Prelude of Shadows von yazumi-chan (Die Team Shadow Chroniken) ================================================================================ Ryan – Akt 2, Szene 2 --------------------- 9 Jahre vor Team Shadows Gründung Hanna. Für Ryan war sie stets nur Schwester Joy gewesen, die einzige Erwachsene, die ihn ernst genommen und nicht wie ein Kleinkind behandelt hatte. Es fiel ihm schwer, sich die Tatsache einzugestehen, doch irgendwie … vermisste er sie. Jo goss ihnen Tee ein und machte sich dann daran, einen kleinen Pilz von Paras‘ Rücken abzurupfen, bevor sie wieder in der Küche verschwand. Lotus folgte wenige Sekunden später, einige Büschel Kräuter auf dem Seerosenblatt auf seinem Rücken. „Kennst du Hanna?“, rief Jo aus der Küche. Ryan trank einen tiefen Schluck Tee, bevor er antwortete. Er konnte seine Augen kaum noch offen halten. Sobald dieser Alptraum vorbei war, würde er auf etwas Koffeinhaltiges umspringen. „Flüchtig“, sagte er schließlich. „Sie hat mir digitale Lehrbücher besorgt, als ich noch in Laubwechselfeld gewohnt habe.“ Jos Kopf tauchte im Türrahmen auf. „Ach, du bist das kleine Genie, von dem sie mir immer vorgeschwärmt hat“, lachte sie und nahm ihn nun genauer unter die Lupe. „Sie war untröstlich, als deine Familie umgezogen ist. Oh, sie wird sich freuen, wenn sie erfährt, dass ich dich getroffen habe.“ Ryan befand, dass er Jo und Hanna gleich ein gutes Stück sympathischer fand. „Jemand, der dich mochte?“, murmelte Corinna. „Kann ich mir schwer vorstellen.“ „Du musst aus Erfahrung sprechen“, erwiderte Ryan trocken. „Nicht mal deine Eltern konnten dich ausstehen.“ Das ließ sie verstummen. Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken hatten, massierte Jo eine scharf riechende Kräuterpaste in Ryans Bisswunde, die fürchterlich brannte, verabreichte ihm einen Tee, in dem der aufgequollene Pilz des Paras‘ schwamm, schmierte noch mehr Salbe auf seinen Arm und Corinnas Hand und umwickelte alles mit Mullverbänden. Ihr Angebot, sie könnten für die nächsten Tage bei ihr unterkommen, bis die Entzündung abgeklungen war, nahm Ryan ohne zu zögern an. Wie schon im Wald schliefen er und Corinna Schulter an Schulter, mehr aus Gewohnheit denn aus Komfort, versteht sich, und als er die Augen schließlich wieder öffnete, war es bereits tiefste Nacht. Nur ein Streifen bleichen Mondlichts fiel durch den halbgeschlossenen Vorhang auf den kleinen Kaffeetisch vor dem Sofa. Sie mussten den ganzen Tag verschlafen haben. Ryan entfernte sich vorsichtig von Corinna, die beim Einatmen leise Schnarcher von sich gab. Jo war nirgends zu sehen. Langsam tastete er sich durch das dunkle Wohnzimmer zur Eingangstür vor und trat hinaus an die kühle Luft. Nach all den Tagen in der Wildnis fühlte es sich fast schon angenehm an. Er würde Jo fragen müssen, ob sie einen Computer besaß. Es konnte nicht sein, dass er zu einem verdammten Pfadfinder mutierte. Plötzlich tauchte neben ihm Shuppet auf, die blauen Augen gierig in die Ferne gerichtet. „Ich dachte, die Tür wäre geschlossen“, sagte Ryan und drehte sich um. Shuppet wurde kurz unsichtbar. „Oh, ich vergaß. Geistpokémon. Schon klar.“ Gemeinsam schauten sie hinauf in den Himmel. Die Sterne waren hier nicht so gut sichtbar wie in Baumhausen City, aber das störte Ryan nicht. Im Gegenteil. Die Lichter, die Seegrasulb Citys Stadtzentrum erhellten, glichen einer eigenen Galaxie. Das Einkaufszentrum war weiterhin ausgeschildert, die Fenster blieben jedoch unbeleuchtet, das Gebäude ein schwarzer Balken gegen den Horizont. Eine blaue Flamme zischte ins Leben. Ryan schielte zu Shuppet, das ihn unschuldig ansah. Das kleine Irrlicht flackerte fröhlich vor sich hin und waberte Richtung Stadt, langsam genug, um verfolgt zu werden. „Was willst du?“, fragte Ryan erschöpft. „Selbst wenn ich das Risiko eingehen wollte, erkannt zu werden, das Einkaufszentrum hat geschlossen.“ Shuppet schüttelte sich. „Siehst du nicht?“, fragte er und deutete genervt zur Stadt. „Kein. Licht. Bist du blind?“ Das Pokémon zeigte keine Reaktion, nur das Irrlicht hopste munter auf der Stelle. „Was willst du von mir?!“ Seine Stimme war zu laut für die Nacht und hallte in seinen Ohren wieder. Er hielt still, hoffte, dass Corinna nicht aufgewacht war, doch die Tür blieb geschlossen. Als er den Kopf zurückdrehte, schwebte Shuppet direkt vor ihm. Ryan hatte Mühe, sich nicht in die Hose zu pinkeln, als der kleine Geist ein grollendes Geräusch von sich gab und ihn mit seinem kalten Blick fixierte. Es wollte ihm etwas sagen, da war Ryan sich plötzlich sicher. Aber was? Sein Gehirn versuchte vergebens, alle möglichen Varianten durchzuspielen. Vertrau mir. Du musst mitkommen. Ich will dir helfen. Du schuldest mir etwas. Ich will dir etwas zeigen. Spring über deinen Schatten. Komm endlich mit. War das, was Trainer als Band zu ihren Pokémon verstanden? Ihre Selbstgespräche auf einen stummen Partner zu projizieren? Ihm einen Charakter aufzuzwingen, den es vielleicht gar nicht hatte? Bildeten sie sich alle die Freundschaft zu ihren Pokémon nur ein? Ryan schluckte und lehnte sich zurück, nickte dann jedoch schwach. „Du hast eine Chance, mich vom Gegenteil zu überzeugen“, sagte er, ohne so recht zu wissen, wovon das Gegenteil sein sollte. Seine Meinung über Pokémon oder sein Unwille, Shuppet zu fangen? Genervt über sich selbst und die philosophische Ader, die sich in der letzten Woche bei ihm herauskristallisiert hatte, folgte Ryan Shuppet querfeldein über die Hügelkämme zurück zum Stadtzentrum. Der Fußmarsch dauerte eine gute Stunde, aber Ryan war lange Wanderungen durch tiefsten Wald und mit Feinden im Nacken gewöhnt. Im Vergleich dazu war das hier ein lauschiger Spaziergang. Als er schließlich im Schein einer Straßenlaterne stehen blieb und den Kopf in den Nacken legte, um das flache Terrassendach des Einkaufszentrums zu sehen, gab Shuppet ein leises Murmeln von sich, fuhr mit einem eiskalten Luftzug an seiner Wange vorbei und schwebte durch die verschlossene Eingangstür. Ryan blieb wie angewurzelt stehen. War es gerade … eingebrochen? Rasch versteckte er sich hinter ein paar großen Mülltonnen in einer Seitengasse. Wenn er wegen diesem Geist nun wirklich zu einem Verbrecher wurde, dann konnte er einpacken. Seine absolute Unschuld war bislang das einzige Argument, das er im Falle einer Gefangennahme gegen Team Aqua aufbringen konnte—Corinnas Rettung einmal ausgenommen, aber selbst dann hatte er richtig gehandelt, oder? Woher hätte er schließlich wissen sollen, dass sie ein Magma war? Er hatte nur ein Mädchen gesehen, das von erwachsenen Männern getreten und misshandelt wurde. Sicher war das löbliches Verhalten, moralisch, geradezu ritterlich, aber wenn Shuppet— Ein Pokéball flog durch die Luft und klackerte ihm vor die Füße. In der Stille der Nacht klang es wie ein Kanonenschuss und jagte Ryan denselben Schrecken ein, wie das Hochfahrgeräusch seines Computers, wenn die Lautsprecher ganz aufgedreht waren und er eigentlich PC-Verbot hatte, mit seiner Mutter schlafend gleich nebenan. Bevor er einen Herzanfall bekam, schnappte er den Ball vom Boden auf und sah sich um, aber außer einem Obdachlosen, der am anderen Ende der Gasse in einen Karton gewickelt auf dem Pflaster schlief, war niemand zu sehen. „Hast du den gestohlen?“, fragte er ungläubig. Shuppet, das in dem Moment neben ihm auftauchte, nickte stolz und deutete mit dem Horn auf seinem Kopf zu einem Lüftungsschacht weiter oben am Gebäude. Es konnte durch Wände fliegen, aber den Pokéball hatte es wohl manuell herausschleusen müssen. Ryan wog den Pokéball in seiner Hand. „Das löst zumindest ein Problem“, murmelte er schließlich, „auch wenn ich immer noch nicht gewillt bin, dich zu fangen. Nur damit du dir keine falschen Hoffnungen machst. Ich bin kein Trainer und ich habe sicher nicht vor, einer von diesen hirntoten Mitläufern zu werden.“ Shuppet sah ihn nur unentwegt an. Seufzend stopfte Ryan den Pokéball in seine Tasche und zog 200 Pokédollar aus seiner Geldbörse. „Bring das zur Kasse“, sagte er. „Ich gehe schon vor.“ Shuppet umschloss die Scheine mit seinem kleinen Mund und verschwand durch den Lüftungsschacht ins Innere, während Ryan sich auf den Rückweg machte, die rechte Hand nachdenklich um den Ball geschlossen.   Am nächsten Morgen beim Frühstück brach Jo das von Ryan sorgsam gehegte Schweigen, ohne mit der Wimper zu zucken. „Wisst ihr, eigentlich habe ich oben auch zwei Gästezimmer. Seit meine Söhne ausgezogen sind, stehen die Räume leer, aber ich putze dort jede Woche. Ihr könnt dort gerne für die nächste Zeit unterkommen.“ Ryan verschluckte sich an seinem Kaffee, um den er Jo gebeten hatte, hustete und sah wütend zu der Alten. „Warum hast du das nicht früher gesagt?“, fauchte er. Corinna verschwand unauffällig hinter ihrer gigantischen Teetasse. Eine schöne Unterstützung war sie. Jo ließ sich von seinem Tonfall nicht beeindrucken. „Ihr habt euch so süß zusammen auf das Sofa gekuschelt, da wollte ich mich nicht einmischen“, sagte sie fröhlich. Ryan verfluchte sie in allen Variationen, die ihm auf die Schnelle einfielen. Seinen Worten folgten lediglich leere Blicke beider Parteien. Ryan kniff die Lippen zusammen. Besaß denn keiner seiner Gesprächspartner wenigstens die Kompetenz, seine Beleidigungen zu verstehen? „Ich nehme nicht an, dass ihre Söhne Computer in ihren Zimmern hatten?“, fragte Ryan schließlich, als er einsah, dass er auf keine gebührende Reaktion hoffen konnte. Jo schüttelte traurig den Kopf. „Nein, Schätzchen, damals gab es so etwas noch nicht, schon gar nicht in jedem Haushalt. Also zu meiner Zeit, da waren selbst Pokébälle noch nicht erfunden. Die Trainer damals mussten Aprikokos sammeln und aushöhlen, da war mit dem Fangen von Pokémon noch echte Handarbeit verbunden.“ Ryan dachte an den industriell hergestellten Pokéball in seiner Hosentasche und dankte dem Universum dafür, dass er nicht zu Jos Zeiten geboren worden war. Dann verfluchte er es, weil es ihm das Zeitalter der tragbaren Computer und internetfähigen Gehirne vorenthielt. „Du kannst immer noch ins Pokécenter gehen“, sagte Corinna. „Schwester Joy lässt dich bestimmt einen der Computer dort benutzen.“ „Denkst du, darüber habe ich nicht schon selbst nachgedacht?“, fragte Ryan. Er hatte darüber nachgedacht, die gesamte letzte Nacht, nachdem er und Shuppet von dem Einkaufszentrum zurückgekommen waren. Obwohl die Dunkelheit alles verschluckt hatte, war die Paranoia mit ihm durchgegangen. Jedes Knacken, jedes Windrauschen hatte seine Eingeweide zu Eis werden lassen. Sich am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit zu zeigen und nebenbei noch Hacking zu recherchieren, war bei weitem die dümmste Idee, die er je in Erwägung gezogen hatte, sei es auch noch so kurz gewesen. Abgesehen davon war er sicher, dass die Computer in den Pokécentern von irgendjemandem überwacht wurden, und dieser jemand war mit Sicherheit entweder bei der Polizei, oder bei Team Aqua. Keine der Alternativen war sonderlich beruhigend. Und wenn er, Ryan, der Hacker von Team Aqua wäre, kurz nachdem sein Team einen USB-Stick mit selbstgeschrieben Programmen und Viren gestohlen hatte, wäre er doppelt vorsichtig, was technische Belange anging. Nichts davon sagte er zu Corinna. Sie würde ohnehin nicht verstehen, wovon er sprach. Und außerdem … er schielte zu Jo. Sie war auch noch da. Er glaubte nicht, dass sie Verdacht schöpfte, aber er würde einen Teufel tun, ihr sein Vorhaben unter die Nase zu binden. Corinna, die ihn die ganze Zeit über still beobachtet hatte, ergriff zaghaft das Wort. „Also willst du was genau tun?“ „Ich muss mir einen eigenen Computer kaufen“, sagte Ryan. „Das ist die einzige Möglichkeit, die wir haben, um unser Ziel zu erreichen.“ „Wo ist dann das Problem?“ Ryan starrte sie an. „Ich bin zwölf, Corinna. Ich bin nicht gerade aus Geld gemacht.“ „Und?“ Sie verschränkte die Arme. „Hol dir einen Job.“ „Ich wiederhole: ich bin zwölf. Das ist illegal.“ „Oh.“ Sie runzelte die Stirn. „Und ich kann nicht arbeiten, weil …“ Sie ließ den Rest ihrer Aussage ins Nichts laufen. Jo trank unbekümmert ihren Kaffee weiter. Plötzlich hellte sich Corinnas Gesicht auf. „Aber du hast ja Shuppet!“ Ryan hob eine Augenbraue. „Soll es vielleicht kellnern?“ Sie warf ihm einen genervten Blick zu. „Natürlich nicht. Aber hier gibt es sicher viele Trainer, gegen die ihr kämpfen könnt.“ „Willst du damit sagen, ich kann mit diesen Viechern Geld verdienen?“ „Das wusstest du nicht?“, fragte Corinna. „Ich dachte, du weißt alles, Mister-ich-bin-ein-Genie.“ „Natürlich weiß ich das“, erwiderte Ryan hitzig. „Ich dachte nur, die Summe beliefe sich mehr auf Taschengeldformat.“ „Na ja, wenn du einen Computer davon kaufen willst, musst du gut genug sein, um gegen hochkarätige Trainer zu gewinnen“, erklärte Corinna. „Von den Leuten hier in der Gegend bekommst du pro gewonnenen Kampf vermutlich zwischen zweitausend und siebentausend Pokédollar, aber du brauchst erst einen entsprechenden Gegenbetrag, für den Fall, dass du verlierst. Du musst also so oder so klein anfangen.“ „Was, wenn ich keine Zeit habe, erst noch Geld anzusparen?“, fragte Ryan. Corinna beäugte ihn von der Seite. „Dann brauchst du ein echt gutes Team“, sagte sie und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht, „oder sehr schnelle Beine.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)