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Blind Date

von

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Verabschiede Dich

Am selben Abend saß Itoe in ihrer kleinen Wohnung und ließ die Ereignisse des Tages Revue passieren. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, Kiras Frau zu sein. Des echten Kiras. Miros Zwillingsbruder. Wie hatte sich Miro das alles überhaupt vorgestellt? Er brachte sie und seinen Bruder in eine verzwickte Lage. Einerseits fühlte sie sich verpflichtet, Miros letzten Wunsch zu erfüllen, doch andererseits fühlte es sich nicht richtig an. Wie sollte das überhaupt funktionieren? Sie war sich sicher, dass Kira ähnliche Gedanken hatte.

Es klingelte unerwartet an der Tür. Wer konnte das zu der späten Stunde sein? Itoe sah durch den Spion, zögerte kurz und öffnete dann die Tür.

„Kira, was tust du hier?“

Moment mal, wie hatte er sie überhaupt gefunden? Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihm ihre Adresse gegeben zu haben.

Kira hatte sich in den Türrahmen gelehnt und sah sie mit seinen glasigen Augen an.

„Bist du betrunken?“, fragte sie fassungslos. Sie roch seine Fahne und widerstand dem Drang, sich die Nase zuzuhalten.

Kira verzog sich die Lippen und zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Darf ich rein?“, fragte er etwas lallend und trat an ihr vorbei, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten.

Itoe ließ ihn passieren und schloss hinter ihm die Tür.

„Wie hast du mich gefunden?“

Kira ließ sich auf einen Sessel fallen, der in ihrem kleinen Wohnzimmer stand, und wedelte mit dem Handy, das er bereits die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.

„Kontakte.“

Itoe verstand nicht so recht, was er damit meinte, aber gut. Viel wichtiger erschien ihr die Frage, was er hier überhaupt wollte.

Kira ließ das Handy in seinen Schoß fallen und lehnte sich zurück, die Arme auf die Lehnen des Sessels gestützt. Itoe wartete geduldig, bis er ihr von selbst erklärte, was sein Anliegen zu so später Stunde war.

„Du sollst mir helfen...“, sagte er und sein Blick irrte rastlos durch die kleine Wohnung. „In diesem Loch wohnst du? Echt jetzt?“

Itoe überging seine letzte Frage, in der so viel Verachtung mitschwang. Das war sehr unhöflich von ihm, aber sie ließ es ihm ausnahmsweise durchgehen.

„Wobei soll ich dir denn helfen?“

Kira fing ihren Blick auf und machte eine schwungvolle Geste.

„Na bei der Vorbereitung der Beerdigung, wobei sonst...“

Itoe setzte sich ihm gegenüber auf das Sofa und massierte sich nachdenklich die Schläfe.

„Das mach ich, aber lass uns das auf morgen verschieben. Du bist betrunken und...“

„Nein!“, widersprach Kira ihr, „es muss jetzt sein... Ich will heute alles erledigen... schnell hinter mich bringen... verstehst du?... Es muss jetzt sein...“

Itoe sah etwas ratlos drein. Sie konnte ihn nicht einfach aus ihrer Wohnung schmeißen. Nicht wenn er in diesem Zustand war. Davon abgesehen würde sie das wahrscheinlich auch gar nicht schaffen.

Sie seufzte resigniert.

Miro war nie so stur gewesen. Und getrunken hatte er auch nie.

„Was würde sich Miro bei seiner Beerdigung wünschen, hm?“, fuhr Kira fort, „er war ein Philosoph und ein hoffnungsloser Träumer... Aber anscheinend kannte ich ihn nicht so gut, wie ich dachte, wenn er das Mädchen, das er liebt, an mich verheiratet...“

Seine Gedanken waren ausgesprochen klar für jemanden, der Alkohol im Blut hatte.

„Vielleicht kanntest du ihn besser, den guten, alten Miro... erzähl mal...“

Sein Blick war unverblümt auf Itoe gerichtet, erwartungsvoll, vorwurfsvoll, als würde sie sich einbilden, Miro tatsächlich besser zu kennen als er. Itoe rutschte unsicher auf ihrem Platz hin und her, wich seinem Blick jedoch nicht aus. Sie war zu schlau, um mit einem Betrunken zu diskutieren.

„Was würde Miro gefallen, was denkst du?“, fuhr Kira fort, „vielleicht Jazz-Musik? Ja, die liebte er. Und wenn jeder von der Familie was sagen würde über den tollen Miro... Ja, das wäre nach seinem Geschmack, wenn sich alle versammelten und um ihn trauerten... Er ist abgehauen, einfach abhauen...! Verdammter Scheißkerl...! Ich... Ich konnte mich nicht einmal verabschieden...“

Die Worte prasselte einfach aus seinem Mund und plötzlich weinte Kira wie ein kleiner Junge. Erschrocken sah Itoe zu, wie Kira einen Zusammenbruch erlitt. In so einem Moment halfen keine tröstenden Worte, das wusste sie allzu gut. Deswegen schwieg sie. Sie überwand lediglich die kleine Distanz zwischen ihnen und stellte sich neben dem Sessel hin. Sein herzzerreißendes Schluchzen drang durch die Stille. Vorsichtig streckte Itoe ihre Hand nach ihm aus und berührte sein Haar. Sie hatte das Verlangen ihn zu trösten, das Verlangen mit ihm zu weinen und zu trauern.

 

In diesem Augenblick der Schwäche empfand Kira kein Schamgefühl. Ob es am Alkohol lag oder generell an seiner Gleichgültigkeit, spielte letztendlich keine Rolle. Er war zu betrunken, um darüber nachzudenken.

Ihr zärtliches Streicheln schenkte ihm überraschenderweise ein wenig Trost. Er war ihr dankbar dafür, dass sie ihn nicht aus ihrer Wohnung schmiss, denn es war ihr gutes Recht. Theoretisch war er ein Niemand für sie, trotz der Heiratsurkunde.

Kira konnte sich an alles, was danach folgte, nicht erinnern. Irgendwann gegen frühen Morgen wachte er auf dem Sofa auf und musste kurz überlegen, wo zum Teufel er war. Sein Schädel dröhnte, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Außerdem hörte er Stimmen! Aber ihm wurde im selben Moment bewusst, dass es sich nur um den Fernseher, der leise im Hintergrund lief, handelte.

Auf dem Sessel saß das Mädchen, Itoe, zusammengekauert und schlief. Ihre Position sah nicht gerade bequem aus, sodass er sich kurzerhand dazu entschlossen hatte, sie ins Bett zu tragen. Kira war noch etwas betrunken, aber er schaffte es ohne Probleme sie hochzuheben. Bedauerlicherweise musste er nach wenigen Augenblicken feststellen, dass sie gar kein Bett besaß... Wie konnte ein Mensch ohne ein richtiges Bett leben? Er konnte sich das gar nicht mehr vorstellen, nachdem er sich an diesen Luxus gewöhnt hatte. Wahrscheinlich lag irgendwo im Schrank ein Futon, aber er hatte keinen Nerv, diesen zu suchen.

Kira legte Itoe auf das Sofa und deckte sie mit einer Tagesdecke zu. Sie schlief so fest wie ein Stein und schien gar nicht ihren Positionswechsel mitbekommen zu haben. Kira ging vor dem Sofa in die Hocke und musterte das ihm fremde Mädchen. Sein Bruder hatte eine gute Wahl getroffen, das musste er ihm lassen. Sie hatte für eine Japanerin markante Gesichtszüge und hob sich somit sehr von der Masse ab. Selbst ungeschminkt war sie hübsch anzusehen.

Kira beneidete seinen Bruder. Im Gegensatz zu ihm hatte er nie ein Mädchen getroffen, für das er so viel empfunden hatte, um sie zu heiraten. Er glaubte auch nicht daran, je ein solches Mädchen zu treffen. Selbst wenn es geschehen sollte, er war bereits an Itoe gebunden, ob er nun wollte oder nicht. Er würde sich nicht von ihr scheiden lassen, das konnte er nicht. Wenigstens das war er seinem Bruder schuldig.

Kira schüttelte seine Gedanken ab und verließ leise die Wohnung. Er musste sich ausnüchtern und dann... musste er die Beisetzung hinter sich bringen.

 

Zwei Tage später fand Miros Beerdigung statt. Nach dem nächtlichen Überfall hatte Kira tagsüber Kontakt zu ihr aufgenommen, um die Trauerfeier im nüchternen Zustand zu planen. Am Ende konnten nur wenige Ideen realisiert werden, da Kiras Mutter ganz andere Vorstellungen hatte. Aber letztendlich war das alles nebensächlich, denn nun war der Moment gekommen, an dem sie sich verabschieden mussten.

Die Kirche war voller Menschen, die um Miro trauerten. Manche hatten nicht einmal Platz und mussten stehen. So viele Menschen, dachte Itoe bei sich. Sie saß in der dritten Reihe, da die ersten beiden durch seine Eltern, Tanten und Onkel, Nichten und Neffen und andere Verwandte besetzt war. Seine Familie. Sie hingegen zählte man nicht dazu. Und obwohl Kira darauf bestanden hatte, dass sie in der ersten Reihe saß, setzte sie sich vorsichtshalber an einen anderen Platz weiter hinten. Sie kannte seine Familie inzwischen gut genug, um sie nicht zu verärgern. Das letzte, was sie wollte war, dass diese Beerdigung durch unnötigen Streit besudelt wurde.

Im Hintergrund spielte leise Jazz-Musik, die Miro so gerne mochte, während nach und nach die engsten Verwandten und Freunde nach vorne traten, um einige Worte des Abschieds zu sprechen. Irgendwann war Itoe an der Reihe. Wenigstens das haben sie ihr gelassen.

Als sie vorne stand, waren alle Augen auf sie gerichtet. Im Mittelpunkt zu stehen war nie eine Freude gewesen, aber für Miro tat sie es gern. Sie hatte sich eine kleine Rede überlegt, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nicht in der Lage war, die Worte auf dem Blatt vorzulesen. Itoe nahm sich einen Augenblick und dann sprudelte die Worte nur so aus ihrem Mund.

Es war eine ergreifende Rede, zumindest meinten das einige Gäste, die sie nach der Beisetzung bei Tee und Kuchen kennengelernt hatte. Itoe lächelte verlegen, sprach hier und da ihren Beileid aus und wünschte sich nichts lieber, als ein wenig allein zu sein. Sie fühlte sich elend, bedrückt und schwer. Ihre Trauerphase war noch nicht vorbei. Noch hatte sie keinen Abschluss gefunden. Doch hier, inmitten all dieser fremden Menschen, konnte sie sich nicht fallen lassen.

Irgendwann im Laufe des Tages zog sie sich zurück. Die Trauerfeier fand im Garten des großen Anwesens statt, das Miros und Kiras Eltern gehörte. Das Haus selbst stand leer, sodass Itoe dort einen Augenblick der Ruhe suchte. An den Wänden hingen wunderschöne Gemälde und auf den stilvollen Kommoden fand sie Familienfotos. Auf einem davon waren Miro und Kira gemeinsam abgebildet. Der eine legte dem anderen seinen Arm auf die Schulter, beide lachten und schienen glücklich zu sein. Egal, wie sehr Itoe sich auch anstrengte, sie konnte einfach nicht erkennen, wer von beiden wer war. Erschreckend.

„Was tust du hier?“

Itoe zuckte zusammen und drehte sich abrupt um.

Miro, schoss es ihr als erstes durch den Kopf. Miro ist tot, du Närrin.

Kira trat näher, bevor sie antworten konnte. Er erblickte die Fotos und nahm genau jenes in die Hand, auf dem die beiden Zwillinge so identisch aussahen.

Itoe sah zu Kira auf und musterte sein Profil. Er war nicht mehr der glückliche, lachende Junge auf dem Bild. Er war... kalt. Ein kalter, ernster Mann, der seine Gefühle nicht nach außen dringen ließ. Ja, diese Beschreibung traf ihn ziemlich gut. Aber wenn sie an seinen Besuch vor zwei Tagen dachte...

„Ich wollte etwas allein sein“, gestand Itoe und trat an ihm vorbei, „tut mir leid. Ich sollte gehen.“ Sie kam sich gerade wie ein Eindringling vor. Es war irgendwann einmal Miros Zuhause, aber Miro war nicht mehr da und dieses Haus würde für immer ein fremder Ort für sie bleiben. Außerdem... Kiras Nähe war kaum zu ertragen. Es fühlte sich an, als sei Miro immer noch da. Sie wollte einfach nur fliehen.

Itoe eilte den Flur entlang, Richtung Ausgang. Dummerweise folgte er ihr.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“

Sein Vorschlag war einerseits ihre Rettung und gleichzeitig ihr Untergang.

„Es würde reichen, wenn du mir ein Taxi rufst.“

Ohne sich umzudrehen lief sie weiter auf die Haustür zu, doch bevor sie hinaustreten konnte, hielt er sie auf.

„Das, was du über meinen Bruder gesagt hast... danke.“ Er bezog sich auf ihre Rede.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm, ihr Blick auf die Tür gerichtet, Kira direkt hinter ihr. Der Ausgang so unglaublich nah. „Ich habe nur das gesagt, was ich fühle. Nicht mehr und nicht weniger.“ Dafür musste er sich nicht bedanken. Kira sagte nichts darauf, sondern trat noch einen Schritt näher. Beinahe konnte sie seinen Atem im Nacken spüren.

„Warum siehst du mich nicht an?“

Diese Frage hatte sie am meisten gefürchtet. Itoe griff nach der Türklinke, doch er stemmte seine Hand gegen die Tür und ließ diese verschlossen.

„Weil ich aussehe wie er?“

Die Antwort lag auf der Hand, doch Itoe konnte sie nicht laut aussprechen. Ihr Schweigen schien ihm als Antwort zu genügen. Er ließ seinen Arm sinken und trat einen Schritt zurück.

„Du solltest dich von ihm verabschieden. Jetzt bist du meine Frau.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Tasha88
2019-01-11T20:29:56+00:00 11.01.2019 21:29
So so...
Also ich fände es auch übel, wenn man die Liebe seines Lebens heiratet und dann hat derjenige einen nur verarscht... Und der tatsächliche Ehemann ist ein depp... Okay, ich greife voraus, aber egal...

Das die Beerdigung dann anders gemacht wird, ist auch nicht in Ordnung. Itoe war Miros Frau (Naja) und sie sollte entscheiden. Nicht die Mutter... Egal

Ich werde jetzt einfach alles nochmal lesen, egal wie schlecht :p

<3
Von:  Yinyin24
2015-10-24T07:40:44+00:00 24.10.2015 09:40
Wie traurig das Miro tot ist. ;-( *schluchz* Nur ich bin leicht irritiert wer war Miro da ich zwischen ihn und Itoe immer vertausche? Sorry, ich finde es ziemlich peinlich. Entschuldigung, kannst du's mir nochmal beschreiben wer dieser Charakter ist? Die Story finde ausgesprochen gut, eine traurige ABER doch wunderschöne FF. *-* Dieses Kapitel lese ich zum ersten Mal. Hast eine super Idee und Kreativität in dein Schreibstil eingefügt. Ein dicken Lob dafür :) würde mich freuen daß du mich irgendwann kontaktierst. Dankeschön. Liebe Grüße Yinka Adewunmi <3
Antwort von:  May_Be
24.10.2015 11:06
Hey Yinka. Erst mal vielen Dank für dein riesiges Lob :D Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt!
Ich erkläre dir gerne noch einmal, wer die Charaktere sind, dann ist die Geschichte besser zu verstehen. Miro und Kira sind Zwillinge. Miro war schwer krank und hat seine Familie zurück gelassen. Er hat Itoe kennen gelernt und sie geheiratet. Später ist er gestorben. Itoe kannte miro jedoch nicht unter seinem richtigen namen, denn er hatte sich als Kira vorgestellt.
So, ich hoffe jetzt ist es verständlicher. Falls du noch fragen hast, bin ich gern bereit sie dir zu beantworten ;)

Liebe grüße
May_Be
Antwort von:  Yinyin24
24.10.2015 11:12
Asoo also sind die beiden doch Zwillinge gewesen. Ja cool, danke für die Erklärung echt nett von dir. :)


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