Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Chris – Akt 2, Szene 1 ---------------------- 8 Jahre vor Team Shadows Gründung   „Sie werden uns irgendwann einholen“, informierte Chris Jayden, während sie beide eng nebeneinander auf einem fetten Ast im Vertania Wald hockten und von oben Ausschau nach Gegnern hielten, die hier regelmäßig ihre Runden machten. „Das weiß ich selbst“, grummelte Jayden und zog die Schultern hoch. „Wolltest du nicht ein Pokémon fangen?“ Chris nickte ernst. Nach einer sehr durchwachsenen Nacht unter der Hecke waren sie früh am nächsten Morgen von einem Versteck zum nächsten gehuscht, bis zwei Tage später endlich die hohen Baumkronen des Vertania Walds über ihnen aufragten. Obwohl es schon so lange zurück lag, konnte Chris sich noch genau an das Hämmern ihres Herzes erinnern, die nasskalte Angst, als plötzlich der Schatten eines Tauboss den Mond verdeckte und bis zum Morgen seine Kreise zog, bis es schließlich nach Norden abdriftete. Jayden hatte ihr erklärt, dass Blue von einer jungen Laborantin namens Nikola begleitet wurde, die wiederum Jayden suchte, weil er das Glumanda gestohlen hatte. Es sah nicht so aus, als würden sie die beiden Verfolger so schnell loswerden. Chris war nicht glücklich darüber, von Jayden in diese Sache hineingezogen worden zu sein, aber die Tage, die sie mit ihm verbracht hatte, hinterließen ein glückliches Gefühl in ihrer Brust. Sie wollte noch nicht darauf verzichten. Und solange es ihre Entscheidung war, mit ihm zu reisen, war alles andere nebensächlich. Chris rutschte auf dem Ast vor und lugte hinunter ins hohe Gras. Der Vertania Wald war für zwei Dinge berüchtigt: die Käferpokémon und  ihre Sammler, die sich hier gleichermaßen dicht tummelten und keine Gelegenheit zum Kampf ausließen, und eine sehr menschenscheue Pokémonart, die nur mit Glück oder sehr viel Ausdauer gefangen werden konnte. Und Chris hatte es nicht auf die Käfer abgesehen. Neben ihr wand sich Jayden auf seinem Sitzplatz hin und her. „Mich piekst so ein Knubbel“, informierte er sie genervt. Chris ignorierte die Beschwerde und sprang von ihrem Ast, kaum dass der kleine Junge unter ihnen hinter einer Gruppe Bäume verschwunden war. Jayden folgte nur wenige Sekunden später. Geduckt schlichen sie durch das hohe Gras. Chris trat fast auf ein Hornliu, das noch dort lag, wo es von dem Trainer besiegt worden war und sich langsam aufrappelte. Jayden befingerte zum wiederholten Mal seinen Pokéball. „Wir dürfen nicht herausgefordert werden“, sagte er und beschleunigte seine Schritte, um mit Chris mitzuhalten. „Ich kann hier nicht kämpfen.“ „Warum nicht?“ „Mein Glumanda würde den ganzen Wald abfackeln! Hast du meinen Schlafsack vergessen?“ „Andere Trainer schaffen es auch, mit Feuerpokémon in Wäldern zu kämpfen“, entgegnete Chris, die nur mit halbem Ohr bei der Unterhaltung war. Sie hielt Ausschau nach Büschen, von denen ungewöhnlich viele Beeren fehlten, nach kleinen Fußspuren im weichen Boden zwischen dem Gras. „Vielleicht haben andere Trainer weniger feurerfreudige Glumanda.“ „Vielleicht bist du einfach kein guter Trainer.“ „Sag das nochmal!“ „Vielleicht bist du einfach kein—“ „Du sollst es nicht wirklich … ach, ist schon okay.“ Sie liefen weiter. Versteckten sich—wieder—in einer Hecke, als Trainer in Sichtweite kamen. Verharrten reglos, bis sie vorbei waren. Suchten weiter. Es war später Abend, als Chris endlich einen gelben Schatten hinter einem Baum verschwinden sah. Aufgeregt packte sie Jaydens Hand und zerrte ihn mit sich, aber das Pokémon war schon geflohen. Einige Minuten lang verfolgten sie die Spur, aber es war vergebens. Das Pokémon war weg. „Lass uns schlafen“, keuchte Jayden neben ihr. Kleine Äste steckten in seinem braunen Haar und ein blutiger Kratzer verlief über seine Wange. „Wir haben die letzten Nächte fast kein Auge zugetan. Ich kippe gleich um.“ Sehnsüchtig sah Chris in die dunklen Blätter, in denen ihr zukünftiger Starter verschwunden war, aber Jayden hatte Recht. Es wurde zu dunkel, um gut sehen zu können, und ihre Knie fühlten sich wacklig und weich an. Sie war genauso müde wie er. „Morgen suchen wir weiter“, ermahnte sie ihn. Er stöhnte erleichtert auf und ließ sich unter dem nächstbesten Busch nieder. „Ja doch. Jetzt leg dich hin. Die Erde ist hier nicht so hart und wurzelig.” „Wurzelig? Ist das ein Wort?“ “Jetzt schon. Nun komm schon.” Chris sank neben ihm auf die weiche Erde. Es roch nach Harz, dem süßlichen Geruch der Beeren an den Sträuchern und ihrem gemeinsamen Schweiß. Das Laub raschelte über ihnen im seichten Wind. Kokuna klackerten mit ihren Mundwerkzeugen. Es war ein sehr einschläferndes Geräusch, wie Chris bald feststellte. Sie hatte kaum die Augen geschlossen, da schlief sie schon. Das letzte, was sie hörte, war Jaydens Schnarchen.     Früh am nächsten Morgen begann ihre Suche von neuem. Sie aßen einen Teil ihres Proviants, tranken gierig aus den mitgebrachten Wasserflaschen und hielten stetig nach Gegnern Ausschau, die es zu umgehen gab. Aber auch an diesem Tag hatten sie kein Glück. Jayden wurde ungeduldig, das spürte Chris. Er lief langsamer, grummelte mehr und benahm sich insgesamt unerträglich. Am vierten Tag ihrer Suche war sie bereit, ihn einfach zurückzulassen und alleine weiterzumachen, als sie plötzlich ein Fiepen wahrnahm. Jayden lag abseits mit dem Rücken zu ihr; es war ein furchtbar heißer Tag und der Schweiß tropfte Chris das Kinn herunter. Sie hatten frühzeitig abgebrochen und wollten am Abend, wenn es kühler war, weitersuchen. Doch jetzt setzte Chris sich auf. Sie war nicht sicher, ob sie sich das Geräusch nur eingebildet hatte, aber sie würde nicht schlafen können, wenn sie es nicht überprüfte. Jayden grummelte etwas undeutliches, als sie sich erhob, aber sie ließ ihn liegen. Fahles Mondlicht fiel zwischen einigen Löchern in den Baumkronen auf das plattgetretene Gras. Chris atmete kaum, als sie der Quelle des Fiepens folgte. Es erklang ein zweites Mal, kaum dass sie zwischen zwei Baumstämme getreten war, lauter dieses Mal. Sie war ganz nah dran. Der Wald lichtete sich. Chris fand sich einem Baum gegenüber, der breiter war als alle umstehenden. In den dicken Ästen hingen große, grüne Kokons. Nein, keine Kokons. Safcon. Dutzende von Safcon. Und inmitten davon, in ein Wirrwarr aus klebrigen Fäden gewickelt, strampelte ein kleines Pikachu. Es fiepte kläglich und ruckte in seinem Gefängnis hin und her, doch alles, was es damit bewirkte, war eine träge Drehung. Kraftlos ließ es ab und sah zu Chris hinüber. Sie trat näher heran. Ihre Hand lag bereits auf ihrem leeren Pokéball, aber sie zögerte. Hier war das Pokémon, nach dem sie seit Tagen suchte, ohne das sie ihre Reise nicht weiterführen konnte, aber es war wehrlos, gefangen. Es hatte keine Wahl. Es hier und jetzt zu fangen, ohne Mühe ihrerseits, kam ihr falsch vor. Stattdessen zog sie die Schere aus ihrem Rucksack, mit dem sie immer ihr Haar schnitt, und ging auf den Baum zu. Ein Zischen ließ sie innehalten. Raupy krabbelten aus den Schatten auf sie zu, Köpfchen bedrohlich erhoben und mit den kleinen Zähnen klackernd. Chris hob die Schere, blieb jedoch stehen. „Ich will nur das Pikachu befreien“, sagte sie. Die Raupy wurden immer mehr, so als kämen sie aus allen Winkeln des Waldes, um sie zu verjagen. „Lasst mich durch“, verlangte Chris. „Ich glaube kaum.“ Chris zuckte zusammen und drehte sich um. Die Stimme stammte von einem kleinen Mann mit dichtem, weißen Bart, der mit Blättern und Ästchen gespickt war. Er stützte sich auf einen knorrigen Stock, der über seinen Kopf ragte. An seiner Seite schwebte ein blassviolettes Smettbo, dessen weiße Schmetterlingsflügel im Mondlicht glitzerten. Blutrote Augen schauten sie durchdringend an. „Warum nicht?“, fragte Chris. „Das Pikachu ist gefangen. Ich will es befreien. Was ist daran falsch?“ „Dieses Pikachu ist verantwortlich dafür, dass die Safcon dieses Waldes seit Monaten keine Entwicklung zustande bringen. Dass wir es nun endlich unschädlich gemacht haben, ist ein Segen. Befreien willst du es? Nur über meine Leiche.“ „Wer bist du überhaupt?“ „Ich bin Nick, der Wächter der Käferpokémon in diesem Wald“, erklärte der Alte. Er machte einen Schritt auf sie zu. „Früher war ich ein Käfersammler wie die Kinder, die heutzutage den Wald durchqueren, aber das ist lange her. Ich habe mich den Raupy, Hornliu und all ihren Entwicklungen verschrieben. Und du bist ein Eindringling, der das Gleichgewicht in dem Vertania Wald stören will.“ „Ich will nur das Pikachu.“ „Du willst es freilassen. Für ein, zwei Tage wird uns vielleicht in Ruhe lassen und seine Wunden lecken, aber dann wird es sein bösartiges Spiel weitertreiben. Es wird die Beerenvorräte plündern, die von den Raupy so mühsam für ihre Freunde angelegt wurden, es wird die Kokons stören, die Fäden zerbeißen, die sie an dem Baum befestigen, es wird mich tagsüber verfolgen und mir keine Ruhe mit seinen Streichen lassen. Es ist ein Unruhestifter, ein Störenfried und ich will es nicht frei in meinem Wald herumlaufen sehen!“ Das Smettbo schlug zustimmend mit den breiten Flügeln, die Raupy, die Chris inzwischen von allen Seiten umringt hatten, wiegten die Köpfe. Ein übelriechender Gestank ging von ihnen aus. Chris hielt sich die Nase zu. „Nun geh, bevor wir dich zu dem Racker an den Baum hängen“, forderte der Wächter und trat bedrohlich vor, als eine Gestalt durch das Unterholz brach, durch die Luft flog und ihn mit sich zu Boden riss. Sie erkannte das hellbraune Haar sofort. Jayden musste ihr gefolgt sein. Chris konnte nicht anders. Sie kicherte bei dem Anblick, den die beiden so ineinander verknotet auf dem Boden boten. Jayden stöhnte, doch bei dem Geräusch schoss sein Blick zu ihr. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er bemerkte erst, worauf er gelandet war, als Nick ihn mit seinem Gehstock auf den Kopf haute und sich unter ihm befreite. „Ein hinterhältiger Angriff auf einen alten Mann“, spuckte er und rieb sich den Rücken. „Zu meiner Zeit —“ „Was ist hier los?“, fragte Jayden und sah sich angewidert um. „Warum sind hier so viele Raupy? Warum hängen da Safcon? Warte, ist das nicht …“ „Lasst mich einfach zu dem Pikachu durch“, wiederholte Chris. „Es wird euch nicht mehr belästigen, das verspreche ich.“ „Warum sollte ich dir trauen?“, fauchte der Alte. „Safron, greif an! Schlafpuder und Windstoß, schnell!“ “Einen Moment!”, schrie Jayden gedehnt und hob seinen Pokéball. Das Smettbo, das bereits die Flügel Richtung Chris erhoben hatte, hielt inne. „Hat sie denn kein eigenes Pokémon?“, fragte der Wächter verwirrt. „Nein, hat sie nicht. Aber ich wollte eigentlich sagen, dass ihr wirklich nicht gegen uns kämpfen solltet.“ „Warum nicht?“ Der Alte schlug mit dem Stock auf den Boden auf. „Ihr seid uns haushoch unterlegen! Seht ihr nicht die Raupy hier? Mein eigenes Smettbo, das stärker ist als alle Pokémon der Trainer, die hier durchkommen?“ Chris stutzte. „Was hat das mit Häusern zu tun?“ „Das ist schon wahr“, sagte Jayden, ohne auf sie zu achten. „Aber ich habe hier ein sehr feuerfreudiges Glumanda, und sobald ich es aus seinem Ball lasse, wird es hier alles und jeden abfackeln, der ihm vor die rote Schnauze kommt. Wenn dann noch der Windstoß von dem Smettbo dazukommt … Ich glaube nicht, dass ich den Kampf gewinnen würde, aber ich bin besorgt, dass der Wald so ein Feuer nicht überleben wird. Zumal wir seit Wochen keinen Regen mehr hatten.“ Smettbo legte den Kopf schief. Die Raupy hielten inne. Der Wächter runzelte die faltendurchfurchte Stirn. „Da ist was dran“, gestand er. Sein Blick huschte zu den Safcon, die sanft in der Brise baumelten und völlig ungeschützt waren. Er sah wieder zu ihr. „Dieses Pikachu“, sagte er gedehnt. „Was willst du damit?“ „Es fangen”, sagte Chris. “Aber ich möchte es mir verdienen.“ „Verdienen sagst du … Dann schneid es vom Baum und fang es. Im Gegenzug helft ihr zwei mir morgen, die Beerenvorräte wieder aufzubauen und die Safcon zu beschützen. Aber danach verlasst ihr den Wald. Und ich will, dass dieses Teufelspokémon nie mehr auch nur eine Pfote in meinen Wald setzt, verstanden? Sonst hetzte ich euch die gesamte Käferschaft auf den Hals, Waldbrand hin oder her.“ Chris nickte. „Einverstanden.“ Die Raupy huschten zur Seite und machten den Weg für sie frei. Am Baum angekommen zückte sie ihre Schere. Die angsterfüllten Augen des Pikachus entspannten sich, als es von dem Ast herabgeschnitten wurde. Chris hob den Pokéball. Sie war nicht zufrieden mit der Art, wie sie an ihren Starter kommen würde. In ihrem Kopf hatte sie es sich immer schwierig vorgestellt, eine wochenlange Jagd, an deren Ende sie verschwitzt und mit den Kräften am Ende ihr Pokémon in die Enge gedrängt hatte und es endlich fing. Aber sie dachte an all die anderen Trainer, denen die Starterpokémon einfach in die Hand gedrückt wurden, jene, die das nächstbeste Pokémon fingen, ohne dafür arbeiten zu müssen. Vielleicht hatte sie es sich verdient, dieses Pikachu zu fangen. Der Pokéball sprang auf und rotes Licht umfing die Elektromaus. Der Ball ruckte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Klick. Chris lächelte ihr breitestes Lächeln. Ihre Pokémonreise konnte endlich beginnen. Warte nur Red, dachte sie und sah hinauf in den Sternenhimmel. Ich hole dich ein. Und ich werde gewinnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)