Blind Date von May_Be ================================================================================ Kapitel 1: Kiras Plan --------------------- Itoe kamen die letzten Tage vor wie im Traum. Wenn sie daran zurück dachte, sah sie nur verschwommene Bilder ihrer Erinnerung. Es war nicht einfach, Kiras Tod zu verarbeiten. Nicht nur, weil sie ihn vom Herzen geliebt hatte, nein. Sie hatte nicht einmal Zeit zum Trauern gehabt. Sie musste formelle Dinge erledigen, den Transport von Kiras Leichnam nach Tokyo organisieren und seine Familie aufsuchen. Das schwierigste war der letzte Teil. Sie war noch gar nicht bereit, seiner Familie entgegenzutreten. Sie wusste, dass keiner sie kannte, weil Kira seiner Familie nichts von ihr erzählt hatte. Sie war praktisch eine Fremde. Wie würde es rüber kommen, wenn sie verkündete, dass sie Kiras Frau sei? Würde man ihr überhaupt glauben? Itoe drückte ihre Tasche und dachte kurz an den Inhalt. Darin befand sich ein Brief an Kiras Bruder. Das sollte Beweis genug sein. Sie wusste sehr wenig über seine Familie. Nur dass sie wohlhabend war. Und dass er einen Bruder hatte. Mehr jedoch nicht. Itoe atmete tief durch, als sie vor dem riesigen Anwesen stand und klingelte. Kurzen Augenblick später wurde die Tür geöffnet. Itoe wurde ganz schwindlig als sie in das vertraute Gesicht blickte. Nein, das konnte nicht sein. Kira war tot. Warum bestraften die Götter sie so grausam? Intuitiv wusste sie, dass es Kiras Bruder war, aber dass er gleichzeitig Kiras Zwilling war, hatte er nie erwähnt.   Als Kira die Tür aufschloss, hatte er mit so einer hübschen Besucherin nicht gerechnet. Zu wem sie wohl wollte? Hier lebten nur seine Eltern. Er war nur zu Besuch gekommen - und das eher aus seinem Pflichtgefühl heraus. Vielleicht war das auch die Geliebte seines Vaters, die jetzt reinen Tisch machen wollte. Wie dem auch sei. Das Mädchen sah ihn mit ihren großen Augen an, als wäre er ein Geist. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Er ergriff ihren Arm, da sie kurz vorm Umkippen war. „Ja... ich dachte nur...“ Sie brach ab und entzog ihm ihren Arm. Sie schien sich zu beruhigen und sah erst dann wieder zu ihm auf. „Ich bin Itoe Tamada, Kiras Frau. Ich bin hier um Ihnen mitzuteilen, dass Kira leider verstorben ist.“ Kira hob eine Augenbraue. Kiras Frau? Etwas stimmte hier nicht. Er war Kira. „Eh... Moment. Sie meinen Miro“, betonte er, „er war mein Zwilling.“ Kira hatte es schon länger gespürt, dass es Miro nicht länger aushalten würde. Vor einigen Tagen hatte Kira seinen Tiefpunkt gehabt. Vielleicht war genau das der Moment, als Miro aus dem Leben schied. Kira ließ sich auf die Stufen nieder, um die Nachricht zu verarbeiten. Sein Bruder war tot und er würde nie wieder zurückkehren.   Itoe wollte mit ihm nicht über Namen streiten. Sie wusste doch genau, wie ihr Mann hieß. Stattdessen holte sie den Brief aus der Tasche und reichte ihm diesen. „Der ist für Sie. Kira hatte ihn Ihnen hinterlassen.“ Kiras Bruder nahm den Umschlag entgegen und holte zwei Briefe heraus. „Ich glaube, der ist an Sie“, meinte er und reichte ihr das Blatt Papier, auf dem ihr Name stand. Itoe war überrascht, dass Kira ihr auch einen Abschiedsbrief geschrieben hatte. Ihre Hände zitterten, als sie das Blatt auseinander faltete und die Zeilen las.   Liebste Itoe, du warst für mich die Liebe meines Lebens, doch nun bin ich fort und enttäusche dich wahrscheinlich sehr mit meinen letzten Worten. Leider muss ich dir jetzt gestehen, dass ich eigentlich Miro bin... und nicht dein Mann. Ich weiß, das ist alles sehr verwirrend für dich, aber ich hatte meine Gründe. Ich wollte, dass du meinen Bruder Kira kennenlernst. Er ist ein wunderbarer Mensch, wahrscheinlich der bessere von uns beiden... Er wird gut auf dich achtgeben, wenn ich nicht mehr bin. Natürlich verstehe ich, wenn du dich von ihm scheiden lassen willst, aber ich will nur dein Bestes, mein Engel, denn du hast mir Freude ins Leben gebracht und ich wollte es irgendwie wieder gut machen. Bitte, gib ihm eine Chance. Ihr habt beide Glück verdient. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann vergeben, dass ich dich angelogen habe. In ewiger Liebe Miro   Itoe war ziemlich verwirrt. Dann hatte sie die ganze Zeit Miro geliebt? War jetzt aber rechtlich an Kira gebunden? Ihre Gefühle überströmten sie mit heftiger Wucht. Sie wischte sich über die feuchten Augen und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.   Kira las derweil seinen eigenen Brief:   Hallo lieber Bruder, wenn du das hier liest, bin ich von dieser Erde geschieden und bedauere es zutiefst, dass ich dir nicht Lebewohl sagen konnte. Auf meiner Reise habe ich zudem einen Engel gefunden, den ich nun zu dir schicke. Itoe, sie kommt auch aus Japan und ist nun... deine Frau! Ja, du hast richtig gelesen. Ich habe mich als dich ausgegeben, denn ich war mir sicher, dass du ohne mich noch total versauerst. Du brauchst sie und sie braucht dich. Bitte Kira... es ist mein einziger Wunsch. Lass sie nicht ziehen... Ich weiß, hinter deiner harten Schale steckt ein weicher Kern und du wirst sie mögen. Pass auf diesen Schatz auf und werdet glücklich. In brüderlicher Liebe Miro P.S. Das war meine Mission auf dieser Welt.   Während Kira den Brief las, fluchte er leise vor sich hin. Was hatte sich sein verrückter Bruder bloß dabei gedacht? Er konnte doch nicht einfach dieses Mädchen mit ihm verheiraten! Aber das sah Miro mal wieder ähnlich. Er war bekannt für seine eigensinnigen Ideen. Kira fuhr sich nachdenklich durchs Haar, ohne eine Ahnung, was er von der ganzen Sache halten sollte. Nun ergab die Verwechslung mit dem Namen einen Sinn. Kira erhob sich von den Stufen und sah zu dem fremden Mädchen, das nun seine Frau sein sollte. War das vielleicht ein Trick? Wollte sie ihn hereinlegen? War sie die Betrügerin? Er war nicht reich, zählte aber zur wohlhabenden Mittelschicht. Sie könnte es irgendwie herausgefunden haben... Er nahm das Mädchen genauer in Augenschein. Ihre Trauer schien echt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieses zarte Ding so einen perfiden Plan aushecken konnte. Außerdem war das zu hundert Prozent Miros Handschrift. Dann blieb nur die Möglichkeit, dass das, was in dem Brief stand, der Wahrheit entsprach. Aber selbst wenn... Was sollte er mit ihr? Er konnte nichts mit einer wie ihr anfangen. Und mit einer Ehe noch weniger. „Lass uns reingehen. Meine... unsere Familie wartet auf deine Nachricht.“ Er betonte es extra, denn nun gehörte sie, ob gewollt oder nicht, zu seiner schrägen Familie. Verdammt, Miro. Was hast du dir nur dabei gedacht? Kira führte sie ins Haus. Schon allein der Flur war so groß wie manch andere Wohnung, was auf einen gewissen Wohlstand hindeutete. „Kira, wer war an der Tür?“, wollte eine Frauenstimme wissen. „Das ist meine Mutter“, meinte er emotionslos zu Itoe. Er führte sie ins Wohnzimmer, wo seine Eltern, seine zwei Tanten und Onkel saßen. Alle Augen richteten sich auf die beiden, als sie hinein traten. „Oh, wer ist das liebreizende Kind?“, meinte eine der Tanten neugierig und musterte Itoe eindringlich. Kira hätte wetten können, dass es Itoe unangenehm war, so offen angestarrt zu werden. Ohne lange darüber nachzudenken, legte er seinen Arm um ihre Schulter und ließ die Bombe platzen. „Sie ist meine Frau.“ Die unerwartete Nachricht versetzte alle ins Staunen. Keiner schien mit dieser Neuigkeit gerechnet zu haben, Kira eingeschlossen. Er erzählte in Kürze und mit präziser Sachlichkeit, dass Miro verstorben sei und dass Itoe nun seine Frau war. Die Familienmitglieder kamen aus dem Schluchzen und Weinen, Fluchen und Staunen nicht mehr heraus. Nur Kira sah sich die unterschiedlichen Gefühlsausbrüche seiner Familie emotionslos an. „Und was erhofft sich nun das Mädchen? Nur weil sie an Miro gebunden ist...“ Tante Reika war schon immer eine falsche Schlange gewesen. Die hatte immer nur Geld im Kopf. „Sie ist an mich gebunden“, machte Kira deutlich. Er hasste seine Familie. Er hasste sie alle. Diese Menschen waren hinterhältig und durchtrieben. Giftig. Verdorben. Miro, du Idiot, warum hast du sie hineingezogen? Itoe schien aus einem ganz anderen Holz geschnitzt zu sein, das musste Miro doch erkannt haben. Sie sah vernünftig und aufrichtig aus. Ein guter Mensch, der ohne Kira sicher besser dran war. „Ich möchte nichts und ich erhoffe mir nichts“, meldete sich das Mädchen an seiner Seite zu Wort und das Tuscheln und Schluchzen wurde leiser. Alle Augen waren aufmerksam auf sie gerichtet, doch sie sprach unbeirrt weiter. „Ich wollte sie nur aufsuchen, um mein Beileid auszusprechen. Und ich wollte Miros Leichnam seiner Familie übergeben. Wenn ich Umstände bereitet habe, tut es mir leid.“ Itoe verbeugte sich tief und verließ das Wohnzimmer. Kira spürte einen Anflug von Wut gegenüber diesem Gesindel. Er warf einen verächtlichen Blick in die Runde und eilte Itoe hinterher.   Itoe hatte sich noch nie so unerwünscht gefühlt. Hatte Kira ihr deswegen nichts von seiner Familie erzählt? Sie meinte natürlich Miro... Ach, verdammt. Wer war er überhaupt? Kira, Miro... was spielte das noch für eine Rolle? Ihr Mann war tot... Itoe stolperte die Treppen hinunter und wurde plötzlich am Arm gepackt. Immer wenn sie ihn erblickte, dachte sie, ihren Geliebten zu sehen. Ihren Mann. Aber das war er nicht. Kiras Züge... des echten Kiras... waren härter, gröber. Das war nicht der Mann, den sie liebte. Das war ein Fremder. Als er vorhin gesagt hatte, sie wäre seine Frau, hatte sich alles in ihr dagegen gesträubt. Sie wollte schreien, dass sie Miros Frau war, nicht seine. Doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. „Bitte, lass mich gehen. Ich wollte euch nicht belästigen. Und ich will auch nichts von euch. Ich wusste ja nicht einmal, dass ihr so reich seid. Und selbst jetzt ist es mir egal“, versuchte sie sich zu rechtfertigen, doch Kira hielt sie immer noch in seinem eisernen Griff fest. „Ich werde die Worte meines Bruders ernst nehmen, Itoe und das solltest du auch tun“, sagte er entschlossen und gebrauchte das vertrauensvolle Du. Seine Worten berührten sie unerwartet und tief in ihrem Herzen war sie erleichtert, dass er ihr nicht falsche Motive unterstellte, so wie seine Familie. Kira ließ ihren Arm los und gab ihr einen Augenblick, um sich zu beruhigen. „Wir werden zunächst Miro beerdigen und dann sehen wir weiter“, sagte er anschließend, „es gibt noch vieles zu bereden, aber das verschieben wir auf später.“ Kiras Entschlossenheit, Miros letztem Wunsch nachzugehen, ließ Itoe an ihrer eigenen Entscheidung zweifeln. Vielleicht sollte sie Kiras, bzw. Miros, Plan eine Chance geben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)