Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Amy – Akt 2, Szene 3 -------------------- 7 Jahre vor Team Shadows Gründung     Der kalte Wind, der unter Amys Jacke fuhr, roch nach Herbst. Unter die blaugrünen Tannenwipfel, die sich hinter einigen Häusern von Septerna City in den dunklen Himmel reckten, mischten sich rot und gelb belaubte Buchen und Erlen, deren Äste an einigen Stellen schon kahl waren. Es war früher Morgen, und Amy trug, mit einem Bollerwagen bewaffnet, Zeitungen aus. Sie hatte ihre Runde bereits zur Hälfte abgeschlossen. Das Zeitungsaustragen brachte für die anstrengende Arbeit und die unbequeme Uhrzeit wenig Geld ein, aber Amy durfte nicht wählerisch sein, und wenn sie ehrlich war, genoss sie die Ausrede, so lange wach bleiben zu dürfen. Ihr Vater schlief längst. Wenn sie heimkam, würde er wahrscheinlich gerade aufstehen. Sengo lief neben ihr und warf gelangweilt Zeitungen auf Türschwellen. „Du sollst sie vorsichtig hinlegen“, schalt Amy ihr Pokémon. Sengo warf ihr einen kritischen Blick zu. Sie hatte die letzten paar Male vielleicht auch etwas zu viel Schwung in ihren Wurf gepackt … „Na gut, aber nur heute.“ Sie fröstelte. „Es ist aber wirklich kalt.“ Sie hatte begonnen, ihre Pokémon regelmäßig aus ihren Pokébällen zu lassen und auch außerhalb von Training und Kämpfen Zeit mit ihnen zu verbringen. Mebrana war weiterhin jederzeit außer sich, wenn es von ihr gerufen wurde, aber Sengo zeigte seit einigen Wochen sehr wenig Begeisterung für irgendetwas. Noch weniger als früher, musste Amy gestehen. Sie war davon ausgegangen, dass ihre Beziehung sich nach dem Kampf gegen Tim verbessern würde, vor allem, nachdem sie Sengo von dem Plan ihrer Mutter berichtet hatte, sie einem anderen Trainer zu geben, und wie sie sich dagegen gewehrt hatte. Aber seitdem war ihre Beziehung eingefroren. Amy wusste langsam nicht mehr, was sie noch tun sollte. Selbst Milza, bei dem sie so lange gegen die Loyalität für ihre Mutter hatte ankämpfen müssen, schien sich mit der neuen Situation komplett arrangiert zu haben. „Sengo“, sagte Amy, während sie mit dem Bollerwagen weiter die Straße entlangruckelte. „Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Bist du böse auf mich?“ Sengo schnaubte und schüttelte ihren Kopf. „Was ist es dann? Bist du nicht froh, dass wir aus diesem Haus raus sind, weg von meiner Mutter?“ Sengo zuckte mit den Achseln. Frustriert wandte Amy den Blick ab und wurde schneller. Bei Mebrana hatte sie manchmal das Gefühl, seine Gedanken lesen zu können, so offen war es mit seinen Gefühlen, und auch Milza konnte sie meist gut verstehen. Aber Sengo blieb für sie so undurchschaubar wie ein Block Granit. „Ich weiß ja, dass du nicht reden kannst“, sagte sie nach einigen Minuten, in denen Sengo ihre Zeitungen noch lustloser wegwarf als davor. „Aber kannst du wenigstens versuchen, mit mir zu kommunizieren? Ich will, dass wir ein gutes Team werden, egal wie lange es dauert. Kannst du mir nicht einen Vertrauensvorschuss geben?“ Sengo blieb stehen, den Kopf gesenkt. Sie knurrte. Oh je … Amys erster Instinkt war es, einen Schritt zurück zu machen, aber sie zwang sich, stehen zu bleiben. Sengo würde sie niemals verletzen. Sie beobachtete, wie Sengo seine klauenbewährten Pranken vorstreckte und anstarrte. Amy wartete geduldig, bis Sengo den Kopf hob und eine Pfote zur Faust ballte und in ihre andere Handfläche schlug. Sie sah flehend zu Amy. Bitte, versteh mich doch! Amy spürte die Worte in ihrem Herzen. Plötzlich sah sie Sengo klar vor sich. Wieso war sie nur so blind gewesen? Das eine Mal, als sie wirklich ein Team gewesen waren, war im Kampf gegen Tim. In einem Kampf, den sie beide unbedingt gewinnen wollten, als Sengo alles geben musste, als Amy ihre Entscheidung, lieber besiegt zu werden als aufzugeben, akzeptierte und sich voll und ganz hinter sie stellte. „Oh, ich bin so ein Idiot!“ Sie sprang auf Sengo zu, die einen überraschten Schritt zurück machte, und schlang ihre Arme um den weißen Nacken. „Du willst kämpfen, nicht Zeitung austragen. Du langweilst dich zu Tode, seit unser Training aufgehört hat, oder?“ Sengo nickte. Amys Gedanken rasten. All die Jahre, und sie begriff erst jetzt, was es bedeutete, ein Pokémonteam zu haben. Es ging nicht nur um Typ-Synergien oder hohe Level, wie ihre Mutter es Tim und ihr beigebracht hatte, oder ihre eigenen Gefühle. Es ging darum, jedes Pokémon so zu akzeptieren wie es war, und es dementsprechend zu fördern. Mebrana war sensibel und einfühlsam. Es brauchte Liebe, und davon abgesehen war es ihm egal, ob es Kämpfe bestritt oder quengelnde Kinder bei den Hausaufgaben betreute. Milza war loyal und folgsam, ein Pokémon, das seinen Trainer erst respektieren musste, bevor es gehorsam war, aber danach konnte man sich kein besseres Teammitglied wünschen. Und Sengo … Sengo war unnahbar und eine Einzelgängerin, aber am Ende des Tages war sie eine Kämpferin, die durch gemeinsame Herausforderungen Vertrauen fasste. Milza und Mebrana mochten den Wandel in ihrem Lebensstil ohne Probleme verkraftet haben, aber Sengo verkümmerte. „Es tut mir leid“, flüsterte Amy in Sengos weiches Fell. „Ich weiß, dass Papa nicht möchte, dass ich trainiere, aber zusammen kriegen wir das hin, Sengo. Ab morgen fangen wir an.“ Sengo presste sie eng an sich. Amy wünschte, sie könnte den Gesichtsausdruck ihres Pokémons sehen, aber sie würde nie im Leben freiwillig diese Umarmung unterbrechen. Als Sengo sie wieder absetzte, wirkte ihre Miene etwas entspannter. Amy wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sengo schnaubte. „Ich weine nicht, du weinst!“ Sie drehte sich verlegen weg. „Und jetzt los, wir haben noch einen ganzen Packen Zeitung auszutragen, und—“ Ein Windstoß erfasste besagten Packen Zeitungen und riss eine Handvoll Exemplare mit sich, die zerfleddert auf der Straße landeten. „AHHH!“ Amy rannte los, um die Zeitungen einzusammeln, bevor sie wegflogen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Sengo dem ihr nächsten Exemplar nachhechtete. Nach einer Minute panischem Hin- und Herlaufen hatten sie alle Zeitungen wieder im Bollerwagen. „Puh, das war knapp.“ Amy wischte sich den Schweiß von der Stirn. Da fiel ihr Blick auf eine der aufgeschlagenen Seiten. Es war ein kleiner Randartikel auf Seite 17.     Stratos-Atelier öffnet die Tore   Stratos City, die Stadt, über der glückliche Wolken dahinziehen, ist bekannt für ihr modernes Flair und ihre künstlerische Ader. Das berühmte Stratos-Atelier, ein Ort für Künstler, ihre Gemälde und Skulpturen auszustellen, veranstaltet zum ersten Mal seit seiner Eröffnung vor 15 Jahren einen Tag der offenen Tür. Künstler aus ganz Einall sind eingeladen, hinter die Kulissen zu blicken, mit erfahrenen Kuratoren und Galeristen ins Gespräch zu kommen und ihre Kunst vorzustellen. Die besten Künstler und Künstlerinnen werden in der Ausstellung „Vom Winde verweht“ vorgestellt, die am 1. Dezember stattfinden wird. Es gibt—   Weiter las Amy nicht. Sie ließ die Zeitung sinken. „Das ist es, Sengo“, flüsterte sie und starrte in die Ferne, nach Westen, wo hinter den Wäldern die Himmelspfeilbrücke wartete. „Wir müssen nach Stratos City.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)