Corvus et Vulpes von Bei ================================================================================ Kapitel 22: Die Schwarze Hexe ----------------------------- Der sechste Jahrgang der Gryffindors musste an diesem Mittwoch in „Verteidigung gegen die dunklen Künste“ auf ihre Lehrerin verzichten und mit einem griesgrämigen Snape vorlieb nehmen, dem es gleich in den ersten drei Minuten gelang, Harry Potter zehn Punkte abzunehmen. Seltsamerweise hingegen, so bemerkte Hermione Granger beiläufig, verzichtete der Zaubertranklehrer im Gegensatz zu den Zeiten, in denen noch Remus Lupin unterrichtet hatte, darauf, Jiang Li als komplette Versagerin hinzustellen und widmete sich den Großteil der Stunde ausschließlich der komplexen Abwehrproblematik starker Bannflüche.   Es war etwa drei Uhr nachmittags, als Jiang Li auf der Insel Inishmore eintraf; wenn sie die Studienbibliothek, in der Lupin Hinweise über das Spaltungsmagie-Buch in Bangor entdeckt hatte, in der nächsten halben Stunde fand, würde sich ihre Verspätung in annehmbaren Grenzen halten. Den ganzen Weg über, während sie von Ayr aus mit einer Fähre nach Belfast und weiter per Floo-Pulver nach Galway und schließlich Inishmore gereist war, spukte ein hartnäckiger Gedanke, eher eine Vermutung, ein Verdacht, in ihrem Hinterkopf herum. Etwas war an diesem Morgen anders gewesen in ihrem Zimmer. Als sie aufgewacht und zum Kamin gegangen war, um das schwelende Feuer neu anzufachen, hatte irgendetwas ihre Aufmerksamkeit erregt, doch es war zu wenig greifbar, als dass sie mit Sicherheit hätte sagen können, was es war. Irgendetwas in der Asche. Da war etwas aufgetaucht, das auf keinen Fall dorthin gehörte, aber was? Geistesabwesend ließ sie sich auf der Insel den Weg erklären und stapfte los, ohne zunächst groß auf die Landschaft zu achten; nach einiger Zeit allerdings, als es rings um sie immer dunkler zu werden begann, hob Jiang Li erstaunt den Kopf und schob ihre Überlegungen für einen Moment zur Seite. Das Gebäude, in dem sich die Bibliothek befand, war mitten in einem Moor erbaut worden und erhob sich düster über einer kargen, in weiter Entfernung von einem dichten Wald begrenzten Ebene, in der es außer Büscheln von Schilf, Seggen, Binsen und Rohrkolben lediglich einige vereinzelt stehende, verkrüppelt in Bodennähe wuchernde Bäume gab. Das Bauwerk selbst, ein sicherlich über hundert Meter hoher Turm, der von vier hohen, schlanken Eckzinnen, die sich an die Außenmauer schmiegten, begrenzt wurde, schien von der äußeren Wirkung her der Umgebung durchaus angemessen zu sein; es wirkte düster, krank und wie am Rande des Verfalls, obwohl dennoch eine beunruhigende Kraft davon ausströmte. Ein langer, nahezu unsichtbarer Pfad aus zusammengetretenem Ried wand sich zwischen sumpfigen Tümpeln und fauligen Wasserlöchern auf ein schweres, mattschwarz schimmerndes Tor aus schwerem Gusseisen zu. Jiang Li sah sich mit einem mulmigen Gefühl um. Das Sonnenlicht, das über der Insel geherrscht hatte, als sie von Galway übergesetzt hatte, war hier zu einer fahlen Dämmerung verblasst, die eine exakte Bestimmung der Tageszeit nicht zuließ. Dichte Nebelschwaden stiegen aus dem morastigen Boden auf und sammelten sich hoch über ihrem Kopf zu einem nahezu substanzhaften Schleier. Es war durchdringend kalt, eine schwere, alles durchnässende Kälte, und Jiang Li zog ihren Mantel fröstelnd enger um sich, als sie langsam und vorsichtig über den holprigen Weg in Richtung Bibliothek marschierte. Am Eingangstor angelangt wurde sie bereits von einem buckligen Zwerg erwartet, der eine unruhig flackernde Lichtkugel in der hohlen linken Hand trug, die sich beim zweiten Hinsehen als Anhäufung einiger Hundert Glühwürmchen entpuppte. Jiang Li wollte sich eilig für ihr spätes Kommen entschuldigen, als er den Kopf hob und ihr mit einem Paar so unwahrscheinlich blauer Augen ins Gesicht sah, dass ihr die Worte geradewegs im Hals stecken blieben. „Die Dunkle Herrin erwartet Euch bereits“, begann der Zwerg mit einer leisen, fast flüsternden Stimme, als von Jiang Li noch immer kein Ton zu hören war. „Sie rechnete bereits vor über einer Stunde mit Eurer Ankunft.“ „Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass der Weg so lang sein würde“, murmelte Jiang Li zur Antwort und kam sich dabei sehr dumm vor. Was war denn das auch für eine lahme Ausrede? Der Zwerg drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ließ die Glühwürmchen ein Stück voraus ins Innere des Gebäudes fliegen. Lupin hatte sie nicht im Mindesten darauf vorbereitet, was unter dieser Studienbibliothek eigentlich zu verstehen war. Alleine schon dieser eigenartige Zwerg, der nun vor ihr her in die staubige Dunkelheit des Turmes schlurfte, in der der Geruch nach altem Pergament und Abertausenden Seiten trockenen Papiers immer erdrückender zu werden schien, jagte ihr eine unterschwellige Angst ein. Und dann hatte dieser eigenartige Diener auch noch von der „Dunklen Herrin“ gesprochen – was immer das bedeuten mochte. Dumbledore würde es doch niemals gutheißen, wenn sie die Hilfe einer Schwarzmagierin annehmen würden, oder täuschte sie sich da etwa? Sie hatte sich in letzter Zeit ja schon des Öfteren gründlich geirrt, so abwegig war das also auch gar nicht. Jiang Li war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie der Zwerg sie immer tiefer in die Eingeweide der Bibliothek führte, vorbei an unzähligen Regalreihen vollgestopft mit brüchigen Schriftrollen, losen Pergamentblättern in Kisten und schweren, in Leder gebundenen Büchern, enge Wendeltreppen hinauf und hinunter, immer die flackernden, unruhig tänzelnden Glühwürmchen vor sich, die das Einzige waren, das in dieser Dunkelheit Licht spendete. Erst als er abrupt stehen blieb und sie beinahe in ihn hineingelaufen wäre, hob sie mehr ärgerlich als erstaunt die Augen und fühlte, wie es ihr schon wieder die Sprache verschlug. Sie befanden sich in einem kleinen, kreisrunden Zimmer, das wohl an der Spitze einer der Ecktürme gelegen sein musste. Durch die regelmäßig angeordneten, durch filigrane schmiedeeiserne Gitter verzierten Fenster bekam das Ganze – so unpassend der Begriff für einen Teil dieses düsteren Gebäudes auch zu sein schien – ein wenig die Wirkung eines Taubenschlags. Der Raum war bis auf einige Büchergestelle, die sich an die runden Wände schmiegten, leer geräumt und wies in der Mitte ein kunstvolles Mosaik auf, das ein Hexagramm aus schwarzem Stein zeigte; um die untere Hälfte des Sterns wand sich eine Wasserschlange, über der oberen schwebte ein stolzer Adler und in der Mitte umflatterten sechs Schmetterlinge einen leeren Mittelpunkt. „Du kannst gehen, Karòs“ ertönte unvermittelt eine beherrschte, ruhige Stimme aus der Tiefe der Schatten neben einem der Regale. Eine dunkle Gestalt gewann langsam an Umriss und trat weiter in den Raum hinein. Der Zwerg verschwand wortlos. Das musste nun also die geheimnisvolle Bibliothekarin sein. Ein kühles, sommersprossiges Gesicht, wie alt, so genau konnte man das nicht sagen. Langes, dunkles Haar mit einem Stich ins Rötliche, eine zart gebaute und dennoch sehr große Gestalt. Ihre Kleidung war einfach, ein unter der Brust geschnürtes Hemd, darunter eine Hose, die nur die Spitzen ihrer länglich zulaufenden Schuhe zu sehen ließ, über den Schultern ein düsterer, seltsam farbloser Umhang. Jiang Li verbeugte sich höflich und schlug dabei unbewusst die Augenlider zu Boden. „Ich freue mich sehr, dass Sie Zeit für mich gefunden haben. Remus Lupin schickt mich.“ Die rätselhafte Dame schwieg für einige Sekunden, dann kam sie mit unhörbaren Schritten heran, fasste Jiang Li unvermittelt am Kinn und zwang sie so, ihr direkt in die Augen zu sehen. „Es waren die Spuren eines Fuchses heute Morgen in der kalten Asche“, sagte sie leichthin und verzog die Lippen zur Andeutung eines Lächelns. Jiang Li erschrak und zuckte heftig zurück. „Woher-“ Die Dame lachte leise und ließ ihr Kinn los, ohne zu antworten. „Willkommen auf Caew. Hier liegt für viele der Ort der letzten Ruhe und ich wache darüber, bis das Ende meiner Zeit gekommen sein wird. Man nennt mich die schwarze Moorhexe, weil ich mich nicht um die Gunst der mich umgebenden Umwelt kümmere. In meinem Turm sammle und bewahre ich das Wissen der verschiedenen Zeitalter und nur aus dem Grund, es zu mehren, empfange ich Gäste wie Sie.“ Jiang Li musste einmal kräftig schlucken und zog abwehrend die Schultern hoch. „Mr Lupin hat mich doch sicher angekündigt und Ihnen alles Notwendige erzählt, nicht wahr?“ „Der Orden des Phönix?“, fragte die Schwarze Hexe mit einem sanften, fast mokanten Lächeln zurück. „Mr Lupin konnte mir nicht mehr darüber erzählen, als ich ohnehin schon weiß. Ich bin schon viel zu lange hier, um ahnungslos zu sein, das ist mein Unglück.“ „Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen.“ „Ist das denn so schwierig? Es gibt vor mir keine Geheimnisse. Sie sind hier, weil Sie Einblick in gewisse Werke der Schwarzen Magie möchten, nicht wahr?“ „Es geht darum, Voldemort einen Schritt voraus zu sein“, sagte Jiang Li tapfer in das schöne, ironische Gesicht hinein und starrte in ein undurchschaubares, nahezu violett schimmerndes Augenpaar. „Wer sagt Ihnen, dass Voldemort oder einer seiner Helfer nicht bereits hier war?“, lächelte die schwarze Dame ungerührt weiter. „Wissen ist dazu da, um weitergegeben und vermehrt zu werden. Ich ergreife keine Partei außer meiner eigenen. Es ist nicht mehr mein Zeitalter, ich bin nur noch ein übrig gebliebenes Relikt. Meine Kämpfe sind vorüber. Daher kümmert es mich nicht, wem ich Rat erteile.“ „Aber Voldemort steht für alles Übel“, antwortete Jiang Li beinahe tonlos. „Er zerstört, was ihm hinderlich scheint, er nimmt keine Rücksicht, er hinterfragt nicht. Es gibt nur seinen Weg, einen anderen akzeptiert er nicht. Die Welt um ihn herum kümmert ihn nur insoweit, solange sie seinen Plänen nützlich ist.“ Die Hexe lächelte nicht mehr ganz so spöttisch, sondern sah Jiang Li beinahe mitleidig an. „Ist denn Dumbledore das einzig Wahre und Gute?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schüttelte sie ihr langes Haar zurück und schnippte kurz mit den Fingern. Die Glühwürmchen, die sich nach dem Weggang des Zwergs zwischen den Bücherregalen verteilt hatten, sammelten sich augenblicklich und bildeten, wie schon zuvor, eine hell leuchtende Kugel dicht neben dem linken Arm der Hexe. „Beginnen wir. Ihre Zeit, Miss Lian, ist im Gegensatz zu der meinen knapp bemessen. Ihr Wunsch ist für mich einfach zu erfüllen: das Sepher ha-Sha´are ha-Daath des Nathan von Gaza befindet sich in meiner Sammlung und wird soeben mit äußerster Sorgfalt kopiert. Sobald Sie mir den meinen Wunsch erfüllt haben, werden Sie es in Ihren Händen halten. Nun zu den wichtigsten Fragen, die Ihren Auftrag betreffen: Wer besitzt das gesuchte Werk in Bangor? Wie kann man die Sicherheitsvorkehrungen umgehen? Das ist nicht weiter schwierig. Ich erkläre es Ihnen gleich. Es wird gefährlich werden, und wenn Sie nicht sehr vorsichtig sind, kann es auch genauso gut Ihr Tod sein; doch Mr Lupin zählt auf Ihre Geschicklichkeit.“ Jiang Li sah sie groß an. „Es gibt bei Weitem talentiertere Magier als mich. Weshalb schicken Sie keinen Auror nach Bangor?“ „Es genügt bei Weitem nicht, lediglich die richtigen Sprüche zu kennen. Körperliche Gewandtheit ist ausgesprochen wichtig. Diese alten Familien schützen ihre Kostbarkeiten auf vielfältige Art und Weise.“ Die Hexe lächelte plötzlich halb betroffen, halb amüsiert. „Nun, und selbst in Anbetracht dessen, dass meine Sammlung bereits lange vor der Entstehung der sozusagen modernen Welt einen Umfang erreicht hatte, der so manch andere, weitaus bedeutendere Bildungsstätten vor Neid erblassen ließ … Vergessen Sie bitte nicht, dass gerade diese alten Zaubererfamilien ihre Bücher oft dazu benutzen, um Eigenschöpfungen für die Nachwelt festzuhalten, daher gleicht selten ein Exemplar dem anderen, ein wenig wie bei Tagebüchern, Sie verstehen?“ Jiang Li nickte und wunderte sich über diese plötzliche Vertraulichkeit. Die Schwarze Hexe wirkte plötzlich müde und älter als noch Augenblicke zuvor; die Luft hier im Turm war trocken und stickig, obwohl sich in diesem Raum verhältnismäßig wenige Bücher befanden. „Können Sie sich Ewigkeit vorstellen, kleines Mädchen?“ Die Hexe lächelte wieder, diesmal nur noch voller Schwermut. „Nein, können Sie nicht. Menschen sind sterblich. Menschen können sich ausruhen, wenn sie ihren Weg zu Ende gegangen sind. Aber wenn man dazu verdammt ist, ewig weiterzuwandern, Zeiten kommen und gehen, neue Völker mit ihren Stätten wachsen und wieder zerfallen zu sehen – irgendwann macht alles keinen Sinn mehr, denn man erkennt das Muster hinter allem und bemerkt, dass alles einem großen Kreislauf ähnelt, immer im Kreis …“ Sie seufzte und winkte mit einer kraftlosen Handbewegung ab. „Anders als die meisten Wesen kann ich mich an alles erinnern, das mir je widerfahren ist, was ich je gesehen habe. Als ich meine Augen öffnete, war die Welt um mich herum gerade erst geboren worden und ich war jung und voller Tatendrang. Und trotz meiner Fehler, dem falsch geschenkten Vertrauen und der verschwendeten Gefühle bereue ich nichts, denn es wird der Tag kommen, an dem ich meine Schuld einlösen und frei sein werde – dann kehre ich endlich zu der großen Harmonie zurück, in der mein Ton fehlt.“ Jiang Li sah sie erstaunt an und schwieg. Ein kalter Schauer glitt ihr über den Rücken, als sie einen Hauch von Endlosigkeit zu spüren bekam und für eine Sekunde in die Ewigkeit blinzelte. Ihr Atem schien zu Eis zu gefrieren.  Entschlossen straffte die Hexe ihre Schultern, räusperte sich und fuhr fort, als hätte es ihren Ausbruch nie gegeben. „Ein erstaunliches Werk, das Sepher ha-Sha´are ha-Daath, in der Tat. Eine Perle meiner Sammlung. Es behandelt nebst gewagter kabbalistischer Theorien vor allem die Ströme des Untergrundes. Energien der Erde, sozusagen …“ Eines der Regale fiel polternd um. Die Schwarze Hexe hob missbilligend den Blick, sparte sich die mahnenden Worte aber, als sie Jiang Li ins Gesicht sah. „Überrascht?“ „Das – das kann nicht sein! Tellurische Ströme? Meinen Sie das? Erde? Untergrund? Energie?“ Jiang Li spie die Worte förmlich aus und schlang ihre Finger unbewusst bereits um das nächste Gestell. Es war, als würde sich das Gespräch, das sie vor über einem Monat mit Snape geführt hatte, wiederholen. Doch diesmal hatte sie recht. „Geomantie, ganz recht, meine Liebe. Haben Sie das denn etwa immer noch nicht herausgefunden? Lupin war da bei Weitem schneller.“ „Was soll das heißen?“ „Haben Sie sich denn noch nie über Ihre ganzen Aufträge gewundert? Über die Schriften, die Sie beschaffen sollten? Denken Sie nach. Es ist ganz einfach.“ „Ich weiß. Ich weiß es schon seit einer ganzen Weile. Aber ich konnte mir nicht – sicher – sein …“ Jiang Li war ganz weiß geworden, ihre Lippen fühlten sich an wie erstarrt. Was die Hexe ihr da sagte – was das bedeutete – oder bedeuten konnte … „Terribilis est locus iste“, flüsterte die Hexe beinahe unhörbar und für Sekunden glomm ein kaltes Feuer in den amethystfarbenen Augen auf. Jiang Li erschauderte und senkte rasch den Blick. Die schwarze Dame lachte. „Wer könnte einem ein schlimmerer Feind sein als der beste Freund?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)