Blind Date von May_Be ================================================================================ Kapitel 5: Der Tag danach ------------------------- Miros Wohnung hatte sich nicht wesentlich verändert, seit Kira das letzte Mal hier gewesen war. Itoe hatte anscheinend das meiste so gelassen, wie Miro es eingerichtet hatte. Nur an wenigen Stellen merkte man, dass hier eine Frau wohnte. Im Bad standen ihre Kosmetikartikel, im offenen Kleiderschrank hingen ihre Sache. Kira hatte Itoe in ihre Wohnung getragen, da sie im Auto eingeschlafen war. Einen Ersatzschlüssel für ihre Wohnung hatte er immer dabei. Im Schlafzimmer legte er sie auf das große Bett und setzte sich zu ihr. Sie schlief immer noch tief und fest und hatte von ihrem Ortswechsel nichts mitbekommen. Kira spielte mit dem Gedanken in seine Wohnung zu gehen, aber nach einem kurzem Augenblick überlegte er es sich anders. Das Bett war ziemlich groß und sah verführerisch aus. Die Tatsache, dass er müde war, erleichterte ihm die Entscheidung und somit legte er sich kurzerhand mit einem guten Abstand zu ihr auf das Bett. Er verschränkte seine Arme unter dem Kopf und starrte eine Weile die kahle Decke an, bis ihn die Müdigkeit überrollte. Der Morgen brach bereits wenige Stunden später an. Die warmen Strahlen der Sonne fielen durch das gardinenlose Fenster, sodass Kira unmöglich weiterschlafen konnte. Noch bevor er seine Augen öffnete, spürte er ihren Körper an seinem. Sie musste irgendwann in der Nacht an ihn gerückt sein. Er versuchte sich vorsichtig aus ihrer Umarmung zu lösen, doch unglücklicherweise weckte er sie dabei auf.   Itoe blinzelte den Schlaf aus ihren Augen und stellte erschrocken fest, dass sie nicht allein in ihrem Bett war. „Was tust du hier?!“ Ihre Stimme klang heiser und vollkommen fremd. Dann verzog sie sich das Gesicht, als sie einen stechenden Schmerz spürte, und drückte mit ihrem Zeige- und Mittelfinger auf ihre Schläfe. „Ich kann gern deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen“, erwiderte Kira gelassen, während er sich aufsetzte. Er betrachtete sie, wie sie ihre Gedanken ordnete und ihn mit großen, verständnislosen Augen ansah. Dann schien der Groschen zu fallen und Itoe stöhnte leise auf. „Nein, schon gut. Jetzt weiß ich es wieder...“ Kira nahm das nickend zur Kenntnis und stand vom Bett auf. Sein Hemd war zerknittert und komischerweise fast vollständig aufgeknöpft. Dabei konnte er sich nicht daran erinnern, es getan zu haben. „Möchtest du einen Kaffee?“, fragte er sie. Am liebsten würde er jetzt erst einmal duschen, aber das musste wohl warten. Immer noch ein wenig desorientiert nahm sie sein Angebot an. „Ist es okay, wenn ich mich kurz frisch mache?“ „Klar. Du bist hier schließlich zu Hause“, erwiderte Kira und ging schon mal in die Küche. Während sie sich frisch machte, setzte er Kaffee auf und kochte ein paar Eier zum Frühstück. Als Itoe in die Küche trat, war der Tisch bereits gedeckt. „Wow. Das ist echt lieb von dir, dass du Frühstück gemacht hast.“ Sie nahm ihm gegenüber Platz und langte zu. Es schien ihr besser zu gehen, das merkte man nicht nur an ihrem gesunden Appetit. „Ich habe nur bei dir geschlafen für den Fall, dass es dir nicht gut geht, wenn du aufwachst“, rechtfertigte sich Kira plötzlich und füllte damit die Stille. Er hatte den Eindruck, als schuldete er ihr eine Erklärung. Itoe sah zu ihm auf und schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Das ist wirklich sehr aufmerksam. Vielen Dank.“ Itoe schien noch etwas auf der Seele zu haben. „Ich finde, wir sollten...“, sagten beide wie aus einem Mund und wechselten einen überraschten Blick miteinander. „Du zuerst“, meinte Kira und ließ ihr den Vortritt. Er war gespannt, was sie ihm zu sagen hatte. Itoe hielt kurz inne und sah auf ihre Tasse, die sie in den Händen hielt. „Wir sollten es lassen.“ Ihre Worte trafen ihn heftiger als erwartet, denn eigentlich wollte er genau das Gegenteil vorschlagen. „Ich finde, wir machen uns nur etwas vor. Ich wünschte, es wäre so einfach, wie Miro es sich vorgestellt hatte, aber so ist das nicht.“ Itoe erhob sich und wusch ihre Tasse ab. Eine unpassende Geste, wie er fand. Als wollte sie vor dieser Unterhaltung fliehen, nur weil sie ihre Meinung bereits gesagt hatte. Dann wandte sie sich wieder zu ihm. „Du und ich, wir gehören nicht zusammen. Wir sind wie Tag und Nacht. Oder siehst du das anders?“ Kira dachte einen kurzen Augenblick darüber nach, bevor er ihr eine Antwort gab. „Mag sein, dass du recht hast. Vielleicht ist das auch nur eine verrückte Idee meines Bruders, aber er wollte es. Es war sein letzter Wunsch und das ist es, was für mich zählt.“ „Aber was möchtest du?“, erwiderte Itoe ein wenig ungehalten und machte eine ausdrucksvolle Geste mit der Hand. „Willst du nicht lieber dein eigenes Leben aufbauen, als das von deinem Bruder weiterzuführen? Du hast doch sicher selbst eine Freundin oder willst wenigstens eine haben, die du dir selbst aussuchen darfst! Du willst doch bestimmt selbst mal heiraten!“ Kira hörte sich in Ruhe alles an und trank einen Schluck von seinem Kaffee. In einigen Punkten hatte sie wahrscheinlich recht. Aber was heiraten anging, diese Idee hatte er schon lange verworfen. Ihre Argumentation klang vernünftig und sehr erwachsen, aber er hatte seine Entscheidung längst getroffen. „Du kannst sagen, was du willst. Aber du bist und bleibst meine Frau. - Ich kann dich nicht zwingen, Miro zu vergessen oder mich nicht mit ihm zu vergleichen. Damit muss ich wohl leben. Aber das nehme ich in Kauf.“ Er konnte ihr ansehen, wie angespannt sie wirkte. Dachte sie etwa, sie könnte ihn so leicht loswerden? „Man hat ja gesehen, wie gut du damit umgehst“, meinte sie dann etwas leiser. Kira musste erst kurz überlegen, worauf sie anspielte. Als dann die Erkenntnis kam, presste er die Lippen aufeinander. Dass sie ihn mit dem Namen seines Bruders angesprochen hatte, hatte ihn verärgert. Aber das gab ihm nicht das Recht, so auszuflippen. Es war nicht richtig von ihm gewesen, was er gestern zu ihr gesagt hatte, aber dass sie es jetzt gegen ihn verwenden würde, hatte er nicht erwartet. „Ich werde lernen damit umzugehen. Aber auch du musst einiges lernen, Itoe.“ Kira erhob sich und trat nah an sie heran. Näher, als er sollte. Sie lehnte an dem Küchentresen und sah zu ihm auf, als er direkt vor ihr stand. Er stützte seine Arme links und rechts von ihr auf der Arbeitsplatte ab, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. Sie hatte keine Chance zu fliehen und war gezwungen, ihm zuzuhören. Itoe stand wie angewurzelt da und starrte ihn wieder mit ihren großen Augen an. Wie hatte sie wohl Miro angesehen? Bestimmt mit mehr Zuneigung, als sie für Kira je aufbringen würde. Er konnte deutlich spüren, wie sie ihren Atem anhielt und sich nicht rührte. „Was... meinst du damit?“, brachte sie stotternd hervor und senkte ihren Blick. Darauf hatte Kira gewartet. Er ignorierte ihre Frage und sagte stattdessen: „Du siehst mich wieder nicht an. Siehst du immer nur ihn, wenn du mich ansiehst?“ Kira durchbohrte sie mit seinen kühlen, klugen Augen, bis Itoe endlich wieder aufsah. Mit diesem Schmerz, der in ihren Augen lag, hatte er nicht gerechnet. Kira fühlte sich gezwungen, Abstand zu nehmen. „Ich werde lernen damit umzugehen, dass Miro immer zwischen uns stehen wird. Aber du solltest langsam verstehen, dass ich nicht er bin. Lerne mich zu sehen. Nicht ihn.“ Mit diesen Worten trat er an den Tisch und setzte sich wieder. Seine Worte hatten einen bitteren Nachgeschmack, aber das musste gesagt werden. „Ich weiß“, hörte er sie murmeln. „Das weiß ich doch.“ Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er dachte, sie würde weiterhin darauf beharren, diese zum Scheitern verurteilende Beziehung aufzugeben, aber sie sagte nur jene Worte.   Itoe tat es schrecklich leid. Sie hatte ihn damit nie verletzen wollen, sie hatte ihn nie vergleichen wollen. Doch dieses Vorhaben war leichter gesagt als getan. Itoe gab ihm das Gefühl, ständig nur Miro in ihm zu sehen. Damit hatte er nicht einmal Unrecht. Gestern, als er diese schrecklichen aber wahrheitsgetreuen Worte ausgesprochen hatte, brach plötzlich die Welt noch einmal über ihr zusammen. Miro ist tot. Ja, das war er. Aber tief in ihrem Herzen wollte sie es immer noch nicht glauben, sie konnte es nicht, wenn sie das Ebenbild von ihm vor der Nase herumlaufen sah. Da saß er doch. Genau jetzt, in diesem Augenblick. Natürlich war das nicht Miro, ihr Verstand wusste das, aber ihr Herz konnte das nicht akzeptieren. Wenn sie jetzt auch noch seinen Zwillingsbruder verlor, was hätte sie dann noch? Dieser Gedanke war ziemlich egoistisch, das erkannte sie plötzlich. Es war nicht das Pflichtgefühl, Miros letzten Wunsch zu erfüllen, zumindest nicht nur. Es gab noch ein anderes Motiv, ein egoistisches. Sie wollte nicht allein sein, sie wollte Miros Tod nicht endgültig akzeptieren. Wenn sie Kira verließ, sich scheiden ließ und ein neues Kapitel aufschlug, wie stark wäre dann der Schmerz ihres Verlustes? Könnte sie das noch einmal überstehen? Sie hatte nicht die Kraft, es herauszufinden. Für einen kurzen Moment schien sie sich gegen Kira entschieden zu haben, doch kaum redete er auf sie ein, schwand ihr Entschluss und sie gab sich ihrer Schwäche hin. Selbst wenn es nicht Miro war, war es immer noch besser, als alleine zu sein. „Tut mir leid für mein Verhalten gestern“, murmelte Itoe in die bedrückende Stille hinein. „Ich war unmöglich, hatte mich betrunken und dir nur Ärger bereitet.“ Sie legte vor Scham ihre Hände aufs Gesicht und hoffte auf seine Vergebung. „Normalerweise verhalte ich mich nicht so.“ „Schon okay“, erwiderte Kira kurz und knapp, „das kann jedem mal passieren. Aber für gewöhnlich gibt es immer einen Grund.“ Als Itoe ihre Hände vom Gesicht nahm, trafen sich ihre Blicke und sie musste verlegen blinzeln. Da verstand sie, dass er sie durchschaut hatte. Doch sie wollte jetzt nicht wieder von Miro anfangen, denn genau das war der Grund, der sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. All diese Geheimnisse, die er hatte und von denen sie nichts wusste. Es war einfach zu viel für einen Abend. Nie hatte er auch nur ein Wort darüber verloren, dass er ganze fünf Clubs besaß. Er war unglaublich reich, reicher als sie es sich vorstellen konnte. Aber das Schlimmste war, dass sie sich vorgemacht hatte, ihn zu kennen. Das Bild, das sie von ihm hatte, entsprach nicht dem Menschen, den sie jetzt nach und nach kennenlernte. Seine Persönlichkeit. Sein Verhalten. Alles war anders. Er hatte ein aufregendes Leben geführt, war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Warum hatte er ihr dann diese Rolle vom ruhigen, bodenständigen Kerl vorgespielt, der lieber zu Hause hockte, statt auszugehen? Warum zur Hölle hatte er dieses Leben hinter sich gelassen? „Itoe? Itoe?!“ Kiras Stimme riss sie jäh aus ihren Gedanken. „Alles in Ordnung? Du siehst ganz blass aus.“ Itoe schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und plötzlich fing ihr Mund wie von selbst an zu reden. All ihre Gedanken sprudelten aus ihr heraus. Mit einem Mal fiel ihr ein Stein vom Herzen, denn es tat so gut, sich ihre Gedanken und Zweifel von der Seele zu reden. Kira hörte ihr aufmerksam zu, aber sein Gesicht verriet seine Emotionen nicht. Nachdem sie geendet hatte, schien er über ihre Worte nachzudenken. „Es tröstet dich vielleicht nicht, aber bestimmt hatte mein Bruder einen Grund für sein Verhalten. Ich möchte ihn nicht rechtfertigen, denn um ehrlich zu sein, finde ich es nicht richtig, dass er dir so vieles von sich vorenthalten hatte. Er hat dich schließlich geheiratet. Du hattest das Recht, alles von ihm zu erfahren. Aber so war Miro nun mal. Er liebte solche Spielchen.“ Itoe horchte auf. „Was willst du damit sagen? Dass das ganze nur ein Spiel für ihn war?“ Itoes Stimme zitterte. Nein, das konnte einfach nicht sein. Sie hatten sich geliebt und sie liebte ihn noch immer. Ihre Liebe zueinander war aufrichtig und rein. Das konnte nicht alles gespielt sein. Kira verzog keine Miene. „Nein, das wollte ich damit nicht sagen. Er hat dich geliebt, das steht außer Frage. Du kannst dir nicht vorstellen, mit welcher Liebe er von dir in seinem Abschiedsbrief gesprochen hat. Er hat dich geliebt. Ganz sicher.“ Kira machte eine Pause, bevor er fortfuhr. „Aber Miro schlüpfte gerne in verschiedene Rollen. Er war ein Naturtalent, was das anging. Somit hatte er die Fr...“ Kira stockte und Itoe lächelte bitter, als ihr bewusst wurde, was er sagen wollte. „Na los, sag schon. Mich stört es nicht. Miro hatte andere Frauen vor mir. Na und?“ Sie fuhr sich durchs zerzauste Haar, als würde ihr der Gedanke nichts ausmachen. „Das ist schon in Ordnung. So läuft es nun mal.“ Itoe fing an vom Tisch abzuräumen. Das Gespräch hatte sie nun doch etwas aufgewühlt, sodass sie jäh aus ihren Gedanken gerissen wurde, als Kira sie am Handgelenk packte. Sein Griff war fest, doch sein Blick unerwartet sanft. „Er hat dich wirklich geliebt, Itoe. Du darfst nicht daran zweifeln. Er hätte dich sonst niemals geheiratet.“ Kiras Worte taten unglaublich gut. Sie erwärmten ihr Herz und ließen es schneller schlagen. Langsam ließ er sie los und half ihr beim Aufräumen. Die Stille breitete sich wieder aus, doch war sie diesmal nicht unangenehm. Das einvernehmliche Schweigen schien von beiden akzeptiert zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)