Blind Date von May_Be ================================================================================ Kapitel 25: Begegnungen ----------------------- Den ganzen Abend lang beschäftigte Itoe sich mit der Frage, ob sie nicht den unglücklichen Ausgang ihres Gesprächs mit Kira hätte abwenden können. Sie spielte die Situation wieder und wieder in ihrem Kopf ab, aber das Resultat blieb dasselbe. Nach dem Gespräch war Kira in den Club vorgefahren und ließ sie allein zu Hause zurück. Danach konnte Itoe sich auf nichts konzentrieren. Für das Make-up hatte sie eine halbe Ewigkeit gebraucht. Die Wimperntusche verschmierte das obere Lid, der rote Lippenstift lag über ihrer Lippenkontur und zu allem Übel machte die Foundation ihr Gesicht fleckig statt glatt und fein. Am Ende sah ihr Make-up nach einem missglückten Versuch einer Grundschülerin aus, sodass sie von vorne anfangen musste. Kiras Fragen hatten sie aufgewühlt, mehr, als sie sich eingestehen wollte. Zunächst wollte er erfahren, was sein Bruder nach seinem Verschwinden erlebt hatte. Da seine Neugier berechtigt war, hatte Itoe brav alle Fragen beantwortet. Doch dann fing er an, tiefer zu graben und wollte auf einmal wissen, warum sie Miro geheiratet hatte. Und anstatt ihm eine Antwort zu geben, sprach sie von Miros Einsamkeit, die ihn zu dieser Entscheidung bewegte und die Kira nie aufgefallen war. Aber was war mit ihren eigenen Motiven? Warum hatte sie sich auf die Heirat mit einem Mann eingelassen, um dessen Gesundheit es schlecht stand? Sie hatte das Gefühl, ihr Leben würde nur noch aus einem Haufen unbeantworteter Fragen bestehen. Itoe konnte sich noch ganz genau an ihre erste Begegnung mit Miro erinnern. Damals arbeitete sie in einer kleinen Konditorei in der Präfektur Yamaguchi. Nachdem sie die Oberschule abgeschlossen hatte, verfolgte sie keine höheren Ziele und hatte keine Pläne für die Zukunft. Ihre Eltern hatten alles Erdenkliche versucht, um Itoe für die Universität zu begeistern. Sie waren der Auffassung, dass man nur dann etwas im Leben erreichen konnte, wenn man stets sein Bestes gab. Dann standen einem alle Türen offen, die man wohl sonst nicht einmal aus der Ferne sah. Das mochte zwar stimmen - und Itoe enttäuschte ihre Eltern ungern - aber aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen aus der Schulzeit, wollte sie unter gar keinen Umständen studieren, damit sich die Ereignisse aus der Schulzeit nicht wiederholten, selbst wenn sie dafür die Chance auf eine Karriere opferte. Itoe fragte sich nicht zuletzt, ob das wirklich alles war, worauf es im Leben ankam: Pauken, solange man jung war, Karriere, bis man alt wurde. Gab es da nicht wichtigere Dinge? Ihre Gedanken hatte Itoe ihren leistungsorientierten Eltern verschwiegen und ihre Dickköpfigkeit durchgesetzt. So kam es dazu, dass sie in der Konditorei, die einer Bekannten ihrer Mutter gehörte, als Aushilfe anfing und schließlich zur Festangestellten wurde. Die Arbeit konnte an manchen Tagen sehr anstrengend sein, vor allem, wenn man einen Auftrag für eine Hochzeitstorte bekam. Es erforderte viel Feingefühl, damit die Torte den Vorstellungen der Kunden gerecht wurde. Die Kunst bestand darin, eine Harmonie zwischen den Verzierungen und dem Geschmack zu schaffen. Denn was nützte eine wunderschöne Hülle, wenn das Innere verdorben war? Sie konnte ihre Kreativität frei entfalten und durch ihre schnelle Auffassungsgabe beherrschte sie das Handwerk im Handumdrehen. Aber das Beste an diesem Job waren ihre Kollegen, die in schwierigen Momenten stets zur Seite standen. Es waren hauptsächlich ältere Mitarbeiterinnen angestellt, die Erfahrungen in diesem Bereich vorweisen konnten. Itoe war das kleine Küken, das von allen behütet wurde. Der Duft von frisch gebackenem Teig vermittelte ihr das Gefühl von einem zweiten Zuhause, von Zugehörigkeit, und doch schien ihr etwas für ihr Glück zu fehlen. Geh aus, hab Spaß! Das hatte ihr Masako immer gepredigt. Solange du jung bist, solltest du das Leben feiern, und nicht mit uns alten Frauen Überstunden machen. Dabei war Masako selbst erst Mitte dreißig und weit davon entfernt, eine alte Frau zu sein. Eines Tages kam ein junger Mann in die Konditorei und fragte Itoe nach einer Empfehlung der Küchlein, doch anstatt sich die Törtchen in der Vitrine anzuschauen, hatte er seinen Blick unentwegt auf sie gerichtet. Itoe war es gewöhnt, dass man sie aufgrund ihres Aussehens unverhohlen ansah, aber die Art, wie er sie betrachtete, lag weit davon entfernt. Es fühlte sich eher danach an, als versuchte er in ihr Innerstes zu blicken, auf der Suche nach etwas, das hinter ihren hellbraunen Augen verborgen lag. Danach fing er an, regelmäßig vorbeizukommen. Er kaufte sich ein Stück Kuchen und verwickelte Itoe beiläufig in irgendein belangloses Gespräch. Mit seinem Sinn für Humor und seiner umgänglichen Art hatte er sich schnell einen Weg in ihr Herz verschafft, sodass sie den nächsten Tag herbeisehnte, an dem sie sich wiedersahen. Der Junge scheint dich zu mögen, Itoe! So oft kommt sonst keiner hierher. - hatte Masako behauptet und schon bald darauf, fragte er sie nach einem Date. Doch Itoe zögerte. Auf der Schule war sie ein paar Mal mit Jungs ausgegangen, aber es hatte sich nie etwas Ernstes daraus entwickelt. Sie hatte keine großen Hoffnungen, dass es diesmal anders sein würde. Und hätte Masako sie zu diesem Schritt nicht ermutigt, wäre Itoe wahrscheinlich nie mit Miro ausgegangen. Itoe hatte vorher niemanden Vergleichbares kennengelernt. Wahrscheinlich war es deswegen unvermeidlich, dass sie sich in diesen Menschen verliebte. Dennoch war sie sprachlos, als er ihr einen Heiratsantrag machte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Es schien ihm viel zu bedeuten, und da er wiederum ihr viel bedeutete, hatte sie schließlich eingewilligt. Itoe konnte verstehen, dass Kira ihre Entscheidung für verantwortungslos und dumm hielt. Das Verhalten zweier Menschen, die starke Gefühle füreinander hatten, erschien vom äußeren Standpunkt oft unbegreiflich. Liebe folgte ihrer eigenen Logik. Sie trieb Verliebte zu Verrücktheiten und Außenstehende in den Wahnsinn. Obwohl Itoe wusste, dass ihre Eltern die Hochzeit nicht gutheißen würden, wollte sie ihnen diese Entscheidung nicht vorenthalten. Aber dazu war es nie gekommen, denn Miro bestand auf die Geheimhaltung. Während Itoe die Erinnerungen Revue passieren ließ, beobachtete sie Kiras Spiegelbild durch den runden Spiegel über ihrem Schminktisch. Er trug an diesem Abend ein weißes Hemd zu der eleganten, marineblauen Hose und ein dazu farblich passendes Jackett. Die Farbe stand ihm gut und der perfekt geschneiderte Anzug brachte seine schlanke Statur wunderbar zur Geltung. Er war Miro wie aus dem Gesicht geschnitten, und doch eine ganz andere Person. Obwohl Miro ihr vieles über seine Herkunft verheimlicht hatte, konnte nicht alles gespielt sein, davon war Itoe überzeugt. Seine Lebensfreude, seine Begeisterung für Musik und Kunst, seine Gefühle für sie - und seine Einsamkeit.   *   „Lange nicht gesehen, Schätzchen“, sagte Makoto und trat neben Itoe an das Waschbecken. „Wie geht's deiner Hand?“ Jede Faser ihres Körpers versteifte sich. Itoe spürte nur ihren beschleunigten Herzschlag sowie ein dumpfes Pochen ihrer linken Hand. Ihre Blicke begegneten sich in dem rechteckigen Spiegel über dem Waschbecken. Die Dunkelheit ihrer Augen zog Itoe hypnotisch an. Sie glaubte, darin ernsthaftes Interesse vorzufinden, doch Makotos selbstgefälliges Grinsen strafte ihre Worte Lügen. Mit Mühe schaffte Itoe es, sich aus dieser Finsternis zu befreien. Ohne auf Makotos vorgespieltes Interesse einzugehen, wandte sie sich ab und steuerte den Ausgang an. „Warum hast du Kira nichts davon erzählt?“ Makotos zweite Frage kam genauso unerwartet wie die erste und veranlasste Itoe dazu stehen zu bleiben. Innerlich trug sie einen Kampf mit sich aus: Flucht gegen Neugier. Sollte sie einfach gehen oder sich dieser Person stellen? Langsam wandte sie sich zu der jungen Frau um. Makoto stand mit verschränkten Armen ihr gegenüber und wartete auf ihre Antwort. Ihr Haar fiel ihr prächtig über die Schultern und ihr schlanker Körper steckte in einem enganliegenden roten Kleid, das einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté bot. Ihre ganze Erscheinung erfüllte den Raum. Die Neugier gewann. „Warum denkst du, ich hätte es nicht getan?“ Ein verächtliches Schnauben verließ die dunkelrot geschminkten Lippen. „Machst du Witze?“ Makoto musterte Itoe abschätzend. „Hätte du es Kira erzählt, hätte er mir schon längst den Hals umgedreht. Wenn er wütend wird, möchte man nicht in seiner Nähe sein. - Deinem Blick nach zu urteilen, weißt du, wovon ich rede.“ Makotos Angst vor Kiras Reaktion hatte sie allerdings nicht daran gehindert, einen Menschen zu verletzen. Sich erinnernd, berührte Itoe ihre Hand, die mittlerweile verheilt war. Eine Regung huschte über Makotos makelloses Gesicht, bevor sie ihren Blick abwandte und sich ihrer Handtasche widmete, um etwas darin zu suchen. „Ich wollte den eigentlich verkaufen. Dachte, er wäre was wert. Aber das ist bloß ein billiges Metallstück.“ Obwohl Itoe den Gegenstand nicht sehen konnte, hatte sie eine vage Vermutung, was Makoto meinte. „Hier hast du ihn zurück.“ Mit einem leisen, kaum hörbaren Aufprall landete der Ring auf dem schwarzen Marmorboden, prallte einmal ab und drehte sich wie im wilden Tanz um seine eigene Achse, bevor er vor Itoes Füßen zum Erliegen kam. Das letzte Andenken an Miro wurde behandelt wie Müll. Itoe beugte sich hinab und hob den Ring auf. Wenn Makoto wüsste, wer Itoe diesen Ring wirklich geschenkt hatte, würde sie sich dann anders verhalten? Würde sie ein bisschen Mitgefühl zeigen oder weiterhin so boshaft sein? „Gott, nun schau mich nicht so an.“ Makoto schnalzte genervt mit der Zunge und wich Itoes abwertendem Blick aus. „Jetzt hast du ihn ja wieder.“ „Ich sollte mich wohl bei dir bedanken.“ „Oho, du kannst ja sarkastisch sein! Und ich dachte, dass du ein kleines Mauerblümchen bist, das seinen Mund nicht auf bekommt.“ Die lähmende Angst hatte ihren festen Griff tatsächlich gelockert, aber sie ließ Itoe immer noch nicht erleichtert aufatmen. „Warum gibst du ihn mir wieder? Du hättest ihn wegwerfen können.“ Makoto zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wenn du ihn nicht willst, kannst du ihn ja wegschmeißen. Wie ich sehe, hast du eh einen neuen.“ Itoe steckte schweigend Miros Ring in ihre silberne Clutch ein. Ob Makoto ein schlechtes Gewissen hatte und ihr deswegen den Ring zurückgab? Ein flüchtiger Gedanken, der sofort wieder verschwand. „Ich kann echt nicht begreifen, was Kira an dir findet. Er ist wahrlich ganz anders als sein Bruder“, meinte Makoto vieldeutig. Als wäre damit alles gesagt, wandte sie sich zum Spiegel, holte ihren Lippenstift aus der Tasche und schminkte sich ihre Lippen nach. Mit wenigen Worten schaffte sie es, Itoes Neugier zu nähren. „Was meinst du damit?“ Makoto verstaute ihren Lippenstift wieder in ihrer Tasche und drehte sich zu ihrem neugierigen Gegenüber um. Schweigend legte sie den Kopf schief und betrachtete Itoe prüfend. Sie schien zu überlegen, ob sie weitersprechen sollte. „Na ja, was schon?“, sagte sie schroff und verschränkte erneut ihre Arme vor der Brust, „sie waren halt unterschiedlich.“ „Kanntet ihr euch gut?“, hakte Itoe weiter nach. „In gewisser Weise.“ Makotos unklare Aussagen machten Itoe ganz unruhig. „Und ihr? Kanntet ihr euch auch?“ Auf diese Gegenfrage war Itoe nicht vorbereitet. Unsicher senkte sie den Blick. Sie zögerte, die Lüge bereits auf ihren Lippen, doch Makoto kam ihr zuvor. „Ihr kanntet euch!“, stieß Makoto aus und Itoe zuckte zusammen. „Aber warum überrascht mich das jetzt nicht? Miro konnte an keinem Rock vorbeigehen, ohne drunter zu schauen.“ Die Bestürzung stand Itoe vermutlich ins Gesicht geschrieben, denn Makoto sah sie mit einem süffisanten Grinsen an. Sie hatte sie durchschaut, auch wenn ihre Schlussfolgerung nicht ganz korrekt war. „Ich fasse es nicht. Du magst wie ein Unschuldslamm aussehen, bist aber ein kleines Flittchen.“ Sie lachte auf, als würde diese Tatsache sie köstlich amüsieren. „Keine Sorge. Ich verrate es Kira nicht“, sie senkte die Stimme und fügte verschwörerisch hinzu, „wenn du es auch nicht tust.“ In diesem Moment ging die Tür zur Damentoilette auf und zwei kichernde Frauen betraten den Raum. Sie verstummten sofort, als sie Itoe und Makoto erblickten. Verblüfft sahen sie zwischen den beiden hin und her und verschwanden kurzerhand jeweils in einer Kabine. Itoe versuchte ihre Gedanken neu zu ordnen. Makoto hatte mit Miro geschlafen, oder hatte sie das jetzt falsch verstanden? War sie etwa, bevor sie mit Kira zusammen gekommen war, Miros Freundin? Das konnte sie schwer glauben, denn das würde bedeuten, dass sie genauso wie Itoe mit beiden Brüdern zusammen gewesen war. Eine unangenehme Vorstellung. Die beiden anderen Frauen verließen eine nach der anderen die Kabinen und wuschen sich die Hände, während sie verstohlene Blicke zu Itoe und Makoto herüberwarfen, bis Makoto einen bissigen Spruch fallen ließ und die beiden verscheuchte. „Du warst also mit Miro zusammen?“, fragte Itoe gleich, nachdem die Tür ins Schloss fiel. Die Worte kamen ihr kaum über die Lippen. Sie fühlten sich klebrig und zäh an. „Was?“, stieß Makoto verblüfft aus. „Mach dich nicht lächerlich.“ „Aber du hast doch gesagt...“ Makoto machte eine wegwerfende Handbewegung und schnitt Itoe das Wort ab. „Ich hatte mal was mit ihm, das ist alles.“ Itoe wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Die Tatsache, dass Makoto nicht nur mit Kira sondern auch mit seinem Bruder geschlafen hatte, traf sie unerwartet und schwer. Itoe lebte nach dem Prinzip, niemanden aufgrund seiner Vergangenheit zu verurteilen, aber heute Abend stieß ihre Toleranz an ihre Grenzen. „Hey, guck mich bloß nicht so anmaßend an, verstanden? Du bist doch auch nicht besser! Erst der eine Bruder, dann der andere. Du hättest Miro mit diesem vorwurfsvollen Blick angucken sollen. Er war schließlich derjenige, der sich an mich rangemacht hat, während ich mit Kira zusammen war. - Männer! Verbotenes Fleisch ist immer schmackhafter, nicht wahr?“ Die Worte wurden wie ein Eimer voller Mist über ihr ausgekippt. Itoe fühlte sich auf einmal ganz schmutzig. „Hat Kira das auch getan?“ „Was?“ „Dich betrogen. Hat er das auch getan?“ „Gelegenheiten hatte er genug“, sagte Makoto widerwillig. Sie fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. „Aber ich denke nicht, dass er sie genutzt hat. Und wenn, dann hätte ich es sicher herausgefunden. So wie ich es mit dir herausgefunden habe.“ Itoe schüttelte verständnislos den Kopf. „Wage es ja nicht, über mich zu urteilen, du Männerdiebin“, fügte Makoto bissig hinzu, doch Itoe hatte genug geschwiegen und ihre Meinung für sich behalten. Sie konnte sich nicht länger dieses schmutzige Gerede anhören, selbst wenn es der Wahrheit entsprach. „Ich frage mich, wie du so sein kannst.“ „Was?“ „Du schiebst alles auf andere, sagst, Miro hätte dich verführt. Warum hast du dich darauf eingelassen? Du sagst, ich hätte dir Kira weggenommen. Aber wie kann man etwas wegnehmen, das keinem gehört? Er war nicht dein Eigentum und meiner ist er auch nicht. Denkst du etwa, dieser Ring an meinem Finger bindet mich an ihn? Denkst du das wirklich? - Wenn er gehen will, wird er gehen und kein Ring oder Heiratsurkunde werden ihn daran hindern.“ Die Worte verließen unaufhaltsam ihren Mund und verschafften ihr unendliche Erleichterung. Langsam drehte sie sich wieder Richtung Ausgang, doch da fiel ihr noch etwas ein. „Ich bedauere dich. Du bist so voller Boshaft, dass du all das Gute, was dir begegnet, zerstörst. Mit Kira hast du einen wertvollen Menschen verloren und daran bist nur du selbst schuld.“ Bevor Itoe die Damentoilette verlassen konnte, hörte sie laute Absätze von hinten auf sie zusteuern. Makoto packte sie grob am Arm und riss sie herum. Da knallte reflexartig eine Handfläche voll in das Gesicht der jungen Frau. Doch war es nicht Makotos Hand, sondern Itoes. Beide starrten sich in die Augen, erschrocken und fassungslos. Makoto berührte mit ihren zitternden Fingern die gerötete Wange und starrte Itoe mit weit aufgerissenen Augen an. Wie erstarrt erwiderte Itoe ihren Blick. Sie spürte das Pochen in ihrer Handfläche und fragte sich, ob ihr Gegenüber zurückschlagen würde. Doch bevor sie den Gedanken beenden konnte, wandte sich Makoto abrupt ab und eilte zum Spiegel. „Scheiße... Du bist echt durchgeknallt.“ Makoto verzog sich das Gesicht, wahrscheinlich vor Schmerz. Obwohl sie die Ohrfeige eindeutig verdient hatte, setzte Itoe zu einer Entschuldigung an. Sie hatte noch nie jemanden geschlagen und war über ihr Verhalten erschrocken. Sie wusste gar nicht, wie sie sich das überhaupt getraut hatte. „Spar dir das, Schätzchen, und hau einfach ab.“ Sie warf Itoe durch den großen Spiegel an der Wand einen kurzen Blick zu. „Wir sind quitt.“   *   Draußen auf dem Balkon war es erfrischend kühl, doch Itoe spürte die Kälte kaum. Zu sehr war sie von den heutigen Ereignissen eingenommen. Die hitzige Diskussion mit Kira und die Begegnung mit Makoto auf der Damentoilette hatten sie erschöpft. Am liebsten wäre sie sofort ins Bett gefallen und hätte den Tag hinter sich gelassen. Itoe trat an das Geländer, etwas abseits von den anderen Gästen, die ebenso wie sie frische Luft schnappen wollten. Einige von ihnen rauchten, doch sie stand weit genug entfernt, um von dem Geruch nicht belästigt zu werden. Itoe atmete tief ein und aus und stieß weiße Wölkchen aus, die sich mit der winterlichen Nachtluft vermischten und bald darauf auflösten. Itoe hatte geglaubt, dass sie nichts mehr überraschen könnte. Wie naiv sie doch war. Sie war bereits seit längerem zu der Erkenntnis gelangt, dass Miro ein anderer Mensch war, als er vorgegeben hatte zu sein. Aber wer war dieser Mann, der mit der Freundin seines Bruders eine Affäre hatte? Es konnte nicht derselben Mensch gewesen sein, den sie kennengelernt hatte, der grinsend über einen Zaun in einen fremden Garten gesprungen war, nur um ihr eine Blume zu pflücken, der ohne einen triftigen Grund anrief, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Der Mann, von dem Makoto gesprochen hatte, war ein Fremder. Der Mann, den Itoe kennengelernt hatte, war anders. Trotz seiner Aufmerksamkeit und Zuneigung hatte er sie nie auf diese Weise berührt. Er hatte es nicht einmal versucht. Itoe hatte seine Zurückhaltung auf die Krankheit geschoben, die sein Wohlbefinden vergiftete, aber nach allem, was sie erfahren hatte, kam ihr diese Erklärung beinahe lächerlich vor. Solche Hindernisse schienen Miro offensichtlich nicht aufzuhalten, ganz im Gegenteil. Sie spornten ihn sogar an, alle Freuden des Lebens auszuschöpfen und dabei sogar Grenzen zu überschreiten. Itoe fragte sich, wie ein Mensch seine wahre Natur verbergen konnte. War es die Raffinesse des Lügners oder die Gutgläubigkeit des Gegenübers? In Gedanken vertieft, merkte sie gar nicht, wie sich ihr jemand von hinten nährte. Erst, als ein Jackett auf ihre Schultern gelegt wurde, blickte sie überrascht auf. Kira hatte sich rechts neben sie an das Geländer gestellt, die Hände lässig in den Hosentaschen, den Blick auf die nächtliche Skyline gerichtet. Ein atemberaubender Anblick, ging ihr durch den Sinn. Sie zog das Jackett enger um ihren Körper und lächelte still in sich hinein, als ihr sein vertrauter Duft in die Nase stieg. Die erdrückende Schwere in ihrem Herzen wich einer unerwarteten Leichtigkeit. „Itoe, hättest du nicht Lust auf Sobanudeln?“ Am letzten Tag des Jahres war diese Frage eigentlich nichts Außergewöhnliches, aber in diesem Augenblick ein wenig sonderbar. „Ist das ein Friedensangebot?“ Sein ernstes Profil wurde sanfter, als sich um das linke Auge kleine Fältchen bildeten. Er wandte ihr das Gesicht frontal zu und sah ihr direkt in die Augen. „Nimmst du es an?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)