Blind Date von May_Be ================================================================================ Kapitel 23: Ein Kleid für Itoe ------------------------------ Der Shoppingausflug endete mit dem Stopp im Nudelrestaurant in der kleinen Seitenstraße von Ginza, wo die Häuser sich dicht nebeneinander drängten und die überfüllten Straßen sich lichteten. Obwohl die Seitengasse zum belebten Bezirk von Tokyo gehörte, hatte man hier das Gefühl, der Hektik des Alltags, und besonders dem Wirbel um das Neujahr herum, entkommen zu sein. Als die beiden die Wärme des kleinen Lokals verließen, stieß ihnen die kühle Luft entgegen und ließ sie frösteln. Die Kälte kroch unerbittlich unter die Schichten aus Pulli und Winterjacke bis unter die Haut. Man brauchte einen kleinen Augenblicken, damit sich der Körper an den Temperaturwechsel gewöhnen konnte. Itoe blickte zum grauen Himmel empor, dessen strahlendes Blau durch eine dichte Wolkendecke bedeckt war und große Schneeflocken herabfallen ließ. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen, als sie einen leisen Ausruf der Freude ausstieß. Sie liebte den Schnee. Sie liebte den Winter und alles, was damit zu tun hatte. Die Kälte machte ihr dabei überhaupt nichts aus. Ganz im Gegenteil. Sie war ihr sogar viel lieber als die schwüle Hitze im Sommer. „Ich rufe uns ein Taxi“, sagte Kira, der den Wetterereignissen mit weniger Begeisterung begegnete als sie. „Nein, warte! Lass uns lieber spazieren gehen.“ Kira hörte am anderen Ende der Leitung bereits eine Männerstimme des Mitarbeiters der Taxigesellschaft, bevor er mit einem ich melde mich später wieder auflegte. „Willst du wirklich?“, fragte er skeptisch, steckte sein Handy aber bereits zurück in seine Jackentasche. Es war bitterkalt und der Weg nach Hause war weit. Außerdem stellte er fest, dass der Schnee in solch großen Mengen herabfiel, als würde jemand von oben mit einer Schaufel Schnee schippen. Man konnte kaum weiter als die Armlänge blicken. „Ja, bitte!“, sagte Itoe flehentlich und sah ihn mit ihren großen, glasigen Augen an. Sie hatten eine Menge Sake getrunken, sodass Kira ihre Entscheidung, bei diesem Wetter spazieren zu gehen, darauf zurückführte. Auch er spürte den Alkohol und das war ein Grund mehr, sich in ein Taxi zu setzen und gemütlich nach Hause fahren zu lassen. Aber ihr Hundeblick machte es ihm schwer, ihre Bitte abzuschlagen, weswegen er kurzerhand mit einem resignierten Seufzen zustimmte. „In Ordnung. Aber...“ Er sah sich kurz suchend um. „Ich kaufe uns mal Regenschirme, sonst sind wir Schneemänner, bis wir zu Hause ankommen. Warte hier.“ Er ließ sie unter dem Vordach des Nudelrestaurants stehen und eilte durch das Schneegestöber zum nächstliegenden Geschäft, wo er zielgerichtet die Regenschirme suchte. Als er fündig wurde, nahm er zwei aus dem Halter heraus, zögerte dann kurz und steckte einen davon wieder zurück. Er bezahlte für einen großen roten Schirm an der Kasse und lief zurück zu Itoe, die an derselben Stelle auf ihn wartete, wo er sie zurückgelassen hatte. Als sie sich zu ihm unter den Schirm stellte und sie gezwungen waren nahe beieinander zu gehen, fragte sie ihn, warum er nur einen Regenschirm gekauft hatte. Zwei wären bequemer und praktischer. Außerdem war der Schirm nicht groß genug für beide, denn es wurde jeweils eine Schulter des anderen zugeschneit. „Es gab nur diesen einen“, log Kira unverblümt und beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie schien sich mit seiner Antwort zufrieden zu geben, denn sie fragte nicht weiter nach. Eine innere Aufregung erfasste ihn, dessen Ursprung er zunächst nicht ausmachen konnte. War das diese Situation, die er selbst inszeniert hatte? Es sah ihm gar nicht ähnlich, dass er zu solch kleinen Tricks griff, um einer Frau nahe zu sein. Bis jetzt hatte er keine Hemmungen gezeigt, einer Frau näherzukommen, aber bei ihr war das anders. Er wollte es nicht wieder vermasseln, indem er sie mit seiner direkten Art überrumpelte. Kira fühlte sich wie ein Teenager beim ersten Date, wenn das Herz schneller schlug und man einfach nicht wusste, wie man sich am besten verhalten sollte. Er rang ein wenig mit sich, bevor er schließlich seinen Arm um ihre Schulter legte und sie näher an sich drückte. Er spürte den Schnee, der unter seiner warmen Hand schmolz, doch das war ihm egal. „So besser?“ Er registrierte von der Seite ein zustimmendes Nicken. „Ja und wärmer.“ Das eigentliche Ziel ihres kleinen Ausflugs war in den Hintergrund gerückt, aber keinesfalls vergessen. Kira hatte bereits eine Idee im Hinterkopf, wie Itoe doch noch zu ihrem Kleid kommen sollte. Allerdings musste das noch warten. Die Straßen waren beinahe menschenleer, man sah nur vereinzelt Leute. Als hätte das Schneegestöber wie ein schwarzes Loch einen nach dem anderen verschluckt. Kiras anfänglicher Wunsch, so schnell wie möglich im Warmen zu sein, hatte sich verflüchtigt, denn in diesem Augenblick wollte er nirgendwo lieber sein.   ~   Am nächsten Morgen erlebte Itoe eine große Überraschung. Statt Kira fand sie auf der anderen Seite des Bettes eine quadratische Schachtel mit einem hübschen roten Band. Verwundert setzte sie sich auf und betrachtete sie neugierig. Auf der Vorderseite stand in geschnörkelter Schrift Mireille's Fashion geschrieben. War das nicht die Boutique, in der sie gestern mit Kira gewesen war? „Na, schon wach?“ Kiras Stimme riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie herumfahren. „Ja. Guten Morgen.“ Kira betrat das Zimmer und setzte sich an die Bettkante. Er brachte den Duft von frisch gekochtem Kaffee herein, der sich sanft im ganzen Raum verteilte. „Was ist das?“, fragte Itoe mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung seiner Bettseite, auf der die hübsche Verpackung lag. Sie hatte eine wage Vermutung, aber... Nein, das wäre zu verrückt. „Mach auf, dann weißt du es“, erwiderte er, ohne ihr eine konkrete Antwort zu geben. Itoe tat wie ihr geheißen: Sie legte die Schachtel auf ihren Schoß, löste die rote Schleife und nahm den Deckel ab. Ein edles Kleid in einem Silberton strahlte ihr entgegen. Itoe kannte sich zwar nicht so gut aus, aber der Stoff und der Schnitt sahen erstklassig aus, nichts im Vergleich zu den Kleidern aus den normalen Kaufhäusern. War er etwa extra in diesen Laden zurückgekehrt, um ihr dieses Kleid auszusuchen? Ihr Herz überschlug sich vor Freude und Aufregung. Aber... „Was ist?“, fragte Kira plötzlich in ihre Gedanken hinein, „gefällt es dir nicht?“ Itoe musste das Kleid zu lange und intensiv angestarrt haben. Sie löste ihren Blick davon und sah in Kiras wachsame Augen. „Unsinn. Es ist wunderschön.“ „Was ist es dann?“ Itoe kam gegen Kiras feines Gespür einfach nicht an. Er merkte sofort, wenn ihr etwas auf der Seele lag. Und er sollte Recht behalten. Itoe hatte gestern nicht ohne Grund die Boutique verlassen und das Shoppen gestrichen. Kira führte sie nur in die teuersten Läden, in denen sie sich nicht einmal Unterwäsche hätte leisten können. Wie hätte sie ihm das erklären sollen? Sie wusste in dem Augenblick nicht, ob es ihr peinlich war, sich diesen Luxus nicht leisten zu können oder ob es sie schlicht und einfach verärgerte, dass er, trotz seines Wissens über ihre finanzielle Lage, nur exklusive Boutiquen vorschlug. Außerdem war sie genervt gewesen, weil diese junge Verkäuferin sich so unverschämt an ihn rangemacht hatte. Itoe war sich jedoch sicher, hätte sie ihm an Ort und Stelle verständlich gemacht, warum sie in diesem Geschäft kein Kleid kaufen wollte oder konnte, hätte er ihr ohne zu zögern eins gekauft. Geld hätte dabei keine Rolle gespielt. So war Kira: spendabel und großzügig. Und wie sie einmal mehr feststellen konnte, sehr aufmerksam. Er hatte ihr schon damals, als sie sich gerade erst kennenlernten, ein Kleid geschenkt, das sie aus reiner Höflichkeit annehmen musste. Aber bei diesem hier handelte es sich um ein mehrere tausend Yen teures Kleid! Itoe wollte nicht, dass er sein Geld für sie ausgab, auch wenn es ihm offensichtlich nichts ausmachte. Sie wusste seine Großzügigkeit zu schätzen, aber sie konnte dieses teure Kleid unmöglich annehmen. Die Situation erinnerte sie unvermeidlich an Weihnachten und ihr entwich ein leiser Seufzer, den er anscheinend fehlinterpretierte, denn seine Augenbrauen zogen sich düster zusammen. „Habe ich wieder etwas falsch gemacht?“ Es war eine ernstgemeinte Frage, die ein mulmiges Gefühl in ihrem Inneren auslöste. Ihn musste dieser Augenblick genauso an Weihnachten erinnern wie sie. Itoe hatte für einen Moment die Befürchtung, er könnte wieder wütend werden, da er manchmal zu unkontrollierten Gefühlsausbrüchen neigte, wenn er sich verletzt fühlte. Doch die befürchtete Reaktion blieb aus. „Du hast nichts falsch gemacht“, erwiderte Itoe und ihr Mund fühlte sich dabei trocken an. „Und jetzt lügst du mich auch noch an“, sagte er und Itoe hörte einen Hauch von Enttäuschung aus seiner Stimme heraus. Warum musste sie immer alles kaputt machen? Seine Bemühungen zur Nichte machen? So ein Mensch war sie doch gar nicht! Kira machte den Versuch aufzustehen, doch Itoe langte über das Bett und ergriff seinen Arm, sodass er gezwungen war sitzenzubleiben. „Ok, ich sag's dir!“ Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er bleiben würde, ließ sie ihn los und schilderte ihm ihre Gedanken, die ihr soeben durch den Kopf gegangen waren. Außer, dass sie auf die Verkäuferin eifersüchtig war. Er musste ja nicht alles wissen. „...deswegen kann ich dein Geschenk nicht annehmen“, endete sie und sah ihn vorsichtig an. Vergeblich war sie auf der Suche nach einer Regung, doch Kira musterte sie nur nachdenklich und gab nichts von seinen Gefühlen preis. „Geld ist mir unwichtig. Ich habe mehr als genug davon, glaub mir.“ Itoe seufzte, da er anscheinend den Kern ihrer Aussage nicht verstanden hatte. „Das weiß ich. Aber...“ „Aber du willst dieses teure Kleid nicht annehmen, weil es dir unangenehm ist“, beendete er ihren Satz und sah sie offen an. „Ja“, gab Itoe zu und senkte den Blick. „Ich könnte es natürlich annehmen, unter der Bedingung, dass ich es dir zurückzahle.“ Sie sah grinsend zu ihm auf. „Sobald ich eine Bank überfallen habe.“ Leider konnte sie ihm damit kein Lächeln entlocken. „Nun guck nicht so mürrisch. Du sollst mir einfach keine teuren Sachen kaufen.“ Sie wüsste gern, was in diesem Sturkopf vorging. Warum gab er nur so viel Geld für ihre Geschenke aus? Ich wollte dir nur zeigen, wie wichtig du für mich bist. - Plötzlich erinnerte sie sich an seine Worte, die er an Weihnachten zu ihr gesagt hatte. Ob er mit diesem Kleid ebenso seine Zuneigung für sie ausdrücken wollte? Doch es war nicht das teure Kleid, was seine Gefühle am stärksten zum Ausdruck brachte, wie Itoe fand, sondern viel mehr die Mühe, die er sich extra wegen ihr machte. Noch einmal in das Geschäft zu fahren und ein Kleid zu besorgen, welcher Mann würde das einfach so tun? „Dann musst du wohl oder übel eine Bank überfallen“, sagte Kira mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. „Und wenn ich es nicht schaffe?“ „Tja.“ Kiras kluge Augen fixierten sie. „Dann haben wir ein kleines Problem.“ „Ach ja? Und welches?“ „Ich kann das Kleid nicht mehr zurückgeben. Es war ein Einzelstück. Also mach damit, was du willst. Zieh es an, zieh es nicht an, zerreiße es, verbrenne es, es gehört dir.“ Itoe starrte ihn perplex an. Zerreißen? Verbrennen?? War er denn jetzt völlig verrückt geworden? Sie nahm das Kleid ehrfürchtig aus der Schachtel und betrachtete es. Es war wirklich wunderschön, genau nach ihrem Geschmack: schlicht und elegant zugleich. „Verbrennen...“, schnaubte sie. „Was für eine Verschwendung.“ „Also nimmst du mein Geschenk an?“ „Jetzt habe ich wohl keine Wahl, oder?“ Kira lächelte. „Man hat immer eine Wahl.“ Itoe lächelte zurück. „Nicht, wenn man mit Kira verheiratet ist.“ Bei den Worten wurde sie etwas verlegen, denn, obwohl die Tatsache klar auf der Hand lag, sie hatte diese noch nie laut ausgesprochen. Ja, sie war mit Kira verheiratet. Mit dem richtigen Kira. Ihr Herz flatterte vor Aufregung, als ihr das so richtig bewusst wurde. Es war nicht so, dass Miro vergessen war, aber ihr Herz öffnete sich immer mehr für seinen Zwillingsbruder. Erstaunlicherweise sah auch Kira verlegen drein, doch er fasste sich schnell wieder und nickte knapp, als wäre es keine große Sache. „Lass uns frühstücken“, sagte er bereits im Stehen und steuerte die Tür an. „Warte mal kurz“, rief sie ihm schnell hinterher und sprang vom Bett. Sie erreichte ihn in wenigen Schritten und sah hinauf in sein fragendes Gesicht. „Danke, Kira.“ Mit diesen Worten hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. Daraufhin wollte sie vergnügt an ihm vorbeitänzeln, doch Kira ergriff ihren Arm und zog sie wieder an sich. Itoes Herz pochte wild in ihrer Brust und sie sah erstaunt zu ihm auf, bevor er sich zu ihr hinabbeugte. „Noch mehr“, flüsterte er an ihren Lippen und küsste sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)