Alice im Wunderland - Die bescheuertste Interpretation ever von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 10: Kapitel 10 - Der Prozess ------------------------------------ „Das... kann nicht sein“, sagte er leise, als er beide Hälften des Fotos aneinander hielt; des Fotos, das Marilyn zerrissen und einfach weggeworfen hatte, als wäre es bloß ein wertloses Stück Müll. Fish stand irgendwo hinter ihm und gab keinen Mucks von sich – wahrscheinlich war er von der Situation nicht viel weniger überfordert als er selbst –, die Königin stand vor ihm, hoch erhobenen Hauptes und ebenso still, so als würde sie auf irgendeine Reaktion seinerseits warten. Allerdings konnte er momentan weder Fish noch die Königin wirklich beachten. Das Foto schaffte es, seine gesamte Konzentration vollständig für sich zu beanspruchen. Wie konnte ihm das nur nicht schon vorher aufgefallen sein? Er hatte es doch gesehen, als er zum ersten Mal in Marilyns Gemach gewesen war – jedoch hatte Marilyn ihm kaum Zeit gelassen, das Bild länger zu betrachten, und es sofort aus seinem Sichtfeld befördert. Jetzt konnte er auch verstehen, warum. Es war nicht einfach irgendein Bild von irgendwelchen Personen seines Hofes. Es war wesentlich mehr als das. Sie beide waren darauf abgebildet. Obwohl das Königspaar auf dem Bild nur von Weitem zu sehen war, war es bei genauerem Hinsehen eindeutig zu erkennen. Das Gesicht dieser Frau konnte seinem eigenen unmöglich durch puren Zufall so ähnlich sehen. Das Königspaar, dachte Alice augenblicklich, als er das Gefühl hatte, sich an etwas zu erinnern. Das Schloss... Es stimmt. Ich war... schon einmal hier. Als würde ihm ein Traum einfallen, der Jahre, nein, Jahrzehnte zurücklag, sah er etwas vor sich, eine verschwommene Szene, die sich genauso schnell wie sie aufgetaucht war wieder vor seinem inneren Auge verflüchtigte. „Erinnerst du dich wieder... Alicia?“, fragte Marilyn mit einer Stimme, die zwar fast so klang wie üblich, aber trotzdem irgendwie nicht recht zu ihm zu gehören schien. „Nein... Du bist nicht Alicia. Wie dumm von mir. Alicia, Alice... Da kann man schnell durcheinandergeraten, nicht wahr?“ „Was ist los mit Euch?“, gab er unsicher zurück, sein Gegenüber aus sicherer Entfernung im Blick haltend. „Ihr seid... ganz anders als sonst. Was ist mit Euch passiert, während ich weg war...?“ Die Königin lachte dunkel, während sie gemächlich auf ihn zuschritt, blieb dann dicht vor ihm stehen und musterte ihn mit einem undefinierbaren Grinsen. „Was mit mir passiert ist, fragst du...?“, erwiderte sie, und das Grinsen in ihrem Gesicht nahm rapide einen überaus irren Zug an. Wie besessen fixierte sie ihn eine Weile lang, ohne die geringste Antwort auf seine Frage zu geben. Er kam sich beinahe vor wie die Fliege im Netz der Spinne. „... Das reicht jetzt! Lasst ihn!“, schaltete Fish sich dazwischen, der das Ganze offenbar bisher schweigend beobachtet hatte, und stellte sich wie ein einschreitender Bodyguard in ihre Mitte. Dann verwandelte sich seine eben noch beachtliche Entschlossenheit in ein verhaltenes Gemurmel. „Eure Hoheit... Ihr... Ihr seid gar nicht die Königin... oder?“ Marilyn starrte ihn leeren Blickes an und begann, auf eine sehr untypische Art zu kichern. „Aber, aber... mein lieber Narr. Wer soll ich denn sonst sein?“ Man konnte nicht sagen, dass Fish sonderlich überzeugt wirkte. „Apropos... Wie geht es eigentlich Charlie? Ich denke, du hast mir da noch etwas zu beichten, oder etwa nicht?“ „B-Beichten? Nein! Nicht, dass ich wüsste...“, stammelte Fish, überdachte seine Antwort jedoch offenbar noch einmal, als Marilyn ihn ansah wie eine strenge Lehrerin, die einen Schüler ohne Hausaufgaben erwischt hatte. „Jaaa... möglicherweise habe ich... Charlie den Schlüssel gegeben, damit er die beiden Ritter befreien konnte, nachdem Ihr sie in den Kerker geschickt hattet... Das ist aber auch alles, was ich weiß! Ich schwöre es, mehr war da nicht... Bitte schaut mich nicht so böse an!“ „Du bist wirklich ein erbärmlicher Narr, Fish“, entgegnete ihre Hoheit kalt. Fish blickte betreten zu Boden. „Aber weißt du was? Ich bin ein von Natur aus gnädiger Mensch und ich glaube dir, dass du unschuldig bist. Der wahre Verbrecher steht nämlich...“, sie zeigte mit einer dramatischen Geste an ihrem verwirrten Diener vorbei, „... dort!“ Alice hob den Blick widerspenstig in Richtung seines Gegenübers. „Ach ja? Und welches schrecklichen Verbrechens werde ich beschuldigt? Glaubt Ihr vielleicht, ich hätte Charlie still und heimlich verschleppt, weil ich Euch eins auswischen wollte und nichts Besseres zu tun habe als harmlose Schlangen zu entführen wie irgendein... total Irrer? Ist es das, was Ihr von mir denkt?“ „Oh nein, das ist es nicht, Alice. Meine Gedanken reichen deutlich weiter“, antwortete Marilyn und machte plötzlich ein Gesicht, als wäre ihm ein grandioser Einfall gekommen. „Wenn du darauf bestehen willst, nichts Sträfliches getan zu haben, bitte. Warum finden wir es nicht ganz einfach heraus, indem wir einen kleinen... Prozess organisieren?“ „Prozess?“, entwich es ihm und Fish nahezu gleichzeitig. Marilyn wirkte in höchstem Maße amüsiert und Alice hatte allmählich das Gefühl, dass es ihm gar nicht um das Verschwinden der Schlange ging, sondern bloß darum, irgendjemandem gewaltig das Leben schwer zu machen. Nur warum dieser Jemand ausgerechnet er sein sollte wollte ihm nicht recht einleuchten. „Ja... großartig. Genauso machen wir's“, flötete die Königin vorfreudig vor sich hin, während sie ziellos durch den gesamten Raum streifte. Irgendetwas, dessen war er sich sicher, war ganz eindeutig bei ihr kaputtgegangen. Anders wollte sich ihm nicht erschließen, dass sie sich von jetzt auf gleich noch schizophrener verhielt als sie es ohnehin schon tat, wenn alles in Ordnung war. Kurz hielt ihre konfuse Majestät inne, so als würde sie überlegen, wie nun genau fortzufahren war. Alice konnte sich nicht helfen, aber selbst ihre Bewegungsabläufe erschienen ihm eigenartig. In gewisser Weise fremd, doch andererseits auch auf irgendeine Art bekannt – so als hätte er diese Gesten schon einmal bei jemand anderem gesehen. Allerdings war es schwierig, das festzustellen, weil sie trotz allem noch immer die Königin war – und ihre bloße Präsenz war zu eigen, um bei ihrem Anblick an irgendwen anders zu denken. Fish sah seiner Herrin misstrauisch hinterher, als sie sich in Richtung Schlosstor begab, welches sie nach kaum merklichem Zögern öffnete, ehe sie, anmutig wie immer, in den Garten hinaustrat und sich demonstrativ in dessen Mitte aufbaute. „Was hat sie vor...?“, flüsterte Alice, halb an Fish und halb an sich selbst gerichtet. Bevor er jedoch eine Antwort bekommen konnte, klärte sich seine Frage von selbst, als Marilyn völlig unerwartet und scheinbar ohne große Mühe seine Stimme zu einem markerschütternden Schreien erhob, das kein normaler Mensch jemals so hätte zustandebringen können und das sicher von jedem einzelnen Bewohner dieser Welt – egal, welchen Aufenthaltsortes – problemlos gehört wurde. Ein wenig bedauerte er Wache Nummer Eins, deren Schicht noch lange nicht beendet war und die das Geschrei nun aus nächster Nähe ertragen musste. „ALLE MITBÜRGER DES WUNDERLANDES, AUFGEPASST!!!“, rief er mit einer solch furchteinflößenden Intensität, dass wahrscheinlich jeder der Angesprochenen augenblicklich erstarrte. „ICH, DIE HERZKÖNIGIN, ERWARTE AUSNAHMSLOS JEDEN VON EUCH IN KÜRZE VOR MEINEM SCHLOSS! ICH WIEDERHOLE: KOMMT ZUM HOF UND VERSAMMELT EUCH VOR MEINEM SCHLOSS!!!“ Ein Moment der Ruhe, als würde er abwarten und sichergehen wollen, dass auch niemand ihn überhört hatte – wie das von hier aus herauszufinden sein sollte war ihm schleierhaft –, dann kehrte Marilyn mit zufriedener Miene in das Empfangszimmer zurück, blickte sich prüfend darin um und ließ sich mit den Worten „Wache Nummer Zwei und der General werden sich um alles weitere kümmern“ auf seiner Couch nieder. Nicht viel später waren die beiden zur Stelle, wie zwei Wachhunde, die man zu sich gepfiffen hatte und die unverzüglich herbeieilten, um ihrem Meister zu Diensten zu stehen. Er sah, wie Marilyn etwas zu ihnen sagte – irgendein Befehl, den sie so schnell wie möglich ausführen sollten –, wie sie sich daraufhin einen verwunderten Blick zuwarfen und schließlich damit anfingen, sämtliche Möbel zu verrücken, wohl um dem Raum einen neuen Look zu verpassen. Obwohl Alice nicht verstanden hatte, welcher Zweck hinter dieser Aktion steckte, war er sich ziemlich sicher, zu wissen, worauf die Sache hinauslief. Etwa eine halbe Stunde war vergangen, bis die Vorbereitungen für das bevorstehende Spektakel restlos abgeschlossen waren. Wobei diese Zeitspanne mehr geraten war als alles andere. Die große Uhr, die gegenüber der Treppe zu Marilyns Gemächern stand, schien, seiner neuesten Erkenntnis zufolge, lediglich zur Zierde zu existieren. Seit er bei Hofe zu Gast war hatte er nun zum ersten Mal daran gedacht, auf das Ziffernblatt zu schauen, in dem Glauben, dadurch vielleicht so etwas wie eine Uhrzeit zu erfahren. Allerdings musste er sofort einsehen, wie lächerlich dieser Gedanke war, als er das Muster registrierte, mit dem die Zeiger sich über die Fläche bewegten – nämlich gar keines. Mal liefen sie vorwärts, mal rückwärts, blieben in der nächsten Sekunde einfach stehen oder legten aus einer Laune heraus mit rasanter Geschwindigkeit eine komplette Runde zurück. Alice konnte nicht leugnen, dass ihr Verhalten ihn gewissermaßen an ein bestimmtes schwarzes Schwein erinnerte. General Floyd saß schweigend und ausdruckslos an einem schmalen Tisch, der im rechten Winkel zu einem ausladenderen Tisch platziert war; vor ihm waren einige unbeschriebene Blätter Papier, ein Tintenfässchen und eine Feder, neben ihm ein leerer Stuhl, der höchstwahrscheinlich für einen der bemitleidenswerten Mitbürger reserviert war, die draußen vor dem Tor warteten. Während sie sich einer nach dem anderen abgehetzt am befohlenen Treffpunkt eingefunden hatten, hatten Floyd und Wachmann Mercury alles daran gesetzt, die Empfangshalle mithilfe ihrer beachtlichen Improvisationskunst wie einen Gerichtssaal herzurichten. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. „Kommt rein... und nehmt hier hinten Platz!“, tönte Marilyns Stimme durch den Raum, als das Tor aufschwang und eine bunte Masse diverser Freaks zum Vorschein kam, die ihrer königlichen Hoheit mit einer Mischung aus Irritation, Ehrfurcht und gespannter Erwartung in den Saal folgten und sich, wie aufgetragen, auf den zahlreichen Stühlen nahe des Eingangs verteilten. Nun, abgesehen von Ritterchen Schwarz und Ritterchen Weiß, mit denen Marilyn offenbar etwas anderes im Sinn hatte. Alice bemerkte, wie er beiden etwas mitteilte, das aufgrund der vielen aufgeregt durcheinander redenden Stimmen für ihn nur halbwegs zu verstehen war. Allerdings war die Tatsache, dass Ritter Weiß sich an dem freien Platz neben General Floyd niederließ und Ritter Schwarz an einem weiteren schmalen Tisch, der diesem gegenüberstand, ausreichend genug für eine schlimme Befürchtung. Wie es aussah sollten die beiden Schießbudenfiguren die Rolle der Anwälte spielen. „Ich bitte um Ruhe...!“, machte Marilyn hinter seinem Richterpult fast schon ein wenig zu nett auf sich aufmerksam. Die trotzdem schlagartig einkehrende Ruhe sprach für sich. „Angeklagter“, sagte er in einem engelsgleichen Tonfall, bedachte ihn mit einem subtil unheimlichen Blick und deutete auf den einsamen Stuhl in der Mitte des Gebildes. „Nimm Platz und mache bitte deine Aussage!“ „... Gut“, gab Alice betont gelassen zurück, während er Marilyns Aufforderung nachkam und sich setzte. „Aber vorher hätte ich zwei wichtige Fragen. Zuerst einmal: Wenn Ihr die Fähigkeit besitzt, so laut zu schreien, dass man Euch vermutlich noch auf dem Mars gut hören kann, warum musste ich dann einen Höllenritt auf dem Rücken dieses Monsterschweins auf mich nehmen und mich in einem Puppentheater emanzipieren, damit Fish sich hier rüberschwingt? Und was mich noch viel mehr interessiert: Worüber soll ich aussagen, wenn ich nicht mal genau weiß, wofür ich überhaupt angeklagt werde?“ Ein angeregtes Getuschel war im Saal zu vernehmen. „In Ordnung, ich werde mir die Zeit nehmen, deine Fragen zu beantworten“, entgegnete Marilyn, der dank seines Aussehens einer karnevalistischen Drag-Queen absolut gar nichts von einem Richter an sich hatte, lächelnd. „Erstens: Weil ich es so wollte. Und zweitens... Weißer Ritter, sei so freundlich und kläre unseren Angeklagten über seine missliche Situation auf!“ „Ich...?“, kam es überfordert von dem Tisch, der sich rechts von ihm befand. „Aber... ich weiß doch selbst nicht, weshalb er angeklagt ist!“ Die besten Voraussetzungen für einen Staatsanwalt, dachte Alice, nicht sicher, ob ihm mehr nach Lachen zumute war oder danach, sich die restliche Verhandlung über unter seinem Stuhl zu verkriechen. Vielleicht beides. Unter seinem Stuhl vor sich hinlachen, das klang doch fein. „Dann denk dir was aus!“, hörte er Richter Mansons umwerfend kompetente Antwort. Die Idee mit dem Stuhl erschien ihm zunehmend verlockender. Ritter Weiß sah erst skeptisch, dann nachdenklich zu ihm herüber. „Der Angeklagte... zeigte sich bisher als schrecklich vorlauter Banause mit einem nahezu kriminellen Kleidungsstil... und wird daher seines rüpelhaften Verhaltens und aufdringlicher Geschmacklosigkeit beschuldigt! Ja... genau. Wie war ich?“ Marilyn starrte seinen tollen, eigens ausgesuchten Staatsanwalt ausdruckslos an, setzte dann ein 'Womit-habe-ich-das-verdient'-Gesicht auf und atmete tief aus. „Alles muss man alleine machen“, murmelte er, ehe er sich wieder ihm zuwandte. „Also schön... Das Gericht geht von folgender Tat aus: Der Angeklagte – das bist du, mein Lieber – nahm sich heraus, erst uneingeladen den heiligen Boden des Wunderlandes zu betreten, jeden, der hier lebt, mit der unverschämten Lüge, er sei der Auserwählte, zu verwirren und zu bedrängen, unsere gesamte Welt in ein einziges Chaos zu stürzen und desweiteren auch noch die königliche Schlange, Charlie, verschwinden zu lassen. Der Angeklagte wird somit des Hausfriedensbruchs, der Unruhestiftung, der Freiheitsberaubung und einigem mehr beschuldigt. Gegen seinen Kleidungsstil ist außerdem nichts einzuwenden.“ „Dem stimme ich zu, Herr Richter“, pflichtete Alice bei, woraufhin er erneut den eisigen Blick ihrer Hoheit zu spüren bekam. „... Verzeihung. Frau Richterin.“ „Um eines unmissverständlich klarzustellen“, zischte Marilyn bedrohlich. „Du sprichst nur, wenn du dazu aufgefordert wirst, und wirklich nur dann. Das gilt auch für die Herrschaften weiter hinten im Saal. Haben wir das verstanden? Gut. Jetzt darfst du reden.“ „Vielen Dank... Euer Ehren!“, erwiderte er schnippisch. „Allerdings weiß ich, wenn ich ehrlich bin, nicht recht, was ich zu all dem sagen soll, außer dass ich mir keinerlei Schuld bewusst bin. Ich denke, Ihr wisst selbst, dass ich nicht freiwillig herkam, sondern durch einen Unfall in Eurer Welt gelandet bin und dann nicht mehr heraus konnte. Dass ich der Auserwählte bin habe ich mir nicht ausgedacht, das wurde mir genauso mitgeteilt – wobei ich inzwischen gerne bereit bin, das zu glauben. Immerhin scheine ich hier der Einzige zu sein, der noch klar bei Verstand ist... Dann wird da wohl was dran sein. Ich meine... die anderen Bewohner dieses Landes wissen nicht einmal, wie sie heißen. Wie sollen sie da bitte die Welt retten?“ „Einspruch...!“, rief Ritterchen Weiß hörbar empört. Marilyn beachtete ihn nicht. „Einspruch abgelehnt.“ „Was war da noch, das ich angeblich angerichtet haben soll? Eure Welt ins Chaos gestürzt? Auch das kann ich guten Gewissens verneinen. Ihr wart vorher schon ein einziges Chaos“, fuhr Alice unbeirrt fort. Das düstere Mienenspiel des Staatsanwaltes ignorierte er gekonnt. „Zuletzt die Sache mit Charlie... Da habe ich ebenfalls nichts mit zu tun. Ich habe genauso wenig Ahnung, wo er abgeblieben ist, wie ihr anderen auch, und wüsste gerne, womit ich plötzlich diesen ganzen Unmut auf mich gezogen habe... Schwarzer Ritter! Wollt Ihr nicht auch mal was dazu kundtun?“ „Äähm?“, gab besagter Ritter überaus geistreich von sich. „Ja, also... Der Meinung bin ich auch. Mein Mandant hat nichts getan!“ „Tse... Ihr seid so erbärmlich, Herr Schwarz. Ausgerechnet dann, wenn es unangebracht ist, sagt Ihr zu allem 'Ja' und 'Amen'“, höhnte Ritter Bon Jovi von seinem Platz neben General Floyd aus, der eifrig dabei war, alles mitzuschreiben. „Das ist ja auch meine Aufgabe als Verteidiger“, schleuderte sein Rivale zurück, „... also braucht Ihr Euch gar nicht so künstlich aufzuspielen, Frau Weiß!“ „Hört auf, mich Frau Weiß zu nennen!!“ „RUHE!“, donnerte Marilyn verärgert und wartete einen Moment, bis die Aufmerksamkeit wieder ihm galt. „Angeklagter... Deine Aussage klingt zunächst einleuchtend, doch es gibt leider Unstimmigkeiten. Wenn du tatsächlich zum ersten Mal unsere Welt betreten haben solltest... woher willst du dann wissen, ob hier schon zuvor Unordnung herrschte – und nicht erst ab dem Zeitpunkt, als du ins Spiel kamst? Zudem... Warst nicht du einer der Letzten, mit denen Charlie sich umgab, bevor er verschwand?“ „Ich finde es bemerkenswert, wie hier sämtliche Tatsachen verdreht werden. Ja, schön, ich war einer der Letzten, mit denen Charlie sich umgeben hat. Aber da waren außer mir auch noch der Schwarze Ritter, den Ihr rausgeschmissen hattet, und Fish! Daher-“ „Das ist eine hübsche Gelegenheit, unseren nächsten Zeugen aufzurufen“, schnitt Richter Manson ihm skrupellos das Wort ab. Alice starrte ihn fassungslos an. „Ich war noch nicht fertig, Euer Ehren...!“ „Doch, das warst du. Deine Aussage ist beendet. Wenn du bitte neben deinem Herrn Rechtsanwalt Platz nehmen würdest“, entgegnete Marilyn, der wahrscheinlich den schlechtesten Richter unter der Sonne abgab, unbeeindruckt. „Ich rufe Fish in den Zeugenstand!“ Fish, der sich gemeinsam mit den anderen auf einem der hinteren Plätze niedergelassen hatte, stand zögerlich auf und nahm seinen neuen Platz in der Mitte ein, nachdem Alice diesen verlassen und sich neben Ozzy eingerichtet hatte. Ozzy drehte sich zu ihm und winkte fröhlich, so als wären sie zwölf-jährige Sitznachbarn in einer verdammten Schule. „Fish... Deine Aussage bitte“, forderte Marilyn verhältnismäßig freundlich. Der Narr nickte bestätigend. Es klingelte nervtötend. „Majestät, es... es ist genauso wie Alice eben sagte!“, erwiderte Fish scheinbar leicht nervös. „Wir vier waren zusammen im Schlossgarten – er, der Schwarze Ritter, Charlie und ich. Als ich mich mit meinem Freund Charlie unterhielt, bekamen die beiden allerdings nichts mit, weil sie schliefen. Die Schlange versteckte sich bereits im Kerker, als Alice wieder aufwachte, weil plötzlich Schreie ertönten. Es war der Weiße Ritter, der über dem Schwarzen Ritter kniete und irgendwelche Schweinereien im Sinn ha-“ „EINSPRUCH!!“, unterbrachen ihn beide Ritter synchron. „Das tut hier überhaupt nichts zur Sache!“, knurrte Bon Jovi entschieden. Ozzy lehnte sich über den Tisch, als wolle er über ihn hinwegsteigen und seinen Rivalen mit einem gezielten Hechtsprung außer Gefecht setzen. „Wie wäre es, wenn Ihr einfach dazu stehen würdet, dass Ihr Euch an meiner armen, sensiblen Black Beauty vergehen wolltet, anstatt vom Thema abzulenken?“ „Moment mal...!“, meldete sich General Floyd schockiert zu Wort. „Wer wollte Black Beauty zur Sau machen?!“ „Monsieur Weiß wollte das!“ „'Monsieur'?!“ „Ihr wolltet doch nicht, dass ich Euch Frau Weiß nenne!“ „Das ist doch die Höhe! Ihr und Eure absurden Spinnereien... Wenn überhaupt, dann wollte ich Euch zur Sau machen!“ „Was...? Einspruch!!“ I gotta get awaaay, sang Alice in Gedanken vor sich hin. I gotta get ooouuut of this plaaaceee...! Wie es aussah musste er eine ganze Weile lang in Gedanken gewesen sein, denn als er das nächste Mal seinen Blick von dem gigantischen Kronleuchter abwandte und geradeaus schaute, hatten Ritter Weiß und der General die Plätze getauscht. Offenbar war Marilyn zu der Ansicht gekommen, dass Letzterer sich als Anwalt besser machen würde und der Schweineschänder lieber die Feder zur Hand nehmen und die Drecksarbeit verrrichten sollte. Eine weise Entscheidung, wenn man ihn fragte. „... Wenn eure lachhaften Streitigkeiten dann geklärt wären... würde ich gerne mit der Befragung fortfahren“, äußerte Marilyn in einem seltenen Moment des allgemeinen Schweigens. Ozzy blickte beleidigt zu Boden. „Zeuge. Deine Unterhaltung mit Charlie, bevor er sich in den Kerker verkrochen hatte, war die letzte Gelegenheit, bei der du ihn gesehen hast, richtig?“ „Das ist richtig, Majestät!“ „Aber das war nicht der einzige Augenblick, in dem du Charlie aus den Augen gelassen hast, nicht wahr? Gestern... Als du im Garten beschäftigt warst, während meine Wachen und ich uns um die Vorbereitungen für die Ankunft unseres ach so besonderen Gastes gekümmert haben... da war Charlie ebenfalls nicht bei uns.Was denkst du, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten hat?“ Fish überlegte kurz. „Nun... Ich denke, da war er bei Alice, Eure Hoheit“, antwortete er mit einem unsicheren Seitenblick auf die Anklagebank. „Sehr schön. Das denke ich auch“, entgegnete Marilyn scheinbar zufrieden. „Und nun wüsste ich gerne, was der Angeklagte dazu zu sagen hat?“ „Ich weiß wirklich nicht, was Ihr erwartet, jetzt von mir zu hören“, sagte Alice und bemühte sich um einen nicht allzu offensichtlich genervten Tonfall. „Dass Charlie mich auf dem Weg hierher begleitet hat ist kein Geheimnis und hat nicht das Geringste mit seinem Verschwinden zu tun. Er hatte sich bei seiner Beutejagd verirrt, ich habe ihn zufällig gefunden und da wir beide das Ziel hatten, zum Schloss zu gelangen, sind wir von da an gemeinsam weitergegangen. Das ist alles.“ „Wenn das so ist, kannst du mir sicher sagen, wo du die Schlange gefunden hast, nicht wahr?“, fragte Marilyn mit einem seltsamen Unterton, den er, zumindest im Augenblick, nicht zu deuten vermochte. Alice dachte an seine groteske erste Begegnung mit dem Tier zurück. „Das war... an irgendeiner ziemlich dicht bewachsenen Stelle im anderen Teil des Wunderlandes... Hatte fast was Urwald-mäßiges. Ach, und es war ganz in der Nähe von diesem mutierten Riesenpilz mit der zugedröhnten Raupe.“ „Tatsächlich?“, gab der Richter auf eine Art zurück, als hätte er mit dieser Antwort schon halb gerechnet. „Hervorragend, dann... wäre es naheliegend, nun den nächsten Zeugen aufzurufen. Fish, du darfst dich wieder nach hinten begeben. Die Raupe möge bitte hier vorne Platz nehmen!“ Ganz gemütlich und träge, als gäbe es keine Eile auf der Welt, schlenderte 'die Raupe' auf den für die Zeugen vorgesehenen Platz zu, mitsamt der Wasserpfeife, die sie behutsam vor sich abstellte, als sie sich dorthin setzte, und grinste breit in Richtung Richterpult. „Raupe“, seufzte Marilyn und betrachtete den Slash-Verschnitt einige Sekunden lang eingehend. „Bereichere uns doch bitte mit deiner Fassung der Geschehnisse.“ Als hätte er überhaupt nicht mitbekommen, dass man ihn angesprochen hatte, nahm Slash erst einmal genüsslich einen Zug von seiner Pfeife und hauchte ein paar verschiedenfarbige runde Wölkchen aus, ehe er ein nachdenkliches „Hmm“ von sich gab und stillschweigend vor sich hinstarrte. „... Raupe?“ „Sorry. Wie war nochmal die Frage?“, grinste er verträumt. Marilyn verdrehte kaum merklich die Augen. „Deine Aussage“, wiederholte er mit einem falschen Lächeln. „Du sollst darüber aussagen, wie du es erlebt hast, als der Angeklagte und du aufeinandertrafen.“ Ob bei diesem Zeugen so viel Verlass darauf war, wie er irgendetwas erlebt hatte, war fraglich, dachte Alice, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und realisierte kurz darauf etwas anderes, das ihm ein wenig merkwürdig vorkam. Er hatte mit keinem Wort wirklich erwähnt, dass er und der Zeuge direkt aufeinandergetroffen waren, oder...? „Hmmm... Ach so, ja. Der Angeklagte. Der da, meins'te?“, erwiderte Slash und deutete vage auf eine Stelle zwischen Ozzy und ihm. Marilyn nickte bejahend. „Ja, den hab' ich schon mal gesehen. Der fährt manchmal bei mir vorbei und grüßt mich... auf 'nem Schwein oder so. Ja.“ „Nicht der Schwarze Ritter! Der Andere!“ Ein weiteres Mal beugte Herr Raupe sich mühsam zur Seite, schob seine Sonnenbrille ein Stückchen vor, als würde das in irgendeiner Weise helfen, und blickte eine Weile lang konzentriert auf den Platz neben Ozzy. Alice hob eine Hand zu einem angedeuteten Friedenszeichen. „Ach so...! Ja, den kenn' ich auch, glaub' ich. Der is' mein Kumpel!“, antwortete Slash und wirkte irgendwie glücklich, was vermutlich auf die Pfeife zurückzuführen war. „Der war irgendwann mal bei mir... vor'n paar Monaten oder so. Haben zusammen auf meinem Heimpilz relaxt. Also, ich auf'm Pilz und er auf'm Blatt.“ „Und kannst du dem Gericht eventuell mitteilen, ob du sonst noch irgendetwas bemerkt hast, während ihr... auf dem Pilz und dem Blatt relaxt habt? Irgendetwas Besonderes, Auffälliges?“, hakte Marilyn geduldig nach. Raupi wirkte dezent überfordert. „Was Auffälliges? Hmm, nee... überhaupt nich'“, brachte er scheinbar abwesend hervor, änderte seine Meinung jedoch sehr schnell. „Doch...! Da war was! Hat plötzlich gegossen wie aus Tüten, und gewittert hat's auch! Voll unnormal. War richtig nass und so. Selbst der Lange fand das strange.“ „Der Lange?“ „Jep. Der lange Rote. Charlie... oder wie der heißt. Der rote Typ jedenfalls.“ Marilyn machte ein Gesicht, als hätte er ein fünfbeiniges Einhorn gesehen. „Es hat also geregnet und gewittert, während du, Charlie und der Angeklagte euch unterhalten habt? Was genau war daran so... strange, wenn ich fragen darf?“ „Weiß auch nich'. Kam so plötzlich“, sagte Slash, ehe er einen weiteren Zug von seiner Pfeife nahm, welchen er in Form einer Schlange zeitlupenhaft in die Luft pustete. „Hatte was... Gefährliches. Der Lange hat sich gar nich' mehr eingekriegt, hat voll Stress geschoben. Ich glaub', deshalb hatte mein Kumpel da, der Angeklagte, auch keinen Bock mehr und is' gegangen.“ „Er hat mit Charlie zusammen deinen Bereich verlassen? Wohin ist er gegangen?“ „Puuuh... keine Ahnung mehr, echt. Er hatte was gesagt, aber das hab' ich wohl vergessen. War so abgelenkt von den Tropfen auf meinem Pilz.“ „Vielen Dank, Raupe. Du darfst dich wieder zu den anderen setzen“, verkündete Marilyn, die Augen wie gebannt auf Raupis ausladendes Mitbringsel gerichtet. „Oh, und... es heißt übrigens 'wie aus Eimern'.“ „... Häh?“ „Schon gut. Vergiss es.“ Einen Moment schien ihre richterliche Hoheit nachzudenken, während sie sich offenbar einen Überblick über die noch wartenden Herrschaften in den hinteren Reihen verschaffte – erst jetzt bemerkte Alice, dass die Grinsekatze und ihre drei Artgenossen gar nicht dabei waren –, dann rief sie ihren nächsten Befehl trotz vorgetäuschter Höflichkeit unüberhörbar herrisch in den Saal. „Das weiße Kaninchen... bitte als nächstes in den Zeugenstand!“ Es war schon lange kein unbegründeter Einspruch mehr erhoben worden, fiel es ihm auf, während besagtes Kaninchen sich blitzartig nach vorne katapultierte wie bei einem Wettlauf. Ein Blick neben sich verriet Alice den Grund für die ungewohnte Stille seitens der Verteidigung. Offensichtlich hielt der gute Ozzy es jetzt, da sein Rivale akut nicht länger offiziell sein Rivale war, nicht für nötig, dem Geschehen weiter zu folgen. Stattdessen machte er in aller Seelenruhe ein Nickerchen. Ritter Weiß hingegen war hellwach und hochkonzentriert auf den Stapel Blätter vor sich fixiert, den er mit einem fraglichen Grinsen betrachtete, bevor er wieder die Feder zur Hand nahm. Alice hegte starke Zweifel daran, dass sich wirklich bloß der bisherige Ablauf der Verhandlung auf dem Papier befand. „Kaninchen“, sagte Marilyn monoton. Alice überlegte, ob er Ozzys Beispiel folgen und ebenfalls ein Schläfchen machen sollte. „Du warst gestern hier, am Hof, und hast das Schlosstor gestrichen. Aber vorher warst du im anderen Teil des Landes, nicht wahr? Wusstest du davon, dass der Angeklagte vorhatte, hierherzukommen?“ Hasi rutschte unruhig auf seinem Platz herum, zog seine Taschenuhr hervor und starrte sie eine Weile lang intensiv an, bevor er sie seufzend wieder wegsteckte. Alice fragte sich, ob sie die Uhrzeit genauso zuverlässig wiedergab wie die Standuhr vor Marilyns Treppe. „Eure Hoheit. Hallo erstmal. Ähm... Mit 'hierherkommen', meint Ihr da... hierher zum Schloss? Oder hierher ins Wunderland?“ „... Sowohl als auch.“ „Tja, wisst Ihr... nein, eigentlich nicht“, gab Hasi nun zur Antwort. „Es war so: Ich saß in meinem Wohnzimmer, suchte nach meinem Pinsel, den ich zum Streichen des Tores benötigte, und kramte dabei in einer alten Kiste. Alles war gut, bis plötzlich Amy bei mir einbrach und mich dazu bringen wollte, mein eigenes Haus anzuzünden!“ Ozzy war weiterhin nicht ansprechbar. Alice dachte darüber nach, ob es klug wäre, selbst die Initiative zu ergreifen und Einspruch zu erheben. „Ich wusste überhaupt nicht, was der Kerl von mir wollte. Ich hatte ihn auch noch nie zuvor gesehen! Irgendwie hat er sich Zutritt zu meiner Behausung verschafft und, tja, dann hatte ich den Salat...! Wenn Ihr mich fragt, Eure Hoheit, ist er ganz klar schuldig. Ein Kerl namens Amy ist und bleibt verdächtig!“ „Bist du jetzt fertig? Ich finde, das reicht langsam“, sagte Alice, bevor Richter Manson oder sonst irgendwer noch darauf eingehen und anfangen konnte, diesen Schwachsinn zu glauben. „Einspruch!“, rief General Floyd, als hätte er nur darauf gewartet, endlich auch seinen Senf dazugeben zu dürfen. „Der Zeuge hat das Recht, nein, er ist sogar dazu verpflichtet, dem Gericht die Wahrheit mitzuteilen. Du hingegen, Angeklagter, hast nicht das Recht, ihm einfach dazwischenzufunken wie es dir passt!“ „Das ist schön, genau der Meinung bin ich nämlich auch. Das Problem ist nur: Was Herr Hase hier gerade so wahnsinnig überzeugend herumposaunt ist nicht die Wahrheit!“ „Wasislos...?“, hörte er Ozzy, der offenbar wieder zu sich gekommen war, leise nuscheln. Alice antwortete ihm jedoch nicht, da er nicht viel Sinn darin sah, einem planlosen Aushilfsverteidiger alles einzeln zu erklären. „Ich habe keine Ahnung, ob er mich absichtlich in ein falsches Licht rücken will oder ob er einfach nur ein sehr durcheinanderes, kleines Häschen ist, das selbst glaubt, was es da faselt... Aber ich schwöre Euch, dass beinahe nichts in seiner Aussage stimmt! Ich bin weder bei ihm eingebrochen noch wollte ich, dass er irgendwas in Brand steckt... Seine Türe stand offen und ich wollte ihn lediglich um Rat fragen, weil ich gerade erst in eurer Welt angekommen war und mich... nun ja, ein wenig verloren fühlte. Und wisst Ihr, warum ich ausgerechnet dieses verwirrte, kleine Häschen danach fragte? Weil es nicht annähernd so unwissend ist wie es jetzt tut. Im Gegenteil, dieses Kaninchen ist derjenige, der dafür verantwortlich ist, dass ich überhaupt hier bin!“ Unruhiges Getuschel machte sich im Saal breit; Hasi starrte ihn ungläubig an. „Außerdem... heiße ich Alice. Und nicht Amy.“ „Das ist... unerhört!“, zischte Floyd nach einer Weile des Schweigens. Marilyn blickte mit einem zweifelhaften Ausdruck in den Augen zwischen ihm, dem Zeugen und der Anklagebank hin und her. „Euer Ehren! Der Angeklagte erzählt Lügengeschichten! Das hat er von Anfang an getan und er tut es noch immer, selbst hier und jetzt... Ich habe ihm die ganze Zeit über nicht getraut und mein Misstrauen bestätigt sich nur. Sprecht ihn schuldig, worauf wartet Ihr noch?“ „Beweise!“, forderte Alice. „Wenn Ihr Euch so sicher seid, warum beweist Ihr meine Schuld dann nicht einfach, hm? Los, Herr Staatsanwalt!“ „Stopp!!“, herrschte Marilyn energisch, woraufhin sämtliche Stimmen sofort verstummten. „Es scheint, als würde das Ganze etwas... aus den Fugen geraten. Angeklagter. Du willst Beweise? Nun, warum legst nicht du einen stichfesten Beweis vor, der deine Schuld widerlegt?“ General Floyd grinste siegessicher. Ritter Weiß schien sich inzwischen nicht mehr sonderlich behaglich zu fühlen. „Ich... Ich muss hier niemandem etwas beweisen...! Weil dieser Prozess die größte und idiotischste Zeitverschwendung ist, die ich jemals erlebt habe!“, entgegnete Alice aufgebrachter als er es beabsichtigt hatte. „Sollte eine Gerichtsverhandlung nicht dazu da sein, für Gerechtigkeit zu sorgen? Davon merke ich hier nichts! Ich habe eher das Gefühl, dass ihr euch aus irgendeinem Grund gegen mich verschworen habt. Und Ihr... Ihr habt Euch total verändert...“ „Tse... Jetzt versucht er es auf die Mitleids-Tour...“ „Ruhe, General!“, befahl Marilyn scharf an seinen Untergebenen gewandt, bevor er sich mit zunächst ernster und dann scheinbar belustigter Miene wieder ihm widmete. „Ich habe mich also verändert? Haha... Du amüsierst mich. Ein weiterer Grund, an deiner Wahrnehmung zu zweifeln, Alice. Ich bin genauso wie sonst auch.“ „Nein, das seid Ihr nicht! Seit ich mit Fish zum Schloss zurückgekehrt bin seid Ihr nicht mehr Ihr selbst. Ihr habt... sogar das Foto zerrissen...“ Seltsam betroffen dachte er daran, wie die Königin es eigenhändig zerstört hatte – oder der König? Sie und Alicia waren zusammen darauf abgebildet gewesen, es war eine wertvolle Erinnerung an ihre Vergangenheit, die sie einfach innerhalb eines kurzen Augenblickes beseitigt hatte, als wäre es nichts. Warum musste sich gerade jetzt, als er geglaubt hatte, endlich wenigstens ansatzweise zu begreifen, was hier vor sich ging, das Blatt noch einmal um hundertachtzig Grad wenden? „Ich verstehe nicht, was das alles noch zu bedeuten hat... Anfangs habe ich nicht verstanden, wieso ich, als völlig Fremder in eurer Welt, der Auserwählte sein soll. Und jetzt verstehe ich nicht, wieso ich als Angeklagter hier sitze und für etwas verurteilt werden soll, das ich nicht getan habe. Ich weiß jetzt, dass ich in eurer Welt kein Fremder bin und dass ihr mich braucht, sonst hättet ihr nicht mit allen Mitteln dafür gesorgt, dass ich hier bleibe! Warum also tust du das, Marilyn...?“ Ein Moment der Stille und des allgemeinen Entsetzens, dann erst merkte er, was er da eben eigentlich gesagt hatte. Wie konnte ihm das nur passiert sein? „... Mari... lyn...“, stammelte die Königin, als würde die Erwähnung dieses Namens irgendetwas in ihrer Erinnerung überlasten. „Das ist...“ Überrascht sah Alice sie an, als der Ausdruck in ihren Augen mit einem Mal klarer wurde und er für eine Sekunde das Gefühl hatte, wieder die alte Herzkönigin vor sich zu haben. „Was hast du getan...?!“, brachte das Weiße Kaninchen hervor, gleichermaßen vorwurfsvoll und entgeistert. „Dieser Name... Niemand sagt diesen Namen! Wie kannst du es wagen, den verbotenen Namen auszusprechen?!“ „Aber-“ „Nein...! Unsinn! Das... ist nicht mein Name!“, erwiderte die Königin irgendwann abrupt, ehe er dem etwas entgegensetzen konnte; allerdings wirkte es eher, als würde sie es zu sich selbst sagen anstatt zu irgendeinem anderen in diesem Raum. „Ich... Warum lenkst du eigentlich von dir ab, Angeklagter? Hier geht es um dich... und nicht um mich!“ Aha, dachte Alice und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als in ihm der winzige Hoffnungsschimmer aufkam, dass ihre richterliche Hoheit eventuell doch eine Schwachstelle besaß. Wenn er es schaffte, diese Schwachstelle auf die richtige Art und Weise auszunutzen, konnte er sie vielleicht zur Vernunft bringen. Er musste es nur hinbekommen, sie sentimental werden zu lassen, um ihr wahres Ich unauffällig wieder hervorzulocken. „Marilyn... Erinnerst du dich denn nicht mehr...?“, sagte er mit gekonnt trauriger Stimme, betrübt zu ihrer Majestät herüberblickend. „Du und ich... wir haben uns zusammen den Sonnenaufgang angesehen. Hat dir das etwa gar nichts bedeutet...? Du... liebst doch die Sonne. Wenn sie aufgeht hast du einen Grund, glücklich zu sein... das hast du zu mir gesagt.“ „... Hör auf! Hör sofort auf damit...!“, wehrte die Königin seine Schnulz-Attacke halbherzig ab. Alice schaute betreten zur Seite, innerlich grinsend über seinen offensichtlichen Triumph. „Und die zwei Rosen, die du mir gezeigt hast“, redete er unbeirrt weiter. „Auf deinem Gemach, Marilyn. Weißt du nicht mehr? Ihre unvergängliche Schönheit hat mich gleich fasziniert. Das kannst du doch nicht vergessen haben...!“ „...“ „Marilyn...?“ „... Nein... Unmöglich... nngh...Verschwinde...! Geh weg!“ „Auserwählter...“, sagte Fish von der letzten Reihe aus in einem Tonfall, der nichts Gutes verheißen ließ. „Ich glaube, Ihr habt die Königin durcheinandergebracht...“ Auf einen Schlag wurde die Empfangshalle von einem panischen Stimmengewirr erfüllt, vermischt mit der schrecklichen Ungewissheit, die plötzlich wie eine große dunkle Wolke in der Luft hing. Das weiße Kaninchen hatte sich eilig in die hinterste Ecke des Raumes verkrochen, gefolgt von dem Weißen Ritter, der ein jämmerliches Geräusch ausstieß, bevor er sich hinter Hasis Rücken versteckte. Ozzy hingegen wirkte eher besorgt als ängstlich, als er sah, wie die Königin sich mit grotesk verzerrten Zügen an der Tischkante abstützte, ihr Gesichtsausdruck irgendwo zwischen Zorn, Anstrengung und Wahnsinn, und beängstigende Laute von sich gab, die nicht einmal mehr menschlich klangen. Es war in der Tat ein absonderliches Szenario. „Majestät? Geht es Euch gut...?“, fragte Ozzy typisch naiv und war bereits aufgesprungen, um nach seiner geliebten Königin zu sehen, ohne auf eine Antwort zu warten, die er mit Sicherheit ohnehin nicht bekommen hätte. Alice konnte ihn im letzten Moment zurückhalten. „Nicht! Lasst mich das machen“, sagte er, überzeugt, das kleine Problem, das er selbst möglicherweise verursacht hatte, auch höchstpersönlich wieder in den Griff zu bekommen. Schließlich hatte er bisher noch jedem wunderländischen Freak aus einer verzwickten Situation helfen oder irgendwelche komplexen Aufgaben lösen können. Wäre doch gelacht, wenn er nicht auch das hier wieder hinkriegen würde. Entschlossen ging er auf Marilyn zu, nachdem er sich von seinem Platz auf der Anklagebank erhoben hatte. „Eure Hoheit?“ „... Arrghh! Bleib fern...!“, bekam er zur Antwort, begleitet von einer unkontrollierten Armbewegung seitens Marilyn, so als wolle er ein aufdringliches Insekt verscheuchen, das ihn zur Weißglut brachte. „Komm mir nicht zu nahe, hörst du, Alice?! Bleib, wo... du bist... bitte!!“ „Ähm... okay?“ Vielleicht hatte er sich ausnahmsweise geirrt. Wie es aussah war die aktuelle Situation selbst für den Auserwählten eine Nummer zu hoch. „Ihr alle...“, flüsterte Marilyn, hob seine Stimme jedoch unerwartet zu einem furchteinflößenden Schreien, „... ihr alle seid schuldig! Jeder einzelne von euch... hat eine Bestrafung verdient! Niemand lehnt sich gegen mich auf... Niemand, versteht ihr?!“ Wie aus dem Nichts wurde es eiskalt, die Wände des Saales begannen heftig zu beben und die Menge der übrigen Beteiligten verwandelte sich in ein hektisches Chaos wild umherstolpernder Insassen. Das war's, dachte Alice, als es sich so anfühlte, als geriete der gesamte Raum ins Wanken. Das Letzte, was er vernahm, waren die Worte „Lebt wohl, ihr Würmer!“, dann wurde es vollkommen dunkel. „... Uhhh...“ Kälte. Kalt und dunkel war es noch immer. Allerdings auf eine andere Weise als es bis vor Kurzem noch der Fall gewesen war. Was war geschehen? Wie durch Watte hörte er einen Ruf, immer wieder. Die Stimme war nicht unbekannt. Erst undeutlich, dann zunehmend klarer ertönte dieses Wort, zum wiederholten Male. Es klang wie ein Name. „Mary!“, konnte er es nach einem Moment der Besinnung vollends definieren. „Maaaryyyy!!“ Alice öffnete die Augen. Er wusste nicht, wie lange er weggetreten gewesen war, aber eines wurde ihm schlagartig bewusst, als er sich umsah – er war nicht mehr in der Empfangshalle. Sondern im Kerker. Gemeinsam mit allen anderen, die zuvor an der Verhandlung teilgenommen hatten – abgesehen von der Königin, selbstverständlich. „MARYYY!!“, rief der Märzhase ebenso laut wie verzweifelt, an die Wand gefesselt auf dem Boden kniend, genau wie er selbst es einen Tag zuvor gezwungenermaßen getan hatte. Die Raupe saß etwa einen halben Meter von ihm entfernt und rauchte ihre Pfeife, als wäre dies ihr natürlicher Lebensraum, während die Haselmaus auf der gegenüberliegenden Seite wie ein Kringel herumlag und schlief, dicht neben dem Hutmacher, der ebenfalls an die Wand gelehnt dort saß und die Decke anstarrte. Das weiße Kaninchen machte ihm Konkurrenz, wirkte jedoch bei längerem Betrachten noch ein wenig labiler, während es apathisch seine Uhr fixierte und hin und wieder seltsam zuckte, wenn der Rauch der Wasserpfeife in seine Richtung zog. „Okay“, sagte Alice, in der Hoffnung, einer der anderen würde ihm für einen kurzen Moment seine Aufmerksamkeit leihen und ihn vielleicht darüber aufklären, was zum Henker hier eigentlich los war. „Warum... sind wir im Kerker? Ich meine, wir alle? Habe ich was verpasst?“ „Wir sind nicht alle hier“, hörte er tatsächlich jemanden antworten. Wache Nummer Zwei. „Einer fehlt. General Floyd ist, wie es scheint, oben geblieben.“ Irritiert wandte Alice sich dem Wachmann zu, der ihn mit einem entschuldigenden Blick bedachte, so als würde er die Verantwortung für ihre gemeinschaftliche Lage auf sich nehmen, weil er den Zorn der Königin nicht hatte abwenden können. „Aber warum...?“, fragte er noch einmal. „Wie sind wir plötzlich hierhergekommen? Und wieso ist der Märzhase als Einziger von uns angekettet?“ „Dieser Hase...! Oh, wie ich ihn verachte!“, erwiderte eine andere Stimme, die er Wache Nummer Eins zuordnen konnte, als er sich flüchtig umsah. „Dieser Hase ist der wahre Schuldige unter uns! Denk jetzt nicht, ich würde mich auf deine Seite schlagen, auserwählter Mann namens Alice. Aber du bist nicht derjenige, der verurteilt werden sollte. Hätte der verdammte Hase nicht unaufhörlich diesen Namen gebrüllt, als wäre er nicht mehr zu retten, hätte unsere Königin auch nicht den Verstand verloren und wäre zu dem geworden, was sie jetzt ist...“ „Zu dem, was sie jetzt ist?“ Interessiert trat Alice auf den Wachmann mit der violett schimmernden Rüstung zu. „Sie ist nicht sie selbst, oder? Nie im Leben war das wirklich die Herzkönigin, die mich all dieser Verbrechen beschuldigt hat... Das hätte sie nicht getan, da bin ich mir sicher!“ „Maaaaaryyyyyy!“ „Himmel, wann wirst du endlich dein verfluchtes Schandmaul halten?!“, rief die Wache, sichtbar und hörbar aufgebracht an den Märzhasen gerichtet, dann drehte sie sich seufzend wieder zu ihm. „Nein, sie ist nicht sie selbst. Nachdem sie diesen Unhold von uns hat in den Kerker sperren lassen war sie wie ausgewechselt. Ich erkenne sie nicht wieder. Und was ich hier unten mache erschließt sich mir nun gar nicht! Schließlich habe ich bloß, wie üblich, das Tor bewacht...“ „Iiiiiiiiih...! Geht von mir runter!!“, hallte im nächsten Augenblick eine Stimme, die sich nach dem Weißen Ritter anhörte, hysterisch durch die Zelle. Offenbar war sein verhasster Rivale bei der Aktion mitsamt seiner schweren Rüstung mitten auf ihm gelandet und hielt ihn so vom Aufstehen ab. „Was zur Hölle geht hier vor? Warum bin ich schon wieder mit diesem Nichtsnutz in der Zelle?!“ Ozzy, der jetzt anscheinend ebenfalls etwas verspätet aus seinem Dämmerzustand erwachte, schreckte kreischend auf, als er bemerkte, auf welcher Unterlage er sich befand. „Waaah! Ein Albtraum!“, rief er und kassierte dafür einen bitterbösen Blick seitens Bon Jovi, der unverzüglich damit begann, mit einer beachtlichen Aggressivität über seine weiße Rüstung zu wischen, sobald er sich aufgerichtet hatte, so als wolle er die schlechte Energie des Schwarzen Ritters von ihr abschrubben. Wache Nummer Eins murmelte etwas, das sich wie „Schon gut, ihr braucht mich nicht zu bemitleiden“ anhörte. Alice versuchte, einen Moment zu überlegen, was ein wenig Konzentration erforderte, wenn man mit zehn Geistesgestörten in einem ungemütlichen, engen Raum gefangen war. „Warum benutzen wir nicht einfach der Reihe nach den Notausgang?“, schlug er vor, als ihm einfiel, wie er beim letzten Mal von hier unten entkommen war, und ging dorthin, wo er, seiner Erinnerung nach zu urteilen, die geheime Tür vermutete. „Das wird leider nichts nützen“, sagte jemand von der Seite in einem optimistischeren Tonfall als es dem Inhalt entsprach. Fish. „Sie lässt sich nicht öffnen. Genauso wenig wie der Haupteingang.“ „Wirklich? Schöner Mist“, gab er zurück und besah sich die unscheinbare Klappe kurz von Nahem, als ohne jegliche Vorwarnung das weiße Kaninchen, einen schrillen Kampfschrei ausstoßend, von seinem Platz nahe des Hutmachers hervorschoss und ohne Rücksicht auf Verluste durch die Menge trampelte, bevor es ihn grob beiseite schubste, um sich selbst mit dem Notausgang auseinanderzusetzen. „... Hey!“, machte Alice, als er gerade noch verhindern konnte, rückwärts auf dem Boden zu landen; das Kaninchen schien sich jedoch nicht darum zu scheren – zu sehr war es damit beschäftigt, brutal und von irren Lauten unterstrichen auf die verschlossene Klappe einzudreschen. Alice war sich nicht sicher, ob er mehr Mitleid mit sich selbst oder mit der Tür hatte. „Warum gehst du nicht auf, du dummer Ausgang?! Geh endlich auf...!“, jammerte Hasi, ehe er vor dem malträtierten Notausgang zusammensank und so dramatisch wie es nur eben ging „Wir sind alle verloren!“ rief. „Nie hat man Ruhe“, grummelte Piepwuff, den die penetrante Geräuschkulisse offenbar aus dem Schlaf gerissen hatte, und legte sich murrend auf die andere Seite. „Hass... Ich hasse diese Zelle und diesen Tag... und diesen Gestank!“ Was den Gestank betraf hatte er nicht Unrecht. Es war ziemlich stickig hier unten, es gab keine Fenster und dazu kam, dass der Qualm von Raupis Pfeife sich verbreitete wie dicke Nebelschwaden, die die gesamte Luft vereinnahmten. Fish stand noch immer bewegungslos da und musterte das weiße Kaninchen, das es wohl inzwischen aufgegeben hatte, die Klappe zu verprügeln. „Ich schätze, wir werden hier vorerst nicht rauskommen“, sagte er und fügte etwas leiser hinzu: „Wären wir auf herkömmliche Weise hierher gelangt, wäre es vielleicht etwas anderes, aber so...“ Bevor ihn allerdings jemand fragen konnte, was genau er damit meinte, erklang aus heiterem Himmel ein gellender Schrei, der seinen Ursprung definitiv nicht in diesem Raum hatte, jedoch mit ebenso großer Sicherheit eine zu helle Stimmfarbe besaß, um von Floyd oder Marilyn zu stammen. Alice wich reflexartig einen Schritt zurück, als auf den unheimlichen Schrei ein weiterer folgte. Er hörte diese Geräusche nicht zum ersten Mal. Auf der Kehrseite hatte er Stimmen vernommen, animalische Stimmen, die sich zu einem wilden, unartikulierten Geplärr vermischt und ihn in der Dunkelheit heimgesucht hatten. Und als er zuletzt im Kerker eingesperrt gewesen war... da hatte er es auch gehört. Es war also doch keine Einbildung gewesen! „MAAARYYY!!“, rief der Märzhase noch inbrünstiger als er es zuvor schon getan hatte. Piepwuff jaulte, nicht einmal der Hutmacher konnte ihn beruhigen. In dem Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen, bemühte sich Alice, die Anfälle seiner Mit-Insassen so gut es ging zu ignorieren, blickte abwesend zu Fish herüber und bemerkte erst jetzt, dass der Narr etwas hinter seinem Rücken verborgen hielt. „Sag mal...“, begann er vorsichtig, während er sich an Hasi vorbei auf ihn zubewegte. „Weißt du vielleicht etwas, das wir nicht wissen? Du versteckst doch da irgendwas.“ „Wie? Oh, Ihr meint... ja“, entgegnete Fish etwas wirr und zog das ominöse Objekt hervor, das er scheinbar vor den Augen der anderen zu schützen versuchte. „Ich hatte es, versteckt unter meinem Kostüm, für Euch aufbewahrt. Dank der Beschaffenheit meiner Kleider ist es darunter nicht wirklich zu erkennen, wenn man mich nur von Weitem sieht.“ „Das Tagebuch!“ Mit einer gewissen Erleichterung feststellend, dass das mysteriöse Buch, das Fish ihm geschenkt hatte, vollkommen heil geblieben war, lehnte sich Alice ein Stück zu seinem Gegenüber vor, um besser mit ihm sprechen zu können – bei der Lautstärke, die momentan herrschte, war es fast schwierig, das eigene Wort zu verstehen. „Vielleicht... solltest du es lieber wieder wegstecken. So wie unsere werten Genossen hier gerade drauf sind würde ich nicht ausschließen, dass es dir einer abjagt und vor lauter Frust in Stücke reißt...!“ Das weiße Kaninchen oder die Haselmaus, beispielsweise. „Ja, Ihr habt Recht“, sagte der Narr mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen, ließ das Buch wieder verschwinden und seinen Blick über den chaotischen Haufen wild durcheinandergewürfelter Freaks schweifen. „Ich brauche es auch nicht mehr... schließlich kenne ich jetzt die Wahrheit. Und es wird Zeit, nun die anderen daran teilhaben zu lassen, meint Ihr nicht auch?“ „... Was? Die Wahrheit?“ Fish nickte stumm und keine zehn Sekunden später hatte er die Aufmerksamkeit aller, deren Aufruhr er tatsächlich zu unterbrechen vermocht hatte, ganz auf sich gezogen. „Hört mir zu, ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen!“, rief er und zeigte mit einer Hand bedeutungsvoll auf sich selbst. „Ich, der einsame, verstoßene Hofnarr, der so oft von euch übersehen und verlacht wurde, verfüge über Informationen, die jeden von euch interessieren dürften!“ „Wie wäre es dann, wenn du aufhören würdest zu schwafeln und mit der Sprache herausrückst?“, erwiderte Wache Nummer Eins, charmant wie immer. Fish seufzte. „Also gut. Es wird euch vielleicht nicht gefallen, was ich jetzt sage, aber wir alle... wir gehören nicht hierher.“ Stille. „Das sollen deine grandiosen Informationen gewesen sein?“, höhnte der Weiße Ritter. „Törichter Narr! Wir sind unschuldig. Natürlich gehören wir nicht hierher!“ „Ich meinte damit aber nicht diese Zelle“, korrigierte Fish den überheblichen Ritter. „Was ich meinte, war... nun... diese Welt.“ Wieder Stille. Als sich auch nach einer gefühlten Ewigkeit niemand dazu überwinden konnte, ein Wort zu sagen, nahm Fish dies als Anlass, die Gelegenheit, in der alle ihm zuhörten, zu nutzen und in aller Ruhe fortzufahren. „Diese Welt – das Wunderland – ist in Wahrheit nicht unsere Welt. Jeder von euch, auch ich, lebte einmal in einer anderen Dimension... Wir wissen es nur nicht mehr, weil wir unsere Erinnerungen verloren haben. Das ist der Preis, den ein Mensch in Kauf nehmen muss, wenn er im Wunderland verweilt. Er verliert sein altes Selbst, nimmt eine neue Rolle ein und wird langsam... verrückt.“ „Das soll wohl ein Scherz sein!“, brachte das weiße Kaninchen hervor, als es seine Sprache wiedergefunden hatte, trat Fish mit einem ungesund geringen Abstand gegenüber und starrte ihn mit vor Wahnsinn triefenden Augen an. „Willst du mich beleidigen? Sehe ich aus, als wäre ich verrückt?! Du kannst jemand anderem Märchen erzählen... aber nicht mit mir!“ „Ich glaub', er hat Recht“, sagte eine raue Stimme, die aus der hinteren Ecke des Raumes kam. Alle wandten sich fassungslosen Blickes der Raupe zu. „Ich mein'... Wenn wir alles vergessen haben, Leute... woher sollen wir'n dann wissen, ob wir nich' echt mal wer anders war'n? Kann doch sein.“ „So ist es! Die Raupe hat es verstanden!“, stimmte Fish euphorisch zu und ging ein paar Schritte weiter in die Mitte des Raumes. „Wir sind nicht mehr die, die wir mal waren. Wir sind Teil dieser Welt geworden, und egal, wo wir ursprünglich einmal herkamen – das Wunderland braucht uns jetzt! Glaubt ihr wirklich, es gäbe hier weit und breit keine Frauen? Denkt nach! Was ist mit Alicia?“ „Alicia ist tot“, kam es von Wache Eins und Wache Zwei gleichzeitig. Fish grinste, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. „Es stimmt, sie ist vor langer Zeit von uns gegangen. Doch, ob ihr es glaubt oder nicht, sie lebt wieder. Und sie ist mit uns in diesem Raum!“ Eine Art allgemeine Verständnislosigkeit ging durch die Runde, bei manchen ausgeprägter als bei anderen. „Ich weiß, es gibt Personen unter euch, die Alicia niemals kennengelernt haben. Ich selbst hatte leider nie die Ehre. Aber ihr seht anhand unserer beiden Wachen, dass es sie gegeben hat. Alicia, die dunkle Königin und Gemahlin des Herzkönigs...“ Er machte eine kurze Pause, dann sprach er weiter, ernster und nachdrücklicher als Alice es ihm zugetraut hätte. „Ihr müsst euch erinnern! Die Dinge waren nicht immer so wie sie jetzt sind... Wir wurden manipuliert! Und unser Angeklagter... Er trägt am wenigsten Schuld an all dem. Was glaubt ihr, warum er der Auserwählte ist? Er ist Alicia! Er ist die Wiedergeburt der dunklen Königin, und er ist hier, weil er unsere letzte Hoffnung ist...!“ „Moment... Ist das dein Ernst...?“ „Selbstverständlich ist das mein Ernst, Auserwählter! Ihr solltet das doch am besten wissen...!“, gab Fish, der sich anscheinend in Rage geredet hatte, voller Überzeugung zurück. Alice konnte sich nicht entscheiden, ob er sich über das Vertrauen, das der Narr ihm entgegenbrachte, freuen oder ob es ihn mehr beunruhigen sollte. Im Augenblick deutete sein Gefühl eher auf Letzteres. „Ich glaube... ich muss mal kurz ein bisschen nachdenken“, sagte er, ging zurück zu der Stelle, an der er nach dem merkwürdigen Ortswechsel zu sich gekommen war, und ließ sich, an die Wand gelehnt, dort nieder, während Fish schon wieder dabei war, seine Rede zu halten, fast wie ein Politiker, der von dem Klang seiner eigenen Stimme nicht genug kriegen kann. Alice hörte es schon beinahe nicht mehr. Eigentlich konnte das Nachdenken auch noch etwas warten. Ausnahmsweise einmal an nichts zu denken erschien ihm momentan sinnvoller. „Alles in Ordnung? Ihr seht aus, als könntet Ihr ein Plätzchen vertragen... Eure dunkle Majestät“, kicherte jemand nicht weit von ihm, der nur der Hutmacher sein konnte. Etwas irritiert sah er zu ihm herüber. Piepwuff hatte sich offenbar wieder neben ihm schlafengelegt, was ihn ein wenig erleichterte. „Dich scheint das Ganze ja nicht sonderlich zu überraschen“, entgegnete er, während sein Blick an dem großen, quadratischen Plätzchen haftete, das der Meister der Backkunst in der Hand hielt und dessen Duft sogar den Geruch des Pfeifenrauchs in den Schatten stellte. „Es gibt nichts, das mich noch überraschen könnte“, antwortete der Hutmacher, streckte ihm das sonderbare Gebäck entgegen und lächelte füchsisch. „Willst du oder willst du nicht? Ich wäre sehr enttäuscht, wenn du ablehnen würdest.“ „Mir bleibt ja nichts anderes übrig, oder?“, erwiderte Alice, nahm das eigentümliche Geschenk der Höflichkeit halber an und begutachtete es kritisch, bevor er sich dazu zwang, ein Stück zu probieren – schließlich konnte er sich noch gut an das letzte Mal erinnern, als der Hutmacher ihm eines seiner selbsterschaffenen Teufelsplätzchen angedreht hatte. Allerdings schmeckte es entgegen seiner Erwartung gar nicht schlecht. „Das ist gut. Du hast dir wohl diesmal zu Herzen genommen, dass Putzmittel nicht in den Teig gehört, was?“ „Oh, das ist aber nicht nett von Euch, Eure dunkle Majestät“, schmollte der Hutmacher gespielt beleidigt. „All meine Kreationen entstehen aus Herzblut und Leidenschaft!“ 'Herzblut' ist hoffentlich nicht wörtlich zu nehmen, dachte Alice, doch es sollte vorerst der letzte Gedanke sein, den er an den Steven Tyler-Verschnitt und dessen Backkunst verschwendete. Denn ehe er sich ausführlicher damit beschäftigen konnte wurde das Bild vor seinen Augen verschwommen, die Stimmen sowie die gesamte Kulisse um ihn herum verblassten und für eine scheinbar zeitlose Weile fühlte es sich so an, als würde er in einer Art Leere schweben, die nur er selbst registrierte. Dann, ganz langsam, setzte sich das Bild vor ihm neu zusammen, fast wie in einem Traum, den er bewusst wahrnahm, aber nicht steuern konnte. Es war ein vertrautes Bild. Düster. Farblos. Nur eine einzige Lichtquelle war schwach in der Ferne zu erkennen. Ein Spiegel. Ich bin auf der Kehrseite? Obwohl er nicht wusste, was er hier verloren hatte, ging er instinktiv auf das Licht spendende Spiegelglas zu – zumindest sein Traum-Selbst tat das – und schritt hindurch, so wie er es zuvor schon einmal getan hatte. Jedoch war es nicht Marilyns Gemach, auf dem er sich nun wiederfand, sondern eine grüne Wiese unter einem morgendlichen Himmel, hell erstrahlend im warmen Sonnenschein und friedlich wie eine Illustration aus einem Kinderbuch. „Eure Hoheit!“, hörte er jemanden rufen, der sich recht zügig zu nähern schien. Es klang wie... „Kittylein!“ Was zum...?!, dachte er, als sein Traum-Selbst sich zu der Person umdrehte, die ihn angesprochen hatte, und sie munter begrüßte – mit einer Stimme, die viel zu hoch war, um seine eigene zu sein. Es war eindeutig die Stimme einer Frau. „Der König wünscht, Euch zu sehen“, sagte Kittylein, das übliche kuriose Grinsen im Gesicht, und verschwand genauso schnell wie er aufgetaucht war irgendwo im Nirvana, ehe er selbst mit den Worten „Ich werde sofort bei ihm sein“ in die Richtung lief, aus der The Catman eben gekommen war. Ein Blick nach unten verriet ihm allerdings, dass er sich nicht auf dem Weg zum Schloss befand sondern an der Klippe, so knapp von dem erschreckenden Abgrund getrennt, dass ihm kurz der Atem stockte, als er in die Tiefe sah. Scheinbar ruhig stand er dort, vor dem gigantischen Ausblick, reglos, und genoss die Sicht auf den nicht existenten Horizont inmitten der leuchtenden Atmosphäre, bis er plötzlich eine kalte Hand auf seinem Rücken spürte, die ihn völlig überraschend in das unendliche Nichts stieß, nach unten, wo es keinen Boden gab und rein gar nichts, das ihn auffangen würde, wenn er gefallen war. Stattdessen bemerkte er irgendwann etwas anderes. Er wurde von jemandem gehalten... und er fiel auch nicht mehr. „Sei vorsichtig“, sagte eine Stimme, die er auch auf zehn Meter Entfernung erkannt hätte, in einem beinahe beängstigend sanften Tonfall. „Das ist gefährlich. Geh da nicht so nah ran, Alicia.“ Marilyn, gehüllt in ein edles dunkelrotes Gewand, das ihn wie einen androgynen König aus der Gruft erscheinen ließ, stand ihm mit mahnendem Blick gegenüber, etwas abseits der Klippe, die er wenige Sekunden zuvor noch geglaubt hatte, herunterzufallen, und hielt ihn zurück. Offenbar hatte sich die Szene binnen dieser Sekunden schon wieder verändert, denn im Gegensatz zu vorher war es jetzt Nacht. „Und wenn doch?“, hörte er sich selbst herausfordernd mit Alicias Stimme antworten. Was auch immer sie damit andeuten wollte. „Wenn doch...“, erwiderte Marilyn weniger sanft und auf eine Art, die Schlimmes vermuten ließ, „... dann muss ich wohl annehmen, dass du eine äußerst... ungezogene Königin bist.“ „Ja, richtig. Das bin ich.“ Nein, bist du nicht!, rief er gedanklich, doch das schien sein Traum-Selbst nicht im Geringsten zu interessieren. „Ich bin eine sehr, sehr unartige Königin. Ich glaube, ich muss mal wieder besonders streng zurechtgewiesen werden.“ „Hm... Stille Wasser sind tief, nicht wahr?“, grinste Marilyn und musterte ihn auf eine Art, die noch Schlimmeres vermuten ließ, während Alicia irgendetwas mit ihrem Kleid anstellte – sie schien ein paar Knöpfe zu öffnen –, sich langsam, ein paar Schritte weiter von der Klippe entfernt, auf den Boden begab und... „Große Güte...! Ich hab's ja kapiert! Mach das weg!!“ Stille. Der Hutmacher saß zusammen mit seinem Köter und umgeben von einer Schicht aus bunten Rauchschwaden, die dem kleinen grauen Raum inzwischen einen Hauch von Behaglichkeit verliehen hatten, noch immer dort und blickte überaus amüsiert zu ihm herüber, während die Raupe sich mit dezent besorgter Miene zu ihm vorlehnte. „Alles klar, Kumpel? Du siehs' irgendwie so rot aus“, sagte sie, nachdem sie einige rote Wölkchen ausgepustet hatte. Alice nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, sich selbst in Einklang mit den Wölkchen zu bringen, um eine ausgeglichene und sachliche Antwort darauf zu geben. „Wer hat dich denn gefragt?!“ Der Versuch war wohl gescheitert. „Du...!“, zischte er und zeigte auf den Hutmacher. „Was zum verdammten Henker war denn das bitte gerade?!“ „Was? Ich weiß nicht, wovon du redest“, kicherte sein Gegenüber merklich unterhalten und deutete auf das gemusterte Bündel, das zu seiner Linken auf dem Boden lag und wahrscheinlich noch mehr von diesem Teufelszeug enthielt. „Ich experimentiere eben ab und an gerne mit ein paar Zutaten und brauche jemanden, der meine Kreationen für mich testet... und du erscheinst mir nun mal sehr offen, mein werter Freund!“ „Willst du mich auf den Arm nehmen? Was sollen das für Zutaten sein, von denen man solche Sachen halluziniert?! Das war nicht mal... ich meine... Das war, als hätte ich Erinnerungen aus... meinem früheren Leben geträumt, oder so...“ „Tatsächlich? Was denn für Erinnerungen?“ „Schwer zu erklären... Irgendwelche wirren Fetzen. Bruchstücke aus Alicias Alltag, würde ich sagen... Aber das hat sich dauernd verändert und- Ich will da nicht näher drauf eingehen!“, sagte er entschieden, drückte dem Hutmacher das halbe Plätzchen in die Hand, das er noch immer festgehalten und beinahe zerquetscht hatte, und stand auf, um irgendetwas anderes zu tun als sinnlos in der Gegend herumzusitzen. „Du kannst dir zukünftig ein anderes Versuchskaninchen suchen! Wie wär's mit dem Märzhasen, da kann eh nichts mehr schiefgehen...!“ Ohne eine Antwort des wahnsinnigen Hobbybäckers abzuwarten drängte er sich an seinen hauptsächlich verwirrt dreinschauenden Mit-Insassen vorbei, kein wirkliches Ziel vor Augen, als absolut unerwartet mit einem lauten Knarzen der Haupteingang aufschwang und, bevor irgendjemand auch nur ansatzweise verstehen konnte, was gerade geschah, eine weitere Person zu ihnen in die Zelle geschubst wurde, zu schnell, um denjenigen hinter der schweren Tür zu erkennen, der diese sofort mit rapider Geschwindigkeit zukrachen ließ, nachdem er sein Werk verrichtet hatte. Starr blickte Alice zu dem Haupteingang herüber, der sich innerhalb kürzester Zeit geöffnet und wieder geschlossen hatte, ohne dass es überhaupt richtig zu realisieren gewesen war. Dann sah er zu Boden; dorthin, wo ihr neuer Geselle bei dem Sturz ziemlich unsanft gelandet war und nun verstört zu ihm aufschaute, während er mühevoll wieder auf die Beine kam. „M-Majestät! Was, äh, was macht Ihr denn hier...?“, brachte er vollkommen verwirrt hervor, als Marilyn sich ungewohnt hektisch umsah, einen flüchtigen Blick auf die verschlossene Tür hinter sich warf und sich ihm und den anderen dann erneut mit einem seltsam nervösen Ausdruck zuwandte. „Floyd...!“, sagte er aufgebracht. „General Floyd ist in Gefahr... Nein, wir alle sind in Gefahr!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)