wär’s denn mit dem dort?“, schlug Kira ein anderes Geschäft vor, nachdem sie ein Stückchen gelaufen waren. Die Boutique sah noch exklusiver aus als die von eben.

„Noch so ein Bonzenladen…“, rutschte Itoe raus. Zum Glück hatte sie es nicht so laut gesagt.

„Was?“

„Ach nichts! – Hach, ich denke, das wird heute nichts.“ Generell machte Itoe eine erfolglose Shoppingtour nichts aus, aber in diesem Fall hatte sie sich sehr auf diese Silvesterparty gefreut und wollte entsprechend schön aussehen. Doch jeder wusste, dass man auf Zwang nie etwas Passendes fand. Außerdem war ihr die Lust auf Shoppen komischerweise vergangen.

Kira, der an ihrer Seite ging, blieb abrupt stehen. Itoe hielt ebenfalls an und sah fragend zu ihm.

„Lass uns etwas essen“, schlug er unerwartet vor.

„Was essen?“

„Ja, essen. Du weißt schon, das tut man, wenn man hungrig ist.“

Die Art, wie er das sagte, und sein Grinsen verrieten ihr, dass er sie veräppelte. Itoe gab ihm einen leichten Klapps gegen den Arm und grinste dann zurück.

„Was willst du denn essen?“, fragte sie ihn und Kira überlegte kurz.

„Was hältst du von Ramen?“

„Wenn das nicht ein 100.000 Yen Ramen ist, gerne!“, sagte sie, doch hoffte zugleich, er verstand ihre Anspielung nicht.

„Doch, und du bezahlst.“

Sie setzten sich wieder in Bewegung und suchten sich ein Nudelrestaurant aus. Sie entschieden sich für ein kleines Lokal in einer Seitengasse, das traditionell eingerichtet war. Das Licht war gedämpft und erschuf eine gemütliche Atmosphäre. Itoe gefiel es hier auf Anhieb und sie war innerlich froh, dass ihr Weg sie ausgerechnet hierhergeführt hatte. Sie setzten sich einander gegenüber und bestellten sich Ramen, Gyoza mit Fleisch und eine Flasche Sake zum Aufwärmen. Itoe hatte sich die Jacke, Mütze und Schal ausgezogen und zur Seite gelegt.

„Ich habe vor, an Neujahr meine Eltern zu besuchen“, erzählte Itoe unvermittelt, nachdem ihnen der Sake serviert wurde und Kira ihnen eingeschenkt hatte.

„So?“, sagte er und blickte interessiert auf.

Itoe nickte und machte eine kleine Pause. „Hättest du nicht Lust mitzukommen?“

Sie dachte nicht, dass er ablehnen würde, trotzdem konnte sie ihre Aufregung nicht unterdrücken. Aber vielleicht hatte sie ihn auch zu spontan gefragt. Nachdem sie von ihrem Ausflug zurückgekommen waren, hatte sie ihre Eltern angerufen und ihren Besuch angekündigt. Ebenso hatte sie angedeutet, dass sie jemanden mitbringen würde. Leider hatte sie das Wichtigste vergessen, und zwar, ihren Begleiter zu fragen.

„Ich komme gern.“

Erleichtert hob Itoe den kleinen Keramikbecher und sie stießen an. Nachdem das Essen serviert wurde, endete ihr Gespräch vorerst und sie schlürften die heiße Nudelsuppe und aßen Gyoza. Es tat gut, etwas im Magen zu haben, vor allem, wenn es so köstlich war. Sofort hellte sich Itoes Laune auf.

„Ich hab's mir doch gedacht“, hörte sie Kira sagen und runzelte daraufhin verblüfft die Stirn.

„Hm?“

Kira legte seine Stäbchen zur Seite und verschränkte die Arme auf dem Tisch.

„Du sahst vorhin so niedergeschlagen aus. Da dachte ich, du hättest vielleicht Hunger.“

Itoe strich sich etwas verlegen eine Strähne hinter das Ohr.

„Mit einem vollen Magen lässt sich leichter denken. Wir sollten uns gleich auf den Weg machen und dir ein Kleid für die Feier aussuchen.“

Itoe hatte mehr und mehr das Gefühl, dass hinter seiner harten Schale ein weicher Kern steckte. Er war so aufmerksam und lieb zu ihr. War er schon immer so gewesen?

„Was ist?“, fragte er sie, als sie ihn verschmitzt anlächelte.

„Ach nichts. Du bist einfach nur süß.“

Sie sah, wie sich sein Gesichtsausdruck schlagartig veränderte und er ein wenig zurückwich, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

„Ich bin nicht süß!“, protestierte er und gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Männer sind nicht süß.“

Itoe lachte hinter hervor gehaltener Hand.

Du schon.“

Kira schnalzte genervt mit der Zunge und schenkte mit düsterer Miene den Sake ein.

„Sei einfach still und trink.“

Immer noch mit einem Grinsen im Gesicht trank Itoe den süßen Reiswein. Sie beschlossen, noch ein Weilchen hier zu bleiben und bestellten sich noch eine Flasche. Nach kurzem Schweigen wurde das Gespräch wieder in Gang gesetzt, indem Itoe ihm von ihrem Heimatort erzählte. Je länger sie sich unterhielten, desto mehr unterschiedliche Themen wurden angerissen. Sie hatten beide das Bedürfnis sich mitzuteilen, vielleicht trug auch der Sake zu ihrem regen Wortwechsel bei. Es fühlte sich auf jeden Fall so an, als seien sich zwei alte Freunde nach Jahren wiederbegegnet, um all ihre Erfahrungen, die sie ohne den anderen gemacht haben, miteinander zu teilen.

Ein Kleid für Itoe

Der Shoppingausflug endete mit dem Stopp im Nudelrestaurant in der kleinen Seitenstraße von Ginza, wo die Häuser sich dicht nebeneinander drängten und die überfüllten Straßen sich lichteten. Obwohl die Seitengasse zum belebten Bezirk von Tokyo gehörte, hatte man hier das Gefühl, der Hektik des Alltags, und besonders dem Wirbel um das Neujahr herum, entkommen zu sein.

Als die beiden die Wärme des kleinen Lokals verließen, stieß ihnen die kühle Luft entgegen und ließ sie frösteln. Die Kälte kroch unerbittlich unter die Schichten aus Pulli und Winterjacke bis unter die Haut. Man brauchte einen kleinen Augenblicken, damit sich der Körper an den Temperaturwechsel gewöhnen konnte.

Itoe blickte zum grauen Himmel empor, dessen strahlendes Blau durch eine dichte Wolkendecke bedeckt war und große Schneeflocken herabfallen ließ. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen, als sie einen leisen Ausruf der Freude ausstieß. Sie liebte den Schnee. Sie liebte den Winter und alles, was damit zu tun hatte. Die Kälte machte ihr dabei überhaupt nichts aus. Ganz im Gegenteil. Sie war ihr sogar viel lieber als die schwüle Hitze im Sommer.

„Ich rufe uns ein Taxi“, sagte Kira, der den Wetterereignissen mit weniger Begeisterung begegnete als sie.

„Nein, warte! Lass uns lieber spazieren gehen.“

Kira hörte am anderen Ende der Leitung bereits eine Männerstimme des Mitarbeiters der Taxigesellschaft, bevor er mit einem ich melde mich später wieder auflegte.

„Willst du wirklich?“, fragte er skeptisch, steckte sein Handy aber bereits zurück in seine Jackentasche.

Es war bitterkalt und der Weg nach Hause war weit. Außerdem stellte er fest, dass der Schnee in solch großen Mengen herabfiel, als würde jemand von oben mit einer Schaufel Schnee schippen. Man konnte kaum weiter als die Armlänge blicken.

„Ja, bitte!“, sagte Itoe flehentlich und sah ihn mit ihren großen, glasigen Augen an. Sie hatten eine Menge Sake getrunken, sodass Kira ihre Entscheidung, bei diesem Wetter spazieren zu gehen, darauf zurückführte. Auch er spürte den Alkohol und das war ein Grund mehr, sich in ein Taxi zu setzen und gemütlich nach Hause fahren zu lassen. Aber ihr Hundeblick machte es ihm schwer, ihre Bitte abzuschlagen, weswegen er kurzerhand mit einem resignierten Seufzen zustimmte.

„In Ordnung. Aber...“ Er sah sich kurz suchend um. „Ich kaufe uns mal Regenschirme, sonst sind wir Schneemänner, bis wir zu Hause ankommen. Warte hier.“

Er ließ sie unter dem Vordach des Nudelrestaurants stehen und eilte durch das Schneegestöber zum nächstliegenden Geschäft, wo er zielgerichtet die Regenschirme suchte. Als er fündig wurde, nahm er zwei aus dem Halter heraus, zögerte dann kurz und steckte einen davon wieder zurück. Er bezahlte für einen großen roten Schirm an der Kasse und lief zurück zu Itoe, die an derselben Stelle auf ihn wartete, wo er sie zurückgelassen hatte.

Als sie sich zu ihm unter den Schirm stellte und sie gezwungen waren nahe beieinander zu gehen, fragte sie ihn, warum er nur einen Regenschirm gekauft hatte. Zwei wären bequemer und praktischer. Außerdem war der Schirm nicht groß genug für beide, denn es wurde jeweils eine Schulter des anderen zugeschneit.

„Es gab nur diesen einen“, log Kira unverblümt und beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie schien sich mit seiner Antwort zufrieden zu geben, denn sie fragte nicht weiter nach.

Eine innere Aufregung erfasste ihn, dessen Ursprung er zunächst nicht ausmachen konnte. War das diese Situation, die er selbst inszeniert hatte? Es sah ihm gar nicht ähnlich, dass er zu solch kleinen Tricks griff, um einer Frau nahe zu sein. Bis jetzt hatte er keine Hemmungen gezeigt, einer Frau näherzukommen, aber bei ihr war das anders. Er wollte es nicht wieder vermasseln, indem er sie mit seiner direkten Art überrumpelte.

Kira fühlte sich wie ein Teenager beim ersten Date, wenn das Herz schneller schlug und man einfach nicht wusste, wie man sich am besten verhalten sollte. Er rang ein wenig mit sich, bevor er schließlich seinen Arm um ihre Schulter legte und sie näher an sich drückte. Er spürte den Schnee, der unter seiner warmen Hand schmolz, doch das war ihm egal.

„So besser?“

Er registrierte von der Seite ein zustimmendes Nicken.

„Ja und wärmer.“

Das eigentliche Ziel ihres kleinen Ausflugs war in den Hintergrund gerückt, aber keinesfalls vergessen. Kira hatte bereits eine Idee im Hinterkopf, wie Itoe doch noch zu ihrem Kleid kommen sollte. Allerdings musste das noch warten.

Die Straßen waren beinahe menschenleer, man sah nur vereinzelt Leute. Als hätte das Schneegestöber wie ein schwarzes Loch einen nach dem anderen verschluckt.

Kiras anfänglicher Wunsch, so schnell wie möglich im Warmen zu sein, hatte sich verflüchtigt, denn in diesem Augenblick wollte er nirgendwo lieber sein.

 

~

 

Am nächsten Morgen erlebte Itoe eine große Überraschung. Statt Kira fand sie auf der anderen Seite des Bettes eine quadratische Schachtel mit einem hübschen roten Band. Verwundert setzte sie sich auf und betrachtete sie neugierig. Auf der Vorderseite stand in geschnörkelter Schrift Mireille's Fashion geschrieben. War das nicht die Boutique, in der sie gestern mit Kira gewesen war?

„Na, schon wach?“

Kiras Stimme riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie herumfahren.

„Ja. Guten Morgen.“

Kira betrat das Zimmer und setzte sich an die Bettkante. Er brachte den Duft von frisch gekochtem Kaffee herein, der sich sanft im ganzen Raum verteilte.

„Was ist das?“, fragte Itoe mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung seiner Bettseite, auf der die hübsche Verpackung lag. Sie hatte eine wage Vermutung, aber... Nein, das wäre zu verrückt.

„Mach auf, dann weißt du es“, erwiderte er, ohne ihr eine konkrete Antwort zu geben.

Itoe tat wie ihr geheißen: Sie legte die Schachtel auf ihren Schoß, löste die rote Schleife und nahm den Deckel ab. Ein edles Kleid in einem Silberton strahlte ihr entgegen. Itoe kannte sich zwar nicht so gut aus, aber der Stoff und der Schnitt sahen erstklassig aus, nichts im Vergleich zu den Kleidern aus den normalen Kaufhäusern. War er etwa extra in diesen Laden zurückgekehrt, um ihr dieses Kleid auszusuchen? Ihr Herz überschlug sich vor Freude und Aufregung. Aber...

„Was ist?“, fragte Kira plötzlich in ihre Gedanken hinein, „gefällt es dir nicht?“

Itoe musste das Kleid zu lange und intensiv angestarrt haben. Sie löste ihren Blick davon und sah in Kiras wachsame Augen.

„Unsinn. Es ist wunderschön.“

„Was ist es dann?“

Itoe kam gegen Kiras feines Gespür einfach nicht an. Er merkte sofort, wenn ihr etwas auf der Seele lag. Und er sollte Recht behalten. Itoe hatte gestern nicht ohne Grund die Boutique verlassen und das Shoppen gestrichen. Kira führte sie nur in die teuersten Läden, in denen sie sich nicht einmal Unterwäsche hätte leisten können. Wie hätte sie ihm das erklären sollen? Sie wusste in dem Augenblick nicht, ob es ihr peinlich war, sich diesen Luxus nicht leisten zu können oder ob es sie schlicht und einfach verärgerte, dass er, trotz seines Wissens über ihre finanzielle Lage, nur exklusive Boutiquen vorschlug. Außerdem war sie genervt gewesen, weil diese junge Verkäuferin sich so unverschämt an ihn rangemacht hatte.

Itoe war sich jedoch sicher, hätte sie ihm an Ort und Stelle verständlich gemacht, warum sie in diesem Geschäft kein Kleid kaufen wollte oder konnte, hätte er ihr ohne zu zögern eins gekauft. Geld hätte dabei keine Rolle gespielt. So war Kira: spendabel und großzügig. Und wie sie einmal mehr feststellen konnte, sehr aufmerksam. Er hatte ihr schon damals, als sie sich gerade erst kennenlernten, ein Kleid geschenkt, das sie aus reiner Höflichkeit annehmen musste. Aber bei diesem hier handelte es sich um ein mehrere tausend Yen teures Kleid! Itoe wollte nicht, dass er sein Geld für sie ausgab, auch wenn es ihm offensichtlich nichts ausmachte. Sie wusste seine Großzügigkeit zu schätzen, aber sie konnte dieses teure Kleid unmöglich annehmen.

Die Situation erinnerte sie unvermeidlich an Weihnachten und ihr entwich ein leiser Seufzer, den er anscheinend fehlinterpretierte, denn seine Augenbrauen zogen sich düster zusammen.

„Habe ich wieder etwas falsch gemacht?“

Es war eine ernstgemeinte Frage, die ein mulmiges Gefühl in ihrem Inneren auslöste. Ihn musste dieser Augenblick genauso an Weihnachten erinnern wie sie. Itoe hatte für einen Moment die Befürchtung, er könnte wieder wütend werden, da er manchmal zu unkontrollierten Gefühlsausbrüchen neigte, wenn er sich verletzt fühlte. Doch die befürchtete Reaktion blieb aus.

„Du hast nichts falsch gemacht“, erwiderte Itoe und ihr Mund fühlte sich dabei trocken an.

„Und jetzt lügst du mich auch noch an“, sagte er und Itoe hörte einen Hauch von Enttäuschung aus seiner Stimme heraus.

Warum musste sie immer alles kaputt machen? Seine Bemühungen zur Nichte machen? So ein Mensch war sie doch gar nicht!

Kira machte den Versuch aufzustehen, doch Itoe langte über das Bett und ergriff seinen Arm, sodass er gezwungen war sitzenzubleiben.

„Ok, ich sag's dir!“

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er bleiben würde, ließ sie ihn los und schilderte ihm ihre Gedanken, die ihr soeben durch den Kopf gegangen waren. Außer, dass sie auf die Verkäuferin eifersüchtig war. Er musste ja nicht alles wissen.

„...deswegen kann ich dein Geschenk nicht annehmen“, endete sie und sah ihn vorsichtig an.

Vergeblich war sie auf der Suche nach einer Regung, doch Kira musterte sie nur nachdenklich und gab nichts von seinen Gefühlen preis.

„Geld ist mir unwichtig. Ich habe mehr als genug davon, glaub mir.“

Itoe seufzte, da er anscheinend den Kern ihrer Aussage nicht verstanden hatte.

„Das weiß ich. Aber...“

„Aber du willst dieses teure Kleid nicht annehmen, weil es dir unangenehm ist“, beendete er ihren Satz und sah sie offen an.

„Ja“, gab Itoe zu und senkte den Blick. „Ich könnte es natürlich annehmen, unter der Bedingung, dass ich es dir zurückzahle.“ Sie sah grinsend zu ihm auf. „Sobald ich eine Bank überfallen habe.“

Leider konnte sie ihm damit kein Lächeln entlocken.

„Nun guck nicht so mürrisch. Du sollst mir einfach keine teuren Sachen kaufen.“

Sie wüsste gern, was in diesem Sturkopf vorging. Warum gab er nur so viel Geld für ihre Geschenke aus?

Ich wollte dir nur zeigen, wie wichtig du für mich bist. - Plötzlich erinnerte sie sich an seine Worte, die er an Weihnachten zu ihr gesagt hatte. Ob er mit diesem Kleid ebenso seine Zuneigung für sie ausdrücken wollte? Doch es war nicht das teure Kleid, was seine Gefühle am stärksten zum Ausdruck brachte, wie Itoe fand, sondern viel mehr die Mühe, die er sich extra wegen ihr machte. Noch einmal in das Geschäft zu fahren und ein Kleid zu besorgen, welcher Mann würde das einfach so tun?

„Dann musst du wohl oder übel eine Bank überfallen“, sagte Kira mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.

„Und wenn ich es nicht schaffe?“

„Tja.“ Kiras kluge Augen fixierten sie. „Dann haben wir ein kleines Problem.“

„Ach ja? Und welches?“

„Ich kann das Kleid nicht mehr zurückgeben. Es war ein Einzelstück. Also mach damit, was du willst. Zieh es an, zieh es nicht an, zerreiße es, verbrenne es, es gehört dir.“

Itoe starrte ihn perplex an. Zerreißen? Verbrennen?? War er denn jetzt völlig verrückt geworden?

Sie nahm das Kleid ehrfürchtig aus der Schachtel und betrachtete es. Es war wirklich wunderschön, genau nach ihrem Geschmack: schlicht und elegant zugleich.

„Verbrennen...“, schnaubte sie. „Was für eine Verschwendung.“

„Also nimmst du mein Geschenk an?“

„Jetzt habe ich wohl keine Wahl, oder?“

Kira lächelte. „Man hat immer eine Wahl.“

Itoe lächelte zurück. „Nicht, wenn man mit Kira verheiratet ist.“

Bei den Worten wurde sie etwas verlegen, denn, obwohl die Tatsache klar auf der Hand lag, sie hatte diese noch nie laut ausgesprochen. Ja, sie war mit Kira verheiratet. Mit dem richtigen Kira. Ihr Herz flatterte vor Aufregung, als ihr das so richtig bewusst wurde. Es war nicht so, dass Miro vergessen war, aber ihr Herz öffnete sich immer mehr für seinen Zwillingsbruder.

Erstaunlicherweise sah auch Kira verlegen drein, doch er fasste sich schnell wieder und nickte knapp, als wäre es keine große Sache.

„Lass uns frühstücken“, sagte er bereits im Stehen und steuerte die Tür an.

„Warte mal kurz“, rief sie ihm schnell hinterher und sprang vom Bett. Sie erreichte ihn in wenigen Schritten und sah hinauf in sein fragendes Gesicht.

„Danke, Kira.“

Mit diesen Worten hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. Daraufhin wollte sie vergnügt an ihm vorbeitänzeln, doch Kira ergriff ihren Arm und zog sie wieder an sich. Itoes Herz pochte wild in ihrer Brust und sie sah erstaunt zu ihm auf, bevor er sich zu ihr hinabbeugte.

„Noch mehr“, flüsterte er an ihren Lippen und küsste sie.

Schatten der Vergangenheit

Im Club spielte heitere Jazz-Musik. Das Licht war der Atmosphäre entsprechend gedämpft, nur ein paar Lichteffekte leuchteten hier und da auf, als würden sie zu den Klängen tanzen.

Das Grüppchen saß im VIP Bereich, der stets für Kira und seine Freunde reserviert war. Von hier aus hatte man die gesamte Tanzfläche und die Bar im Blick und gleichzeitig war man weit genug entfernt, um seine Ruhe genießen zu können. Der beste Platz im gesamten Club.

Kira lehnte sich in den Ledersitz zurück und nippte geistesabwesend an seinem Whisky Soda. Er merkte gar nicht, wie sich eine Sorgenfalte auf seiner Stirn gebildet hatte, bis Jiro ihn darauf ansprach.

„Du siehst so angespannt aus, Mann. - Deine Mühe hat sich echt gelohnt, die Party wird ein mega Erfolg, also genieße den Abend!“

Kira brachte nur ein knappes Nicken zustande, war es doch nicht der Grund für seine Stimmung.

„Wer will tanzen?“, fragte Jiro erwartungsvoll in die Runde.

Katsuya erhob sich und alle Augen richteten sich automatisch auf ihn.

„Ich glaub' mein Schwein pfeift!“, rief Jiro aus, doch Katsuya gab in seinem barschen Ton direkt zu verstehen, dass er nur an die Bar wollte.

„Wollen wir, Itoe?“ Ren hielt der jungen Frau, die neben Kira saß, seine Hand hin und lächelte sie an. Konnte ein Lächeln je so charmant und zugleich abstoßend sein?

„Kommst du auch?“, fragte Ren nun an ihn gewandt.

Kira wandte seinen Blick ab, als könnte sein Freund seine gehässigen Gedanken durchschauen, wenn er ihm in die Augen sah. Kira nahm einen großen Schluck von seinem Drink.

„Später. Geht ruhig. Ich komme nach.“

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Itoe sich erhob und mit seinen beiden Freunden, Ren und Jiro, den VIP Bereich verließ. Er spähte zu dem Dreiergespann herüber und sein Blick blieb an Itoes grazilem Rücken hängen, der durch den tiefen Ausschnitt ihres Kleides wunderbar zur Geltung kam. Als hätte sie es gespürt, wandte sie ihren Kopf leicht zur Seite, als würde sie jeden Moment über die Schulter zu ihm schauen. Doch sie ging weiter, ohne sich umzudrehen.

Ein leiser Seufzer entwich ihm, nachdem er alleine war, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet. Es war so einfach, sich von seinen Emotionen beherrschen zu lassen. Selbst wenn man seine Gefühle nicht offen preisgab, so tobte im Inneren die Unruhe wie ein heftiger Sturm. Unaufhaltsam und zerstörerisch. Es half nicht, dagegen anzukämpfen oder abzuwarten, bis dieser vorüberzog. Am Ende wurde er sogar ein Teil von einem selbst und sprießte über kurz oder lang an die Oberfläche.

Es war ein hässlicher Charakterzug, den Kira an seiner Persönlichkeit über alles verabscheute. Er brachte ihn schon oft in Teufels Küche, weil er seine Gefühle nicht im Griff hatte. Er ließ ihn gehässig und unvernünftig werden, aber er konnte ihn ebenso wenig ablegen wie seine eigene Haut.

Heute Nachmittag hatte er mit Itoe ein Gespräch geführt, das zunächst harmlos anfing und dann eine verheerende Wendung annahm.

 

*

 

„Wie hast du eigentlich mit Miro Silvester und Neujahr gefeiert?“

Itoe saß an dem cremeweißen Schminktisch, den Kira extra für sie gekauft hatte, und war dabei, sich für die Silvesterparty zurecht zu machen. Seit sie bei ihm eingezogen war, hatte sich seine spartanisch eingerichtete Junggesellenbude in ein gemütliches, flauschiges Zuhause verwandelt. Er hatte ihr einige Freiheiten gelassen, was die Einrichtung betraf, damit sie sich wohl fühlte, aber mittlerweile hatte er das Gefühl, es würde hauptsächlich aus ihren Sachen bestehen.

„Warum fragst du?“

Ihr überraschter Blick begegnete seinem im Spiegel.

Kira zuckte mit den Schultern und antwortete: „Es interessiert mich. Darf ich etwa nicht fragen?“

„Doch, natürlich“, erwiderte sie, gefolgt von einem unsichtbaren Aber.

Seit ihrem letzten großen Streit hatten sie nicht mehr über Itoes und Miros gemeinsame Vergangenheit gesprochen. Dabei war Kira ausgesprochen neugierig, was sein Zwillingsbruder seit seinem Verschwinden erlebt hatte – und Itoe war die Einzige, die ein wenig Licht ins Dunkeln bringen konnte. Doch bis jetzt hatte er immer gezögert, sie danach zu fragen. Denn so groß seine Neugier auch war, er wollte ihr nicht zu Nahe treten und alte Gefühle aufleben lassen.

„Wenn du nicht darüber reden willst, dann...“

„Nein, ist schon ok. Ich war nur überrascht.“ Ihr langes Haar schwang in sanften Wellen hin und her, als sie den Kopf schüttelte. Während sie überlegte, wo sie am besten anfangen sollte, beobachtete Kira aufmerksam ihr Gesicht. Er tat es nie offensichtlich, nur wenn sie gerade nicht hinsah oder schlief. Ihre markanten Gesichtszüge waren ihm mittlerweile vollkommen vertraut. Die gerade Nase, die vollen Lippen, die langen, dichten Wimpern, all das und noch mehr. Sie war aus seinem Leben gar nicht mehr wegzudenken.

„An Silvester hatte ich mit Miro auswärts Sobanudeln gegessen“, erzählte sie ihm und holte ihn zurück aus seinen Gedanken.

Es war eine Tradition, am letzten Tag des Jahres Toshikoshi Soba zu essen. Die langen Nudeln symbolisierten ein langes Leben und mussten restlos aufgegessen werden, damit kein Unglück ereilte.

„Um Mitternacht gingen wir dann zum Tempel, um die 108 Glockenschläge zu hören.“

Während Kira ihr zuhörte, bekam er das Gefühl nicht los, sie würde nicht von seinem Zwilling sondern von einem Fremden sprechen. Die Sache war nämlich die, dass Miro die ganzen Bräuche nie ernst genommen und sie verspottet hatte. Über den Brauch mit den Sobanudeln, die abgesehen von einem glücklichen auch ein langes Leben versprachen, sagte er einmal mit hämischen Grinsen: Wie lange ich wohl leben werde, wenn ich die aufesse? Vielleicht zwei, drei Monate mehr? Was meinst du, Kira? Danach hatte er die Nudeln in die Soße getunkt und sie schmatzend verschlungen. Ebenso erschien der Besuch in einem buddhistischen Tempel abseits der Realität zu sein. Die 108 Glockenschläge sollten die menschlichen Begierden darstellen, die sich im Laufe des vergangenen Jahres angesammelt hatten. Mit jedem Schlag sollten diese vertrieben werden, sodass man das neue Jahr frei von Sünden willkommen heißen konnte. Das alles klang nicht nach seinem Bruder, der die Personifikation jeder Sünde war und an Silvester mit Vollrausch ins neue Jahr rutschte.

„Und an Neujahr?“, hakte Kira nach und schob seine Gedanken beiseite.

„An Neujahr war ich bei meinen Eltern.“ Itoe zögerte kurz. „Aber ohne Miro.“

Das überraschte Kira nun doch, obwohl es schon eher nach seinem Bruder klang. Miro war nicht der Typ, der für Elternbesuche und Kaffeekränzchen bekannt war. Es war überhaupt erstaunlich, dass Miro sich auf Itoe eingelassen hatte, denn er war nie an ernsten Beziehung interessiert, geschweige denn an ewigen Bündnissen. Was war nur mit seinem Bruder geschehen, nachdem er verschwunden war? Konnte sich ein Mensch von Grund auf ändern? Doch Liebe und Heirat hatten seinen Zwillingsbruder anscheinend nicht davon abgehalten, Itoe wichtige Details über sein Leben vorzuenthalten. Ob es am Ende doch nur ein makabres Spiel war?

„Ich hatte ihn eingeladen“, fuhr Itoe nach einer kurzen Pause fort, „aber er meinte, es wäre zu früh.“

„Zu früh?“

„Ja. Wir kannten uns ja nicht mal ein Jahr.“

Aber zum Heiraten fand er das nicht zu früh. - Fast wären ihm diese Worte herausgerutscht, doch er konnte sich im letzten Moment zurückhalten.

Kira rechnete im Kopf nach, wann sich Itoe und Miro ungefähr begegnet sein müssten. Letztes Jahr im Frühling war sein Bruder spurlos verschwunden. Irgendwann in dieser Zeit musste er Itoe begegnet sein. Da Miro das besagte Neujahr nicht bei ihren Eltern verbrachte, ging Kira einfach davon aus, dass die Hochzeit irgendwann danach, also Anfang dieses Jahres, stattgefunden hatte, denn wenige Monate später war Miro gestorben und Itoe hatte seine Familie in Tokyo aufgesucht.

In so kurzer Zeit hatte Miro es also geschafft, ein nettes Mädchen kennenzulernen, sich zu verlieben und sie sogar zu heiraten. Was für ein Unsinn! Sie sprachen hier schließlich von Miro, einem gerissenen Frauenhelden, der das Leben in vollen Zügen genossen und sich alles nahm, was es ihm zu bieten hatte. Ich weiß, dass ich irgendwann sterben werde, Kira. Sich zu verlieben, wäre einfach nicht fair, nicht wahr? Allen Bekenntnissen zum Trotz hatte er es dennoch getan. Oder war doch alles ganz anders? Vielleicht hatte Miro Itoe um den Finger gewickelt, sie Hals über Kopf in sich verlieben lassen, und sie dann, aus unerfindlichen Gründen, rechtlich an Kira gebunden. - Woher kam plötzlich dieser Gedanken? War das das wahre Bild, was sein Bruder in seinem Herzen hinterlassen hatte?

Kira dachte an seine eigenen Gefühle für Itoe. Sie hatte sich ganz heimlich in sein Herz geschlichen, ihn aufgewühlt und nicht mehr losgelassen. Und dann erinnerte sie ihn auch noch an seine erste Liebe, was die Sache nicht gerade vereinfachte. Er hatte sich nicht in die Frau seines Bruders verlieben wollen. Aus Pflichtgefühl gegenüber seinem Zwillingsbruder hatte er sich ihrer angenommen, sich um sie gekümmert, sie beschützt. Aber niemand hatte sie vor ihm beschützt. Er war impulsiv und machtlos gegen seine Gefühle. Was hatte sich Miro bloß dabei gedacht, dieses zerbrechliche Mädchen ihm zu überlassen? Ihm fielen die Worte aus Miros Abschiedsbrief ein: Ich habe mich als dich ausgegeben, denn ich war mir sicher, dass du ohne mich noch total versauerst. Eine wunderbare Rechtfertigung, um sich in das Leben anderer einzumischen.

„Wann hatte Miro deine Eltern überhaupt kennengelernt?“, wollte Kira nun wissen. Morgen sollte er mit ihr gemeinsam zu ihren Eltern in die Präfektur Yamaguchi fahren, aber er hatte sich noch gar nicht richtig darauf eingestellt. Er war einerseits gespannt, ihre Familie kennenzulernen, andererseits war ihm etwas unbehaglich zumute. Da ihre Eltern Miro vermutlich kennengelernt hatten, musste er ihnen indirekt etwas vorspielen und sein Verhalten an das seines Bruders anpassen. Er hasste schon jetzt dieses Theater.

Etwas blitze in Itoes Augen auf, was er nicht deuten konnte. Sie griff nach der Wimperntusche und öffnete diese, als wollte sie sich Mascara auftragen, allerdings drehte sie den Deckel gleich darauf wieder zu.

„Gar nicht.“

Kira sah sie verständnislos an.

„Wie gar nicht?“

Itoe senkte den Blick, als wäre ihr das Thema unangenehm. Sie fixierte erneut die Wimperntusche in ihrer Hand, drehte den Deckel auf, verschloss ihn wieder. Ihr Gesicht hatte einen leidigen Ausdruck angenommen. Doch Kira hatte sich bereits zu weit vorgewagt, um einen Rückzieher zu machen.

„Itoe...“

„Wir haben heimlich geheiratet“, sagte sie schließlich und hob ihren Blick, um seinem erneut im Spiegel zu begegnen. „Wir haben es niemandem erzählt. Nicht einmal unseren Eltern.“

Mit dieser Wendung hatte Kira beim besten Willen nicht gerechnet. Er wusste zwar, dass seine Eltern von dieser Hochzeit nicht in Kenntnis gesetzt wurden, aber dass es Itoes Eltern genauso ergangen war, hatte er nicht erwartet. Dieses sonderbare Verhalten ergab für ihn keinen Sinn. Wozu diese Geheimnistuerei? Doch anstatt ihr diese Frage zu stellen, drängte sich ihm eine andere auf.

„Warum hast du Miro überhaupt geheiratet? Ihr kanntet euch doch kaum. Du hast gesehen, dass er krank war und nicht mehr lange durchhalten würde. Warum hast du dich darauf eingelassen?“

War Liebe oder Dummheit das Fundament dieser Entscheidung? Kira wollte ihr nicht zu nahe treten, er war sich nicht einmal sicher, ob er ihre ehrliche Antwort hören wollte. Aber wenn die Gedanken erst einmal Form angenommen hatten, war es praktisch unmöglich, sie zu ignorieren.

Kaum hatten diese Worte seine Lippen verlassen, wurde ihm bewusst, dass sie sich nach einem Vorwurf anhörten - und vielleicht waren sie das auch. Er wollte ihre Beweggründe verstehen, doch dabei kam ihm wie so oft sein Feingefühl Abhanden.

„Ist das nicht offensichtlich?“

Es war keine direkte Antwort auf seine Frage und doch viel mehr, als er ertragen konnte. Früher hätte ihn das kalt gelassen, aber sie hatte ihn verweichlicht und schwach werden lassen.

„Doch, natürlich“, presste er hervor und verzog sich das Gesicht, als würden die Worte bitter schmecken.

Sie musste das Kind nicht beim Namen nennen, damit er wusste, was sie meinte. Warum hatte er überhaupt danach gefragt? Miro war ein wunder Punkt von ihnen beiden. Bohrte er etwa zu gern darin herum, bis es weh tat?

„Aber es war ganz schön dumm. Liebe hin oder her, es ist einfach verantwortungslos, einen Menschen zu heiraten, den man kaum kennt. Und der zu allem Übel sterbenskrank ist.“

Kira spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Itoe hingegen saß ruhig da, obwohl man die Betroffenheit in ihrem Gesicht ablesen konnte.

„Wahrscheinlich hast du recht.“

Ihre Zustimmung machte ihn nur noch wütender.

„Wieso hast du es dann getan, wenn du genauso darüber denkst wie ich?“

„Vielleicht war er ja tief in seinem Herzen einsam“, sagte sie unvermittelt und brachte Kira damit etwas aus dem Konzept. „Du konntest es einfach nicht sehen. Deswegen kannst du auch nicht verstehen, was diese Heirat für ihn bedeutet hat.“

Kira fühlte sich, wie vor den Kopf gestoßen. Woher nahm sie sich das Recht zu behaupten, er würde seinen eigenen Bruder nicht verstehen? Woher sollte sie wissen, welche Intentionen sein Bruder verfolgte, wenn Kira es nicht einmal selbst hundertprozentig sagen konnte?

Er schnaubte und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Deine Naivität ist unglaublich. Woher willst du das wissen? Hat er dir das gesagt? Nein? Hab' ich es mir doch gedacht. - Er hatte sich als mich ausgegeben, Itoe, dir etwas vorgespielt. Gut, über seine Gefühle werde ich nichts sagen, darüber weiß ich nichts. Aber erzähl' mir nichts von Einsamkeit. Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie Miro wirklich war. - Aber damit hast du meine Frage immer noch nicht beantwortet. Warum hast du ihn geheiratet?“

 

*

 

Kira hatte sich um Kopf und Kragen geredet und Dinge gesagt, die er gar nicht sagen wollte. Er wusste nicht einmal mehr, wie das Gespräch dermaßen außer Kontrolle geraten konnte. Wenn er könnte, würde er die Zeit zurückdrehen, seine Worte zurücknehmen und nie wieder über Miro sprechen, sondern ihn stillschweigend akzeptieren, wie er es sich abermals vorgenommen hatte. Aber der Schatten seines Bruder war lang und dunkel. Selbst wenn man nicht über ihn sprach, lag er stets auf ihnen.

Aus den Boxen ertönte die Melodie von Rachael Yamagatas Song Something in the rain und ließ Kira aufhorchen. Er war der Überzeugung, dass er nur schwungvolle Musik auf die Playlist gesetzt hatte, zu der die Gäste gut tanzen konnten. Aber anscheinend war bei der Überprüfung des USB-Sticks etwas schief gelaufen. An einem anderen Tag hätte er sich über diesen kleinen Fauxpas geärgert, aber heute war ihm das absolut gleichgültig.

Die sanften Klänge und die rauchige Stimme von Yamagata gingen ihm unter die Haut und verursachten eine Gänsehaut, wie die Berührung einer Frau. Der kurze Soloauftritt des Saxophons verlieh dem Song eine besondere Note.

Ohne Vorwarnung zeichnete sich Itoes Bild vor seinem inneren Auge ab. Ihr Lächeln, ihre Berührung, ihre Stimme. Jedes Detail in ihrem Gesicht, das er so oft studiert hatte. Sie war es. Seine zweite Hälfte. Er konnte das Gefühl nicht beschreiben, aber er konnte es fühlen. Es war irgendwo tief in seiner Brust verankert und übte einen leichten Druck aus. Vielleicht war es aber auch nur dieser Song, der diese Sehnsucht in ihm weckte.

 

*

 

Als ein ruhiger Song gespielt wurde, nutzte Itoe die Gelegenheit und verschwand auf der Toilette. Sie war schon den ganzen Abend mit den Gedanken ganz wo anders und konnte die Party gar nicht richtig genießen, dabei hatte sie sich sehr darauf gefreut. Sie hatte sich auf einen Neuanfang gefreut. Aber vielleicht war das nur reines Wunschdenken. Vielleicht war ein Neuanfang gar nicht möglich.

Itoe wusch sich die Hände und ihr Blick fiel automatisch auf ihren Ringfinger, an dem ein kleiner Diamant funkelte. Sanft strich sie darüber.

Die Tür ging auf und Itoe hob ihren Blick. Im großen Spiegel über dem Waschbecken begegnete sie einem bekannten Augenpaar. Angst war eine faszinierende Sache. Sie schlich sich nicht an dich heran wie ein Raubtier, sondern packte direkt zu. Es brauchte nur einen Auslöser.

Itoe spürte, wie ihre Hände zitterten und sie klammerte sich mit den Handflächen an den Rand des Waschbeckens.

„Lange nicht gesehen, Schätzchen.“

Begegnungen

Den ganzen Abend lang beschäftigte Itoe sich mit der Frage, ob sie nicht den unglücklichen Ausgang ihres Gesprächs mit Kira hätte abwenden können. Sie spielte die Situation wieder und wieder in ihrem Kopf ab, aber das Resultat blieb dasselbe. Nach dem Gespräch war Kira in den Club vorgefahren und ließ sie allein zu Hause zurück. Danach konnte Itoe sich auf nichts konzentrieren. Für das Make-up hatte sie eine halbe Ewigkeit gebraucht. Die Wimperntusche verschmierte das obere Lid, der rote Lippenstift lag über ihrer Lippenkontur und zu allem Übel machte die Foundation ihr Gesicht fleckig statt glatt und fein. Am Ende sah ihr Make-up nach einem missglückten Versuch einer Grundschülerin aus, sodass sie von vorne anfangen musste.

Kiras Fragen hatten sie aufgewühlt, mehr, als sie sich eingestehen wollte. Zunächst wollte er erfahren, was sein Bruder nach seinem Verschwinden erlebt hatte. Da seine Neugier berechtigt war, hatte Itoe brav alle Fragen beantwortet. Doch dann fing er an, tiefer zu graben und wollte auf einmal wissen, warum sie Miro geheiratet hatte. Und anstatt ihm eine Antwort zu geben, sprach sie von Miros Einsamkeit, die ihn zu dieser Entscheidung bewegte und die Kira nie aufgefallen war. Aber was war mit ihren eigenen Motiven? Warum hatte sie sich auf die Heirat mit einem Mann eingelassen, um dessen Gesundheit es schlecht stand? Sie hatte das Gefühl, ihr Leben würde nur noch aus einem Haufen unbeantworteter Fragen bestehen.

Itoe konnte sich noch ganz genau an ihre erste Begegnung mit Miro erinnern. Damals arbeitete sie in einer kleinen Konditorei in der Präfektur Yamaguchi. Nachdem sie die Oberschule abgeschlossen hatte, verfolgte sie keine höheren Ziele und hatte keine Pläne für die Zukunft. Ihre Eltern hatten alles Erdenkliche versucht, um Itoe für die Universität zu begeistern. Sie waren der Auffassung, dass man nur dann etwas im Leben erreichen konnte, wenn man stets sein Bestes gab. Dann standen einem alle Türen offen, die man wohl sonst nicht einmal aus der Ferne sah. Das mochte zwar stimmen - und Itoe enttäuschte ihre Eltern ungern - aber aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen aus der Schulzeit, wollte sie unter gar keinen Umständen studieren, damit sich die Ereignisse aus der Schulzeit nicht wiederholten, selbst wenn sie dafür die Chance auf eine Karriere opferte. Itoe fragte sich nicht zuletzt, ob das wirklich alles war, worauf es im Leben ankam: Pauken, solange man jung war, Karriere, bis man alt wurde. Gab es da nicht wichtigere Dinge? Ihre Gedanken hatte Itoe ihren leistungsorientierten Eltern verschwiegen und ihre Dickköpfigkeit durchgesetzt. So kam es dazu, dass sie in der Konditorei, die einer Bekannten ihrer Mutter gehörte, als Aushilfe anfing und schließlich zur Festangestellten wurde. Die Arbeit konnte an manchen Tagen sehr anstrengend sein, vor allem, wenn man einen Auftrag für eine Hochzeitstorte bekam. Es erforderte viel Feingefühl, damit die Torte den Vorstellungen der Kunden gerecht wurde. Die Kunst bestand darin, eine Harmonie zwischen den Verzierungen und dem Geschmack zu schaffen. Denn was nützte eine wunderschöne Hülle, wenn das Innere verdorben war? Sie konnte ihre Kreativität frei entfalten und durch ihre schnelle Auffassungsgabe beherrschte sie das Handwerk im Handumdrehen. Aber das Beste an diesem Job waren ihre Kollegen, die in schwierigen Momenten stets zur Seite standen. Es waren hauptsächlich ältere Mitarbeiterinnen angestellt, die Erfahrungen in diesem Bereich vorweisen konnten. Itoe war das kleine Küken, das von allen behütet wurde. Der Duft von frisch gebackenem Teig vermittelte ihr das Gefühl von einem zweiten Zuhause, von Zugehörigkeit, und doch schien ihr etwas für ihr Glück zu fehlen.

Geh aus, hab Spaß! Das hatte ihr Masako immer gepredigt. Solange du jung bist, solltest du das Leben feiern, und nicht mit uns alten Frauen Überstunden machen. Dabei war Masako selbst erst Mitte dreißig und weit davon entfernt, eine alte Frau zu sein.

Eines Tages kam ein junger Mann in die Konditorei und fragte Itoe nach einer Empfehlung der Küchlein, doch anstatt sich die Törtchen in der Vitrine anzuschauen, hatte er seinen Blick unentwegt auf sie gerichtet. Itoe war es gewöhnt, dass man sie aufgrund ihres Aussehens unverhohlen ansah, aber die Art, wie er sie betrachtete, lag weit davon entfernt. Es fühlte sich eher danach an, als versuchte er in ihr Innerstes zu blicken, auf der Suche nach etwas, das hinter ihren hellbraunen Augen verborgen lag.

Danach fing er an, regelmäßig vorbeizukommen. Er kaufte sich ein Stück Kuchen und verwickelte Itoe beiläufig in irgendein belangloses Gespräch. Mit seinem Sinn für Humor und seiner umgänglichen Art hatte er sich schnell einen Weg in ihr Herz verschafft, sodass sie den nächsten Tag herbeisehnte, an dem sie sich wiedersahen.

Der Junge scheint dich zu mögen, Itoe! So oft kommt sonst keiner hierher. - hatte Masako behauptet und schon bald darauf, fragte er sie nach einem Date. Doch Itoe zögerte. Auf der Schule war sie ein paar Mal mit Jungs ausgegangen, aber es hatte sich nie etwas Ernstes daraus entwickelt. Sie hatte keine großen Hoffnungen, dass es diesmal anders sein würde. Und hätte Masako sie zu diesem Schritt nicht ermutigt, wäre Itoe wahrscheinlich nie mit Miro ausgegangen.

Itoe hatte vorher niemanden Vergleichbares kennengelernt. Wahrscheinlich war es deswegen unvermeidlich, dass sie sich in diesen Menschen verliebte. Dennoch war sie sprachlos, als er ihr einen Heiratsantrag machte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Es schien ihm viel zu bedeuten, und da er wiederum ihr viel bedeutete, hatte sie schließlich eingewilligt.

Itoe konnte verstehen, dass Kira ihre Entscheidung für verantwortungslos und dumm hielt. Das Verhalten zweier Menschen, die starke Gefühle füreinander hatten, erschien vom äußeren Standpunkt oft unbegreiflich. Liebe folgte ihrer eigenen Logik. Sie trieb Verliebte zu Verrücktheiten und Außenstehende in den Wahnsinn. Obwohl Itoe wusste, dass ihre Eltern die Hochzeit nicht gutheißen würden, wollte sie ihnen diese Entscheidung nicht vorenthalten. Aber dazu war es nie gekommen, denn Miro bestand auf die Geheimhaltung.

Während Itoe die Erinnerungen Revue passieren ließ, beobachtete sie Kiras Spiegelbild durch den runden Spiegel über ihrem Schminktisch. Er trug an diesem Abend ein weißes Hemd zu der eleganten, marineblauen Hose und ein dazu farblich passendes Jackett. Die Farbe stand ihm gut und der perfekt geschneiderte Anzug brachte seine schlanke Statur wunderbar zur Geltung. Er war Miro wie aus dem Gesicht geschnitten, und doch eine ganz andere Person. Obwohl Miro ihr vieles über seine Herkunft verheimlicht hatte, konnte nicht alles gespielt sein, davon war Itoe überzeugt. Seine Lebensfreude, seine Begeisterung für Musik und Kunst, seine Gefühle für sie - und seine Einsamkeit.

 

*

 

„Lange nicht gesehen, Schätzchen“, sagte Makoto und trat neben Itoe an das Waschbecken. „Wie geht's deiner Hand?“

Jede Faser ihres Körpers versteifte sich. Itoe spürte nur ihren beschleunigten Herzschlag sowie ein dumpfes Pochen ihrer linken Hand. Ihre Blicke begegneten sich in dem rechteckigen Spiegel über dem Waschbecken. Die Dunkelheit ihrer Augen zog Itoe hypnotisch an. Sie glaubte, darin ernsthaftes Interesse vorzufinden, doch Makotos selbstgefälliges Grinsen strafte ihre Worte Lügen. Mit Mühe schaffte Itoe es, sich aus dieser Finsternis zu befreien. Ohne auf Makotos vorgespieltes Interesse einzugehen, wandte sie sich ab und steuerte den Ausgang an.

„Warum hast du Kira nichts davon erzählt?“

Makotos zweite Frage kam genauso unerwartet wie die erste und veranlasste Itoe dazu stehen zu bleiben. Innerlich trug sie einen Kampf mit sich aus: Flucht gegen Neugier. Sollte sie einfach gehen oder sich dieser Person stellen? Langsam wandte sie sich zu der jungen Frau um. Makoto stand mit verschränkten Armen ihr gegenüber und wartete auf ihre Antwort. Ihr Haar fiel ihr prächtig über die Schultern und ihr schlanker Körper steckte in einem enganliegenden roten Kleid, das einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté bot. Ihre ganze Erscheinung erfüllte den Raum. Die Neugier gewann.

„Warum denkst du, ich hätte es nicht getan?“

Ein verächtliches Schnauben verließ die dunkelrot geschminkten Lippen.

„Machst du Witze?“ Makoto musterte Itoe abschätzend. „Hätte du es Kira erzählt, hätte er mir schon längst den Hals umgedreht. Wenn er wütend wird, möchte man nicht in seiner Nähe sein. - Deinem Blick nach zu urteilen, weißt du, wovon ich rede.“

Makotos Angst vor Kiras Reaktion hatte sie allerdings nicht daran gehindert, einen Menschen zu verletzen. Sich erinnernd, berührte Itoe ihre Hand, die mittlerweile verheilt war. Eine Regung huschte über Makotos makelloses Gesicht, bevor sie ihren Blick abwandte und sich ihrer Handtasche widmete, um etwas darin zu suchen.

„Ich wollte den eigentlich verkaufen. Dachte, er wäre was wert. Aber das ist bloß ein billiges Metallstück.“

Obwohl Itoe den Gegenstand nicht sehen konnte, hatte sie eine vage Vermutung, was Makoto meinte.

„Hier hast du ihn zurück.“

Mit einem leisen, kaum hörbaren Aufprall landete der Ring auf dem schwarzen Marmorboden, prallte einmal ab und drehte sich wie im wilden Tanz um seine eigene Achse, bevor er vor Itoes Füßen zum Erliegen kam. Das letzte Andenken an Miro wurde behandelt wie Müll.

Itoe beugte sich hinab und hob den Ring auf. Wenn Makoto wüsste, wer Itoe diesen Ring wirklich geschenkt hatte, würde sie sich dann anders verhalten? Würde sie ein bisschen Mitgefühl zeigen oder weiterhin so boshaft sein?

„Gott, nun schau mich nicht so an.“ Makoto schnalzte genervt mit der Zunge und wich Itoes abwertendem Blick aus. „Jetzt hast du ihn ja wieder.“

„Ich sollte mich wohl bei dir bedanken.“

„Oho, du kannst ja sarkastisch sein! Und ich dachte, dass du ein kleines Mauerblümchen bist, das seinen Mund nicht auf bekommt.“

Die lähmende Angst hatte ihren festen Griff tatsächlich gelockert, aber sie ließ Itoe immer noch nicht erleichtert aufatmen.

„Warum gibst du ihn mir wieder? Du hättest ihn wegwerfen können.“

Makoto zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Wenn du ihn nicht willst, kannst du ihn ja wegschmeißen. Wie ich sehe, hast du eh einen neuen.“

Itoe steckte schweigend Miros Ring in ihre silberne Clutch ein. Ob Makoto ein schlechtes Gewissen hatte und ihr deswegen den Ring zurückgab? Ein flüchtiger Gedanken, der sofort wieder verschwand.

„Ich kann echt nicht begreifen, was Kira an dir findet. Er ist wahrlich ganz anders als sein Bruder“, meinte Makoto vieldeutig. Als wäre damit alles gesagt, wandte sie sich zum Spiegel, holte ihren Lippenstift aus der Tasche und schminkte sich ihre Lippen nach. Mit wenigen Worten schaffte sie es, Itoes Neugier zu nähren.

„Was meinst du damit?“

Makoto verstaute ihren Lippenstift wieder in ihrer Tasche und drehte sich zu ihrem neugierigen Gegenüber um. Schweigend legte sie den Kopf schief und betrachtete Itoe prüfend. Sie schien zu überlegen, ob sie weitersprechen sollte.

„Na ja, was schon?“, sagte sie schroff und verschränkte erneut ihre Arme vor der Brust, „sie waren halt unterschiedlich.“

„Kanntet ihr euch gut?“, hakte Itoe weiter nach.

„In gewisser Weise.“

Makotos unklare Aussagen machten Itoe ganz unruhig.

„Und ihr? Kanntet ihr euch auch?“

Auf diese Gegenfrage war Itoe nicht vorbereitet. Unsicher senkte sie den Blick. Sie zögerte, die Lüge bereits auf ihren Lippen, doch Makoto kam ihr zuvor.

„Ihr kanntet euch!“, stieß Makoto aus und Itoe zuckte zusammen. „Aber warum überrascht mich das jetzt nicht? Miro konnte an keinem Rock vorbeigehen, ohne drunter zu schauen.“

Die Bestürzung stand Itoe vermutlich ins Gesicht geschrieben, denn Makoto sah sie mit einem süffisanten Grinsen an. Sie hatte sie durchschaut, auch wenn ihre Schlussfolgerung nicht ganz korrekt war.

„Ich fasse es nicht. Du magst wie ein Unschuldslamm aussehen, bist aber ein kleines Flittchen.“ Sie lachte auf, als würde diese Tatsache sie köstlich amüsieren. „Keine Sorge. Ich verrate es Kira nicht“, sie senkte die Stimme und fügte verschwörerisch hinzu, „wenn du es auch nicht tust.“

In diesem Moment ging die Tür zur Damentoilette auf und zwei kichernde Frauen betraten den Raum. Sie verstummten sofort, als sie Itoe und Makoto erblickten. Verblüfft sahen sie zwischen den beiden hin und her und verschwanden kurzerhand jeweils in einer Kabine.

Itoe versuchte ihre Gedanken neu zu ordnen. Makoto hatte mit Miro geschlafen, oder hatte sie das jetzt falsch verstanden? War sie etwa, bevor sie mit Kira zusammen gekommen war, Miros Freundin? Das konnte sie schwer glauben, denn das würde bedeuten, dass sie genauso wie Itoe mit beiden Brüdern zusammen gewesen war. Eine unangenehme Vorstellung.

Die beiden anderen Frauen verließen eine nach der anderen die Kabinen und wuschen sich die Hände, während sie verstohlene Blicke zu Itoe und Makoto herüberwarfen, bis Makoto einen bissigen Spruch fallen ließ und die beiden verscheuchte.

„Du warst also mit Miro zusammen?“, fragte Itoe gleich, nachdem die Tür ins Schloss fiel. Die Worte kamen ihr kaum über die Lippen. Sie fühlten sich klebrig und zäh an.

„Was?“, stieß Makoto verblüfft aus. „Mach dich nicht lächerlich.“

„Aber du hast doch gesagt...“

Makoto machte eine wegwerfende Handbewegung und schnitt Itoe das Wort ab.

„Ich hatte mal was mit ihm, das ist alles.“

Itoe wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Die Tatsache, dass Makoto nicht nur mit Kira sondern auch mit seinem Bruder geschlafen hatte, traf sie unerwartet und schwer. Itoe lebte nach dem Prinzip, niemanden aufgrund seiner Vergangenheit zu verurteilen, aber heute Abend stieß ihre Toleranz an ihre Grenzen.

„Hey, guck mich bloß nicht so anmaßend an, verstanden? Du bist doch auch nicht besser! Erst der eine Bruder, dann der andere. Du hättest Miro mit diesem vorwurfsvollen Blick angucken sollen. Er war schließlich derjenige, der sich an mich rangemacht hat, während ich mit Kira zusammen war. - Männer! Verbotenes Fleisch ist immer schmackhafter, nicht wahr?“

Die Worte wurden wie ein Eimer voller Mist über ihr ausgekippt. Itoe fühlte sich auf einmal ganz schmutzig.

„Hat Kira das auch getan?“

„Was?“

„Dich betrogen. Hat er das auch getan?“

„Gelegenheiten hatte er genug“, sagte Makoto widerwillig. Sie fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. „Aber ich denke nicht, dass er sie genutzt hat. Und wenn, dann hätte ich es sicher herausgefunden. So wie ich es mit dir herausgefunden habe.“

Itoe schüttelte verständnislos den Kopf.

„Wage es ja nicht, über mich zu urteilen, du Männerdiebin“, fügte Makoto bissig hinzu, doch Itoe hatte genug geschwiegen und ihre Meinung für sich behalten. Sie konnte sich nicht länger dieses schmutzige Gerede anhören, selbst wenn es der Wahrheit entsprach.

„Ich frage mich, wie du so sein kannst.“

„Was?“

„Du schiebst alles auf andere, sagst, Miro hätte dich verführt. Warum hast du dich darauf eingelassen? Du sagst, ich hätte dir Kira weggenommen. Aber wie kann man etwas wegnehmen, das keinem gehört? Er war nicht dein Eigentum und meiner ist er auch nicht. Denkst du etwa, dieser Ring an meinem Finger bindet mich an ihn? Denkst du das wirklich? - Wenn er gehen will, wird er gehen und kein Ring oder Heiratsurkunde werden ihn daran hindern.“

Die Worte verließen unaufhaltsam ihren Mund und verschafften ihr unendliche Erleichterung. Langsam drehte sie sich wieder Richtung Ausgang, doch da fiel ihr noch etwas ein.

„Ich bedauere dich. Du bist so voller Boshaft, dass du all das Gute, was dir begegnet, zerstörst. Mit Kira hast du einen wertvollen Menschen verloren und daran bist nur du selbst schuld.“

Bevor Itoe die Damentoilette verlassen konnte, hörte sie laute Absätze von hinten auf sie zusteuern. Makoto packte sie grob am Arm und riss sie herum. Da knallte reflexartig eine Handfläche voll in das Gesicht der jungen Frau. Doch war es nicht Makotos Hand, sondern Itoes. Beide starrten sich in die Augen, erschrocken und fassungslos.

Makoto berührte mit ihren zitternden Fingern die gerötete Wange und starrte Itoe mit weit aufgerissenen Augen an. Wie erstarrt erwiderte Itoe ihren Blick. Sie spürte das Pochen in ihrer Handfläche und fragte sich, ob ihr Gegenüber zurückschlagen würde. Doch bevor sie den Gedanken beenden konnte, wandte sich Makoto abrupt ab und eilte zum Spiegel.

„Scheiße... Du bist echt durchgeknallt.“

Makoto verzog sich das Gesicht, wahrscheinlich vor Schmerz. Obwohl sie die Ohrfeige eindeutig verdient hatte, setzte Itoe zu einer Entschuldigung an. Sie hatte noch nie jemanden geschlagen und war über ihr Verhalten erschrocken. Sie wusste gar nicht, wie sie sich das überhaupt getraut hatte.

„Spar dir das, Schätzchen, und hau einfach ab.“ Sie warf Itoe durch den großen Spiegel an der Wand einen kurzen Blick zu. „Wir sind quitt.“

 

*

 

Draußen auf dem Balkon war es erfrischend kühl, doch Itoe spürte die Kälte kaum. Zu sehr war sie von den heutigen Ereignissen eingenommen. Die hitzige Diskussion mit Kira und die Begegnung mit Makoto auf der Damentoilette hatten sie erschöpft. Am liebsten wäre sie sofort ins Bett gefallen und hätte den Tag hinter sich gelassen.

Itoe trat an das Geländer, etwas abseits von den anderen Gästen, die ebenso wie sie frische Luft schnappen wollten. Einige von ihnen rauchten, doch sie stand weit genug entfernt, um von dem Geruch nicht belästigt zu werden. Itoe atmete tief ein und aus und stieß weiße Wölkchen aus, die sich mit der winterlichen Nachtluft vermischten und bald darauf auflösten.

Itoe hatte geglaubt, dass sie nichts mehr überraschen könnte. Wie naiv sie doch war. Sie war bereits seit längerem zu der Erkenntnis gelangt, dass Miro ein anderer Mensch war, als er vorgegeben hatte zu sein. Aber wer war dieser Mann, der mit der Freundin seines Bruders eine Affäre hatte? Es konnte nicht derselben Mensch gewesen sein, den sie kennengelernt hatte, der grinsend über einen Zaun in einen fremden Garten gesprungen war, nur um ihr eine Blume zu pflücken, der ohne einen triftigen Grund anrief, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Der Mann, von dem Makoto gesprochen hatte, war ein Fremder. Der Mann, den Itoe kennengelernt hatte, war anders. Trotz seiner Aufmerksamkeit und Zuneigung hatte er sie nie auf diese Weise berührt. Er hatte es nicht einmal versucht. Itoe hatte seine Zurückhaltung auf die Krankheit geschoben, die sein Wohlbefinden vergiftete, aber nach allem, was sie erfahren hatte, kam ihr diese Erklärung beinahe lächerlich vor. Solche Hindernisse schienen Miro offensichtlich nicht aufzuhalten, ganz im Gegenteil. Sie spornten ihn sogar an, alle Freuden des Lebens auszuschöpfen und dabei sogar Grenzen zu überschreiten. Itoe fragte sich, wie ein Mensch seine wahre Natur verbergen konnte. War es die Raffinesse des Lügners oder die Gutgläubigkeit des Gegenübers?

In Gedanken vertieft, merkte sie gar nicht, wie sich ihr jemand von hinten nährte. Erst, als ein Jackett auf ihre Schultern gelegt wurde, blickte sie überrascht auf. Kira hatte sich rechts neben sie an das Geländer gestellt, die Hände lässig in den Hosentaschen, den Blick auf die nächtliche Skyline gerichtet.

Ein atemberaubender Anblick, ging ihr durch den Sinn.

Sie zog das Jackett enger um ihren Körper und lächelte still in sich hinein, als ihr sein vertrauter Duft in die Nase stieg. Die erdrückende Schwere in ihrem Herzen wich einer unerwarteten Leichtigkeit.

„Itoe, hättest du nicht Lust auf Sobanudeln?“

Am letzten Tag des Jahres war diese Frage eigentlich nichts Außergewöhnliches, aber in diesem Augenblick ein wenig sonderbar.

„Ist das ein Friedensangebot?“

Sein ernstes Profil wurde sanfter, als sich um das linke Auge kleine Fältchen bildeten. Er wandte ihr das Gesicht frontal zu und sah ihr direkt in die Augen.

„Nimmst du es an?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen :3

Entschuldigt die lange Wartezeit! T^T Ich weiß, ihr denkt eher, sie soll sich nicht entschuldigen, sondern schneller in die Tasten hauen, verdammt!
I try ._.
Ich habe das Ende dieses Kapitels etwas geändert, weil es mir nicht gefallen hat >_< Ich hoffe, ihr seid nicht verwirrt. Die Änderung ist auch minimal.

Danke an alle, die es bis hierhin geschafft haben! *^* Komplett anzeigen

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Von:  Soralai
2019-01-14T15:38:43+00:00 14.01.2019 16:38
Natürlich nimmt sie es an! Wehe wenn nicht *das Nudelholz schwing*
Makoto ist doof.... was bildet die sich ein *mecker* *Nudelholz nach der ollen im roten Kleid werf*
Antwort von:  May_Be
15.01.2019 17:21
sie hat ja jetzt bekommen, was sie verdient oder :D
Antwort von:  Soralai
16.01.2019 10:13
Itoe war viel zu nett!!!
Antwort von:  May_Be
16.01.2019 18:58
sie ist ein netter Mensch *^*
Von:  Tasha88
2019-01-11T20:36:55+00:00 11.01.2019 21:36
Und schon das nächste... Ich glaube aber fast, dass sich das auch ein paar Tage ziehen wird, bis ich aktuell bin...

Zum Thema alte Geschichte - hier habe ich einen Gedankenfehler gefunden :D
Zu Beginn packt sie alles in Kartons (Mehrzahl), in das Haus gehen sie aber mit einem einzelnen Koffer ;p

Ich finde es toll, dass kira sie in miros Wohnung bringt. Er weiß, was sie und sein Bruder sich bedeutet haben.

Ein echt extremer letzter Wille, den miro da hatte, aber itoe und kira lieben ihn und versuchen es deshalb...

Kita heißt übrigens die Hündin meiner Schwester, muss immer wieder deswegen kichern ;p

<3

Antwort von:  May_Be
13.01.2019 10:31
Lass dir Zeit :)

Ja, das ist wirklich ein Fehler. Kommt davon, wenn keiner vorher drüber liest. Aber jetzt hab ich dich ja dafür xD Besser spät als nie *Twix hinschieb*

Da hat Miro etwas Schönes ausgeheckt :D

die Hündin Kita xD jetzt muss ich auch lachen

<3
Von:  Tasha88
2019-01-11T20:29:56+00:00 11.01.2019 21:29
So so...
Also ich fände es auch übel, wenn man die Liebe seines Lebens heiratet und dann hat derjenige einen nur verarscht... Und der tatsächliche Ehemann ist ein depp... Okay, ich greife voraus, aber egal...

Das die Beerdigung dann anders gemacht wird, ist auch nicht in Ordnung. Itoe war Miros Frau (Naja) und sie sollte entscheiden. Nicht die Mutter... Egal

Ich werde jetzt einfach alles nochmal lesen, egal wie schlecht :p

<3
Von:  Tasha88
2019-01-10T18:44:33+00:00 10.01.2019 19:44
Liebes Vielleicht,

Mit erschrecken habe ich festgestellt, dass du hier weiter geschrieben hast - Schande über mein Haupt.
Irgendwie dachte ich, dass du bei einer anderen Geschichte einfach die Kapitel nochmal nach gebessert hast... Und dann ging es unter (obwohl mir die Kapitel immer angezeigt wurden)

Da ich dann nicht mehr ganz mit kam und mich auch nur teilweise an die Geschichte erinnern konnte (wobei ich einige Szenen) im Kopf habe, habe ich mich entschieden, nochmal vorne anzufangen ;)

*jahresvorrat an Twix rüber schieb* #schlechtesGewissen

<3
Antwort von:  May_Be
10.01.2019 20:01
Liebe Tasha,

ich freue mich natürlich sehr, dass du noch mal von vorne anfängst, aber, und ich möchte dich an dieser Stelle nur warnen XD, der Anfang der Geschichte ist, wie soll ich es am besten ausdrücken, aus dem Jahr 2015 XD Wenn ich die alten Kapitel lese, bekomme ich die Krise :D am liebsten würde ich alles komplett überarbeiten. Aber (!) dann wäre ich in 10 Jahren nicht fertig. Und ich möchte euch nicht länger warten lassen.

Ich nehme deinen Jahresvorrat an Twix gerne an und biete dir dafür selbstgemachte Schokotörtchen an :3

Also, ich hoffe, du hast trotzdem Spaß beim Lesen und falls du Unstimmigkeiten entdeckst, sag Bescheid. Man selbst ist ja blind dafür :)

Bis zum nächsten Mal <3
Von:  Soralai
2019-01-09T08:27:41+00:00 09.01.2019 09:27
Echt jetzt *Schnute zieh* die plöde Kuh *hmpf*
So ein Rotz....

Die will womöglich such gleich noch den zweiten Ring schnappen.... ausrutschen soll sie *den Boden wie beim curling -heißt das so? - nass mach und fix mit dem feudel überpolier und dabei diabolisch lach* Falle.... Du olle schätzchensagerin

*itoe vorsichtig raus schieb* lauf mein Kind lauf
Antwort von:  May_Be
09.01.2019 09:35
*sich vor lachen den Bauch halt*

"olle schätzchensagerin" genial :D

Du warst wahrscheinlich so aufgebracht, dass du deinen Kommi gleich 2 Mal gepostet hast XD

und ja, es heißt curling :D
Antwort von:  Soralai
09.01.2019 12:04
Öhm.... Ja 2 mal ...

Ich erwarte jetzt das sie ausrutscht;D
Antwort von:  May_Be
09.01.2019 12:07
ich denke, du wirst auf deine Kosten kommen :D
Antwort von:  Soralai
09.01.2019 14:51
Oh Kira haut ihr die Tür gegen das Kreuz

Öhm spürt man eine gewisse Abneigung?
Antwort von:  Soralai
09.01.2019 14:52
Achso vergessen zu erwähnen, sehr schöner passender Kapiteltitel!
Antwort von:  May_Be
09.01.2019 15:19
Abneigung? Nur ein bisschen :P

Danke :3
Antwort von:  Soralai
09.01.2019 19:32
Ah dann ist ja gut .... mach mir ja manchmal beim Kommi schreiben Sorgen um mein Charme ;)
Antwort von:  May_Be
09.01.2019 19:49
XD
Aber genau DAS macht deinen Charme ja aus ;)
Von:  Soralai
2019-01-09T08:23:24+00:00 09.01.2019 09:23
Echt jetzt *Schnute zieh* die plöde Kuh *hmpf*
So ein Rotz....

Die will womöglich such gleich noch den zweiten Ring schnappen.... ausrutschen soll sie *den Boden wie beim curling -heißt das so? - nass mach und fix mit dem feudel überpolier und dabei diabolisch lach* Falle.... Du olle schätzchensagerin

*itoe vorsichtig raus schieb* lauf mein Kind lauf
Von:  Soralai
2018-11-09T08:25:18+00:00 09.11.2018 09:25
*quietsch*

jaaahhaa sie küssen sich :) ich will mehr!!! *Bettel und dir das Twix spenulatius hinleg* is neu .... ne Limited....

und ja da tut sie mir leid das sie sich unwohl fühlt .... das kann man durch aus nachvollziehen.
schade das es ihr mit der Verkäuferin nicht raus gerutscht ist *grins* das wärs doch gewesen *Augenbrauen wackeln lass*

und was passiert jetzt? wehe die stößt ihn wieder vorm Kopf *bedrohlich schau*
Antwort von:  May_Be
09.11.2018 12:37
haha die wird ihn schon nicht wegstoßen XD
sonst kriegt sie Ärger mit mir :P
*twix mampf und das nächste Kapitel schreib*

Wie Kira wohl auf ihre Eifersucht reagiert hätte? *^*
*sich Szenarien ausmal*
Von:  Soralai
2018-10-01T21:03:16+00:00 01.10.2018 23:03
*So noch schnell einen Kommentar verfass*
Ich.Will.Mehr.Davon!

Ich weiß jetzt was kommt... *kicher* da sie ihn zum essen eingeladen hat, lädt er sie zum shoppen ein und kauft ihr ein Kleid *Quietsch* er ist ja so clever

Oh er wird ihre Eltern kennen lernen.... O.O
das ist ja aufregend...
teilen sie sich dort dann auch ein Zimmer? also immerhin sind sie ja verheiratet und wird das dann ihr altes singlebett??
Dann müssen sie sich womöglich noch eine Decke teilen und ein Kissen und *quietsch*
Antwort von:  May_Be
02.10.2018 09:07
Du weißt aber auch alles :D

Jaa das wird toll bei den Eltern XD
aber vorher kommt die Silvesterparty *.*
Antwort von:  Soralai
02.10.2018 10:10
ich bin ja auch klug ;)
und bescheiden XD

Stimmt erst kommt noch der Mitternachtskuss :D

übrigens neige ich in letzter Zeit zum Quietschen <.<"
Antwort von:  May_Be
02.10.2018 10:15
ja das bist du! und wie XD

haha genau! und dann verwandelt sich das schicke auto zurück in den kürbis und der chauffeur in die maus :D

wieso denn? ._.
zu viel dopamin? XD
Antwort von:  Soralai
02.10.2018 10:20
gut das sie weit genug weg wohnen.... Katerchen hat hier ordentlich ausgedünnt und sie würde womöglich keinen Chauffeur hier finden >.<"

Sauerstoffschock? Das Mädchen in mir kommt durch? *fragend da steh*
Antwort von:  May_Be
02.10.2018 15:23
haha dann muss sich eben katerchen ans steuer setzen :P

das Mädchen in dir ist stets willkommen :D
klatsche, juble, quietsche xD
Von:  Soralai
2018-09-24T19:14:54+00:00 24.09.2018 21:14
*Quietsch und hops*
Antwort von:  May_Be
24.09.2018 23:37
:D
Antwort von:  Soralai
27.09.2018 14:40
und ich habe es ja gesagt das jemand sich weh tuen wird....
*völlig ignorier das ich dich womöglich auf so eine doofe Idee gebracht haben könnte*

und nun bin ich mal gespannt ob sie nicht doch ne fette Erkältung kriegt ;D
Antwort von:  May_Be
27.09.2018 15:30
haha keine Sorge! Ich hatte das eh von Anfang an vor :P

tja... :D
Antwort von:  Soralai
27.09.2018 15:42
das kann jetzt jeder behaupten ;P
Antwort von:  May_Be
27.09.2018 15:51
hahhahaha stimmt auch wieder :P
Antwort von:  May_Be
27.09.2018 15:52
ich kann halt nichts dafür, dass du so gut im Raten bist *^*
Antwort von:  Soralai
27.09.2018 15:56
vielleicht wirst du ja berechenbar für mich *geschockt von dieser idee bin*
Antwort von:  May_Be
27.09.2018 15:57
o.O das ist nicht guuuuuut >_<
oder wir denken einfach gleich? XD
Antwort von:  Soralai
27.09.2018 16:23
*den strohballen zurückwerf* meinst du wirklich o.O
Antwort von:  May_Be
27.09.2018 16:45
naja, wer weiß :D
aber ich hoffe, ich kann dich noch überraschen :3
Von:  Yuki-Haruka
2018-08-26T20:26:47+00:00 26.08.2018 22:26
Ahhh ... es zerreißt mir das Herz T^T </3
Kira tut mir so Leid T____T .... ich wünschte Itoe würde endlich mehr zu ihren Gefühlen stehen und ihm etwas entgegen kommen T____T

Wieder ein Kapitel, was super schön geschrieben wurde!! *___* <3
Antwort von:  May_Be
27.08.2018 10:10
v___v ja...
Itoe, die Herzensbrecherin ._.

Danke *w* <3


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