Alice im Wunderland - Die bescheuertste Interpretation ever von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 11: Kapitel 11 - Schachfiguren -------------------------------------- Einen Moment lang war es totenstill in der Zelle. Im nächsten Augenblick war der reinste Aufruhr ausgebrochen – was allerdings kaum einen Unterschied zu vorher darstellte, dachte Alice für sich. Immerhin konnte man von der Truppe, mit der er hier unten gefangen war, nicht erwarten, sich für länger als zwei Minuten am Stück ruhig zu verhalten. Er musste jedoch zugeben, dass er die Panik der anderen verstehen konnte. Waren sie eben noch in dem Glauben gewesen, von der Herzkönigin persönlich auf magische Art hierher verfrachtet worden zu sein, so stand Selbige auf einmal mitten unter ihnen, schien genauso wenig verantwortlich für das Ganze zu sein wie sie alle und teilte ihnen nun auch noch mit, dass sie in Gefahr waren. Sie und der General. „Majestät!“, hörte er Ozzy mit besorgter Stimme rufen und sah, wie er zu seiner Königin stürmte, als wäre er der Einzige in diesem Raum, den die Sache beschäftigte. „Seid Ihr in Ordnung? Was ist passiert?“ „Ich bin okay“, antwortete Marilyn, offenbar bemüht, die Ruhe zu bewahren. „Aber wenn wir nichts tun und länger im Kerker bleiben, dann... Wir müssen sofort hier raus!“ „Wir kommen hier nicht raus, Majestät!“, erklärte Wache Nummer Zwei, ebenfalls so beherrscht wie nur möglich. „Der Notausgang ist verschlossen... und der Haupteingang doch auch, oder nicht?“ „Meine liebe Wache... Du arbeitest nun schon so lange für mich und müsstest doch eigentlich wissen, dass es für mich eine Kleinigkeit ist, sämtliche Eingänge und Ausgänge mit meiner reinen Gedankenkraft sowohl zu schließen als auch zu öffnen“, gab Marilyn auf seine typische überhebliche Art zurück. Alice war zum ersten Mal froh darüber, diese Überheblichkeit bei ihm zu hören. Er klang wieder ganz wie die Herzkönigin, die er kennengelernt hatte. „Das Problem ist nicht, wie wir herauskommen... Er hat mich nicht hier eingesperrt, um mich auf lange Sicht loszuwerden, sondern bloß, um ein wenig Zeit zu gewinnen, weil er irgendetwas plant! Das heißt, wenn wir jetzt einfach alle durch die Tür zurück nach oben laufen, gehen wir ihm mit großer Wahrscheinlichkeit in die Falle...“ „Wer ist 'er'?“, fragte Alice wie automatisch. Marilyn sah ihn betroffen an, so als hätte er ihn eben an etwas furchtbar Tragisches erinnert. „Das... würde jetzt zu weit führen“, war alles, was er zur Antwort gab. Dann sagte er eine Weile lang nichts, bis er mit plötzlicher Entschlossenheit an seine Untergebenen gewandt fortfuhr. „Passt auf! Ihr werdet nacheinander den Notausgang benutzen, und wenn ihr alle im Garten seid, werdet ihr gemeinsam den Hof verlassen und euch in den anderen Teil des Wunderlandes begeben! Ich nehme an, er geht davon aus, dass wir den einfacheren Weg durch die Tür nehmen, daher seid ihr auf der sichereren Seite, wenn ihr durch den Garten geht. Ich werde derweil den Weg durch den Haupteingang nehmen und mich um alles weitere kümmern.“ „Aber Majestät...!“, vernahm er die entsetzten Stimmen einiger Bediensteter. Marilyn lächelte schwach. „Macht euch um mich keine Sorgen. Ihr wart mir immer treu ergeben und habt meine Launen ertragen, als wäre es selbstverständlich. Jetzt ist es an der Zeit, mich dafür zu revanchieren und mich meiner Pflicht alleine zu stellen. Als... Königin ist es meine Aufgabe, mein Volk zu beschützen.“ Er machte eine Geste in Richtung Notausgang – vermutlich, um ihn zu entriegeln –, und dann eine weitere in Richtung des Märzhasen, sodass dieser kurz darauf von seinen Fesseln befreit war. „Los, worauf wartet ihr? Verschwindet von hier und verhaltet euch unauffällig... sofern ihr das hinbekommt!“ Ein letztes Mal warfen sie einen bewundernden Blick auf ihre selbstlose Herrscherin, bevor sie sich in einem dichten Gedränge vor der Geheimtür versammelten, angeführt von Fish, der die Klappe öffnete und sich offensichtlich Mühe gab, etwas Ordnung in die Gruppe zu bringen, während sie sich langsam daran machten, einer nach dem anderen durch den engen Gang zu kriechen. Marilyn wartete einen Moment ab, dann ging er, wie er es bereits angekündigt hatte, auf den Haupteingang zu. Alice zögerte nicht, ihm zu folgen. „Wartet!“, sagte er entschieden. Marilyn drehte sich fragend zu ihm um. „Ich... ich werde mit Euch kommen!“ „Nein, Alice...! Tu, was ich gesagt habe, und geh mit den anderen! Du weißt ja nicht, in welche Gefahr du dich begibst...“ „Das ist mir egal! Ich bin schließlich nicht hier, um mich zu verstecken und dabei zuzusehen, wie irgendjemand im Schloss aufkreuzt und alles zerstört... Auf keinen Fall werde ich Euch alleine lassen!“ Scheinbar überrascht blickte die Königin ihn an, dann nickte sie ihm lächelnd zu. „Gut. Wenn das so ist...“, entgegnete sie, während sie mit einem Fingerschnippen die Blockade des Haupteingangs löste, „... werden wir das zusammen regeln! Genauso wie... früher.“ Dem hatte er nichts mehr entgegenzusetzen. Langsam und so lautlos sie konnten die Kellertreppe hinaufsteigend drängte sich Alice immer mehr die Frage auf, was genau eigentlich wirklich passiert war, seit er auf dem Rücken der Kriegs-Sau den in sein Theaterstück vertieften Fish ausfindig gemacht und zurück zum Schloss gebracht hatte. Er hatte es sich nicht eingebildet, dass Marilyn plötzlich wie von Sinnen gewesen war. Der Narr und Wache Nummer Eins hatten es ebenfalls bemerkt, und sicherlich war es noch manch anderem aufgefallen – wenn auch vielleicht nicht jedem von ihnen, so wie er die verzerrte Wahrnehmung seiner Mit-Freaks bisher erlebt hatte. Dass der Märzhase irgendwelche gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Verhaltensweisen seiner Königin voneinander unterscheiden konnte wagte er zu bezweifeln. „... Eure Hoheit?“, sagte er leise und kam sich gleich darauf komisch vor, als Marilyn stehen blieb und ihn anschaute, weil er selbst nicht wusste, wie er seine Gedanken formulieren sollte. „Vorhin... da wart Ihr ganz schön unheimlich. Ihr habt mich wie einen Schwerverbrecher behandelt und kamt mir vor, als hättet Ihr irgendwie... nicht alle Latten am Zaun, um es mal nett auszudrücken. Wisst Ihr das noch? Oder war das jemand anders, der Eure Rolle eingenommen hat? Ich blicke gerade nicht mehr ganz durch, wenn ich ehrlich bin...“ Zunächst einen fast schockierten Eindruck erweckend wandte sich Marilyn kurz darauf um und schlich die Stufen weiter empor, umgeben von der bedrückenden Dunkelheit des Raumes und der noch bedrückenderen Ungewissheit, was sie oben erwartete. „Ich habe jetzt keine Zeit, dir das zu erklären“, flüsterte er, ohne ihn anzusehen. „Aber ich verspreche dir, dass du es früh genug erfahren wirst. Sehr früh vermutlich.“ 'Sehr früh', dachte Alice ironisch. Mir kommt es vor, als würde man mich schon seit einer Ewigkeit im Unklaren darüber lassen, was hier eigentlich vor sich geht. Im Erdgeschoss angekommen standen sie einen endlos scheinenden Augenblick lang vor der Tür, die in die Empfangshalle führte, schweigend, so als würden sie auf irgendein Zeichen warten, das ihnen verriet, ob sie hineingehen oder besser draußen bleiben sollten. Von drinnen war nichts zu hören. Es war so still, dass es ihm schwer fiel zu glauben, dass sich überhaupt jemand in der Halle aufhielt. Irgendwann berührte Marilyn, scheinbar geistesabwesend, mit einer Hand die Klinke, ganz leicht nur, ehe er die Tür mit einem Mal aufstieß, in den großen, vertrauten Saal trat und mit einem schwer zu deutenden Blick die einsame Gestalt fixierte, die an dem schwarzen Tor lehnte und nichts weiter tat, als seinen Blick starr zu erwidern. General Floyd. „Marilyn!“, rief er von dort hinten aus; es klang seltsam erfreut. „Oh, und... Alice hast du auch mitgebracht! Wie wundervoll, euch beide zu sehen!“ „Spar dir das!“, gab Marilyn wütend zurück. „Was auch immer du vorhast – wir sind hier, um deinen schrecklichen Taten ein Ende zu setzen! Ich habe dir wohl nicht mehr gereicht, was? Jetzt muss Floyd als Opfer herhalten, mit dem du deine grausamen Spielchen treiben kannst...?“ „Moment... Ist das dahinten denn nicht General Floyd?“, fragte Alice, obwohl er das vage Gefühl hatte, die Antwort bereits zu kennen. Die Gestalt vor dem Schlosstor lachte düster. „Schau mich an! Sehe ich etwa nicht aus wie General Floyd?“ Gemächlich machte er ein paar Schritte auf ihn zu – der Unbekannte, vor dem selbst die Herzkönigin sich zu fürchten schien und der dem General äußerlich vollkommen glich. Bloß hatte Alice ihn bisher nie derart überschwänglich erlebt. „Ich verrate dir etwas, mein Junge: Ich bin jeder. Alles und jeder. Ich bin sowohl die ehrenwerte Herzkönigin als auch das kleine, irre Kaninchen mit dem Zwang, andauernd auf seine kostbare Uhr schauen zu müssen... und sogar du, Alice, sogar du bin ich – ob du es glaubst oder nicht. Jetzt, in dieser Minute, bin ich eben ein verbitterter General, der sich durch seine hübsche Uniform definiert. Und dadurch, anderen die Schuld für Dinge zuzuweisen, die er sich selbst nicht erklären kann. Eine interessante Person, dieser General Floyd.“ Alice verspürte den Drang, zurückzuweichen, als sein Gegenüber ihn mit einem eisigen Blick durchbohrte, dessen Kälte nahezu die Luft gefrieren zu lassen schien. Er kannte diesen Blick, und er kannte auch diese wichtigtuerische Sprechweise. Selbst die ausholenden Gesten waren ihm alles andere als fremd. „Nein... Sie sind es!“, entfuhr es ihm, als ihm schlagartig klar wurde, wen er da vor sich hatte. Marilyn sah ihn erschrocken an. „Du kennst dieses... dieses Ungetüm?“ Es sah aus, als würde er noch bleicher werden als er es ohnehin schon von Natur aus war. „Warum hast du mir das nicht eher gesagt...?“ „Haha... Arme, arme Königin“, lachte das Geschöpf, das sich als General Floyd ausgab, abermals. „Wenn du die Situation nicht unter Kontrolle hast, bist du nicht mehr so mächtig, was? Schade eigentlich. Ich hätte so viel Spaß mit dir haben können, wäre nicht dein herzerweichend aufopferungsvoller Auserwählter mit seinem Sonnenaufgangs-Gerede dazwischengekommen und hätte die große, starke Königin auf peinlichste Art verweichlicht. Ein Jammer, das mit euch beiden. Ich hätte wirklich mehr von euch erwartet.“ Alice wollte etwas sagen, jedoch musste er bedauerlicherweise feststellen, dass ihm ausnahmsweise die Worte fehlten. Marilyn schien es ähnlich zu gehen. Mit einem spöttischen Grinsen drehte der falsche General sich um, langsamen Schrittes auf die Mitte des Raumes zugehend. „Offensichtlich habt ihr euch gegen mich verbündet anstatt den weiseren Pfad einzuschlagen und euch mir anzuschließen. Wisst ihr, was mir an diesem Floyd am meisten gefällt? Seine kleine, schwarze Seele, die ich mir selbst im Schlaf mühelos zu Eigen machen könnte. Da ihr beide stur genug seid, euch mir entgegenzustellen, bleibt mir leider nur eine Möglichkeit, mit euch zu verfahren – ich werde euch wohl oder übel aus dem Weg räumen müssen.“ Ehe einer von ihnen etwas dagegen hätte tun können öffneten sich mit einem von ihrem Feind gerufenen „Ihr könnt rauskommen!“ sämtliche Türen im Saal, dunkle Schatten kamen zum Vorschein... und was er dann sah, brachte ihn endgültig aus der Fassung, die er sich bis eben noch mühsam versucht hatte zu bewahren. „Unmöglich... Das kann nicht sein...!“, brachte Marilyn ebenso entgeistert hervor, als er scheinbar versuchte, den Anblick, der sich ihnen nun bot, zu verarbeiten. Alice hatte das Gefühl, absolut nichts mehr zu verstehen. Ausgerechnet das, was er am wenigsten erwartet hatte, war auf einmal überall um ihn herum und näherte sich in schleichender Geschwindigkeit, wie eine leise Bedrohung, die ihr wahres Ausmaß an Bösartigkeit erst entfaltet, wenn man nicht damit rechnet. Frauen. Wo man auch hinsah waren plötzlich Frauen – und sie wirkten nicht gerade wie die Sorte, mit denen man gerne ein Kaffeekränzchen halten würde. „Wenn ihr euch jetzt sehen könntet...!“, kicherte der General, offenbar bester Laune. Seine augenscheinlichen Dienerinnen taten es ihm gleich. „Hach, welch eine Überraschung. Das wundersame Wunderland ohne auch nur eine einzige Frau, was? Jetzt sieht die Sache doch schon wesentlich anders aus, nicht wahr... Alice?“ „Wo kommen die auf einmal alle her? Und was haben Sie mit ihnen gemacht?!“ „Ich? Ach, Junge... Wie naiv du doch bist. Vielleicht solltest du lieber einmal deine großartige Herzkönigin danach fragen“, gab der Andere mit einem wissenden Lächeln zurück. Marilyn blickte verständnislos auf. „Was soll das heißen? Ich habe damit nichts zu- oder doch...?“ Als würde er krampfhaft versuchen, seine Gedanken zu ordnen, sah er starr zu Boden und bekam einen entsetzten Blick, als er etwas zu begreifen schien. „Sag bitte nicht, dass ich... Diese Szenen im Kerker... das waren keine Träume? Ich war wirklich...“ „Oh ja, Marilyn. Das warst du wirklich“, sagte der General gespielt mitleidig dazwischen. „All das, was dir – und, nicht zu vergessen, deinem heroischen, kleinen Freund hier – gerade so bitter zum Verhängnis wird, liegt in deiner eigenen Verantwortung. Du wolltest es so, die ganze Zeit über. Und jetzt wagst du es tatsächlich, den Rebellen zu spielen und etwas gegen mich ausrichten zu wollen?Dass ich nicht lache...! Ihr seid umzingelt!“ Mit einem Pokerface, das Alice – in seiner derzeitigen Lage äußerst unpassenderweise – an das Kartenspiel denken ließ, das sie beide gegeneinander ausgetragen hatten, schaute Marilyn sich im Saal um; dann grinste er ganz leicht. „Umzingelt...“, sagte er ruhig, „... wären wir dann, wenn sie auch hinter uns wären.“ Bevor auch nur einer von ihnen hätte blinzeln können hatte Marilyn sich bereits mit den Worten „Komm mit, schnell!“ seinen Arm gegriffen, die Tür, vor der sie bis eben gestanden hatten, ein Stück weiter aufgestoßen und war losgerannt, die Treppe, die sie vor Kurzem erst hinaufgegangen waren, wieder nach unten hetzend und so rasch zurück in der Zelle, dass er sich fragte, ob die Dinge dazwischen wirklich geschehen waren. Genauso wie er den Haupteingang zuvor geöffnet hatte, hatte Marilyn ihn nun mithilfe seiner praktischen Allzweck-Fähigkeiten verschlossen, sodass der Wahnsinnige und sein zwielichtiges Gefolge weiblicher Zombies – zumindest war das der Anschein, den sie erweckten – ihnen nicht hinterherlaufen konnte. Unter normalen Umständen hätte er es vermutlich als beunruhigend empfunden, alleine mit der Königin im Kerker eingesperrt zu sein. Doch im Moment gab es Faktoren, die ihn weitaus mehr beunruhigten als das. Von der beeindruckenden Beherrschung, die Marilyn vor wenigen Augenblicken so überzeugend vorgetäuscht hatte, war nichts mehr zu merken, als er sich mitten im Raum auf den Boden sinken ließ, einige Sekungen lang schweigend dort verweilte und sich anschließend wieder erhob, nur um konfus hin- und herzustapfen, als ob das irgendetwas zu der Lösung ihres Problems beitragen würde. Alice sah ihm so lange dabei zu, bis es ihn zu nervös machte, um länger tatenlos in der Gegend herumzustehen und so zu tun, als sei alles bestens. „Warum... Was ist hier verdammt nochmal los?“, platzte es ein wenig lauter aus ihm heraus, als er es vorgehabt hatte. „Ich wüsste langsam aber sicher wirklich gerne mal, was genau in Eurer verkorksten Welt eigentlich abgeht. Vielleicht bin ich ja zu blöd, aber ich verstehe überhaupt nichts mehr! Und außerdem habe ich die Schnauze voll von dieser miefigen Zelle...! Was soll das bringen, dass wir jetzt schon wieder hier sind?!“ „Das war eine Kurzschlussreaktion!“, motzte Marilyn nicht unbedingt leiser zurück. „Was hätte ich denn deiner Meinung nach machen sollen? Hier sind wir wenigstens vorübergehend sicher...“ „Na toll...! 'Vorübergehend sicher', das klingt ja vielversprechend. Wenn Ihr so mächtig seid und alles könnt, warum räumt Ihr dann nicht einfach mit dem Typen auf und bringt die Sache wieder in Ordnung anstatt feige davonzulaufen und Euch in diesem vollgequalmten Kellerloch zu verkriechen?“ „Hör zu, Alice“, begann Marilyn, mit einem Lächeln, das an Zynismus nicht zu überbieten war. „Dass ich mächtig bin und vieles kann steht außer Frage. Aber leider kann ich nicht alles. Und wenn jemand mein eigenes Volk gegen mich aufhetzt, bin selbst ich so gut wie machtlos.“ „Euer eigenes Volk?“ Er dachte an die finster verzerrten Gesichtszüge der Frauen, die wie willenlose Sklaven auf das Wort ihres Meisters reagiert hatten, als dieser sie zu sich gerufen hatte. Alice hätte schwören können, dass er einige von ihnen sogar schon einmal an einem anderen Ort gesehen hatte. „Wenn diese Zombie-Bräute zu Eurem Volk gehören... wo waren sie dann vorher die ganze Zeit über? Und warum hat dieser Kerl sie dermaßen unter Kontrolle? Zum Teufel, wer ist er überhaupt?!“ „Kannst du nicht wenigstens versuchen, dich zu beruhigen?“, seufzte Marilyn hörbar entnervt. „Herrje... Hysterisch wie sonstwas. Ich kenne das noch von Alicia. Einmal im Monat musste ich mir solche Anfälle auch von ihr anhören.“ „Tut mir leid...“, sagte er und meinte es sogar ernst, musste sich jedoch zurückhalten, als ihm einleuchtete, was Marilyn mit seiner Aussage eigentlich gemeint hatte. „Nichtsdestotrotz... müsst Ihr doch verstehen, dass ich Euch nicht helfen kann, wenn ich nicht einmal weiß, worum es wirklich geht. Also bitte... sagt mir, was Ihr wisst! Dieser Irre, der sich als General Floyd ausgibt... das ist doch der Showmaster, oder?“ „Showmaster? Hat er dir das gesagt?“, fragte Marilyn, wobei er seine Stimme etwas dämpfte. Alice nickte zustimmend. „Nun... Ich kenne ihn unter einem anderen Namen. 'Mr. Price' hat er sich damals genannt. Meine liebe Frau, Alicia... Sie brachte ihn vor langer Zeit hierher. Tausendmal habe ich ihr erklärt, dass es nur Ärger bringt, Menschen aus anderen Dimensionen zu uns zu holen... aber das ist eine andere Geschichte. Dieser Mr. Price jedenfalls... Ich habe ihm nie über den Weg getraut! Umso weniger habe ich verstanden, weshalb sie so fasziniert von ihm war. Ich habe immer gedacht, er wolle sie mir wegnehmen. Jetzt denke ich, dass er derjenige war, der sie in den Wahnsinn getrieben hat. Zwar ist sie schon immer eine komplizierte Person gewesen, die manchmal seltsame Einfälle hatte... aber niemals hätte sie sich umgebracht, wenn er nicht einen solchen Einfluss auf sie ausgeübt hätte! Da bin ich mir sicher...“ „Sich umgebracht... aber dann...“ Erneut fielen ihm die Bilder seines Traumes ein, den das eigenartige Plätzchen des Hutmachers bei ihm hervorgerufen hatte und in dem es nicht so sehr nach Selbstmord ausgesehen hatte wie Marilyn es darstellte. Die Frage war nur, wie viel Wahrheit wirklich in diesen Bildern gesteckt hatte. Waren es tatsächlich Erinnerungen gewesen? Oder nicht doch bloß zusammenhangslose Halluzinationen, ausgelöst durch irgendwelche bewusstseinserweiternden Backzutaten und seinen eigenen mittlerweile doch recht in Mitleidenschaft gezogenen Geisteszustand? „Was ist los? Woran denkst du?“, fragte Marilyn mit einem skeptischen Unterton. Alice versuchte, ihn nicht anzusehen. „An gar nichts“, erwiderte er knapp. Warum musste ihm bloß schon wieder dieses Szenario einfallen, das sich zwischen dem Herzkönig und seiner so unartigen Gemahlin abgespielt hatte? „Ihr, ähm... Ihr wisst aber doch jetzt, dass ich... Himmel, wie soll ich das sagen, ohne dass es total falsch klingt...?“ „Keine Sorge, Alice. Ich kann mir denken, worauf du hinaus willst“, grinste Marilyn merklich amüsiert. „Ja, ich weiß, dass du meine Frau bist. Wir können ganz offen darüber sprechen, wenn du willst. Ist doch nichts dabei!“ „Fantastisch. Vielen Dank für die Subtilität. Vielleicht sollten wir lieber-“ „Shhh! Sei kurz ruhig... Ich glaube, ich habe etwas gehört!“ Mit plötzlich ernster Miene war Marilyn bereits auf den Haupteingang zugeschlichen, bevor Alice diesbezüglich weiter hätte nachfragen können. Einen Moment lang sagte keiner von ihnen ein Wort, während ihre Hoheit dicht an der Tür stand und lauschte. Es war vollkommen still. „Ich höre nichts“, bemerkte er schulterzuckend. Zwei Sekunden später wurde die Zelle von einem beängstigenden Beben erschüttert, als von außen scheinbar nicht nur eine sondern gleich mehrere Personen, untermalt von kriegerischen Schreien, gegen den Eingang schlugen, so laut und heftig, als würden sie es voller Aggression und mit ganzem Körpereinsatz tun. Marilyn verzog entsetzt das Gesicht. „Das sind die Frauen!“, zischte er und beeilte sich, möglichst zügig und lautlos zu ihm zurückzukommen. „Sagt bloß!“, entgegnete Alice mit übertrieben erstauntem Blick. „Ich hätte gedacht, es wäre der General, der da alleine vor der Tür steht und solche Geräusche von sich gibt!“ „Sei nicht so fies...! Hat dir mein Frühstück heute morgen nicht geschmeckt, oder was passt dir nicht?“ „Was mir nicht passt? Hahaha... Ihr seid manchmal echt lustig, wisst Ihr?“ Ein widerlich schrilles Quietschen hallte durch den Raum, als die Wesen auf der anderen Seite damit aufgehört hatten, sich wie eine Horde Wildgewordener vor die Tür zu schmeißen, und stattdessen offenbar nun lieber über selbige kratzten wie ein paar eingesperrte Raubkatzen. Es war unerträglich. „Das hält man ja nicht aus... Wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen. Der Notausgang! Jetzt, wo sich die gesamte Truppe vor der Kellertür versammelt hat, sollte es draußen doch sicher sein, oder nicht?“ „Und dann?“, gab Marilyn gereizt zurück. „Wo sollen wir dann hin? Außerdem können wir nicht wissen, ob wirklich jede von ihnen dort hinten vor der Tür steht. Vielleicht haben sie sich aufgeteilt und dieser... Showmaster oder wie er sich auch nennt wartet mit der anderen Hälfte von ihnen bereits im Garten auf uns...!“ „Wir werden es aber nie herausfinden und sind mit Sicherheit auch nicht besser dran, wenn wir weiterhin hier drin- ... Moment. Haben sie aufgegeben? Es ist so ruhig geworden...“ Erneut verging eine Weile des Schweigens, während der sie beide – man könnte meinen, in Teamarbeit – konzentriert versuchten, irgendeinen Laut in der Stille auszumachen. Jedoch vergebens. „Mir reicht's“, sagte Alice und ging, Marilyns versteinerten Blick ignorierend, selbst auf den Haupteingang zu. „Ich werde jetzt nachsehen.“ „Bist du lebensmüde?! Tu das nicht!“ „Macht keine Welle. Ich tue nichts anderes als das, was Ihr auch vorhin getan habt.“ „... Dann solltest du dich klarer ausdrücken. 'Nachsehen' bedeutet für meine Begriffe etwas anderes!“ „Hm. Ich höre immer noch nichts“, murmelte er, betrachtete eingehend die Tür, obwohl das vermutlich auch nicht sonderlich viel brachte, und beugte sich schließlich vorsichtig vor ihr auf den Boden herunter. „Vielleicht kann man durch den Spalt was erkennen...“ Kaum, dass er den Versuch gestartet hatte, irgendetwas herauszufinden, ertönte unmittelbar vor ihm der nächste gellende Schrei, der ihn blitzschnell aufschrecken ließ, bevor er überhaupt nur ansatzweise den Türspalt hatte begutachten können. Marilyn stand wie angewurzelt herum und gaffte ihn an. „Okay. Wir werden definitiv diesen Keller verlassen. Jetzt sofort“, sagte Alice leise aber bestimmt, während er starr den Notausgang anpeilte – gepriesen sei derjenige, der ihn eingebaut hatte –, dessen unscheinbare Tür er schwungvoll aufklappte und dann auffordernden Blickes zu Marilyn sah. „Ladies first!“ „So?“, erwiderte dieser mit einem schmalen Grinsen. „Du lässt mir doch nur deshalb den Vortritt, weil du jetzt doch Angst hast, dass da oben etwas lauern könnte.“ „Ehrlich gesagt gehen meine Bedenken in eine andere Richtung, wenn ich in einem knappen Röckchen vor Euch auf dem Boden herumkrieche“, antwortete er und versuchte, das schreckliche Gefühl zu verdrängen, das ihn schlagartig überkam, weil der Ausdruck, mit dem Marilyn ihn im Vorbeigehen musterte, ihn viel zu sehr an diesen verstörenden Traum erinnerte. „Welch schmutzige Fantasien du doch hast“, entgegnete die Königin so vergnügt wie man in ihrer derzeitigen Lage nur sein konnte. „Aber dafür ist jetzt nun wirklich keine Zeit.“ „... Ja. Wie dem auch sei. Jetzt macht schon, dass Ihr da reinkommt! ... In die Luke, meine ich!“ Mit einem vielsagenden Kichern tatsächlich seiner Aufforderung folgend beeilte sich Marilyn, den dunklen Gang als erstes zu passieren, während Alice sich vornahm, dringend an seinen Formulierungen zu arbeiten, ehe er sich ihm anschloss und die Klappe hinter sich so lautlos und trotzdem zügig wie möglich zu schließen versuchte. In der Tat blieb ihnen keine Zeit – und zwar für gar nichts, solange diese fauchenden Furien auf der anderen Seite der Kellertür warteten. „Sieht so aus, als wären wir hier vorerst sicher“, bemerkte Marilyn, nachdem er das Ende der Leiter erreicht und durch den geheimen Ausgang den Schlossgarten betreten hatte, dicht gefolgt von Alice, der zur Hälfte versuchte, selbst einen Blick auf den Garten zu werfen, und zur anderen Hälfte mit einer Spinne beschäftigt war, die sich in seine Jacke verirrt hatte. „Du hattest Recht, Alice. Jetzt, wo wir nicht mehr in dieser stickigen Zelle sitzen, ist mir wesentlich wohler zumute.“ „Schön, dass Ihr das einseht. Ich habe... häufiger mal Recht“, gab er ein wenig abgehackt zurück, während er seine Kleidung nach dem ungewollten Besucher abtastete. „Allerdings bin ich mir... nicht sicher, ob mir gerade wirklich wohl zumute ist...“ „Oh, was hast du denn? Hunger? Kalt? Müde? Einsam?“ Interessiert drehte Marilyn sich zu ihm um und betrachtete ihn eingehend. „... Oder vielleicht doch etwas anderes, so wie du gerade an dir... herumwerkelst?“ „Da ist eine Spinne in meinen Klamotten“, erklärte er ruhig. Marilyn verzog das Gesicht und hatte es auf einmal sehr eilig, sich fünf Schritte von ihm zu entfernen. „Da kann ich dir leider nicht helfen. Tut mir leid.“ „Es ist ja auch nicht so, als hätte ich Euch um Hilfe ge- agh! Dieses Viech will mich ärgern...! Mit voller Absicht!“ „Abstand halten, Alice...!“, mahnte Marilyn, der ein Stückchen vorausgegangen war, als Alice zu ihm aufschließen wollte, blieb dann jedoch abrupt stehen, sodass er stattdessen beinahe in ihn hineinstolperte. „Was ist denn jetzt wieder...?“, wollte er gerade fragen, doch bevor er es aussprechen konnte sah er bereits den Grund für Marilyns plötzliche Verwirrung. Der Grund dafür stand mit ebenso verwirrten und erschrocken auf sie beide gerichteten Blicken in einer großen Ansammlung nur wenige Meter vor ihnen, an der Stelle, an der er selbst einige Stunden zuvor genächtigt hatte. „Was machen denn die alle hier? Sollten die nicht längst im anderen Teil des Wunderlandes sein?“ „Was fragst du mich das?“, zischte die Königin angespannt zurück, ehe sie auf die bunte Menschenmenge zutrat und jeden einzelnen ihrer Untergebenen mit einem vorwurfsvollen Blick strafte. „Warum um alles in der Welt seid ihr immer noch in meinem Garten? Habe ich euch nicht ausdrücklich befohlen, mein Anwesen zu verlassen, weil es hier zu gefährlich ist?“ „Pssst!“, machte der Hutmacher scharf an Marilyn gewandt, der ihn daraufhin vollkommen verständnislos ansah. „Eure Hoheit... Verzeiht meine Unhöflichkeit, aber dämpft Eure Stimme! Wir hatten selbstverständlich vor, Eurem klugen Befehl Folge zu leisten, aber es ist... etwas dazwischengekommen. Mittlerweile stehen wir hier schon seit bestimmt einer Viertelstunde stillschweigend herum und rühren uns nicht – und Ihr solltet Euch ein Beispiel daran nehmen.“ Bevor Alice sich darüber wundern konnte, wie sie denn bitteschön den Märzhasen zum Schweigen gebracht hatten, entdeckte er diesen auch schon neben dem Hutmacher mit improvisiert zusammengebundenen Händen und einem dunklen Streifen Klebeband über dem Mund. Warum die Steven Tyler-Kopie allerdings ganz alltäglich eine Rolle Klebeband mit sich herumtrug wollte er lieber gar nicht erst wissen. „In Ordnung. Ich bin leise“, versprach Marilyn im Flüsterton. „Aber im Gegenzug erwarte ich eine Antwort von euch! Was ist hier los? Was ist euch dazwischengekommen?“ „Nun... das schaut Ihr Euch vielleicht lieber selbst an“, antwortete der Hutmacher und fügte, als Marilyn sich durch das Gedränge an ihm vorbeiquetschte, ein warnendes „Seid bloß vorsichtig!“ hinzu. Das weiße Kaninchen blickte mit weit aufgerissenen Augen abwechselnd ihrer Majestät hinterher, zu den anderen Freaks, von denen es umgeben war, herüber, und an sich herunter auf seine Westentasche, in der die goldene Uhr steckte, als müsse es all seine Beherrschung aufbringen, sie nicht herauszuholen und darauf zu gucken. Manchmal, wenn er seine innere Unruhe nicht in den Griff bekam, schien Hasi kurz vor einem Anfall zu stehen. Irgendwann, dachte Alice, würde er keine Kontrolle mehr haben und zu einem zerstörerischen Werkaninchen werden. Und dann würde der wahre Weltuntergang bevorstehen, ganz sicher. „Worüber denkt Ihr nach, Eure dunkle Majestät?“, vernahm er erneut die Stimme des Hutmachers, der noch immer lässig dastand, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, und beiläufig Piepwuff den Kopf tätschelte, der angeleint vor ihm im Gras saß und alles andere als lässig wirkte. Alice rang sich ein freundliches Lächeln ab. „Über nichts Besonderes“, sagte er. „Ich habe nur gerade festgestellt, dass jetzt der Punkt überschritten ist, an dem... auch ich verrückt geworden bin.“ Der Hutmacher lachte leise, dafür aber mit einem umso breiteren Grinsen. „Oh, welch ausgesprochenes Glück für uns! Ein neuer Wahnsinniger in unseren Reihen ist immer ein Grund zur Freude!“ Da er ohnehin nichts darauf zu antworten gewusst hätte, war es ihm nur recht, dass Marilyn in diesem Moment zu ihm und der restlichen Truppe zurückkehrte, nachdem er sich an den Mauern des Schlosses vorbeigeschlichen und eine Weile lang augenscheinlich in Richtung des Heckenlabyrinthes geschaut hatte. Sein Blick war ausdruckslos, aber auf eine Art, die Alice nur allzu gut kannte. So sah er immer aus, wenn irgendetwas ihn überforderte. „Das dahinten...“, sagte er und zeigte in die betreffende Richtung. „Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb ihr noch immer hier seid?“ „Jawohl, Eure Majestät!“, gab einer der anderen ernst zur Antwort – Wache Nummer Eins. „Sie versperren uns den Weg. Wir wissen weder, wo sie plötzlich herkommen, noch, was wir jetzt tun sollen.“ Marilyn legte eine Hand an die Stirn und wirkte, als wäre er soeben schwer in Erklärungsnot geraten. „Ich kann euch verraten, wo sie plötzlich herkommen“, fing er an und hatte sofort sämtliche Aufmerksamkeit auf seiner Seite. „Das ist die Hammer-Armee. Sie steht in meinem Dienste... zumindest sollte sie das tun. Ähm...“ Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Einige von euch können sich doch sicher an die Karten-Armee erinnern, die ich vor langer Zeit einmal aufgestellt hatte...?“ Nur wenige seiner Untergebenen antworteten mit einem zustimmenden Nicken. Genauer gesagt nur die beiden Wachen. „Nun, die dummen Karten stellten sich jedenfalls als unfähig heraus... deshalb habe ich sie durch die Hammer-Armee ersetzt – von der ich euch nichts erzählt habe, weil ich unnötige Fragen und eine mögliche Panik bei den Angsthasen unter euch vermeiden wollte. Sie wäre ohnehin nur in äußersten Notfällen zum Einsatz gekommen! Das Problem ist nur, dass die Armee... einzig und allein auf General Floyds Wort hört. Er ist ihr Anführer. Und er ist zurzeit nicht er selbst.“ Ein angeregtes Gemurmel ging durch die Runde und Marilyns Befürchtung bezüglich der Panik schien sich, sehr zu seinem Leidwesen, zu bestätigen. Alice kam sich ein wenig seltsam vor, weil er der Einzige war, der noch keinen Blick auf das besagte 'Problem' geworfen hatte. „Beruhigt euch!“, befahl die Königin, offenbar so beherrscht sie nur konnte. „Die Situation mag aussichtslos erscheinen, aber in wilde Hektik zu verfallen hilft uns auch nicht weiter! Die Hämmer wirken vielleicht riesig und bedrohlich, ja, das gebe ich zu. Aber sie sind seelenlose Wesen und haben weder Augen noch sonstige Sinne, abgesehen von ihrer Fähigkeit, auf Stimmen und Geräusche zu reagieren. Außerdem sind sie ziemlich langsam. Also reißt euch bitte zusammen!“ „Ich habe genug gehört. Das gucke ich mir jetzt selbst an“, sagte Alice, ungeachtet der allgemeinen Hysterie an den anderen vorbeigehend, die ihm scheinbar mit gemischten Gefühlen hinterherschauten, und wagte sich gerade so weit in die Nähe des Labyrinthes, wie es nötig war, um sich einen lebendigen Eindruck zu verschaffen. Tatsächlich stand dort eine Reihe von Hämmern vor dem Durchgang. Gigantische, respekteinflößende Hämmer. Alice war sich nicht sicher, ob es ihre reine Größe war, die ihn im Augenblick sprachlos machte, oder eher der Gedanke daran, dass sie wirklich ein Eigenleben entwickeln und sich wie eine echte Armee verhalten könnten. Er fragte sich, wie es möglich war, etwas von solch monumentalen Ausmaßen über Jahre hinweg vor seinen Mitmenschen zu verstecken, kam jedoch zu dem Schluss, dass es hier ohnehin nichts gab, das unmöglich war. „... Gut. Das ist in der Tat ein kleines Problem“, gab er den anderen flüsternd und mehr an sich selbst gerichtet Recht, während er sich langsam und bedächtig rückwärts von den feindlich gesinnten Werkzeugen entfernte – als ihm schlagartig bewusst wurde, dass der achtbeinige Geselle aus dem Kerker noch immer unter seiner Kleidung saß... und sich offenbar gerade dazu entschlossen hatte, mit rasanter Geschwindigkeit weiter nach unten zu wandern. „... Yikes!!“, hörte er seine eigene Stimme, die eher einem Quietschen glich und viel zu laut durch den Garten hallte, sodass es vermutlich auch der letzte Nagel oder Schraubendreher in Floyds militärischem Werkzeugkasten mitbekommen hatte. Über seinen eigenen peinlichen Ausrutscher verärgert blieb er starr auf dem Rasen stehen. Ruhe. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte er, und er glaubte, eine minimale Bewegung bei dem ihm am nächsten stehenden Hammer zu erkennen, bevor sich auch die restlichen nun deutlich sichtbar nacheinander zu ihm umwandten. Mit dem Gedanken, diese verfluchte Spinne auf der Stelle zerstückeln und verbrennen zu wollen, vernahm er das Gejammer des Weißen Ritters hinter sich, das gleichermaßen entsetzt und vorwurfsvoll über den Platz schmetterte. „Du Tor...!“, rief er, als die Armee schleppend damit anfing, sich in die Richtung zu bewegen, in der sie gemeinsam warteten. „Weißt du, was du da angerichtet hast?!“ „Ich... ähm...“, stammelte Alice, von ihm zurück zu den Riesenhämmern blickend und dann erneut zu Ritter Weiß und dem Rest der Truppe. „Anstatt mir die Schuld zuzuschieben solltet ihr euch lieber so schnell ihr könnt hier rüberschwingen und zusehen, dass ihr ins Schloss kommt! Wir haben keine andere Wahl... Lauft!!“ Ein allgemeines entgeistertes Starren schlug ihm entgegen. Marilyn war der Erste, der zögerlich aus der Menge hervortrat. „Er hat Recht, wir können hier nicht länger herumstehen! Der... General ist der Einzige, der die Armee aufhalten kann, und er ist im Schloss. Also folgt mir, solange diese Dinger noch weit genug von uns weg sind!“ Glücklicherweise schienen sie auf ihre Königin zu hören. Jedenfalls rannten sie ihr nun, ohne weiter nachzuhaken, hinterher, direkt auf die stampfend näherkommenden Kriegshämmer zu, nur um gerade noch rechtzeitig die Kurve zu kriegen und – manche mehr, manche weniger panisch – durch das schwarze Tor zu stürmen, das Marilyn ihnen unverzüglich öffnete. Alice war bereits dabei, es ihnen gleichzutun, als er aus dem Augenwinkel die beiden Vollidioten bemerkte, die sich noch immer nicht vom Fleck gerührt hatten, weil sie vermutlich vor Schock versteinert waren, und regungslos an der Stelle standen, an der die gesamte Gruppe sich bis vor wenigen Sekunden aufgehalten hatte – der Weiße Ritter und das weiße Kaninchen. Selbstverständlich. Was hatte er auch von den beiden erwartet. „Braucht ihr eine Extra-Einladung?! Bewegt euch!“, rief er, allmählich doch selbst von einer gewissen Hektik ergriffen, ehe er ein wenig erleichtert die herbeieilenden Schritte registrierte und kurz darauf Marilyn neben sich vorfand, der ihn flüchtig mit einem ernsten Blick bedachte. „Kümmere du dich um den Ritter!“, sagte er schnell. „Ich werde das weiße Kaninchen hineinbringen.“ „Verstanden“, entgegnete Alice, bevor er Marilyns Aufforderung nachkam, der bereits vorgelaufen war und sich Hasis Arm gegriffen hatte, um den Mick Jagger-Verschnitt bis zum Schloss hinter sich herzuschleifen. Alice folgte ihm und knöpfte sich Ritter Bon Jovi vor. „Hey...!“, plärrte dieser bereits los. „Was soll denn das?!“ „Von alleine bewegt Ihr Euch ja nicht! Wollt Ihr lieber von denen dahinten zertrampelt werden?“, gab er zurück, während er angestrengt versuchte, mit Hasis Tempo mitzuhalten, der sich offenbar wesentlich widerstandsloser von Queen Manson mitnehmen ließ als es bei seinem eigenen 'Partner' der Fall war. „... Nein, das will ich natürlich nicht, aber... musst du denn so grob zupacken? Wann lernst du endlich, mich zu respektieren?!“ „Dann, wenn Ihr gelernt habt... Euch nicht so anzustellen“, antwortete Alice atemlos, als er es im allerletzten Moment geschafft hatte, der Hammer-Armee, die unaufhaltsam und lärmend das Gras plattwalzte, gemeinsam mit dem Weißen Ritter zu entkommen und die Empfangshalle zu erreichen. Nur am Rande bemerkte er die uniformierte Person, die im selben Augenblick, in dem er durch das Tor schritt, in die entgegengesetzte Richtung an ihm vorbeiging und sich in aller Seelenruhe auf der Schwelle zum Garten vor den monströsen Hämmern positionierte. „STOPP!“, befahl der General, laut genug, dass jedes der Werkzeuge es verstehen konnte, und trotzdem so gelassen, dass es mehr als surreal wirkte. Die Tatsache, dass die gesamte Armee aufgrund eines einzigen von ihm ausgesprochenen Wortes auf der Stelle anhielt, als würde es sich bei ihr um eine Horde dressierter Hunde handeln, trug nicht gerade dazu bei, dass das Szenario einen realeren Anschein machte. Alice konnte seinen Blick kaum von dem grotesken Bild vor sich abwenden, doch das Schauspiel, das gleichzeitig in der Halle stattfand und nicht viel weniger absurd erschien, lenkte ihn mit einem Mal ab. Die Frauen. Er hatte sie beinahe vergessen. „Was... Wie kann das sein...?“, brachte einer der anderen völlig perplex hervor; wer von ihnen es war, hätte er jedoch nicht sagen können. Der Anblick der weiblichen Geschöpfe hatte sie ohne Zweifel sofort in ihren Bann gezogen. Alice konnte beobachten, wie der Reihe nach jedem von ihnen langsam eine Art Licht aufzugehen schien. Nun, dem einen oder anderen vielleicht auch nicht. Der Märzhase stand mit irre verzerrten Gesichtszügen stocksteif in der Menge, eine der Frauen auf eine Art fixierend, die an Wahnsinn vermutlich nicht zu übertreffen war, und fing urplötzlich damit an, unkontrolliert schnaufende Laute von sich zu geben, während er, ausladend mit den Armen fuchtelnd, immer wieder zum Hutmacher sah, welcher ihn mühsam und mit scheinbar eher mäßig aufkommender Erkenntnis zurückhalten musste. „Mmmm-Hhmmhhh! Mmmhhmm-Hmmhhhh!!“, machte der Hase undeutlich durch das Klebeband hindurch. Alice hatte den Verdacht, dass es „Maaaryyy! Maaaaaryyyyy!!“ heißen sollte – und sein Verdacht bestätigte sich, als er sah, dass die junge Frau, die er so durchdringend anstarrte, ihm mit einem nicht besonders vertrauenerweckenden Lächeln zuwinkte. Der Märzhase war allerdings nicht der Einzige, der jemanden in der Menge zu erkennen schien. Der Nächste, den er einen halb ungläubigen und zur anderen Hälfte beinahe schon verzückten Blick auf eine der weiblichen Personen werfen sah, war Wache Nummer Eins. Zum ersten Mal sah er so etwas wie Freude in seinen Zügen, während er leise etwas sagte, das sich auf die Entfernung wie „Lalena“ anhörte. Er schien wie geblendet von der Frau auf der anderen Seite des Raumes. Bei Marilyns restlichen Untergebenen sah es nicht wesentlich besser aus. Sie alle standen wie in Trance in dem großen Saal, berauscht von dem Anblick der zierlichen Kreaturen, die überall um sie herum lauerten wie gierige Raubtiere. Sie waren in der Überzahl, fiel es ihm jetzt auf. Die Dienerinnen des Showmasters waren in der Überzahl. Mit einem köstlich amüsierten Grinsen schlenderte dieser, nachdem er das Tor wieder geschlossen hatte, an ihm vorbei, durch die Augen des Generals jedes Detail des sich hier abspielenden Dramas ganz genau verinnerlichend, um sich daran zu weiden, wie der niederträchtige Plan, den er anscheinend bereits seit Langem geschmiedet hatte, endlich aufging. Was auch immer dahintersteckte... Er wusste es nicht. Aber eines war ihm klar: Das Phantom hatte nicht nur Marilyn benutzt und tat nun dasselbe mit General Floyd. Nein. Es benutzte jeden von ihnen, spielte mit ihnen wie mit Marionetten, und das Wunderland war seine persönliche Bühne. Alice wollte etwas sagen, wollte die anderen warnen vor der Falle, in die sie gerade mit Sicherheit tappten, doch Marilyn kam ihm zuvor. „Ihr... Ihr müsst euch beherrschen!“, rief er, offenbar nach den richtigen Worten suchend, an die Männer gewandt. „Ich weiß, wie das für euch jetzt wahrscheinlich aussieht. Aber das ist ein Trick! Ihr dürft nicht darauf hereinfallen!“ „Ein Trick? Sind diese Frauen etwa nicht aus Fleisch und Blut?“, erwiderte der Hutmacher, inzwischen etwas weniger gelassen als üblich, womit er Marilyn ernsthaft in Bedrängnis zu bringen schien. „... Doch. Ich schätze, das sind sie... Aber-“ „Gib dir keine Mühe!“, lachte das Phantom, ehe die Königin einen weiteren Erklärungsversuch starten konnte. „Willst du ihnen wirklich den Spaß verderben? Gerade jetzt, wo sie nach so langer Zeit endlich ihre Liebsten wiedersehen? Es ist leicht, sie zu beeindrucken, nicht wahr? Stelle ihnen eine Gruppe Frauen gegenüber, und alles andere um sie herum wird unwichtig.“ Marilyns von Hass getrübter Blick schien ihn bloß noch mehr zu amüsieren, als der falsche Floyd sich an die anderen richtete, die wie hypnotisiert zwischen ihm und den täuschend hübschen Zombies hin und herschauten. „Diese Frauen“, verkündete er, „sind selbstverständlich echt! Eure Königin, meine Freunde, ist eine Lügnerin! Sie gönnt euch nicht das Glück und eure Freude des Wiedersehens... weil sie es nicht kann. Aber ihr könnt es und ihr sollt es auch! Los! Begrüßt eure Freundinnen, die ihr so lange vermisst habt! Schließt euch in die Arme!“ „Nein...! Glaubt ihm kein Wort!“, versuchte Alice, sie umzustimmen, jedoch erfolglos. Seine Stimme ging in der Euphorie der anderen unter, die ihre Aufmerksamkeit einzig und allein noch den Frauen schenkten, welche sie angeblich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatten. So gut wie jeder hatte mindestens eine im Visier, auf die er zielgerichtet zurannte und der er schließlich um den Hals fiel. Und traf das bei einem nicht zu, lag es an den übrigen Frauen, sich um ihn zu kümmern und ihn herzlich zu empfangen. Es hätte rührend sein können, all den Freunden und Paaren dabei zuzusehen, wie sie sich wiedertrafen... hätte Alice nicht das trügerische Funkeln in den Augen der Frauen bemerkt, während sie ihre Opfer ein wenig zu fest in ihre Arme schlossen – wahrscheinlich um sie gar nicht erst wieder gehen zu lassen. „Wartet...! Was ist... Ich verstehe überhaupt nichts mehr!“, ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Saal, der so voller Menschen war, als würde ein Ball oder etwas Ähnliches stattfinden. Sofort konnte er sie dem Schwarzen Ritter zuordnen, und als er sich in die Richtung wandte, aus der er ihn hatte rufen hören, sah er, dass auch er schon von einer blonden Schönheit in Beschlag genommen worden war. Allerdings war Ozzy zu seinem Erstaunen einer der Einzigen, wenn nicht sogar der Einzige, der ganz und gar nicht glücklich mit der derzeitigen Situation wirkte. „Was genau versteht Ihr denn nicht, werter Ritter?“, fragte der General gespielt freundlich, während die attraktive Blondine – Alice würde später darüber nachdenken, woher ihr Gesicht ihm so bekannt vorkam – alles daran setzte, Ozzy mit ihrem Charme um den Finger zu wickeln. Dumm nur, dass der 'werte Ritter' sich davon kaum beeindrucken ließ, da er mit seinen Gedanken vollkommen woanders zu sein schien. „Na... Gar nichts!!“, gab er, fast schon verzweifelt, könnte man meinen, zurück. „Herr General... Ich finde es ja unglaublich nett, was Sie hier für uns tun – auch, wenn ich mir wirklich nicht erklären kann, wo Sie die ganzen... verschollenen Frauen auf einmal aufgegabelt haben –, aber... was ist mit Black Beauty?“ Wie vom Blitz getroffen zuckte der Angesprochene bei der Erwähnung des Schweins zusammen. Es schien irgendetwas bei ihm ausgelöst zu haben. „Black... Beauty?“, antwortete er, wobei seine Mimik sich schlagartig veränderte. „Ich, also... Wovon redet Ihr?“ „Sie wissen doch genau, wovon ich rede, Herr General!“, erwiderte Ozzy beleidigt, die Frau an seiner Seite komplett ignorierend. „Meine liebe Black Beauty... Sie war draußen im Garten, als ich sie das letzte Mal gesehen habe... Aber seit der Gerichtsverhandlung habe ich keine Ahnung, wo sie ist, und dann waren da diese komischen Hämmer... Machen Sie sich etwa keine Sorgen um sie? Ich dachte immer, Ihnen liegt etwas an ihr...?“ Richtig so! Macht weiter!, feuerte Alice den sonst so verplanten Ritter telepathisch an. Ob er es hören konnte wagte er zu bezweifeln, aber er war sich beinahe hundertprozentig sicher, dass Ozzys Worte bei dem ehemaligen Besitzer der Sau nicht ohne Wirkung blieben, wenn er sich dessen entgleitende Züge anschaute. Es war dasselbe wie mit Marilyn, als er selbst während des Prozesses versucht hatte, an dessen menschliche Seite zu appellieren, indem er ihn an persönliche Dinge erinnert hatte. Dinge, mit denen ein böses Phantom nichts anfangen konnte. „Mir... ich... Das Schwein spielt jetzt überhaupt keine Rolle!“, schleuderte der General nicht sonderlich überzeugend zurück, schien sich dann jedoch wieder etwas zu fassen. „Schaut Euch um, edler Ritter! Gibt es jetzt nicht weitaus Wichtigeres als irgendwelche verlorengegangenen Schoßtiere? Ich bin sicher, Black Beauty wird auch... auf sich selbst aufpassen können.“ „Wie kann man nur so kalt sein?“, mischte sich unerwarteterweise nun auch der Weiße Ritter ein, der zu seinem Erstaunen anscheinend Mitleid mit seinem Rivalen verspürte. „Ich habe es schon immer geahnt, und jetzt bin ich mir absolut sicher – Sie haben kein Herz, Floyd!“ Das war wohl zu viel des Guten, dachte Alice, als er dessen wütende Reaktion darauf aus nächster Nähe mitansehen musste. Es war, als wäre etwas über ihn gekommen, das er eine Ewigkeit lang zurückgehalten hatte; und das Merkwürdige daran war, dass Alice nicht einmal sicher war, ob es in diesem Moment der Showmaster oder doch der wahre Floyd war, der aus ihm sprach. „Ihr seid... Ihr seid jetzt still, alle beide! Was wisst Ihr denn schon?!“, rief er zur Antwort, doch Alice hätte schwören können, dass es nicht bloß an die beiden Ritter sondern an jeden Einzelnen in diesem Raum gerichtet war. Der kranke Ausdruck, mit dem er sich im Saal umblickte, hatte etwas seltsam Bedrückendes an sich. „Ich habe also kein Herz, ja...? Ist hier sonst noch jemand der Meinung, dass ich kein Herz habe?“ Ein allgemeines Schweigen, untermalt von gelegentlichem Kopfschütteln, war zu vernehmen. „Hah. Das ist richtig. Nicht ich bin derjenige, der immer die Schuld trägt... Nicht ich, versteht ihr?“ Noch immer traute sich niemand, etwas zu sagen. Floyd hob den Blick, wodurch seine viel zu grell-gelbe Augenfarbe nun deutlich zu sehen war. „Ich will wissen, ob ihr das verstanden habt?!“, wiederholte er seine Frage nachdrücklich, woraufhin die Mehrheit unter ihnen mit einem verhaltenen „Ja“ oder einem Nicken antwortete. Ein schmales Lächeln formte sich auf seinen Lippen. „Gut. Dann sind wir schon einen Schritt weiter“, sagte er in einem wieder ruhigeren Tonfall, machte ein paar Schritte auf Marilyn zu und zeigte auf ihn wie auf einen Verbrecher, den er gerade auf frischer Tat ertappt hatte. „Denn das ist derjenige, der all euren Unmut verdient hätte!“ „Ich?“ Die Arme vor der Brust verschränkt trat Marilyn seinem Diener ebenfalls einige Schritte entgegen, sodass sie sich direkt gegenüberstanden. „Ist das dein Plan? Willst du mein gesamtes Volk gegen mich aufbringen, mich stürzen und meine Herrschaft übernehmen? Ist es das, was du willst? Oder machst du dir nur einen Spaß daraus, uns als Schachfiguren zu missbrauchen, mit denen du nach Belieben umspringen kannst?“ „Hmm... Schach. Welch treffender Vergleich“, lachte der General. „Die Königin mag auf dem Schachbrett die großartigste und mächtigste Figur sein... Aber was ist eine Königin, wenn sie von feindlichen Figuren umstellt ist?“ „Schluss damit!“, zischte Marilyn entschieden. „Du willst mich doch nicht wirklich herausfordern, oder? Komm zur Besinnung, Floyd! Lass dich von diesem Monster nicht unterkriegen!“ „Ich bin Floyd!“, donnerte er mit solch ehrlicher Überzeugung, dass Alice Mühe damit hatte, diese Aussage anzuzweifeln. Die Königin murmelte etwas, das er von seinem momentanen Standort aus nicht verstehen konnte, aber es sah danach aus, als würde sie fluchen, während ihr Gegenüber sich erneut ihren von den Frauen gefangen genommenen Männern widmete. „Seht ihr das?“, rief er mit einem spöttischen Unterton. „Eure Königin ist verwirrt... Die arme, arme Königin weiß nicht einmal, was sie eigentlich angestellt hat. Soll ich euch erleuchten? Soll ich Ihrer Majestät ein wenig auf die Sprünge helfen?“ „Nein... Hör auf...“, bat sie ihn leise, doch er beachtete sie nicht. Stattdessen erhob er seine Stimme und überließ Marilyn auf eine Art und Weise seinem Publikum, die Alice fast das Gefühl gab, einer Hexenverbrennung beizuwohnen. „Eure Königin hat euch alle und auch sich selbst mit nichts als einem riesigen Schwindel leben lassen, jahrelang! Vielleicht jahrhundertelang! Ihr wisst es gar nicht, stimmt's? Dass ihr alle nur deshalb hier seid, weil sie euch aus euren ursprünglichen Welten herausgerissen hat... wie Seiten aus einem Buch? Ihr glaubt, ihr wäret ein Teil des Wunderlandes, alterslos und schon immer hier gewesen, nicht wahr? Haha... Das ist eine ihrer vielen Lügen. Die Wahrheit ist, dass sie von hier aus, von dieser Welt aus, Zugriff auf alle Zeit-Epochen, Dimensionen und Parallel-Dimensionen hat, die da draußen existieren seit auch das Wunderland existiert und die wir uns wahrscheinlich nicht einmal vorstellen können – und Sie in ihrem egoistischen Wahn jeden von euch aus seinem alten Leben hierher verschleppt hat, hierher, in das Zentrum des Irrsinns, um euch alle einzeln ihrer Sammlung an Dienern hinzuzufügen. Bloß konntet ihr das nicht verarbeiten, weil eure Erinnerungen verschwunden sind. Deshalb wisst ihr auch nicht mehr, dass es vor euch bereits eine... andere Bevölkerung gab. Eine Bevölkerung, die einst vom Wunderland selbst geboren wurde – und deren Männer eure gutmütige Königin eigenhändig restlos ausgelöscht hat.“ Nach und nach froren die Mienen der anderen um sie herum zu einem einzigen gemeinschaftlichen Ausdruck des Entsetzens ein, ungläubig und nicht fähig, dem eben Gesagten etwas entgegenzusetzen. Als wären ihre Gesichter augenblicklich zu Masken erstarrt waren sämtliche Augenpaare mit einem Mal eiskalt und ungnädig auf Marilyn gerichtet, der alleine dastand, in der Mitte des Raumes, umgeben von feindlich gesinnten Gemütern. „Das... ist nicht wahr...“, brachte er schwach hervor, offensichtlich nicht willens, sich gegen die Menge aufzulehnen, die ihn, wie es aussah, mit ihren bloßen Blicken zu erdolchen versuchte. Floyd grinste. Alice wollte zu ihm und ihn davon abhalten, mit dem, was er tat, fortzufahren. Er wollte nicht sehen, wie irgendjemand sich daran erfreute, Marilyn derart ins Unglück zu stürzen. Das Problem war nur, dass er sich nicht bewegen konnte. Er kam nicht vom Fleck. Wie eine Schachfigur, die jetzt nun mal nicht am Zug war, stand er auf seinem Feld und konnte nichts tun. „Oh doch, das ist es... Majestät“, erwiderte der General höhnisch, lehnte sich noch etwas zu Marilyn vor und fügte ganz leise, trotz der Entfernung für ihn jedoch deutlich hörbar, hinzu: „Wie fühlt es sich an, seinem eigenen Volk hilflos ausgeliefert zu sein...?“ Marilyn sah ihn bloß betroffen an, weiter nichts. Vielleicht auch ein wenig schuldbewusst. Aber warum? War es etwa wirklich die Wahrheit gewesen, was Floyd eben gesagt hatte? „Wollt ihr wissen, was eure großartige Königin mit euren Frauen gemacht hat, die erst jetzt wieder an eurer Seite stehen?“, rief der General abermals voll falscher Überschwänglichkeit. Sie antworteten ihm nicht, aber das hinderte ihn nicht daran, seine aufhetzende Rede fortzuführen, als wäre es bloß ein Plausch, den er mit seinen Nachbarn hielt. „Sie hat sie entführt... und eingesperrt. An einem Ort, den die meisten von euch wahrscheinlich nicht einmal kennen. Und warum das alles? Aus dem einfachen Grund, weil sie es nicht ertragen konnte, euch mit ihnen zusammen zu sehen, während sie selbst alleine war! Einsam und allein! Dabei ist sie es doch, die dafür verantwortlich ist, dass ihre... liebe und ach so gute Alicia einen frühen Tod fand...!“ „... Was?“, hörte er sich selbst fragen, während das eiserne Schweigen der anderen um ihn herum weiterhin anhielt, so als wäre es ihnen nur noch möglich zu sprechen, wenn man ihnen das Kommando dazu erteilte. Marilyn sah Floyd mit einer schrecklichen Mischung aus Enttäuschung, Trauer und Verständnislosigkeit an, was diesen offenbar dazu veranlasste, sich zu erklären. „Oh... Wisst Ihr es denn nicht mehr, Eure Hoheit? Euer Gedächtnis muss ebenfalls sehr gelitten haben, wenn Ihr Euch daran nicht mehr erinnern könnt. Wahrscheinlich habt Ihr es verdrängt, das tut Ihr ja schließlich immer wieder gern“, sagte er, seine Worte so voll von Ironie, dass selbst Alice es kaum ertragen konnte. „Ihr habt es ja nicht mit Absicht getan, nicht wahr? Es war ein Versehen... Wenn man sich so nah am Abgrund aufhält, kann es eben passieren, dass man seinen Partner an die Leere verliert, hm? Eine kleine falsche Bewegung, und – ZACK! – ... es ist vorbei. Könnt ihr mit dieser Schuld leben?“ „Nein... Hör endlich auf damit...!“ „Soll sie mit dieser Schuld leben?“, wandte er sich wieder seinem manipulierten Publikum zu. „Sie ist blind, blind vor Macht! Wie kann eine egoistische Person wie sie für euch eine würdige Herrscherin sein? Das kann sie nicht! Sie verdient es nicht, habe ich nicht Recht?“ Alice glaubte sich im falschen Film, als die Massen, die den Saal erfüllten, ihre Stimmen zu einem gröhlenden Jubeln erhoben, das nicht viel später in ein feierliches, wenn auch monotones und sich grauenvoll oft wiederholendes „TOD DER KÖNIGIN!!“ überging. Immer wieder brüllten sie es und rissen im Takt ihre Arme in die Höhe. „Tod der Königin!! Tod der Königin!!“ Alice konnte es und wollte es nicht fassen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, einen Fehler im System gesehen zu haben – eine Person, die dieses furchtbare Spiel nicht mitspielte –, doch er hatte keine Gelegenheit mehr, sich darauf zu konzentrieren, als er Marilyn mit den Worten „Lebt wohl“ an sich vorbeilaufen sah... geradewegs in Richtung Schlosstor und bereits durch dieses hindurch verschwunden, bevor er es richtig hatte realisieren geschweigedenn ihn aufhalten können. „Nicht...! Marilyn!“ Noch immer gröhlten sie ihren grausamen Satz, als hätten sie überhaupt nicht bemerkt, dass die Person, auf die sie es abgesehen hatten, längst den Raum verlassen hatte. Floyd wirkte zufrieden. Er hatte gewonnen. Die Königin war aus dem Spiel geworfen worden. ... Und nun lag es in seiner Hand, dass er ihn nicht auch noch Schachmatt setzte. „Herr General! Herzlichen Glückwunsch!“ Irritiert wandte der augenscheinliche Sieger sich zu ihm um und musterte ihn skeptisch. „Warum? Weshalb gratulierst du mir?“ „Weshalb sollte ich es nicht tun? Sie haben doch einen fairen Sieg ergattert, oder nicht?“, entgegnete Alice, reichte ihm die Hand und lächelte. Nur zögerlich ging der Andere auf diese Geste ein. „Ein kluger Schachzug von ihnen! Seine Feinde zu Verbündeten zu machen, indem man sich ein gemeinsames Opfer sucht... Das nenne ich professionell! Was waren Sie zuerst? Schachmeister oder Soldat? Naja, wie dem auch sei... Eigentlich haben Sie doch jetzt, wo das geklärt ist, genug Zeit, sich um Black Beauty zu kümmern, nicht wahr? Das arme Tier liegt nämlich schon seit Stunden todkrank hinter einem Busch herum und vegetiert elendig vor sich hin. Ich glaube, sie hat was Schlechtes gefressen...“ „Das... Das ist... Bitte was?!“ Jetzt bloß dranbleiben, sagte er sich gedanklich, ohne seinen Griff zu lockern, und schielte zu der Stelle, die ihm vor Marilyns Abschied schon kurz ins Auge gestochen war – der Systemfehler. „Na, Ihre Sau... Black Beauty!“, gab er wie selbstverständlich zur Antwort. „Was würde wohl der Schwarze Ritter davon halten, wenn er wüsste, wie erbärmlich es ihr gerade geht? Wir sollten ihn besser darüber informieren. SCHWARZER RITTER!“ „... Nein! Lass das!“, knurrte Floyd, in dem Versuch, weitere Komplikationen schnellstmöglich abzuwenden, doch vergeblich. Ozzy hatte ihn bereits gehört. „Was gibt es? Stimmt etwas nicht?“, kam es von ihm zurück. Auch jetzt klang er noch merklich besorgt. „Das könnt Ihr laut sagen!“, rief Alice dem Ritter zu, der sich leider nicht zu ihm gesellen konnte, da es mittlerweile nicht nur eine sondern gleich drei Frauen waren, die ihn beharrlich festhielten. „Euer geliebtes Kriegs-Schwein, das ihr beide euch ja wohl irgendwie teilt, wenn ich das richtig verstanden habe, liegt quiekend und unter qualvollen Magenkrämpfen im Schlossgarten. Wenn sich nicht wenigstens einer von euch um sie kümmert, wird es sicher nicht gut für sie ausgehen...“ „Was...? Ist das dein Ernst?!“ „Ich höre euch nicht zu...!“, trällerte Floyd wie ein Kind, dem man etwas erzählte, das es nicht wissen wollte. Alice zog ihn noch etwas näher zu sich; er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, sich aus dem Staub zu machen. „Mein voller Ernst“, flüsterte er, diesmal an sein Gegenüber gerichtet anstatt an den Ritter. Die Menge hörte nicht auf, ihren ungerechten Satz zu brüllen. Und für diese Ungerechtigkeit sollte er bezahlen. „Sie sind schuld, General Floyd...! Ich kann hier nicht weg, und Sie haben nichts unternommen, als ich Sie nach Black Beauty gefragt habe! Der Weiße Ritter hat Recht – Sie haben kein Herz!“ „Nein... das stimmt nicht! Lass mich los, ich will das nicht hören!“ Die gelbe Farbe verschwand aus seinen Augen und die Aura des Phantoms schien sich mehr und mehr von ihm zu lösen. „Sie sind schuld, wenn Black Beauty etwas passiert! Nur Sie allein!!“ Ein zischendes Geräusch ertönte, begleitet von einem plötzlich aufblitzenden Licht – dann war es still. Floyd ging zu Boden; hinter ihm war der Showmaster, der bei der Trennung eine ziemlich unsanfte Landung hingelegt hatte. Alice sah die beiden wortlos an, noch zu sehr damit beschäftigt, zu realisieren, was eben eigentlich wirklich geschehen war. Allerdings blieb ihm nicht länger Zeit dazu. Der dröhnende Lärm, der mit einem Mal unmittelbar hinter dem Schlosstor aufkam, ließ restlos jeden im Saal erst verwirrt, dann schockiert zu dem frisch gestrichenen Eingang herüberblicken, als die Wände, das gesamte Gemäuer, in dem sie sich befanden, mit einer ungeheuer hohen Geschwindigkeit zu bröckeln begann. Die Hämmer. Sie setzten ihren Marsch fort. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)