Dearest Memories von Flordelis (Miracle 0) ================================================================================ Prolog: Prolog: Bin ich tot? ---------------------------- Sie hatte sich das Jenseits ganz anders vorgestellt. Sie war mit dem Glauben aufgewachsen, dass man sich dann entweder in den lodernden Feuern der Hölle wiederfand, wo die Schreie der gequälten Seelen, einem Unheil verhießen, oder in der angenehmen Atmosphäre des Himmels, in dem man pausenlos Harfenklängen lauschen konnte. Aber das hier war fernab aller Vorstellungen. Sie saß auf der hölzernen Bank einer Bushaltestelle, mitten im Nirgendwo. Laut der verblichenen Schrift auf dem Schild hieß diese Station Muertdec, aber der Name sagte ihr nichts. Über ihr bewegte sich die Laubkrone eines Baumes lautlos in einem nicht zu spürenden Wind. Wenn sie den Blick vollständig hob, sah es aus, als wäre der Baum mit Ölfarben und voller Leidenschaft gemalt worden. Die Straße zu ihren Füßen führte links und rechts weiter, verlor sich aber in beide Richtungen nach wenigen Metern, als wäre dem Maler die Lust vergangen oder als endete dort die Leinwand, ohne dass es ihr, als Teil des Gemäldes, bewusst sein könnte. Dann aber wiederum, wenn sie nur Teil eines Bildes war, wie konnten ihr dann diese Gedanken bewusst sein? Wie war es ihr möglich, über derartige Dinge nachzudenken? Es kostete sie einen Moment, bis ihr wieder einfiel, dass sie nicht Teil eines Gemäldes war. Gerade eben, vor wenigen Sekunden, war sie noch da draußen gewesen, ein Teil der Menschen, ein Mädchen, das nur versuchte, zu überleben, in einer Welt, in der jeder Tag dem nächsten zu gleichen schien. Die Stimme ihrer besten Freundin, die ihr etwas erzählte, verklang noch in ihrem Ohr, genau wie der erschrockene Schrei ihres Bruders und das Quietschen von Bremsen. Aber sie spürte keine Schmerzen. Es gab keine Verletzungen und sie glaubte sogar, jede einzelne Haarwurzel fühlen zu können. „Bin ich tot?“ Das war jedenfalls das einzige, das ihr erklären könnte, wo sie gerade war, und nach dem vorangegangenen Autounfall wäre das auch nicht weiter verwunderlich, sollte sie tatsächlich gestorben sein. Es war unzweifelhaft traurig, besonders für ihren Bruder, aber … Sie unterbrach sich in ihren eigenen Gedanken, als sie bemerkte, dass sie plötzlich nicht mehr allein auf der Bank saß. Neben ihr befand sich auf einmal ein junger Mann, den sie nicht kannte. Das schwarze Haar fiel in sein, feminin wirkendes, Gesicht und verdeckte damit sein linkes Auge, das rechte war dunkel-braun und verfügte über Lichtpunkte darin, so dass es wirkte, als leuchtete es von innen heraus. Über einem weißen Hemd trug er eine Jacke, die von der Farbe her zu seiner Hose passte – und das war es auch, was ihre Aufmerksamkeit am meisten fesselte. Das Blau der Kleidungsstücke war derart intensiv und angenehm, dass sie sich sofort viel freier fühlte. Sein Blick galt einzig der Entfernung, in der ebenfalls nur Weiß zu sehen war. Aber dass er sie nicht ignorierte, bemerkte sie sofort, als er den Mund öffnete: „Ja, das bist du. Bedauerlicherweise.“ Dafür, dass er, wie sie annahm, der Tod war, hörte sich seine Stimme ausgesprochen sympathisch und auch mitfühlend an. Es kam ihr vor, als fände er es wirklich traurig, dass sie gestorben war. „Ist das hier dann so etwas wie die letzte Station des Lebens?“, fragte sie. „Vielleicht.“ Er hob die Schultern ein wenig. „Es sieht für jeden anders aus.“ Für einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dabei konnte sie beobachten, wie die roten Blumen auf der anderen Straßenseite endlich Gestalt annahmen, so dass sie sicher sagen konnte, dass es sich um ein Mohnblumenfeld handelte. „Nimmst du mich jetzt ins Jenseits mit?“ Endlich nahm er den Blick von der Ferne und wandte ihn ihr zu. „Nein. Ich habe eigentlich vor, dir ein Angebot zu machen.“ Alles in ihr sträubte sich sofort dagegen. In Büchern, Theaterstücken, Filmen, eigentlich allen Medien, die sie kannte, war ein Angebot, das einen vor dem Tod rettete, immer eine Einbahnstraße ins Verderben. So lange und oft hatte sie nur die Stirn gerunzelt, wenn jemand auf solche Angebote eingegangen war, aber jetzt, in diesem Moment, in dem sie wieder an ihren Bruder dachte, erschien es ihr doch wie eine richtige Wahl, selbst wenn ihr Instinkt ihr etwas anderes riet. „Was ist das für ein Angebot?“ Er wirkte zufrieden über ihre Neugier und lächelte sogar, wenn auch nur ein klein wenig. „Ich werde dich zurückschicken, am selben Morgen deines Todes, damit du ihn umgehen kannst.“ Ehe sie sich freute, wartete sie auf den Haken, den er ihr auch sogleich nachlieferte: „Dafür möchte ich, dass du eine Hexe wirst.“ Sie zog die Brauen zusammen. „Eine Hexe? So mit Kessel und schwarzer Katze?“ Das kurze, freudlose Lachen, das er ausstieß, verriet, wie oft er diesen Scherz bereits gehört hatte, und doch wollte er nicht so unhöflich sein, ihn unquittiert zu lassen. „Nein, eigentlich mehr wie eine Superheldin, die im Verborgenen gegen finstere Mächte kämpft.“ Sollte es so etwas wirklich geben? Sie konnte sich das nicht im Mindesten vorstellen. Ihr Leben war nicht immer normal verlaufen und schon gar nicht ideal, aber sie war noch nie einer finsteren Macht gegenübergestanden – jedenfalls nicht, soweit sie sich erinnerte. „Du wirst sie sehen können, sobald du wieder in deiner Welt bist , sofern du einverstanden bist.“ Eigentlich klang das Angebot viel zu verlockend, was bedeutete, dass es gefährlich sein musste, zu kämpfen. In allen Medien, die sie kannte, war der Preis es niemals wert gewesen, jedenfalls nicht in ihren Augen – aber vielleicht hatte sie das immer nur sagen können, weil sie nicht in der Situation gewesen war. Nun war sie es und statt darüber nachzudenken, wie lächerlich das alles war, konnte sie nur daran denken, wie einsam ihre beste Freundin fortan sein würde und wie am Boden zerstört ihr Bruder – und sie wollte keinem von beiden so etwas antun. Also gab es nur eine Antwort, die sie wählen konnte, auch wenn diese von dem Geräusch eines Flugzeugs, das direkt über sie beide hinwegflog, übertönt wurde. Doch gemeinsam mit diesem Lärm ging auch eine Veränderung in dieser Welt einher. Das Weiß eroberte sich immer mehr von seiner Leinwand zurück, fraß sogar den Fremden auf, der ihr dieses Angebot unterbreitet hatte, zuletzt sah sie nur noch seine Lippen, die deutlich die Worte formten: „Es sei.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)