Blind Date von May_Be ================================================================================ Kapitel 6: Auf den Schwingen des Todes -------------------------------------- Die Tage verstrichen wie Sandkörner einer Sanduhr, gnadenlos unaufhaltsam. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und ließ den Herbst gewähren. Bäume wurden kahler, gefallene Blätter verzierten die Straßen mit einem goldroten Teppich. Die Natur war ungerührt über alle Ereignisse, die das menschliche Herz zum Zerreißen spannten. Unabhängig davon, welcher Schicksalsschlag als nächstes eintrat, die Welt würde sich weiterdrehen, die Natur ihrem Drehbuch folgen. Und wie man mit Schmerz und Kummer umging, interessierte die Außenwelt nicht.   Als Miro verstarb, stand für Itoe die Zeit still. Die Zeiger der Uhr blieben auf halb 5 Uhr abends stehen, Miros Todeszeitpunkt. Sein Tod war unumgänglich, die Ärzte konnten ihn nicht retten, das hatte sie von Anfang an gewusst. Dennoch wollte Itoe diese unumstößliche Tatsache nicht wahrhaben und hoffte auf ein Wunder. Es war naiv und dumm. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, aber er überrollte sie trotzdem gnadenlos, vernichtend. Nachdem alle Geräte abgeschaltet wurden und Miros Tod festgestellt wurde, hatte Itoe noch einige Minuten mit ihm allein, um Lebewohl zu sagen. Sie trat an sein Bett, in dem er seelenruhig zu schlafen schien. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut weiß, beinahe transparent. Itoe fuhr mit ihren Fingern über sein noch warmes Gesicht und biss sich fest auf die Unterlippe, als sich Tränen in ihren Augen sammelten. Er hatte ihr von seiner Krankheit nicht sofort erzählt, aber Itoe hatte schnell herausgefunden, wie es um sein gesundheitliches Befinden stand. Trotz dieser Tatsache hatte sie ihn nicht verlassen und blieb bis zur letzten Stunde an seiner Seite. Vor kurzem erst hatte er um ihre Hand angehalten und so verliebt wie sie war, hatte Itoe seiner wahnsinnigen Idee zugestimmt. „Lebe wohl, Kira“, murmele sie mit zitternder Stimme und hauchte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen. Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass es sich eigentlich um Miro handelte. Sie schloss die Augen und ihre Tränen liefen über ihre Wangen, tropften auf sein Gesicht nieder. Itoe wischte sie mit dem Ärmel ihres Pullis ab und wandte sich ab. Sie packte Miros wenige Habseligkeiten in den kleinen Koffer, den sie mitgebracht hatte, und verließ daraufhin das Krankenzimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Weg bis zu Miros Wohnung dauerte eine halbe Stunde zu Fuß, aber Itoe nahm sich diese Zeit. Sie brauchte die frische Luft, um ihre Gedanken zu ordnen. Morgen musste sie alles für seinen Transfer nach Tokio vorbereiten. Sie wohnten in der Präfektur Yamaguchi, das würde demnach eine lange Fahrt werden. Wie Itoe das alles hinkriegen sollte, war ihr noch unklar. Itoe verdrängte schnell diese Gedanken. Sie wollte und konnte noch nicht an morgen denken, sie musste doch erst einmal mit dem Hier und Jetzt fertig werden. Miro wohnte in einem kleinen Apartment eines fünfstöckigen Gebäudes. Itoe stieg die Treppe hinauf in den zweiten Stock und schloss die Tür auf. Ein Gefühl von innerer Unruhe durchfuhr ihren Körper, als sie die Wohnung betrat. Sie stellte ihre Tasche und den Koffer auf dem Boden ab und trat ins Wohnzimmer. Alles war noch genau so, wie Miro es hinterlassen hatte. Itoe ging in jedes Zimmer hinein, als wäre sie auf der Suche. Auf der Suche nach Miro, der in einem der Zimmer auf sie wartete. Einen Augenblick später kam sie sich lächerlich vor und gab ihre vergebliche Suche auf. Itoe griff nach dem Koffer und ihrer Tasche, die im Flur auf sie warteten, und nahm beides mit ins Schlafzimmer. Sie legte ihre Tasche und den Koffer auf das Bett und öffnete dann das zweite. Dann holte sie Miros T-Shirt heraus und trat zu seinem Schrank, um es dort zu verstauen. Sie schob die Türen des Schranks auf und erstarrte. Seine Sachen waren ordentlich aufgehängt und verströmten Miros unverkennbaren Duft. Itoes Herz krampfte sich schmerzvoll zusammen. Mit großer Mühe faltete sie das T-Shirt und legte es in das dazugehörige Fach. Warum tat sie das? Musste sie seine Sachen nicht eher verpacken? Itoe fuhr sich mit beiden Händen aufgelöst durchs Haar, ließ den Schrank offen stehen und ging zum Bett, setzte sich. Wie sollte sie mit dieser ganzen Situation fertig werden, wenn sie nicht einmal die Kleinigkeiten hinbekam? Vielleicht war das ganze doch zu viel, als dass sie es ertragen konnte. Itoe spürte erneut, wie die Tränen ihre Augen füllten und den Weg über ihre Wangen fanden. Es ist zu viel, ging es ihr noch einmal durch den Kopf, ich kann das nicht... ich kann das nicht! Ihre Hand glitt automatisch in ihre Tasche. Nach langem Durchwühlen fand sie immer noch nicht das, wonach sie suchte, bis sie schließlich den ganzen Inhalt auf dem Bett verteilte. Da! Sie griff nach dem Plastikdöschen mit den Pillen und betrachtete diese geistesabwesend. Eine neue Woge der Trauer erschütterte sie. Es sollte aufhören, sie wollte doch nur, dass es aufhörte. Dieser Schmerz... Dieser unaufhörliche Schmerz, der ihr Innerstes zerriss. Mit einem Ruck öffnete sie die Dose und füllte sich die Hand voll mit Pillen, bevor sie sich diese in den Mund steckte. Ohne großartig nachzudenken, schluckte sie den Haufen Pillen mühsam herunter. Sie kauerte sich auf das Bett und schloss die Augen. In diesem Augenblick dachte Itoe nicht an die Konsequenzen, an ihre trauernden Familien, ihre Freunde. Sie dachte nur an sich, Miro und ihren Schmerz. Es existierte nichts mehr auf dieser Welt und nichts mehr war wichtiger. Ihr Körper fühlte sich schwer an. Ob die Tabletten schon wirkten? Gleich wäre es vorbei. Alles vorbei. Sie hätte nicht gedacht, dass sie so weit gehen könnte. Konnte sie denn noch zurück? Nein. Sie wollte nicht zurück. Zurück zu ihrem Schmerz. Gleich wäre es vorbei. Alles vorbei...   Als Itoe am nächsten Morgen erwachte, dachte sie, das alles sei ein Traum. Sie griff nach ihrem Handy und wählte Miros Nummer. Am anderen Ende meldete sich nur eine automatische Nachricht: Der Teilnehmer ist nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt. Itoe biss sich schmerzvoll auf die Unterlippe und blinzelte ihre Tränen weg. Kein Traum sondern bittere Realität. Sie erblickte die Dose mit den Pillen, die sie hätten für immer schlafen lassen sollen. Warum hatten sie nicht gewirkt? Warum war sie nicht tot? Sie griff nach der verfluchten Dose und schleuderte diese mit einem Schrei gegen die Wand. Sie war so wütend und gleichzeitig so erleichtert am Leben zu sein. Itoe kroch vom Bett und taumelte ins Badezimmer. Die Pillen machten sie träge und müde. Sie öffnete den Wasserhahn und wusch sich das Gesicht. Plötzlich wurde ihr übel und sie übergab sich. Das Waschbecken war voller Blut. Itoe wurde etwas schwindlig und sie glitt zu Boden, sich am Rand des Waschbeckens haltend. Was hatte sie getan... würde sie jetzt sterben? Schluchzend hielt sie sich eine Hand vor den Mund, die nun ebenfalls mit Blut beschmiert war. Itoe versuchte sich zu beruhigen und rappelte sich langsam auf. Sie spülte sich den Mund mit kaltem Wasser aus und wischte sich die letzten Tropfen mit dem Handrücken von den Lippen. Sie hob ihren Blick und betrachtete die magere Gestalt im Spiegel. War sie das wirklich? Eingefallene Wangen, blasse Haut, dunkle Augenring. Sie erkannte sich kaum wieder. „Du siehst erbärmlich aus“, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu und brachte ein kleines Lächeln zu Stande. Itoe wandte sich von der elenden Gestalt ab und verließ das Badezimmer. Sie kroch zurück ins Bett unter die Decke und umklammerte eines der vielen Kissen ganz fest. Miros Duft stieg ihr in die Nase und erinnerte sie daran, wie sie in diesem Bett lagen und über Gott und die Welt diskutierten. Sie erinnerte sich auch an seine sanften Küsse, seine Berührungen. Doch zu mehr war es nie gekommen. Miro hatte immer gesagt, sie sollten warten und irgendwann war es zu spät. Itoe tastete nach ihrem Ring, den sie am Ringfinger trug, und drehte ihn im Kreis. Sie war für immer an ihn gebunden. Nein, falsch. Der Tod hatte sie getrennt. Für immer. Der Gedanke daran, dass sie ihn nie wiedersehen würde, erfüllte sie mit unbeschreiblicher Trauer und dem erneuten Wunsch, sich das Leben zu nehmen. Itoe unterdrückte ihren Impuls, indem sie sich so fest es ging an das Kissen klammerte, als wäre es ihre einzige Rettung.   In einem lichten Moment erinnerte sich Itoe daran, dass sie noch alles für den Transfer vorbereiten, seine Sachen in Kartons packen, seine Familie kontaktieren musste. Sie konnte diese Aufgaben nicht liegen lassen, vielleicht würde es sie auch ein wenig ablenken. Kraftlos stand sie wieder auf und sah sich um. Wo sollte sie nur anfangen? Am besten mit seiner Kleidung. Itoe holte einige Kartons unter dem Bett hervor und stellte diese vor sich ab. Sie ging zum Schrank und räumte ein Fach nach dem anderen aus. Ihre Bewegungen waren automatisch, monoton. Sie verstaute seine Sachen in den Kartons und holte den nächsten Stapel heraus. Ungeschickt wie sie in diesem Moment war, fielen ihr die T-Shirts aus der Hand und landeten verstreut auf dem Boden. Itoe ging in die Hocke, um die Sachen vom Boden aufzuheben, da entdeckte sie zwischen seiner Kleidung einen Umschlag auf dem An meinen Bruder stand. Auf der Rückseite standen ein paar Worte an Itoe:   Liebste Itoe,   Bitte überreiche diesen Brief an meinen Bruder.   In Liebe Kira   Darunter stand eine Adresse in Tokio. Es war keine Telefonnummer hinterlassen worden. Itoe wüsste gern, was in dem Brief stand und warum er ihn nicht selbst an seinen Bruder abgeschickt hatte. Aber aus Respekt vor ihrem toten Mann würde sie diesen Brief nicht öffnen und ihn persönlich seinem Bruder übergeben. Sie verstaute den Brief in ihrer Tasche, hob dann Miros Sachen vom Boden auf und verpackte diese in die Kartons. Sie würde bald seine Familien kennenlernen, seine Eltern, seinen Bruder. Und dann würde sie noch einmal richtig um ihn trauern und versuchen, ihn gehen zu lassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)