Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Amy – Akt 2, Szene 1 -------------------- 7 Jahre vor Team Shadows Gründung     Liebe Ronya, Es ist einiges passiert, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Ich habe dir nie die ganze Wahrheit über meine Familiensituation erzählt, und jetzt—   Amy ließ die Finger auf der Tastatur ruhen. Um sie herum herrschte Chaos. Halb ausgeräumte Koffer und Kartons stapelten sich bis zur Decke des kleinen Ateliers ihres Vaters und versteckten die zahllosen Topfpflanzen, die überall auf den Regalen standen. Es war inzwischen zwei Wochen her, seit ihre Mutter das Heartoline-Anwesen ohne jegliche Vorwarnung verkauft und sie beide damit essentiell auf die Straße gesetzt hatte. Ihnen war gerade genug Zeit geblieben, ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen und diese mit der Hilfe eines mitleidigen Taxifahrers etappenweise in die Stadt zu fahren. Amy starrte auf die Leinwand, die hinter mehreren Koffern begraben lag. Seit ihrem Umzug hatte ihr Papa kein einziges Bild gemalt. Jedes Mal, wenn er nach dem Pinsel griff, seufzte er schwer und verließ das Haus. Wenn er zurückkam, roch er säuerlich und seine Wangen hatten rote Flecken. Amy war froh, dass er sich zumindest nicht im Haus betrank. Es gab nichts, was sie tun konnten. Sie waren zur Polizei gegangen, hatten jede befreundete Familie und noch so entfernte Verwandtschaft abtelefoniert. Catherine und Tim waren wie vom Erdboden verschluckt. Das Eingabefeld in der E-Mail blinkte Amy ungeduldig an.   —hat sich die Lage noch verschlimmert. Meine Mutter hat mit meinem Bruder vermutlich die Region verlassen. Ich werde ihn nie wiedersehen—   Amy wischte sich wütend die Tränen weg, die ihre Sicht verschleierten.   —und sie hat ein für alle Mal bewiesen, dass ich ihr egal bin. Es ging immer nur um Tim, ich war zu schwierig, zu faul, zu alles.—   Sie trat gegen das Tischbein. Ihre Schultern bebten vor unterdrückten Schluchzern. Ihr Blick fiel auf Ronyas E-Mail, auf das Postfach, gefüllt mit Emails von Amy, Amy, Amy.   —Aber warum erzähle ich dir das überhaupt. Du hast es sehr klar gemacht, dass ich dir genauso wenig bedeute wie jedem anderen. Seit Wochen antwortest du nicht auf meine Emails. Wahrscheinlich siehst du die Nachrichten im Posteingang und rollst die Augen. „Amy schon wieder, wann kapiert sie es endlich?“ Keine Sorge, jetzt habe ich es kapiert. Das ist die letzte Nachricht, die du von mir erhalten wirst. Leb wohl.   Den letzten Punkt setzte Amy so energisch, dass das Klicken im kleinen Raum widerhallte. Sie hielt den Mauszeiger über Senden. Es wäre so einfach. Ein Klick, und sie würde ihre begonnene Freundschaft mit Ronya im Keim ersticken. Das hat sie doch schon längst getan! Aber trotzdem konnte sie sich nicht dazu durchringen. Ihre Wut, die sie durch die E-Mail begleitet hatte, war mit dem Setzen des letzten Satzzeichens verraucht. In dem Moment klingelte es an der Tür. Amy atmete tief durch. Vielleicht war es nur der Postbote. Oder ein Nachbar, der sich Mehl leihen wollte. Bitte lass es nicht der Vermieter sein. Sie waren zwar erst vor zwei Wochen vollständig eingezogen, aber der Vermieter hatte ihre Familiensituation mitbekommen, da die Miete nicht mehr mit dem Konto ihrer Mutter verbunden war und nun klingelte er jeden zweiten Tag und er fragte ihren Papa nach seinem Einkommen und wann er die nächste Zahlung tätigen wolle, diese sei schließlich schon überfällig. Nur nicht er. Sie entriegelte die Türkette und öffnete die Tür. Ein Polizist mit stahlgrauem Bart stand vor ihr. Über seiner Schulter hing ihr betrunkener Papa. Amy hasste sich für die Scham, die sie bei dem Anblick empfand. Papa hatte allen Grund, traurig zu sein. Und du nicht? Der Polizist hatte den Mund bereits geöffnet, mit dem hilflosen Blick eines Mannes, der eine Schimpftirade vorbereitet hatte, welche aber nicht für einen Teenager bestimmt war. Er räusperte sich. „Ihr Vater?“ Amy nickte. „Können sie ihn hereinbringen?“ „Selbstverständlich.“ Er spähte an ihr vorbei. „Auf … das Sofa dort hinten?“ „Nein“, sagte Amy und trat zur Seite. „In die Dusche.“ Ein grimmiges Lächeln formte sich in seinem Gesicht. „Mit Vergnügen.“ Es dauerte einige Minuten, bis der Polizist ihren Papa durch das Chaos des überfüllten Ateliers manövriert und in dem zu kleinen Badezimmer in der Dusche abgesetzt hatte. Als er sich aufrichtete, ächzte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Amy fragte sich, wie weit er ihn schon getragen hatte, bevor sie hier angekommen waren. Da ihre Mutter sie nie in die Stadt gelassen hatte, kannte sie keine Geschäfte oder Kneipen in der Nähe. „Danke, dass sie ihn heimgebracht haben“, sagte sie an der Haustür, bevor der Polizist die Treppen hinuntergehen konnte. „Wenn er nicht bald heimgekommen wäre, hätte ich mir große Sorgen gemacht.“ „Jederzeit, Miss.“ Auf der Treppe blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu ihr um. „Mein Name ist Officer Jordan. Wenn Sie Probleme haben, oder er Ihnen Angst macht … zögern Sie nicht, in unserer Zentrale anzurufen und nach mir zu fragen.“ Amy brauchte einen Moment, bevor sie begriff, was er andeutete. „Das wird nicht nötig sein, danke.“ „Ich hoffe nicht, Miss. Auf Wiedersehen.“ Amy kehrte mit klopfendem Herzen in das Atelier zurück. Die Kartons, die vollgestellten Möbel, die unbemalte Leinwand … alles drückte plötzlich auf sie ein. Sie war allein. Ihre Mutter hatte sie verlassen. Ihr Bruder war freiwillig mit ihr gegangen. Und nun versank ihr Papa, die einzige Person in ihrem Leben, auf die sie sich noch verlassen konnte, im Suff. Sie stapfte ins Bad und blieb vor der Dusche stehen. Sie erkannte ihren Papa kaum wieder. Sein Haar glänzte fettig, sein Bart wirkte ungepflegt und er hatte Schmutzflecken auf seinem Hemd. Keine Farbkleckse wie sonst, sondern verschüttetes Bier. Er schwitzte, sein Gesicht war fleckig und er stank nach kaltem Rauch. „Tut mir leid, Papa“, sagte Amy, machte die Dusche an und drehte sie auf die kälteste Stufe. Ihr Papa quietschte und schlang die Arme um sich, als eiskaltes Wasser über seinen Kopf und den Rest seines Körpers prasselte. „A-Amy! Was soll das?“ „Das sollte ich dich fragen!“ Amy ging vor ihm in die Hocke und wartete, bis er ihr trotz der Kälte in die Augen sah. Er wirkte wach und ansprechbar. Gut. „Ich brauche dich! Der Vermieter schmeißt uns raus, wenn wir nicht bald die Nachzahlung machen und du verbringst jede freie Minute damit, in Kneipen dein Leid zu klagen und dich zu betrinken? Wenn du nicht malst, haben wir kein Einkommen. Dann sitzen wir in ein paar Wochen auf der Straße und Mama hat gewonnen.“ „Catherine … Tim … sie hat ihn einfach mitgenommen. Sie hat ihn entführt.“ Amy schossen die Tränen in die Augen. „Ich vermisse ihn doch auch, verdammt!“, schrie sie. „Aber Tim wollte mit ihr mitgehen. Sie hatte ihn zu lange unter Kontrolle! Er hat drei starke Pokémon, wenn er wirklich nicht hätte mitgehen wollen, wäre es zu einem Kampf gekommen und der hätte uns auf jeden Fall aufgeweckt. Tim ist freiwillig bei ihr. Ich hoffe, dass wir ihn wiederfinden, aber jetzt müssen wir erstmal unser Überleben sichern, verstehst du nicht?“ Ihr Papa starrte sie an. Dann breitete er die Arme aus und begann zu weinen. „Oh, Amy. Es tut mir so leid. Ich bin ein schrecklicher Vater.“ Sein strenger Geruch, die Flecken, das kalte Wasser, nichts davon hielt Amy auf. Sie warf sich in seine Umarmung. „Du bist der beste Papa der Welt. Jeder macht Fehler, aber jetzt müssen wir uns zusammen aufrappeln. Ich bin den Schulkindern weit voraus, ich wette ich könnte Nachhilfe anbieten und etwas Geld verdienen und … und dir beim Malen helfen. Notfalls kann ich auch Pokémonkämpfe austragen und Orden sammeln, das bringt etwas Geld—“ „Nein!“ Ihr Papa krallte seine Finger in ihr Haar, bis es schmerzte. „Keine Orden. Du siehst, was es aus deiner Mutter gemacht hat. Ich will nicht, dass du in dieselbe Falle tapst. Nein, wir kommen schon durch. Ich bringe uns durch. Von jetzt an male ich, bis mir der Arm abfällt.“ Als Amy etwas später alleine in das Atelier trat, drang das Geräusch der jetzt warmen Dusche durch die Tür zu ihr. Sie fühlte sich aufgewühlt, aber gestärkt. Zusammen würden sie das schon durchstehen, fieser Vermieter hin oder her. Ihr Blick fiel auf den PC, an dem sie vor kurzem noch die E-Mail an Ronya abgetippt hatte. Sie presste die Lippen zusammen und setzte sich an den Schreibtisch. Als sie das Postfach öffnete und ihre Nachricht erneut las, fühlte sie sich elend. Wie hatte sie so etwas fast abgeschickt? Ronya hatte sie vielleicht vergessen, aber ihre gemeinsame Zeit in Jubelstadt, ihre Freundschaft … das war echt gewesen. Amy löschte die Nachricht und kehrte in das leere Postfach zurück. Nur dass es nicht mehr leer war. Ronya hatte geantwortet. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)