Alice im Wunderland - Die bescheuertste Interpretation ever von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 9: Kapitel 9 - Geheimnisse ---------------------------------- Marilyn und Wache Nummer Zwei hatten sich bereits in gespannter Erwartung im Garten eingefunden, nahe des Tores, vor dem Wache Nummer Eins noch immer wie paralysiert herumstand – der unangemeldete Besuch von Piepwuff musste ihm ganz schön zugesetzt haben –, und saßen auf Stühlen, die sie wahrscheinlich dem Platz mit dem Gartentischchen entnommen hatten, als Alice sich frisch und sogar einigermaßen ausgeruht zu ihnen gesellte. General Floyd war aus ihm unbekannten Gründen drinnen geblieben. Vielleicht hatte er noch mit dem Chaos zu tun, das der werte Mäuserich im Speisesaal hinterlassen hatte, oder er hatte bloß keine Lust auf die bevorstehende Vorstellung des potentiellen neuen Hofnarren, auf die Marilyn sich so sehr freute. Verständlich. Ein grimmiger Spießer, dessen Lieblingsbeschäftigung darin bestand, nach irgendwelchen absurden Verbrechen zu suchen, die er irgendwem in die Schuhe schieben konnte, war mit einem irrsinnigen Hasen, der Dinge wie Recht und Ordnung vermutlich nicht einmal definieren konnte, sicherlich überfordert. „Da bist du ja, Alice! Mach's dir bequem!“, sagte Marilyn und deutete auf den freien Stuhl neben sich, auf dem Alice dankend Platz nahm – nach seiner letzten grauenvollen Begegnung mit dem zwielichtigen Phantom war er zu der Ansicht gekommen, dass es ihn wesentlich schlechter hätte treffen können als in eigens für ihn ausgesuchten Kleidern seine Zeit im Anwesen der Herzkönigin zu verbringen, die sich wirklich herzerweichend um sein Wohlergehen bemühte... wenn er nicht gerade an die Wand oder an ihre Couch gefesselt war, weil sie schlechte Laune hatte. „Bis unser Gast bei uns eintrifft könnte es noch ein Weilchen dauern, schließlich habe ich den Hutmacher vorhin erst weggeschickt. Aber ich bin sicher, er wird nicht allzu lange auf sich warten lassen!“ „Seid Ihr wirklich sicher, dass Ihr denselben Märzhasen kennt wie ich? Bei dem, den ich kennengelernt habe, wäre ich mir nämlich nicht einmal sicher, ob er hier ankommt, ohne auf der Hälfte des Weges vergessen zu haben, wohin er eigentlich gehen wollte, und dann irgendeinen... Stein nach der richtigen Richtung gefragt zu haben“, erwiderte Alice und versuchte, sich eine solche Szene bildlich vorzustellen. „Wobei es mich hier eigentlich nicht wundern würde, wenn der Stein auch noch eine Antwort gäbe...“ „Glaubt mir, wir meinen alle den gleichen Märzhasen!“, entgegnete Wache Nummer Zwei anstelle von Marilyn und nahm einen kräftigen Bissen von einem Hot Dog, das er sich offenbar als Verpflegung nach draußen mitgenommen hatte, bevor er aufstand und zu seinem Kollegen vor dem Tor herüberschlenderte, um ihn zu fragen, ob er nicht auch eine kleine Stärkung vertragen könne. Wache Nummer Eins nahm sein Angebot starren Blickes an. Im selben Moment konnten sie beobachten, wie ein völlig zerzauster sogenannter Hase in mittelalterlicher Tracht aus der Richtung des Irrgartens auf sie zustürzte, atemlos hechelnd – es hatte beinahe etwas von Piepwuff bei seinem kürzlichen Auftritt –, in der linken Hand eine Tasse, die er locker am Henkel festhielt, und in der rechten ein weißes Objekt, das Alice aus der Entfernung nicht richtig zuordnen konnte, das sich jedoch schneller als ihm lieb war als zersprungenes Ei herausstellte. So. Ein. Mist, dachte er, als er die aufgebrochene Schale betrachtete, aus der ein wenig durchsichtige Flüssigkeit heraustrat. Das verdammte Ei, das ich gekillt habe. „Eure... Eure Hoheit...!“, keuchte der Hase vollkommen außer Atem, während er sich der Königin auf eine Art näherte, die ihn an einen Affen erinnerte, der gerade zum ersten Mal einen Menschen sah. „... Ja. Es freut mich, dich zu sehen, Märzhase“, sagte sie mit einem Ausdruck, der sowohl belustigt als auch pikiert wirkte. „Wie ich sehe hast du dich sehr beeilt.“ Der Hase lachte wie ein Maschinengewehr. „Selbstverständlich! Eine Dame lässt man nicht warten...!“, antwortete er und musterte Marilyn so wie man eine Suppe mustert, wenn man überlegt, ob noch etwas Salz hinzu sollte. Dann streckte er ihm ruckartig das Ei entgegen. „Majestät...! Das habe ich gefunden!“ „Gefunden...?“, gab Marilyn skeptisch zurück, ohne Anstalten zu machen, das Objekt anzufassen. „Ja! Gefunden, ja, richtig!“, stammelte der Hase aufgeregt, mit einer ausholenden Geste auf den Irrgarten zeigend. „Hinter der Hecke, Majestät! Ich habe es gespürt! Da stimmte etwas nicht. Es roch verdächtig nach... totem Ei...!“ Aber natürlich, dachte Alice, sprach es jedoch nicht aus. Es roch nach totem Ei. Was sonst. „Und dann hast du dich auf die andere Seite gebuddelt, um die Leiche heldenhaft hinfortzutragen, nehme ich an?“ „Oh nein, Majestät, für wen haltet Ihr mich denn?“, kicherte der Spürhase, während ein kleiner Tropfen vereinzelt aus seiner Tasse lief. „Ich bin hinübergeklettert und habe... den Toten eingesammelt, um ihn, nun, um ihn Euch zu überbringen, Eure liebenswürdige Hoheit! Vielleicht taugt er noch als Spiegelei, Eure Hoheit, hihihi!“ Marilyn nahm den ermordeten Humpty Dumpty zögerlich in die Hand, warf einen prüfenden Blick auf ihn und reichte ihn schließlich mit den Worten „Lege ihn doch bitte auf dem Tisch in der Empfangshalle ab!“ an Wache Nummer Zwei weiter, die eben erst an ihren Platz hatte zurückkehren wollen, seiner Bitte jedoch sofort nachkam und kurzzeitig im Schloss verschwand. „Ich werde später mal sehen, was da noch zu retten ist“, ergänzte er mit einer beachtlichen Gleichgültigkeit. „Mir war klar, dass der kleine Nervbolzen irgendwann von seiner tollen Mauer fallen würde. Selbst schuld, sage ich da nur. Bestimmt finde ich einen Ersatz für ihn.“ Alice verkniff sich mühevoll, unschuldig vor sich hinzupfeifen. Sonderlich beliebt schien der Wächter des Labyrinths ja nicht gewesen zu sein. „Eure Hoheit!! Ich... Ich habe Euch noch etwas mitgebracht!“, grinste der Märzhase plötzlich und hielt Marilyn stolz seine Tasse vors Gesicht. „Tee! Nur für Euch!“ Ihre Hoheit betrachtete erst die Tasse, dann ihr Gegenüber. „Da ist nichts drin“, sagte sie feststellend. Schockiert starrte der Hase auf den Grund des Gefäßes, wo nichts weiter als eine winzige Teepfütze zu finden war. „Aber... sie war voll, bevor ich losgerannt bin...! Voll!“ Finde den Fehler, dachte Alice und stellte sich vor, wie der Irre mit der offenen Tasse, die er lose in einer Hand balancierte, durch das Labyrinth und über die Hecke sprang, während der gesamte Inhalt sich auf dem Rasen entleerte. Gut, dass der Hase nicht vorhatte, Postbote zu werden. „Das war bestimmt... diese Eule...!“, murmelte er auf einmal mit verschwörerischer Stimme, blickte sich panisch in der Gegend um, so als wären ihm Dutzende von Verfolgern auf den Fersen, und stieß einen schrillen Laut aus, als die rosa-gekleidete Wache zurückkehrte, der er unverzüglich, wild mit den Armen fuchtelnd, entgegentrat. „Die Eule...!! Hast du sie gesehen?! Sie... Sie will mich ruinieren!!“ Wachmann Nummer Zwei wich vorsichtig einen Schritt zurück, wobei er den Anderen strikt im Auge behielt, und beugte sich dann flüsternd zu Marilyn vor, der das Ganze mit einem amüsierten Grinsen von seinem Platz aus beobachtete. „Majestät... Wollt Ihr ihm nicht langsam eröffnen, weshalb er eigentlich hier ist?“ „Wozu?“, erwiderte Marilyn, schlug die Beine übereinander und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich finde, er gibt bereits jetzt einen passablen Hofnarren ab!“ „HAAAH!!“, schrie der Märzhase, während er ungeschickt auf einen der Sträucher zustolperte. „Die Biene...! Da ist sie ja endlich! Biene, geht es dir gut? Bist du geschrumpft, mein Freund?“ „Flieh, solange du kannst, Biene“, sagte Alice leise und überlegte einen Moment, ob das Tier ihn verstanden hatte, da es tatsächlich schleunigst davonflog. Märzi, der einsam im Gras kniete, kroch zwei Meter in die Richtung, in die das Insekt sich verzogen hatte, hielt dann perplex inne und streckte dramatisch einen Arm in die Höhe, als wolle er nach der Luft greifen. „Bieeeneee...! Nicht du auch noch!“, rief er mit wahrlich ergreifender Verzweiflung. „... Die Eule hasst mich, die Biene hat mich verlassen und die Ente ist tot...! Daran ist nur das Känguru schuld!!“ Nicht sicher, ob er sich mehr unterhalten oder verstört fühlte, sah Alice dem tragischen Schauspiel zu und bedauerte ein wenig, dass er kein Popcorn dabei hatte. Ob das Zusammenleben mit Piepwuff bei dem Kerl einen schweren Zoo-Komplex hervorgerufen hatte? Nicht auszuschließen, wenn man ihn fragte. „Majestät!“, erklang unerwartet eine laute Stimme hinter ihnen, zeitgleich mit dem quietschenden Geräusch des sich öffnenden Schlosstores. Es war General Floyd. „Könntet Ihr kurz ins Schloss kommen? Ich hätte da eine Frage an Euch!“ „Und die kannst du mir nicht von hier draußen aus stellen?“, gab Marilyn ärgerlich an den General gewandt zurück. „Du störst die wunderbare Vorstellung meines neuen Narren!“ „Nun, Majestät...“, druckste Floyd herum. „Es geht um Charlie, Eure Schlange. Mir ist aufgefallen, dass ich ihn länger nicht gesehen habe, und daher wollte ich Euch nur fragen, ob Ihr vielleicht wisst, wo er sich herumtreibt.“ „... Charlie?“ Marilyn setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Keine Ahnung. Der benimmt sich ein bisschen komisch in letzter Zeit, jetzt wo du es erwähnst. Vielleicht hat er sich in irgendeine Ecke verzogen, um sich zu häuten... Was weiß ich.“ „Ich sage es nur ungern, Hoheit, aber ich habe in fast allen Räumen nachgesehen – außer in Eurem Gemach, das habe ich selbstverständlich nicht unerlaubt betreten! – und nirgendwo eine Spur von ihm gefunden. Wollt Ihr nicht selbst einmal nach ihm schauen, nur zur Sicherheit? Er ist... schließlich Euer Haustier, Majestät!“ Seufzend erhob sich Marilyn, nuschelte etwas, das sich wie „Niemals hat man seine Ruhe...“ anhörte, und schritt, auf die Bitte des Generals hin, auf den Eingang des Schlosses zu. Wache Nummer Zwei folgte seinem Beispiel und kam ihm hinterher, wobei Alice den Verdacht hatte, dass er nur einen Vorwand brauchte, um sich schnellstmöglich vor dem Märzhasen zu retten. „Wie fies... Ich werde schon wieder mit diesem Flötenmonster alleine gelassen“, sagte Alice schmollend zu sich selbst, während besagtes Monster bedenklich auffallend – oder vielleicht eher auffallend bedenklich – zu ihm herüberschielte. Wenigstens hatte es die Flöte heute zu Hause gelassen, wie es aussah. „... Du...!“, zischte Märzi kaum hörbar, stand langsam vom Boden auf und bewegte sich schleichend auf ihn zu. „Ich...?“, erwiderte Alice misstrauisch. Der Hase kicherte heiser. „Du bist dieser Besondere... Dieser... Auserwählte!“, wisperte er, ganz auf ihn fixiert, so als wolle er ihn alleine mit seinen vor Wahnsinn strotzdenden Augen einer Gehirnwäsche unterziehen. „Erinnerst du dich daran... was die Haselmaus zu dir gesagt hat?“ „Ähm... Weiß nicht. 'Wuff'?“ Wieder dieses apathische Kichern. „Falsch“, flüsterte er zwischen dem Gelächter beinahe mitleidig. „Das war falsch, mein Freund...“ Ein wenig irritiert wandte Alice den Blick von seinem unberechenbaren Gesprächspartner ab und versuchte, sich an alles zu erinnern, was die Haselmaus ihm gegenüber vom Stapel gelassen hatte. Hatte sie überhaupt etwas Bestimmtes zu ihm persönlich gesagt? Entweder wollte es ihm nicht einfallen oder der Hase wusste schlicht und einfach selbst nicht, was er da faselte. Das wäre schließlich auch nicht weiter verwunderlich gewesen. Bevor er jedoch einen weiteren Gedanken an die verrückten Freaks der Teegesellschaft verschwenden konnte, hörte er, wie erneut das Tor geöffnet wurde, und als er sich umdrehte sah er eine leicht besorgt dreinschauende Herzkönigin, die, begleitet von ihrem wie immer ernsten General und ihrer Wache, auf der Schwelle zum Garten stand und alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte. „Charlie ist verschwunden...!“, brachte sie nervös hervor und blickte zur Seite. „Ich habe ihn gerufen und überall nach ihm gesucht, aber... nicht mal ein Anzeichen dafür gefunden, wo er sein könnte...“ „Majestät! Beruhigt Euch...!“, schaltete sich Wache Nummer Eins dazwischen. „Wo habt Ihr ihn denn zuletzt gesehen?“ „Das ist ja das Problem! Ich weiß es nicht!“, entgegnete sie aufgebracht. „Wenn ich versuche, daran zurückzudenken, ist es, als hätte ich irgendwie... geschlafen! Ich sehe verschwommene Bilder vor mir, aber könnte nicht sagen, wann und wo ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe... Verdammt, warum habe ich nicht besser auf ihn aufgepasst?!“ Alice dachte einen Augenblick nach. Jetzt, da alle darüber diskutierten, wurde ihm bewusst, dass von Charlie wirklich schon seit einer Weile jede Spur fehlte. Allerdings hatte er sich nicht viel dabei gedacht, immerhin war die Rede von einer Schlange – und für eine solche war es nicht ungewöhnlich, in allen erdenklichen Ecken und Winkeln herumzukriechen, wenn ihr danach war. Dass Marilyn aber Gedächtnislücken hatte und sich deswegen nun Vorwürfe machte befand er für wesentlich besorgniserregender, denn sein derzeitiger Zustand konnte bei einem einzigen falschen Wort seiner Diener jederzeit in Wut umschlagen. Und eine wütende Herzkönigin bedeutete nichts Gutes, so viel stand fest. „Seid Ihr sicher, dass Ihr wirklich überall nachgesehen und keine Stelle ausgelassen habt?“, fragte er vorsichtig, während er von seinem Platz aufstand, ebenfalls zu der kleinen Versammlung bei dem Schlosstor herüberging und den Märzhasen vorerst stehen ließ, wo er war. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass... Charlie einfach verschwinden würde, ohne ein Wort zu sagen. Was ist mit dem Garten? Könnte er nicht hier irgendwo sein?“ „Unmöglich“, antwortete Marilyn niedergeschlagen. „Seit dem Frühstück war ich die ganze Zeit hier... Und zwar nicht nur hier vorne sondern auch weiter drüben, und zwischendurch sogar bei der Klippe. Ich hätte ihn bemerken müssen.“ „Bei der Klippe...? Es könnte nicht sein, dass er... vielleicht-“ „Niemals! Nie im Leben würde Charlie nach da unten wollen! Außerdem habe ich längst dafür gesorgt, dass der Ort wieder sicher ist“, erklärte er überzeugt. Alice wusste, dass er die unsichtbare Wand damit meinte. „Aber sag mal... Du hast dich doch gut mit ihm verstanden, nicht wahr?“ „Ja, schon... Wenn man so will“, sagte er und hatte das Gefühl, als würden sie über einen vermissten Sohn sprechen oder dergleichen. „Weißt du nicht vielleicht irgendetwas, das ich nicht weiß? Wo hast du ihn zuletzt gesehen?“, hakte Marilyn nach. Kurz musste er überlegen, bis ihm einfiel, dass die Schlange noch bei ihm gewesen war, als er neben Ozzy und dessen Schwein zu nächtigen versucht hatte. Fish war ebenfalls dabei gewesen. „Tja, also...“, setzte er an, beschloss aber, die Tatsache, dass Charlie laut dem Narren bei der Beschaffung des Kerkerschlüssels geholfen hatte, nicht zu erwähnen. „Das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe, war er mit Fish zusammen – bevor Ihr ihn entlassen habt, versteht sich. Mehr weiß ich leider auch nicht.“ „Mit Fish...?“ Marilyn sah so aus, als wäre er geistig schwer damit beschäftigt, einen vagen Zusammenhang in das Ganze zu bringen. Dann wirkte er plötzlich, als hätte er einen Entschluss gefasst. „Hör zu, Alice. Ich habe eine Aufgabe für dich und bin zuversichtlich, dass du sie problemlos erledigen wirst.“ Er sah ihn hoffnungsvoll an, während er das sagte, und ihm war klar, dass er ihm seine Bitte sowieso nicht würde abschlagen können, egal, was es war. „Ich will, dass du... in den anderen Teil des Wunderlandes zurückkehrst und dort für mich nach Fish suchst. Am besten bringst du ihn wieder hierher, dann kann er es mir selbst sagen, falls er es tatsächlich wagen sollte, irgendetwas vor mir zu verheimlichen.“ Alice gab sich die größte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig Zuversicht er in sich selbst hatte, was diese Aufgabe betraf. Grauenerfüllt dachte er daran zurück, wie oft er sich verlaufen hatte, bevor er beim Schloss angelangt war, weil der Aufbau dieses gesamten Landes nicht im Entferntesten etwas mit Struktur zu tun hatte und sich zudem auch noch hin und wieder auf magische Weise zu verändern schien. „Ich weiß, dass die Welt hinter dem großen Tor sich manchmal etwas eigenwillig verhält“, gab Marilyn überraschenderweise zu Bedenken, was ihn ein wenig erleichterte, da er offenbar nicht der Einzige war, der diesen Faktor als hinderlich empfand. „Aber keine Sorge, ich habe da schon eine Idee, die dir unnötige Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit ersparen wird. Pass auf, nicht jedem wird diese Ehre zuteil: Du darfst dir Black Beauty ausleihen!“ „Was?! Aber Majestät...!“, empörte sich General Floyd, bevor Alice sich selbst dazu äußern konnte. „Ich habe es gerade eben erst mühevoll geschafft, den Schwarzen Ritter davon zu überzeugen, Black Beauty wenigstens für zwei Tage bei mir zu lassen, weil ich sie wirklich vermisst habe. Wir können doch die arme Sau nicht einfach beliebig herumreichen! Das wird sie maßlos verwirren, und wer weiß, wie sich das auf sie auswirken würde... oder auf das Wohl unserer Mitmenschen...“ „Ich fürchte, ich muss Eurem General ausnahmsweise Recht geben, Majestät“, stimmte Alice zu und musste an das schreckliche Schicksal denken, das Ritter Bon Jovis edles Ross ereilt hatte. Es hätte ihn nicht einmal sonderlich gewundert, wenn der Magen dieser Sau Charlies momentaner Aufenthaltsort gewesen wäre. „Außerdem... bin ich dafür total ungeeignet. Ich bin noch nie zuvor auf einem Schwein geritten, wisst Ihr?“ „Macht nicht so ein Drama darum“, sagte Marilyn an ihn und Floyd gewandt. „Ein schlaues Tier von Black Beautys Qualitäten wird kein Problem damit haben, zwischendurch neue Bekanntschaften zu machen. Und du, Alice... Auf einem Schwein zu reiten ist nicht viel anders als auf jeder anderen Kreatur auch. Ich bin sicher, du bist darin ein wahres Naturtalent!“ „So, glaubt Ihr das also...“, gab er unmotiviert zurück, tauschte einen wenig begeisterten Blick mit General Floyd aus, folgte diesem aber doch schließlich, als er ihn gezwungenermaßen zu dem Fleck führte, an dem das prächtige Kriegs-Schwein bereits feierlich grunzend im Gras wartete. „Hmm... Perfekt“, murmelte der General, als er nach der Gießkanne griff, die ganz in der Nähe herumstand, und sie der Sau vor die gefräßige pinke Schnauze hielt. „Merke dir diesen Geruch, Black Beauty...! Der Narr hat hiermit immer die Blumen gegossen. Und jetzt gleich wirst du diesen Geruch da draußen wiederfinden und den netten Typen im Röckchen hier zu unserer Zielperson geleiten! Schaffst du das?“ „Sollte nicht eigentlich ich derjenige sein, der das Tier irgendwohin geleitet?“ „Ruhe auf den billigen Plätzen!“, herrschte der Schweine-Experte ihn an. „Du kannst froh sein, dass dir ein kluges und sensibles Wesen wie Black Beauty zur Verfügung gestellt wird. Also sei gefälligst dankbar! Ohne ihre führende Kraft wärest du ohnehin hoffnungslos verloren.“ Dem konnte er leider kaum widersprechen. „Na, von mir aus... Dann wollen wir mal“, sagte Alice halb zu sich selbst halb zu dem Schwein und machte eine umständliche Verrenkung, um auf dessen Rücken zu steigen, als sein Gegenüber entgeistert zu ihm aufblickte und sich eilig die Hände vors Gesicht schlug. „Oh, bei allem, was irgendwie heilig ist... Ich bin erblindet!“, rief der General leidend und sah ihn an, als hätte er eine grausame Straftat begangen. „Was auch immer du tust – erweise der Allgemeinheit und meiner Sau den Gefallen und setze dich seitlich auf ihren Rücken!“ „Ach... Sowas aber auch! Ich bitte vielmals um Verzeihung“, grinste er amüsiert, ehe er Floyds Aufforderung nachkam, beide Beine zur Seite über die Sau schwang und sich vorsorglich schon einmal in ihrem Nacken festhielt, während sie noch immer damit beschäftigt war, das Gefäß auf dem Boden zu beschnüffeln. „So besser?“ „Ja, allerdings“, knurrte ihr ehemaliger Besitzer, grimmig in Richtung des Heckenlabyrinthes nickend. „Und jetzt zisch ab... bevor ich mir das mit dem Ausleihen anders überlege!“ Alice überging schweigend die Tatsache, dass diese Entscheidung ohnehin niemand anderes als die Königin für ihn traf, und lehnte sich hektisch nach vorne, als Black Beauty ohne Vorwarnung loshechtete und dabei geräuschvoll die Gießkanne umstieß. Es gab mehrere Dinge, die er nach etwa einer Viertelstunde – vielleicht war es auch eine Halbe, zumindest gefühlt erschien ihm das wahrscheinlicher –, die sie nun unterwegs waren, feststellen konnte. Erstens: Ohne das Schwein wäre er wirklich verloren gewesen. Da gab es nichts schönzureden. Spätestens ab dieser furchtbaren Stelle, an der die Grinsekatze manchmal, sofern sie sich denn überhaupt blicken ließ, zwischen all den kahlen Bäumen in der Finsternis auf ihrem Ast thronte, hätte er vermutlich die Orientierung verloren und wenigstens kurzzeitig aufgegeben. Doch diese Station hatten sie glücklicherweise dank der führenden Kraft seiner Partnerin, wie General Floyd es ungefähr ausgedrückt hatte, bereits hinter sich gelassen. Zweitens: Während an Marilyns Hof gerade erst der hellichte Tag begonnen hatte war es hier, im anderen Teil, offenbar schon Abend. Die bunten Farben, die den Himmel erfüllten, hatten sich verdunkelt, die Luft war kühler geworden und eine gewisse Ruhe hatte sich ausgebreitet. Insgesamt machte es einen recht angenehmen Eindruck, jedenfalls weniger anstrengend als es ihm beim letzten Mal vorgekommen war, das er sich hier aufgehalten hatte, auf der Jagd nach den Zwillingen und ihren magischen Karten. Und drittens – eine sichere Tatsache, die sich durch nichts und absolut nichts abstreiten ließ: Mit dieser Sau zu kooperieren war unmöglich. Dass sie ihn bis hierher gebracht hatte war die eine Sache. Dass sie alleine nur im königlichen Irrgarten zwei Mal völlig abrupt angehalten hatte – das eine Mal grundlos, wohl um ein wenig die hübsche Hecke zu betrachten; das andere Mal, um ihr Geschäft zu verrichten – und dann genauso abrupt wieder losgerannt war, als wäre ein schweinefressendes Ungetüm hinter ihr her, war die andere Sache. Es gab auch keine Anhaltspunkte, an denen sich irgendwie erkennen ließ, was ihr gerade durch den Kopf ging. Oder wann sie das nächste Mal eine plötzliche Eingebung bekommen würde, die ihr sagte, sie müsse jetzt dringend schnurstracks mitten auf einen Baum zurennen, nur um dann im letzten Bruchteil einer Sekunde auszuweichen, wenn er zu nahe kam. Dass es da noch einen bemitleidenswerten Auserwählten gab, den sie auf ihrem Rücken trug und der möglicherweise herunterfallen könnte, wenn sie sich wie ein Kirmesgerät benahm, schien sie nicht zu stören. „'Auf einem Schwein zu reiten ist nicht anders als auf jeder anderen Kreatur auch!'“, äffte er die Worte nach, die Marilyn ihm so überaus hilfreich mit auf den Weg gegeben hatte. „Was glaubt der Kerl denn, auf wie vielen Kreaturen ich schon geritten bin?! Der hat vielleicht Nerven...“ Black Beauty grunzte euphorisch. „Ja, ich verstehe schon. Du findest das lustig, was? Mit mir kann man's ja machen. Tut mir leid, dass ich kein Leckerchen dabei habe, falls es das ist, was dich aufregt. Beim nächsten Mal werde ich dran d- Himmel... bitte nicht...!!“ Ohne Rücksicht auf Verluste war das Schwein bereits wieder losgerauscht, zielstrebig geradeaus wie eine verdammte Eisenbahn, nur ungefähr drei Mal so schnell; und als es langsamer wurde sah er den Grund für dieses Verhalten tatsächlich wenige Meter vor ihnen unverkennbar im Gras knien. „... Black Beauty? Und der Auserwählte?“, fragte Fish, dessen auffälliges Kostüm gut und gerne auch als Ampel hätte dienen können, erstaunt und winkte mit einer Handpuppe, die verdächtig nach ihm selbst aussah. „Was macht ihr denn hier?“ „Wir sind im Auftrag der Königin hier. Ich sollte dich ausfindig machen und zurück zum Schloss bringen, weil es da ein kleines Problem gibt“, hatte er eigentlich antworten wollen, heraus kam jedoch nur „... kann nicht mehr...! Urgh... Rührei, bleib wo du bist...!“ „Du liebe Güte“, brachte der Narr besorgt hervor, während er auf die Beine kam, wohl um besser mit ihm reden zu können. „Geht es Euch gut? Ihr seht so blass aus...!“ „Ja... Nein. Dieses Schwein ist der Horror...! Ich schwöre dir, es wollte mich umbringen!“, sagte er, als er ein wenig wackelig von Black Beautys Rücken stieg – der Boden fühlte sich an, als würde er unter ihm hinweggleiten –, und warf dem Tier einen vorwurfsvollen Blick zu. Black Beauty starrte aus unschuldigen schwarzen Augen zurück. „Na klar. Jetzt tut sie wieder so scheinheilig.“ „Hey, ist das nicht der Typ, der uns letztens nach dem Weißen Kaninchen gefragt hat?“, hörte er auf einmal eine Stimme, die nah und gleichzeitig fern schien, krächzen. „Yeah, Mann, das ist er!“, antwortete eine andere ebenso kratzig. „Cool, dich wiederzusehen! Steiles Outfit, Kumpel!“ Alice schaute zu Boden, wo er genau das vorfand, was er erwartet hatte. Selbstverständlich hatte er die Unterhaltung, die er unmittelbar nach seiner Ankunft im Wunderland mit einer Gruppe Hippies der etwas spezielleren Sorte geführt hatte, nicht vergessen. Unglaublich... Lag das wirklich erst einen einzigen Tag zurück? „Yo, freut mich auch fett, euch wiederzusehen... meine Brüder!“, gab er, begleitet von einer hippen Armbewegung zurück, räusperte sich, als er einige verständnislose Blicke erntete, und strich nebenbei sein Oberteil glatt, das bei dem Schweineritt ein wenig verrutscht war. „Danke jedenfalls... für das Kompliment. Das Outfit gehört allerdings nicht mir, das habe ich von der Königin bekommen.“ „Du warst bei der Königin...?“ „Die Königin hat dir etwas geschenkt?“ „Wie war sie sonst so, Kumpel? Das musst du uns genauer erzählen!“ „Naja... Eigentlich ist sie gar nicht so übel“, sagte Alice und wurde sich genau in diesem Moment darüber bewusst, dass Fish neben ihm stand, der kürzlich von der 'gar nicht so üblen Königin' gefeuert worden war. „Also, ich meine... ähm... Verglichen damit, wie sie mit ihren anderen Untergebenen umspringt, ist sie zu mir ziemlich nett... wenn auch vielleicht aus nicht ganz uneigennützigen Gründen.“ „Ist schon okay“, seufzte Fish und sah seine Handpuppe an, als wäre sie derjenige, mit dem er redete. „Ich wurde rausgeschmissen... Das ist nur gerecht. Einen verräterischen Hofnarren will niemand, stimmt's?“ Die Handpuppe nickte bestätigend, ehe sie traurig den hölzernen Kopf senkte. Erst jetzt bemerkte Alice, dass auf seiner anderen Hand eine weitere Puppe steckte – ein blondes Fräulein im blauen Kleid –, die er augenblicklich hervorholte und seine Stimme verstellte, so als würde sie nun zu ihm sprechen. „Aber das ist doch alles halb so schlimm! Schau nur! Hier hast du all deine Freunde um dich herum!“ Fish sah nach unten, wo die zahlreich aus der Erde wachsenden Hippies seinen Blick mitfühlend erwiderten. „Ja, richtig. Die Blumen... Die Blumen sind meine einzigen Freunde“, sagte er, wieder mit seiner eigenen Stimme, und gab einen theatralischen Laut von sich, der seine Wirkung offenbar nicht verfehlte, denn jeder Einzelne seiner kleinen Freunde musterte ihn, als wäre er eine arme Seele, die vom Woodstock-Festival ausgeschlossen wurde. Wenigstens sangen sie diesmal nicht 'San Francisco' in einer unerträglichen Endlosschleife. „Ja... ähm“, versuchte Alice, erneut auf sich aufmerksam zu machen. „Ich störe ja nur ungern bei... was auch immer du hier eigentlich gerade tust-“ „Ich unterhalte meine Freunde, indem ich ihnen ein Stück vorführe! Ein 'Punch and Judy'-Stück!“, unterbrach Fish seinen Versuch gnadenlos und hielt demonstrativ seine beiden Puppen in die Höhe, die Alice einen Moment lang mehr irritiert als unterhalten begutachtete. „Punch and Judy...?“, wiederholte er skeptisch. „Das sieht mir aber eher nach Fish and Cinderella aus.“ „Fish and Chips wären jetzt cool, Bruder“, hörte er eine der Blumen leise zu einer anderen sagen. „Das ist... reiner Zufall!“, verteidigte sich der 'echte' Fish mit einem Gesichtsausdruck, der verriet, dass es alles andere als Zufall war. „Woher wollt Ihr denn wissen, dass Punch und Judy in jungen Jahren nicht so aussahen? Ich habe nämlich vergessen zu erwähnen – in dem Stück geht es um ihre Jugend!“ „Soso... verstehe. Trotzdem solltest du wissen, dass-“ „Wartet, Auserwählter! Judy möchte mir etwas mitteilen!“, rief er abermals dazwischen und hatte unverzüglich die blonde Puppe an seinem Ohr, deren übertriebene Bewegungen wohl symbolisieren sollten, dass sie etwas sagte. Ein interessantes Phänomen bei Puppen, dachte Alice. Bei Menschen hatte er noch nicht beobachten können, dass das Sprechen nur funktionierte, wenn sie derartig herumwackelten. „Und? Was sagt sie?“, fragte er gütigerweise, um dem Narren nicht den Spaß zu verderben. Fish kicherte wie ein kleiner Junge. „Sie sagt, dass sie Euch süß findet, und hat mich gefragt, ob ich ein Date zwischen euch organisieren kann!“, gab er grinsend zur Antwort. Alice sah zwischen ihm und seinen Puppen hin und her. „Hm, ja. Ich habe schon lange keine Frau mehr aus der Nähe gesehen, von daher wäre das vielleicht keine so schlechte Idee. Sag ihr, sie soll später nochmal drauf zurückkommen“, entgegnete er diplomatisch, ein wenig beruhigt, dass nicht Punch die Frage gestellt hatte. „Aber nichtsdestotrotz... Ich bin nicht ohne Grund hier, Fish. Die Herzkönigin ist in Aufruhr und hat mich geschickt, dich zu suchen. Charlie wird vermisst, niemand hat eine Ahnung, wo er sein könnte... und da du der Letzte warst, mit dem ich ihn gesehen habe, soll ich dich zu der Sache befragen. Was weißt du?“ „Ich... äh, nun... Er wird also wirklich vermisst?“, stammelte sein Gegenüber äußerst verdächtig. „Ich stelle hier die Fragen!“, erwiderte Alice scharf. Das hatte er schon immer mal sagen wollen. „Als wir mit Ozz- dem Schwarzen Ritter im Garten waren... da war Charlie noch da, bevor ich geschlafen habe. Als ich dann aufgewacht bin, weil der Weiße und Schwarze Ritter plötzlich irgendwelche unlauteren Dinge neben mir veranstaltet haben, war die Schlange nicht mehr bei uns. Du warst aber die ganze Zeit in der Nähe und hast sozusagen für mich Wache geschoben. Irgendetwas wirst du ja wohl mitbekommen haben, oder nicht?“ Fish zögerte einen Moment, ehe er zur Antwort ansetzte. „Ich habe darauf aufgepasst, dass niemand Euch sieht... das ist richtig“, sagte er abwesend, als würde er den Ablauf der gestrigen Nacht noch einmal in Gedanken durchgehen. „Charlie hat mir dabei geholfen und ebenfalls Ausschau nach den Bediensteten ihrer Majestät gehalten. Als ich gerade damit beschäftigt war, die Blumen ein wenig zu gießen, hat Charlie etwas zu mir gesagt. Sein ungefährer Wortlaut war: 'Die Königin hat ihre Augen überall. Ssselbssst wenn esss jetzzzt friedlich scheint, bin ich sssicher, dassss heute noch jemand im Kerker landen wird'“, imitierte er ziemlich authentisch Charlies Sprechweise. „Ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte, doch dann meinte er, er wolle versuchen, unbemerkt durch den geheimen Gang in den Kerker zu kriechen, um denjenigen, der durch den Zorn ihrer Hoheit dort landen wird, befreien zu können. Deshalb habe ich ihm den Schlüssel für die Fesseln gegeben, den ich noch bei mir hatte. Die Königin hat mehrere davon in ihrem Besitz. Ich dachte, es würde nicht auffallen, wenn einer fehlt.“ Kurz machte er eine Pause und blickte nachdenklich zur Seite. „Er wollte nur etwas Gutes tun und irgendjemandem, der nichts dafür kann, das Tragen dieser schrecklichen Ketten ersparen. Weiter nichts. Ob er das geschafft hat und was er danach getan hat weiß ich auch nicht... da war ich ja nicht mehr am Hof.“ Alice dachte einen Moment lang nach. Es schien, als würde Fish die Wahrheit sagen, doch etwas kam ihm komisch vor. Entweder hatte Charlie hellseherische Fähigkeiten, von denen er bisher nichts gewusst hatte, oder er hatte bloß ein wirklich gutes Gespür für die Entscheidungen seines Herrchens – oder Frauchens, wie man das auch immer sehen mochte. „Hmm... Das ist... alles sehr merkwürdig“, murmelte er und merkte, dass er sich anhörte wie jemand aus einem alten Detektiv-Film. „Die beiden Ritter sind in der Tat kurz darauf in der Zelle gelandet. Dann wollten sie heute morgen also Charlie decken, als sie sagten, sie wüssten nicht...- Jetzt ergibt das auch Sinn! Endlich eine Sache, die sich geklärt hat...!“, stellte er mit einer gewissen Zufriedenheit fest. „Trotzdem... hilft uns das nicht weiter bei der Frage, wo die Schlange abgeblieben ist.“ Fish nickte zustimmend, was die Glöckchen an seinem Kostüm leise zum Klingeln brachte. „Naja“, sagte Alice, sich wieder dem Schwein zuwendend, das sich nicht von der Stelle gerührt hatte, an der er von ihm heruntergestiegen war. „Ich habe meinen Teil des Auftrags fürs Erste erledigt und dich gefunden. Dann komm mal mit...!“ „Was? Wohin soll ich mitkommen?“ „Die Königin will, dass du persönlich mit ihr redest. Auch wenn du mir schon alles gesagt hast, was du weißt... Tut mir leid, aber ich soll nicht ohne dich zurückkehren, das hat sie mir ausdrücklich gesagt.“ „Oh“, machte Fish betrübt. „Aber das geht nicht! Meine Freunde wollen doch wissen, wie das Stück ausgeht!“ „Und das kann nicht bis später warten?“, gab er mit einem Anflug von Ungeduld zurück, woraufhin es von allen Seiten vorwurfsvolle Blicke hagelte. „Okay, okay... Offenbar nicht. Aber dann beeil dich wenigstens und bring dein Stück schnell zu Ende.“ „Warum spielt er nicht einfach mit? Das wär doch endsverschärft, oder?“, hörte er die rauchige Stimme einer der Bartblumen vorschlagen, was allgemein auf Begeisterung zu stoßen schien. Ausnahmsweise hatte er nicht den geringsten Schimmer, was er daraufhin sagen sollte. „Das ist eine grandiose Idee! Warum spielt Ihr nicht einfach mit, Auserwählter?“, rief Fish voller Vorfreude. „Kommt schon, das wird ein Spaß! Ich bin Punch und Ihr seid Judy!“ „Warum muss ich schon wieder die Frau sein?!“, erwiderte er und hätte sich zwei Sekunden später am liebsten für diesen Satz erhängt. Widerwillig ließ er sich neben dem Witzbold im Gras nieder, nahm die blau-gekleidete Puppe, die wie ein Cinderella-Verschnitt aussah, entgegen, und sah sein Gegenüber fragend an. „Und was muss ich jetzt machen...?“ „Erst einmal steckt Ihr sie Euch an, damit Ihr ihr... Bewegung und Leben einhauchen könnt!“, erklärte der Experte für seinen Geschmack ein klein wenig zu enthusiastisch, doch er tat wie geheißen, bewegte probehalber kurz die Arme seiner Figur und hoffte inständig, dass kein anderer Bewohner des Wunderlandes in diesem Moment hier vorbeilief. „Gut. Und jetzt können wir auch schon anfangen! Ach... Die beiden waren übrigens gerade dabei, in einem Ballsaal miteinander zu tanzen. Punch hat sich allerdings ziemlich grob verhalten, weshalb ein kleiner Streit zwischen ihm und Judy ausgebrochen ist. Judy steht nun also einsam und allein in einer Ecke, weint bitterlich vor sich hin und lässt sich von einem Prinzen trösten...“, er zog eine weitere edel gekleidete Puppe von irgendwo hervor, „... der wie aus dem Nichts auftaucht und ihr einen zauberhaften Tanz schenkt!“ Alice starrte erst den schmalzigen Prinzen, dann den Narren, der ihn in der Hand hielt, fassungslos an. „... Nein. Vergiss es. Das mache ich nicht.“ „Spielverderber! Spielverderber!“, kam es sofort missbilligend aus dem Publikum. Fish blickte über die Menge hinweg ins hohe Gras, als läge dort etwas, das gerade jetzt von Belang war, dann schaute er ihn mit einem triumphalen Grinsen an. „Wenn Ihr mitspielt und ich sehe, dass Ihr Euch Mühe gebt... dann bekommt Ihr etwas von mir, das Euch sicherlich von großem Nutzen sein wird“, trällerte er geheimnisvoll. „Nicht unbedingt bei der Sache mit Charlie. Dafür aber bei... allem anderen, würde ich sagen.“ „Ach ja? Bei allem anderen? Was soll das bitte sein?“ „Spielt Eure Rolle, dann werdet Ihr es erfahren! Für nichts und wieder nichts gebe ich es nicht her.“ Seufzend sah er ein, dass er sich wohl oder übel geschlagen geben musste, und beschloss, sich später damit auseinanderzusetzen, wie er seinen Ruf als ehrfurchtgebietender dunkler Lord am besten wiederherstellen konnte. „Okay... Ich verdiene wirklich einen Orden für alles, was ich inzwischen mitgemacht habe“, sagte er leise, drehte sich ein Stück von seinen Zuschauern weg, sodass sie sich besser auf die Puppe konzentrieren konnten, und ließ Judyrella voller Leid die Ärmchen vors Gesicht heben. „Nein, was bin ich traurig...! Mein Mann ist so ein Scheusal... SCHLUCHZ! Keiner versteht mich!“ Gemeinschaftliches Schweigen. Alice spürte genau Fishs Blick auf sich, der mehr sagte als tausend Worte. „Was ist...?“, zischte er und fühlte sich irgendwie sehr unbehaglich. Fish schien bemüht, nicht loszuprusten. „Ein paar Dinge, die wir zu Anfang vielleicht noch klären sollten... Erstens: Eure Stimme muss höher sein. Zweitens: Die beiden sind noch nicht verheiratet. Und drittens: 'Schluchz'...?“ Möglicherweise bildete er es sich ein – aber für einen Moment glaubte er, auch Punch, der Prinz und Black Beauty würden jeden Augenblick in lautes Gelächter ausbrechen. „Was für eine Erbsenzählerei... Ich nenne sowas künstlerische Freiheit!“, gab er vielleicht etwas zu trotzig zurück, ehe er Judy erneut in Position brachte. „Dann eben nochmal... Also: Oooh, was bin ich traurig!! Mein Freund ist so ein Scheusal...! Ich wünschte, ein strahlender Prinz würde plötzlich auftauchen und mich trösten!“ Fish sah so aus, als würde er angestrengt überlegen, ob das nun gut oder schlecht war, entschloss sich offenbar aber doch dazu, sein Stichwort wahrzunehmen und die dritte Figur ins Spiel zu bringen. „Ihr habt nach mir gerufen, holde Maid?“, schnulzte der Prinz, als er die Bildfläche betreten hatte. Judy nahm die Ärmchen von ihren Augen und schaute mit dem gruseligen Lächeln, das sie niemals loswurde, zu ihm auf. „Oh! Ein Prinz! Zufälle gibt's...!“ „In der Tat, das bin ich“, antwortete der Prinz schwülstig und streckte ihr seine nicht vorhandene Hand entgegen. „Nur wegen Euch bin ich gekommen, meine Schöne! Ein junges Mädchen sollte nicht alleine auf einem Ball sein. Darf ich um diesen Tanz bitten?“ „Aber ja, natürlich!“, quietschte Judy glücklich, bevor sie sich bei ihrem Traumprinzen einhakte. „Ach, wie fein! Es gibt also doch noch nette Männer auf der Welt!“ „Selbstverständlich. Nur leider viel zu selten“, flüsterte ihr neuer Partner, während er sein Ärmchen an ihre Taille legte und standesgemäß die Führung übernahm. Alice musste sich zusammenreißen, sich die fürchterlichen Bilder, die ihm augenblicklich in den Sinn kamen, nicht anmerken zu lassen – dass dieses Szenario ihn stark an Marilyns kleinen Solo-Auftritt von heute Morgen erinnerte war nicht unbedingt hilfreich. „Pass auf, Judy!“, rief eine der Blumen aus dem Publikum, als Punch schaurigen Blickes am Rande der imaginären Tanzfläche stand und sich unbemerkt zu ihnen gesellte. Zumindest machte es einen überaus schaurigen Eindruck. Eine Narrenpuppe, die lauernd in der Gegend schwebte und einen mit riesigen Augen fixierte, war nicht unbedingt etwas, dem man nachts gern alleine auf der Straße begegnen würde. „Hallo, Judy! Störe ich etwa?“, lenkte Punch die Aufmerksamkeit auf sich, was den namenlosen Prinzen dazu veranlasste, erschrocken einen Satz nach hinten zu machen. Judy sah ratlos von einem zum anderen. „Punch...! Dich hatte ich... ganz vergessen!“, brachte sie quietschend hervor und fuchtelte aufgeregt mit ihren Ärmchen. „Das habe ich bemerkt“, entgegnete Punch wie ein hölzerner Psychopath. „Kaum bin ich nicht mehr in deinem Blickfeld, angelst du dir einen Anderen und betrügst mich!“ „Ich habe dich nicht betrogen, Punch! Du hast dich, wie immer, daneben benommen, mich alleine gelassen, und plopp, war da plötzlich ein schöner Prinz, der mich aus meinem unerträglichen Elend befreit hat! Ganz anders als du... du grober Klotz!“ „Eine holde Maid braucht viel Liebe, mein Herr“, meldete sich der Prinz an den Narren gewandt zu Wort. Das Publikum hielt erwartungsvoll die Luft an. „Das... Das weiß ich doch! Ich habe es nicht so gemeint... Tut mir leid, Judy!“ „Zu spät, Punch! Ich habe mein Glück mit diesem Prinzen gefunden! Er sieht gut aus, ist zuvorkommend und kann viel besser tanzen als du! Wir werden zusammenziehen und Kinder bekommen und du kannst zugucken, wo du bleibst!“ „Aber holde Maid...! Davon weiß ich gar nichts... Geht das nicht etwas zu schnell?“ „Finde ich nicht! Was soll das nun heißen?!“ „Eurem... Eurem Liebsten geht es ganz schlecht, seht Ihr? Er bereut seine Missetaten! Wollt Ihr ihm nicht verzeihen?“ „Heuchlerei ist das!! Jeden Tag ist es dasselbe mit ihm... Er raucht und trinkt und kommt nicht nach Hause...! Ich habe die Schnauze voll von euch Männern! Ihr seid alle gleich!!“ „Nein, Judy...! Bitte verlasse mich nicht! Ich verspreche, ich werde mich ändern...!“ „Mund halten, Punch! Das hast du mir schon so oft versprochen! Du bist echt das Letzte, Punch!! Ich gehe in ein Frauenhaus!!!“ „... Judy! Das...“ Fishs verzweifelte Miene war unbezahlbar. „Moment mal... Was soll das werden, Auserwählter...?“ „Jetzt sieht er schon Gespenster. Ich sehe hier keinen Auserwählten! Du brauchst dringend Hilfe, Punch!“, quietschte Judy erhobenen Hauptes und dachte nicht daran, ihrem Ex-Freund länger Beachtung zu schenken. Fish lehnte sich etwas vor, in dem Versuch, sich als er selbst bemerkbar zu machen. „Das reicht...!“, bettelte er beinahe. „Ich habe es verstanden, schon gut... Eigentlich war das nicht das Ende, das ich... für die beiden geplant hatte. Das war wirklich hart von Euch...!“ „Hm, tja... Hat sich so ergeben“, gab Alice schulterzuckend zurück. „Du hast vorher nichts von einem Happy End erwähnt, falls ich dich erinnern darf. Du sagtest nur, ich soll mir Mühe geben – und das habe ich!“ „Ja, das... war nicht zu übersehen“, sagte Fish mit einem Unterton, der halb beeindruckt und halb überfordert klang. Dann wandte er sich seinen Freunden im Publikum zu, die noch immer mit starr nach vorne gerichteten Gesichtern wie hypnotisiert die nicht existente Bühne betrachteten. „Fragen wir doch einfach die Zuschauer, ob es ihnen gefallen hat. Wie sieht es aus? War das eine zufriedenstellende Vorstellung?“ Ein paar Sekunden lang war es ganz ruhig, bis der Ruf einer der Blumen die Stille durchbrach: „Das war die abgefahrenste Vorstellung, die ich jemals gesehen habe!“, und kurz darauf begann die gesamte Menge nach und nach zu jubeln, in tobenden Applaus auszubrechen und „Zugabe!“ zu brüllen. Alice grinste, ließ Judy gekonnt eine Verbeugung vor ihren Fans vollführen und schielte nun seinerseits triumphierend zu Fish, der seinem Beispiel scheinbar schweren Herzens folgte und seine beiden Puppen dasselbe tun ließ. „Ihr habt gewonnen“, sagte er zu ihm, mit einem versteckten Hauch von Bewunderung in seiner Stimme. „Das Buch... Es liegt dort hinten. Vielleicht wird es Euch einige... Geheimnisse offenbaren, die Euch dabei helfen könnten, uns besser zu verstehen.“ „Buch? Euch besser verstehen? Wovon redest du?“ „Sieh selbst! Ich habe es neulich gefunden und heimlich mitgenommen. Jemand scheint es verloren zu haben. Eigentlich wollte ich es selbst lesen, doch bisher konnte ich es nur überfliegen“, erzählte Fish mit einem eigenartigen Ausdruck in den Augen. „Ich wette, Ihr, Auserwählter, könnt es besser gebrauchen als ich! Nehmt es!“ Nicht sicher, was er davon halten sollte, streifte Alice sich die Handpuppe ab, stand auf und schlenderte zu der besagten Stelle, um sich selbst von diesem mysteriösen Buch zu überzeugen. Tatsächlich lag es dort – wahrscheinlich hatte Fish es abgelegt, solange er sein Stück aufgeführt hatte, um sich später weiter damit zu beschäftigen –, und als er es aufhob konnte er erahnen, weshalb dieses Teil für ihn so wichtig sein sollte. 'Tagebuch' stand in verschnörkelten schwarzen Buchstaben darauf. Der Einband war dunkelgrau und es schien ziemlich alt zu sein. Es wirkte fast antik, wie ein verstaubtes Artefakt vergangener Zeiten, und auf eine Art einladend, dass man kaum widerstehen konnte, es aufzuschlagen und es sich in allen Einzelheiten anzuschauen. „Wem gehört es...?“, fragte Alice, nachdem er es eine Weile lang bloß betrachtet hatte. Fish war, wie es aussah, schon wieder in die Beziehungskrise seiner Puppen vertieft, die er wohl, nach dem offenen Ende von eben, so rasch wie möglich glattzubügeln versuchte. „Weiß nicht genau“, antwortete er kurz angebunden. „Hab keinen Namen gesehen. ... Du meinst es also wirklich ernst, Punch? ... Oh ja, ich tue alles, damit du mir vergibst! Du gehörst zu mir und ich zu dir, Judy!“ Die vor Kitsch triefenden Selbstgespräche des Narren ignorierend öffnete er das Buch – wenigstens einen Blick hineinzuwerfen konnte ja nicht schaden –, machte einen Schlenker um die Hippie-Blumen und blätterte einmal um, bis er die erste vollständig beschriebene Seite vor sich hatte. Wenn Fish mit seinen Eskapaden fertig war konnten sie schließlich immer noch aufbrechen, dachte er, während er sich neben Black Beauty auf der Wiese einrichtete. Bis dahin konnte er sich zumindest den ersten Eintrag schon einmal ansehen... »Heute habe ich dieses Buch erhalten. Daher habe ich mich entschlossen, es nun einzuweihen, es bis ans Ende meiner Tage mit meinen Erzählungen zu füllen und jeden einzelnen Tag unserer wundersamen Entstehungsgeschichte auf diesen Seiten festzuhalten. Es ist meine Aufgabe, das zu tun, mein persönliches Privileg. Sie haben es mir zum Geschenk gemacht. Jeder von uns – von mir und meinen Brüdern – hat eine eigene Aufgabe bekommen. Einer ist für das große Tor zuständig, damit niemand je unerlaubt hindurchschreitet. Zwei von uns teilen sich die Aufgabe des Prüfers, sie sind für Neuankömmlinge da, die noch nicht verstehen, sich zurechtzufinden. Es ist so, dass hin und wieder neue Wesen aus unserer fabelhaften Welt hervorgehen oder dass sich jemand in ein ihm unbekanntes Gebiet verirrt. Deshalb braucht es die Prüfer, die sich jedes Gesicht merken, die Ordnung im Chaos bewahren und prüfen, wer wann welchen Bereich betritt. Und ich, ich habe dieses Buch, um alles, was hier und fernab des Schlosses passiert, zu dokumentieren. Es hat magische Seiten, hat die Königin gesagt, Seiten, die niemals ausgehen.« Marilyn, dachte er im Stillen. Wem auch immer dieses Buch gehörte, er hatte es von Marilyn bekommen – das war es jedenfalls, was er nach den anfänglichen paar Zeilen annahm. »Zusätzlich wird jeder von uns selbstständig für die Sicherheit des Hofes Sorge tragen. Oberste Priorität ist es, das Königspaar zu beschützen. Zweifellos sind sie die mächtigsten Wesen, die unter unserer Sonne existieren. Trotzdem sind wir dazu verpflichtet, gut auf sie Acht zu geben. Wir wollen es und wir müssen es. Nicht nur, dass es unsere Art ist, ihnen unsere ewige Dankbarkeit zu erweisen... Die Schlange hat es uns aufgetragen. Und die Worte der Schlange sind weise Worte. Wenn man ihren Geschichten glaubt – und das tue ich! –, dann war unser König als erstes da. Seit es den Hof gibt, gibt es auch ihn. Doch er war einsam. Eines Nachts soll er allein auf seinem Gemach gewesen sein. Er blickte in den Spiegel, und auf der anderen Seite ist plötzlich etwas passiert. Sein Wunsch nach einer zweiten Person ging in Erfüllung und sein Spiegelbild formte sich zu seinem Ebenbild, seinem Gegenstück, mit dem er von da an jede Nacht sprach, wenn er es sah. Und irgendwann, wie durch ein Wunder, wurde sie lebendig und fand ihren Weg zu ihm – die dunkle Königin. Seitdem sind sie unzertrennlich und herrschen gemeinsam über alles, was innerhalb und außerhalb des Schlosses liegt... so heißt es. Ich weiß, dass wir ohne die beiden nicht hier wären. Zwar kann ich nicht sagen, wie es geschehen ist, aber dank ihnen sind wir erschienen und Teil dieser Welt geworden, wo zuvor nichts als Dunkelheit um uns herum war. Jetzt ist uns klar, dass es unsere Berufung ist, dem königlichen Paar zu dienen und die helle und die dunkle Seite der Medaille zu hüten wie unser eigenes Leben – bis in alle Ewigkeit.« „Das Königspaar... Ja... aber- Uaah!“ Bevor er die Bedeutung dessen, was er da eben gelesen hatte, wirklich erfassen konnte, wurde Alice bei seinem Versuch, einen sinnvollen Kontext zwischen all den hier angedeuteten Dingen herzustellen, von etwas gestört, das sich verdächtig nach einer Schweinenase anfühlte und das ihn fordernd – unter 'fordernd' verstand sich in diesem Fall 'brutal' – in die Seite stupste. Ehe er sich versah war das Buch im hohen Bogen im Gras gelandet, während Black Beauty ihn aus schwarzen Kulleraugen anstarrte, als wolle sie ihn darauf hinweisen, wie spät es bereits war und dass sie keine Lust mehr hatte, tatenlos herumzustehen. Zögerlich wandte Alice sich der Sau zu und überwand sich dazu, ihr den schweren, breiten Kopf zu kraulen. „Ist ja gut, ich weiß... Siehst du, ich sehe sogar darüber hinweg, dass ich mir wegen dir vorhin vorkam wie ein weggeschmissener Sack voll Matsch“, sagte er verständnisvoll zu seinem Gegenüber, das ihm mit einem lautstarken Schnauben darauf antwortete. „Ganz genau. Wir verstehen uns.“ Noch immer ein wenig durcheinander wegen der zweifelhaften Informationen, die er dem Buch bis jetzt hatte entnehmen können, stand er vom Boden auf und bückte sich noch einmal, als ihm einfiel, dass es ihm heruntergefallen war. Erst, als er die letzte Seite aufgeschlagen sah, bemerkte er, dass er es versehentlich falschherum hielt. Doch was ihm durch diesen zufälligen Umstand nun unübersehbar ins Auge stach ließ kurzzeitig seinen Atem stocken. Auf der hintersten Seite des Buches, inmitten des sonst blanken Papieres, war ein Schriftzug, leicht verschmiert und ebenso eindrucksvoll wie beängstigend: R.I.P. Alicia Unsere Mutter und Königin der Nacht „... Was?“ „Was ist los, Auserwähler? Hat mein Happy End Euch so sehr missfallen?“, hörte er Fish, der anscheinend endgültig mit seinem Problemstück fertiggeworden war, fragen. „Happy End? Nein, ich...“ Schnell klappte er das Buch zu und bemühte sich, nicht allzu offensichtlich danach auszusehen, als hätte er eben eine schockierende Entdeckung gemacht. „Ich fürchte, ich habe Euer... alternatives Ende nicht mitbekommen. War zu sehr in Gedanken.“ „Oh. Wie schade. Nun, dem Publikum scheint beides zugesagt zu haben... Euer Schluss und auch meiner“, lächelte Fish, einen flüchtigen Blick zu den Blumen werfend. Offenbar hatte er ihnen seine Puppen vorübergehend anvertraut – jedenfalls lagen sie ordentlich nebeneinandergereiht dort. „Also dann... Wollen wir gehen? Ich würde es gern hinter mich bringen, wenn ich ehrlich bin. Immerhin habe ich nicht sonderlich viel zu sagen...“ „Ja, du hast Recht. Wir sollten zusehen, dass wir zum Schloss kommen. Ich kriege sonst nachher noch Ärger, weil ich zu lange rumgetrödelt habe. Und wie das aussehen würde will ich mir lieber nicht vorstellen.“ „Mach's gut, Bruder!“, rief eine der Blumen ihnen heiser hinterher, als sie sich schließlich gemeinsam auf den Weg machten. „Und du auch, Schwester! Grüß' mal die Königin von uns!“ Die Rückreise gestaltete sich wesentlich bequemer als es die Hinreise auf dem Rücken der Kriegs-Sau gewesen war. Glücklicherweise war es nun, da Fish ihn begleitete, nicht mehr notwendig, sich von Black Beauty führen zu lassen. Stattdessen trabte sie, erstaunlicherweise, sogar recht brav neben ihnen her. Trotzdem wurde Alice das Gefühl nicht los, dass irgendetwas an der ganzen Geschichte gewaltig faul war. Inzwischen hatten sie bereits die Hälfte des Irrgartens hinter sich gelassen, das Ziel lag also nicht mehr fern. Das Einzige, woran er denken konnte, war jedoch dieser Schriftzug. „Alicia“, hallte es unaufhörlich wie ein Echo in seinem Gedächtnis. Nicht nur, dass dieser Name seinem eigenen auf eine Art ähnelte, die mehr als bloßer Zufall zu sein schien... Auch die Zeile, die in etwas kleineren Buchstaben daruntergestanden hatte, wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Ob Fish es gesehen hatte? Die Widmung auf der letzten Seite des Buches? Viel eher als er es erwartet hatte hatten sie den Hof erreicht. Es war seltsam ruhig und außer Wachmann Nummer Eins, der wie gewohnt vor dem Tor stand, war niemand draußen zu sehen. „Tretet ein“, sagte er in einem Tonfall, der absolut nichts zu einer milderen Atmosphäre beitrug. Was zum Henker war während seiner Abwesenheit hier passiert? Die Stille war regelrecht erdrückend, als er mit Fish die Empfangshalle betrat, die auf den ersten Blick ebenso leer schien wie der Garten. Bei genauerem Hinsehen aber bemerkte er eine Person; eine einzelne Person wie eine Statue, die den großen Saal zierte, seitlich zu ihm und einen Arm an der Wand abgestützt, in der anderen Hand etwas haltend, das wie ein Bild aussah. Marilyn. Seine Züge wirkten wie eingefroren, während er das Bild in seiner Hand betrachtete – ein Schwarzweiß-Foto, wie ihm bewusst wurde. Das Zuschlagen des Schlosstores durchbrach die groteske Stille solange, bis der Nachhall verklungen war und es wieder leise wurde. Marilyn zuckte nicht einmal mit der Wimper. „... Alice...“, war alles, was er irgendwann kaum hörbar hervorbrachte, ehe er sich langsam in seine Richtung wandte und ihm mit unheilvoller Stimme etwas zuzischte: „Du bist schuld...!“ „Wie bitte...? Woran soll ich schuld sein?“, gab Alice deutlich weniger betroffen zurück als es der Wahrheit entsprach. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Etwas stimmte nicht. „An allem“, erwiderte Marilyn – nicht mehr als ein Flüstern und gleichzeitig so voll von Verachtung, dass er aus Stein hätte sein müssen, damit es ihn kalt ließ. Fishs Anwesenheit schien er nicht einmal wahrzunehmen. Alice sah die Augen der Königin, die etwas unsäglich Fremdartiges an sich hatten, doch bevor er die Gelegenheit hatte, ihr länger in die Augen zu sehen, wurde er durch die völlig unvorhergesehene Handlung, die sie im nächsten Moment ausführte, abgelenkt. Das Bild... Er ahnte bereits, um welches Bild es sich dabei handelte. Oder besser gesagt: gehandelt hatte. Denn ohne den geringsten Funken von Reue oder irgendeiner anderen Emotion hatte sie es eiskalt in der Mitte zerrissen, das Bild, von dem er geglaubt hatte, dass es ihr so viel bedeutete. Achtlos ließ die Herzkönigin beide Hälften des zerfetzten Papierstückes zu Boden gleiten, sodass Alice nur ein paar Schritte darauf zugehen brauchte, um sie aufzuheben und das umstrittene Foto selbst einmal genau zu begutachten. Er tat es. Und was er darauf erkannte, jetzt, da er es endlich von Nahem zu Gesicht bekam, war schlichtweg unglaublich – ganz gleich, ob er mittlerweile damit gerechnet hatte oder nicht. Er sah einen Mann und eine Frau, beide edel gekleidet, ein stolzes Paar vor einem gigantischen Schloss. Der Mann war eindeutig Marilyn. Die Frau war... er selbst. Alicia. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)