Colour Free Fear von WhiteLady ================================================================================ Kapitel 2: Die linke Hand der Furcht ------------------------------------ Sergejs Plan war im Grunde simpel. Zusammen mit Melody verließ Nikolai die gesicherte Wohnung und fuhr nach Toshima, wohlwissend, dass die Leute von CyCo ihn dort innerhalb weniger Minuten schnappen würden. Der Tag war sorgfältig ausgewählt worden, denn langsam geriet CyCo in Zugzwang. Ihnen blieb noch eine knappe Woche, bis sie die KI zwangsweise runterfahren mussten, um irreparable Schäden an der Elektronik zu verhindern; je früher sie ihn in die Finger bekamen, desto besser. Und so kam es, dass sie gerade einmal eine halbe Stunde in einer bequemen, bonbonrosa Sitzecke saßen, bis sich eine zierliche Japanerin zu ihnen gesellte. Nikolai warf verstohlen einen Blick auf ihre Hände, und da war es: das schwarz glänzenden Hexagon, überzogen mit schimmernden Silberadern. CyCos Firmenlogo, als Chip in die Haut des Handrückens implantiert. Nikolai ließ sich nichts anmerken und nippte gelassen an seiner Cola; Alkohol war für das nächste halbe Jahr erst einmal gestrichen, bis sich seine neue Leber endgültig in ihre neue Verhältnisse gefügt hatte. Die junge Frau war etwa so groß wie er (die hohen Absätze eingerechnet) mit einer asymmetrischen, kecken Frisur und einem engen, grünen Wildlederrock. Als sie sich zu ihm drehte und ihn anlächelte, sah er den eintätowierten Schmetterling auf ihrer Schläfe. Er kannte das Muster nicht, aber er tippte auf eine Nahkampf-Spezialeinheit. Auch bei den Yakuza waren einige Schmetterlinge dabei gewesen; schön, sanft und tödlich. CyCo legte sich für ihn echt ins Zeug, das musste man ihnen lassen. Nikolai warf Melody einen vielsagenden Blick zu, doch sie ließ sich nichts anmerken, sondern schlug lässig die Beine übereinander und lächelte zuckersüß. Die junge Frau ließ sich elegant auf der Armlehne von Nikolais Sessel nieder, die Oberschenkel züchtig zusammengepresst. „Dich habe ich hier noch nie gesehen, bist du neu hier?“ Nikolai zuckte nur mit den Schultern. Selbst wenn sie nicht extra nach ihm Ausschau gehalten hätte, wäre er aufgefallen: in seiner schwarzen Lederkluft nahm er sich in dem pastellfarbenen Café aus wie ein Pfefferkorn im Salzfass. „In Toshima schon, in Japan nicht“, sagte er in perfektem, praktisch akzentfreiem Japanisch. Das war nicht mal gelogen. Früher hatte er sich nur nach Toshima verirrt, wenn er hier einen Auftrag hatte. Sie hob bewundernd ihre schmalen Augenbrauen. „Wow, dein Japanisch ist echt gut.“ „Hm.“ Nikola stellte sein Glas vorsichtig auf das kleine Teetischchen vor ihnen. „Hör zu, wenn du nichts Wichtiges zu sagen hast, dann schwirr ab. Ich hab keinen Bock auf Smalltalk.“ Melody grinste ihn an, in Anerkennung seiner Schauspielkünste, und lehnte sich zurück um den Rest der Show zu sehen. Die Augen der Japanerin wurden für einen Moment schmal und sie beugte sich vor, so dass nur Nikolai ihre nächsten Worte hörte: „Du willst etwas Wichtiges hören? Okay, dann sag ich dir etwas: Guten Abend, XY1.“ Er reagierte so, wie er noch vor einem Monat auf so eine Anrede reagiert hätte: er zuckte zusammen und griff automatisch nach seiner Hüfte, wobei er seine Reflexe jedoch zügeln musste; soweit CyCo informiert war, waren seine Implantate immer noch ein Trümmerhaufen. Die junge Frau packte sein Handgelenk, ehe er die Messerscheide an seinem Gürtel erreichen konnte. Der Griff der schlanken, kühlen Finger war fest wie ein Schraubstock. Wütend starrte er sie an, alle Muskeln angespannt. Der Rest des Cafés nahm keine Notiz von ihnen; nicht mal Melody wäre der Beinahe-Angriff aufgefallen, wenn sie nicht darauf geachtet hätte. „Was willst du von mir?“ Der Schmetterling lächelte höflich und sagte im Plauderton: „Übrigens, ich heiße Cho, Cho Kato. Wie haben dich deine Adoptiveltern genannt, XY1?“ „Nikolai“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Diesmal war seine Wut nicht gespielt, obwohl er vorher gewusst hatte, dass CyCo nicht unbedingt fair spielte. „Nikolai.“ Cho sprach den Namen langsam aus, um nicht über die ungewohnten Silben zu stolpern. „Also, Nikolai, kommst du freiwillig mit oder muss ich böse werden?“ Er hörte ein metallisches Klicken und sah unwillkürlich nach unten. In Chos freier Linken war ein schmales, silbernes Gerät aufgetaucht, das aussah, als gehörte es eigentlich in einen Operationssaal. Erst als er das verräterische Knistern hörte, wurde ihm bewusst, was sie da in der Hand hatte. Ein Schocker. „Was willst du von mir?“, fragte er mit gesenkter Stimme. „Nicht ich will etwas von dir. Ich bin nur da um dich abzuholen. CyCo will etwas von dir. Aber keine Angst, es wird nicht wehtun.“ „Sehe ich so aus, als hätte ich Angst davor, dass du mir wehtust?“, fragte er herausfordernd. Sie ließ ihren Blick prüfend über ihn wandern. „Nein“, gab sie schließlich zu. In ihre Augen stahl sich ein harter Glanz und ihr Griff verstärkte sich, sodass er die Knochens seines Handgelenks aneinander reiben spürte. Er verzog das Gesicht; ein widerliches Gefühl. „Aber gib mir trotzdem besser keinen Grund, dir wehzutun“, warnte sie ihn. Cho stand auf und zog ihn ebenfalls hoch, nur um sich im nächsten Moment bei ihm einzuhaken als wären sie beste Freunde. Als Melody ihr einen irritierten Blick zuwarf, lächelte sie nur entschuldigend. „Tut mir leid, aber ich muss deinen Freund kurz mal entführen, ja?“ Ohne auf die Antwort der jungen Frau zu warten zog sie ihn einfach mit sich, aus dem Café raus in die kühle, nach Frittierfett und Parfüm riechende Nacht. Er ließ es widerstandslos geschehen, obwohl er seinen Oberkörper so steif wie möglich machte, um ihr zu signalisieren, wie wenig ihm diese Behandlung gefiel. Der Wagen parkte keine zehn Meter entfernt hinter einer Hausecke, ein schlichter, schwarzer BMW mit verdunkelten Scheiben und einer unauffälligen Panzerung. Cho riss die Hintertür auf, schubste ihn auf den weichen Ledersitz und setzte sich sofort daneben. „Zum Hauptquartier“, kommandierte sie, und das Auto setzte sich mit einem butterweichen Schnurren in Gang. Nikolai schnaubte, halb belustigt, halb abfällig. „Hauptquartier, wirklich? Wohin geht’s denn, in Supermans Festung der Einsamkeit?“ An ihrem irritierten Gesichtsausdruck konnte er ablesen, dass sie keine Ahnung hatte wovon er sprach, und er lehnte sich kopfschüttelnd zurück. Jahrelanges Training sorgte dafür, dass er seinen Herzschlag einigermaßen unter Kontrolle halten konnte, trotzdem wurde ihm ein wenig flau im Magen, als der Wagen auf die Stadtautobahn fuhr und er die Wolkenkratzer vor dem samtschwarzen Nachthimmel funkeln sah. Jetzt ging es los. Sergej schwitzte. Trotz voll aufgedrehter Klimaanlage klebte ihm die dünne Baumwolle seines T-Shirts klatschnass auf der Haut und er musste sich alle zwei Minuten seine Hände an der Jeans abwischen, damit seine Finger nicht auf den blanken Stahltasten seiner Tastatur abrutschten. Auf seinen Wangen brannten hektische rote Flecken. Er hatte die Matrix auf halbe Sichtbarkeit geschaltet, sodass die Gitter und Zahlencodes durch das Zimmer zu schweben schienen wie geisterhafte Nachrichten. Makoto betrachtete kritisch die Wellen auf dem portablen EEG, dass sie neben seinen Rechner gestellt hatte. „Dein Hirn arbeitet ja jetzt schon auf Hochtouren. Wie soll das erst nachher aussehen, wenn du voll rein musst?“ „Bin momentan nur auf halber Kraft. Nehme nachher ein anderes Kabel. Bringt mehr Leistung.“ Seine Sätze erinnerten an Telegramme; es hätte nur noch gefehlt, dass er nach jedem zweiten Wort „Stopp“ sagte. Er umkreiste das Cyberspace-Gegenstück von CyCos Hauptquartier wie die elektronische Version einer Schmeißfliege, hielt sich dabei aber auf genug Abstand, dass ihn die Sicherheitssysteme nicht registrierten. Als die Wohnungstür mit einem Mal aufflog, hätte er vor Schreck fast seine Tastatur durch den halben Raum geworfen. „Sie haben ihn!“ Melody stürmte in das Zimmer als wäre Ausverkauf in ihrem liebsten Schuhgeschäft. „So eine kleine Japanerin hat ihn im Café aufgespürt und gleich mitgenommen!“ „Wann war das?“, fragte Sergej und zog bereits das erste Kabel aus seinem Implantat um es umzustecken. „Vor gut vierzig Minuten. Ich wollte anrufen, aber das Netz war mal wieder down.“ „Vierzig Minuten…“ Er übte sich kurz im Kopfrechnen und nickte dann. „Das heißt, sie müssten inzwischen in der CyCo-Zentrale angekommen sein. Okay, Mädels, jetzt ist Showtime.“ Funken sprühten, als er das letzte Kabel mit dem Handballen in die entsprechende Buchse rammte. Er wurde mit einem elektrischen Zucken an der Innenseite seines Schädels belohnt und ließ ein letztes Mal die Knöchel knacken. „Wünscht mir Glück!“ Sergej steckte um, und das Zimmer verschwand in einem Wirbel aus Neonfarben und tiefer Schwärze. Der Wagen hielt mit quietschenden Reifen vor dem wahnwitzig geschwungenen Wolkenkratzer, in dem die Zentrale des Megakonzerns untergebracht war. Cho zerrte ihn aus dem Auto, seinen Arm in einer Art Polizeigriff festgehakt, sodass er sich nicht losreißen konnte. Was er ohnehin nicht vorgehabt hatte, aber das musste er ihr ja nicht unter die Nase reiben. Das Gebäude war mit hellblauen Metallplatten verkleidet, die sich mit riesigen Fensterfronten abwechselten. Es beschrieb eine vage Kurve, die an das ikonische C in CyCos Logo erinnern sollte; architektonische Spielerei, aber nichtdestotrotz eindrucksvoll. Ihm war schon früher jedes Mal ein Schauer über den Rücken gelaufen, wenn er diesen bläulich schimmernden Wolkenkratzer in Tokios Skyline gesehen hatte, obwohl er es nie betreten hatte. Das sollte sich jetzt jedoch offensichtlich ändern. Cho schubste ihn in Richtung Eingang: ein riesiges Portal, in Chrom und weißen Marmor gefasst, und so groß, dass sich keine Kathedrale dafür hätte schämen müssen. Aber es war nur passend: immerhin betrat er jetzt den heiligen Tempel der Technik, die Brutzelle aller wichtigen Erfindungen der letzten achtzig Jahre. Die Flügel des Portals standen offen, doch als sie näherkamen, sah er das feine, himmelblaue Flirren in der Toröffnung: ein Kraftfeld. Cho presste ihren Handrücken gegen ein pechschwarzes Touchpad; die Scanner registrierten ihren Chip, und das Kraftfeld verschwand. „Wir warten alle schon sehnsüchtig auf dich“, sagte sie lächelnd und zog ihn mit sich in die Eingangshalle. Sergej atmete tief durch, den Blick fest auf die bläuliche Pyramide gerichtet, die CyCo im Cyberspace repräsentierte. Dort rein zu wollen kam für einen Hacker einem Todesurteil gleich. Die künstliche Intelligenz, CyCos Herzstück, verteidigte den Konzern bis aufs Blut und verfolgte unbarmherzig jeden, der auch nur an der Oberfläche kratzte. Bereits aus dieser Entfernung sah er die dunklen Schatten über die Wände der Pyramide huschen: Virusprogramme, heimtückisch, gefährlich und absolut auf das spezialisiert, was sie taten. Wenn er nur wenige Meter näher kam, würden sie sein Gehirn schneller zu Schaschlik verarbeiten, als er umstecken konnte. Darauf konnte er wirklich verzichten. Aber das war nicht der eigentliche Grund, wieso er so nervös war. Unendlich weit weg, in der Wohnung in Arakawa, hing sein Finger über einem speziellen Knopf auf seiner Tastatur, eine besondere Taste, die er eigentlich schon längst hätte drücken müssen… Doch er konnte sich nicht überwinden. Wieder und wieder ging er den Zeitplan durch, während ihn die kleinen, radioaktiv leuchtenden Zahlen in seinem linken Augenwinkel permanent daran erinnerten, dass er Zeit verplemperte. Einmal mehr atmete er ein, so tief, dass seine Rippen knackten, bevor er seinen Finger so heftig auf den Knopf drückte, dass ein stechender Schmerz durch seine Hand schoss. Im Cyberspace war man frei, frei von der Bürde seines eigenen Fleisches, sofern man es gut genug ausblenden konnte. Man existierte nur noch als Bewusstsein, das sich in den unendlichen Weiten der virtuellen Realität bewegte. Es hatte schon Hacker gegeben, die praktisch vor ihrer Tastatur verhungert waren, komplett ausgemergelt, unfähig sich von den leuchtenden Gittern zu lösen. Und aus genau dieser Freiheit fiel Sergej jetzt, wie ein Stein, den jemand aus einem Flugzeug geworfen hatte, und knallte unsanft in einen fremden Körper. Panik und Übelkeit überrollten ihn, sein Bewusstsein kämpfte fieberhaft gegen die enge, ungewohnte Hülle, gegen die Signale, die es nicht sofort verstand. Der letzte Rest gesunder Menschenverstand, den er sich in dieser Situation gottlob bewahrt hatte, verhinderte schließlich, dass er endgültig dem Wahnsinn anheimfiel: das drangvolle Gefühl der Enge schwand, er konnte ausmachen, wo sich welche Gliedmaßen befanden, aus der blendenden Helligkeit wurden optische Eindrücke, die er zuordnen konnte, und aus dem statischen Rauschen normale Geräusche. Es war nicht das erste Mal, dass er ein Sensorium benutzte, aber es war jedes Mal wieder eine unangenehme Sache, so unangenehm, dass er sie normalerweise vermied. Wieso machten manche Menschen sowas freiwillig, und dann auch noch zum Spaß? Sergejs echter Körper entspannte sich wieder etwas, als sein Geist langsam zur Ruhe kam. Eins musste man Makoto lassen: das Sensorium, das sie Nikolai eingesetzt hatte, funktionierte einwandfrei, komplett ohne Störungen. Aber das änderte nichts daran, dass sich Nikolais Körper für den Hacker komplett fremdartig anfühlte. Für einen Moment überkam ihn die alte Platzangst, bis er sich bewusst machte, dass er sich jederzeit wieder ausklinken und in den Cyberspace zurückkehren konnte. Erst als er sich das vor Augen geführt hatte, konnte er sich auf seine - oder vielmehr Nikolais - Umgebung konzentrieren. Der Chip, der am oberen Ende des Rückenmarks implantiert wurde, übermittelte mithilfe eines Verstärkers sämtliche Sinneseindrücke des Senders und sandte sie auf einer speziellen Frequenz an den Empfänger; für ihn die beste und genauste Methode um zu wissen, wann der Code eingelesen wurde. Ein paar Sekunden zu früh oder zu spät und er würde in der eisigen Kälte von CyCos Matrix zu einem digitalen Aschehäufchen verbrennen. Nikolais Augen waren extrem scharf und lieferten glasklare Bilder, als er sich aufmerksam in der Eingangshalle umsah, unwissend, dass er einen Reiter hatte. Sergej war zur Untätigkeit verdammt; er konnte nur zusehen. Schlanke Säulen aus poliertem schwarzem Marmor strebten in die Höhe, stützten eine Decke, die aus verchromtem Stahl zu bestehen schien. Diese Säulenarkade schien sich endlos lang hinzuziehen, nahm wohl die gesamte Grundfläche des Gebäudes ein, lediglich ab und an unterbrochen von einzeln eingepassten Türen, die wahrscheinlich zu den Fahrstühlen führten. Sergej konzentrierte sich auf Nikolais gleichmäßigen Herzschlag und versuchte die letzten Reste seines Unbehagens abzuschütteln; schließlich war nicht er selbst in der Höhle des Löwen, sondern Nikolai. Cho lotste Nikolai etwa in die Mitte der Eingangshalle und blieb dort stehen. Er wollte sie gerade fragen, was das sollte, als er ein richtiggehendes Bataillon auf sich zukommen sah, angeführt von einem hochgewachsenen Japaner in einem blendend weißen Laborkittel. Insgesamt erinnerte ihn das Innere von CyCos Hauptquartier bis jetzt an eine überdimensionierte Version von Jerseys Boutique, wenn auch vielleicht etwas schicker. Zumindest war er sich ziemlich sicher, dass der Marmor auf diesem Boden echt war. Inzwischen war der kleine Trupp bei ihnen angekommen und der Mann im Laborkittel musterte Nikolai abschätzig von oben bis unten, als wäre er Modelscout und kein Wissenschaftler. „Das ist also XY1.“ „Er heißt Nikolai“, informierte ihn Cho und für einen Moment war sie Nikolai beinahe sympathisch. „Wie auch immer, wir haben nicht viel Zeit. Je eher wir diese Sache über die Bühne bekommen, desto besser.“ Sein Gefolge, welches anscheinend aus Labor- und Wachpersonal bestand, nickte eifrig. Anscheinend war er hier ein ganz hohes Tier. Nikolai funkelte ihn wütend an. „Würde mir mal bitte jemand erklären, was sie bitte von mir wollen? Ihre Firma hat sich seit vierundzwanzig Jahren nicht für mich interessiert, was wollen sie auf einmal von mir?“ „Oh, natürlich, wie unhöflich von mir.“ Der Anführer schien sich mit einem Mal wieder seiner guten Manieren zu entsinnen. „Ayato Watanabe mein Name, ich bin der Chef der Forschungsabteilung von Cybernetic Corporations. Wir haben keineswegs vor, ihnen etwas anzutun. Wir benötigen lediglich eine Blutprobe von ihnen… Sobald wir diese erhalten haben, sind Sie wieder ein freier Mann, und können gehen wohin Sie wollen… Wir wären sogar bereit, für ihren Aufwand eine gewisse Entschädigung zu zahlen.“ „Okay.“ Nikolai atmete einmal tief durch. „Könnten Sie dem Schmetterling dann bitte sagen, dass sie meinen Arm abquetscht? Ich laufe schon nicht weg. Zumindest, wenn das stimmt, was Sie sagen“, schränkte er ein. „Natürlich. Kato, loslassen.“ Cho tat wie ihr geheißen, postierte sich aber so, dass sie ihn jederzeit wieder packen konnte. „Folgen Sie mir bitte.“ Gehorsam lief er hinter Watanabe her, die Hände locker an der Seite. Am liebsten hätte er sie in die Hosentaschen gesteckt, doch jedes Mal wenn er seinen Messern nur auf zehn Zentimeter nahe kam, zuckte Cho nach vorne und er wollte ihr nicht unbedingt einen Grund geben, ihr Spezialtraining an ihm auszuprobieren. Innerlich musste er jedoch grinsen; schließlich wusste sie nicht einmal etwas von den Backup-Klingen, die sorgsam an seinen Oberarmen festgeschnallt waren. Watanabe lotste sie zu einem Fahrstuhl, der von außen völlig normal aussah, dessen Kabine aber groß genug war, um im Zweifelsfall einem kompletten Lastwagen Platz zu bieten. Die kleine Menschenmenge wirkte in diesem riesigen Metallkasten irgendwie verloren. Mit einem sanften Ruck setzte er sich Richtung Untergeschoss in Bewegung. Nikolai starrte konzentriert an die Wand und zählte im Stillen die Sekunden; bei sechshundert gab er schließlich auf. Entweder kroch dieser Fahrstuhl im Schneckentempo durch die Unterwelt des Wolkenkratzers oder sie würden schlussendlich in der Hölle herauskommen. Als sich die Fahrstuhltüren schlussendlich öffneten, blinzelte er überrascht. Er hatte einen langen, weißen, steril ausgeleuchteten Flur erwartet, aber keinen mittelalterlichen Keller. Die Wände und der Boden bestanden aus schmutzigem, grauen Sandstein, in dessen Fugen Moos wucherte. Die Luft roch trotz Lüftungssystem nach Schimmel und leichter Fäulnis. Nackte Glühbirnen spendeten schummriges Licht. Watanabe hatte seinen Blick bemerkt. „Das Gebäude wurde auf den Überresten des Anwesens unserer Gründerin errichtet. Dieser Teil hier ist über hundert Jahre alt.“ Mit einem sanften Schubs bedeutete er Nikolai voraus zu gehen. „Unsere Gründerin baute und programmierte die KI, der wir unseren immensen Erfolg verdanken, im Keller ihres eigenen Hauses. Da wir immer noch nicht hundertprozentig verstanden haben, wie sie funktioniert, haben wir es nicht gewagt sie umzusetzen, sondern ihr stattdessen ihr ganz eigenes Refugium auf den Grundmauern ihres alten Zuhauses geschaffen.“ So wie er es formulierte, hatte Nikolai Probleme zu verstehen, ob es immer noch um die KI oder schon um dessen Gründerin ging, doch er zuckte nur mit den Achseln und ging weiter, bis sie an einer massiven Stahltür angekommen waren. Nacheinander legten Watanabe, Cho und noch fünf weitere Mitarbeiter ihre Hände auf ein Touchpad, das kurz danach einen hellen Ton von sich gab und einen Nummernblock erscheinen ließ, auf dem ein Techniker einen bestimmt dreißigstelligen Code eingab. Danach kam nochmal das Theater mit den Fingerabdrücken und dem Chipabgleich, diesmal allerdings mit acht anderen Personen, bevor das metallische, dunkle Ratschen zu hören war, mit dem die dicken Magnetbolzen in der Tür zur Seite glitten. Die Türflügel öffneten sich langsam, geradezu träge; gleichzeitig kam ihnen ein eiskalter Hauch entgegen. Nikolai erschauerte und zog seine Jacke enger um sich. Watanabe lächelte stolz. „Willkommen im Herzen von CyCo.“ Ein eigenartiges Rauschen begrüßte ihn, als er über die Schwelle trat. Für einen Moment glaubte er tatsächlich, das Meer rauschen zu hören, bis ihm aufging, wie albern das war. Wo sollte bitte vierhundert Meter unter der Erde ein Meer herkommen? Der Raum selbst war bestimmt größer als Sergejs komplettes Apartment, aber ansonsten hielten sich die Unterschiede überraschenderweise in Grenzen. Weiße Wände, weiße Decke, hellblauer Kunststoffboden. Es war eiskalt; sein Atem hing als feuchtwarme Dampfwolke in der trockenen Luft. Zögernd machte er ein paar Schritte in den Raum hinein, im vollen Bewusstsein, dass die Wachleute nur darauf warteten, dass er eine falsche Bewegung machte. Aber das hatte er gar nicht vor, er wollte sich lediglich umsehen. Dabei gab es nicht mal viel zu sehen. Hinter der Tür befand sich ein etwa fünfzehn Meter langer Gang, eine Schneise durch einen Urwald von Speicherblöcken und Recheneinheiten, jeder so groß wie ein mittlerer Schiffcontainer. Kabel so dick wie sein Unterarm schlängelten sich zwischen ihnen hindurch; er bemühte sich, auf keins von ihnen zu treten. Der Gang endete an einem weiteren stählernen Portal, das sogar noch umständlicher geöffnet werden musste als das Letzte. Inzwischen waren seine Hände eiskalt; trotzdem schwitzte er, vor purer Aufregung. Bei einem Auftrag durften einem seine Emotionen nicht in die Quere kommen; es war im Grunde wie bei einem Schauspieler. Lampenfieber war okay, so lange es nicht in Bühnenangst ausartete. Lampenfieber half die Sinne zu schärfen und den Körper reaktionsfähiger zu machen, aber man durfte sich auf keinen Fall davon lähmen lassen. Nikolai atmete tief durch, fuhr sich mit den gespreizten Fingern der rechten Hand durch die Haare und folgte Watanabe, nachdem er es endlich geschafft hatte, die Tür zu entriegeln. Auf der anderen Seite war es bestimmt noch mal ein paar Grad kälter; Cho begann in ihrem kurzen Fummel bereits zu zittern. Sein Blick wurde geradezu magisch von der Säule angezogen, von dem metallisch glänzenden Kern der künstlichen Intelligenz, umwoben von den pulsierenden blauen Adern der Versorgungsleitungen. Ähnlich wie Sergejs Implantate war das blanke Metall von dünnen, schwarzen Linien überzogen; Nahtstellen, verborgene Eingänge für Kabel oder Infrarot-Schnittstellen. Als er langsam näherkam, erfasste er erst die immense Dimension des Kerns: die Säule hatte einen Durchmesser von gut vier Metern, wenn nicht sogar noch mehr, und erstreckte sich bis zur Decke des hallenartigen Raumes. Auch hier standen Speicherblöcke, allerdings nicht mattschwarz, sondern chromglänzend. Watanabe berührte ihn an der Schulter und schob ihn so noch näher an den Kern heran, während sich sein Gefolge im Halbkreis um sie herum aufstellte. Nikolai sah die Eisblumen auf dem Metall, als er nur noch einen knappen Meter von der Säule entfernt war. „Wunderschön, oder?“, fragte Watanabe verträumt. „Naja, ich weiß ja nicht“, entgegnete Nikolai skeptisch. „Ich bin kein großer Technik-Experte. Ich würde nur gerne langsam mal aus diesem Eisschrank heraus.“ „Natürlich.“ Watanabe strich beinahe zärtlich über eine bestimmte, schwarz eingerahmte Stelle. Leise surrend fuhren die fugenlos zusammengefalteten Metallblätter beiseite und gaben den Blick frei auf einen kleinen Display und eine hellblau eingefasste Öffnung. „Und jetzt?“, fragte Nikolai, ein wenig ratlos, was genau er jetzt tun sollte. „Jetzt legen Sie bitte ihren rechten Zeigefinger in die Öffnung. Im Inneren befindet sich eine Nadel, die die erforderliche Blutprobe entnimmt. Wir haben das System vor einigen Jahren umgerüstet, sodass nur noch ein einzelner Tropfen erforderlich ist.“ Wie praktisch. Er schickte ein letztes stummes Gebet an jeden Gott, der gewillt war ihm zuzuhören, ehe er Watanabes Anweisung Folge leistete. Sergejs Magen krampfte sich vor Aufregung zusammen, doch das registrierte er schon gar nicht mehr. Die Matrix und die Bilder aus Nikolais Sensorium liefen momentan parallel, während seine Finger so hektisch wie nie über die Tasten flogen. Er schaltete kurz entschlossen das Sensorium ab; jetzt musste es ohne gehen. Gleich war es soweit. Gleich fiel der Startschuss für den größten Run seines Lebens. Das Metall war eiskalt um seinen Finger, aber er spürte das leichte Pulsieren der Elektronik im Inneren, beinahe wie ein echter Herzschlag. Leichter Ekel überrollte ihn bei diesem Gedanken; immerhin lebte dieses Ding, auf irgendeine seltsame und verdrehte Art und Weise lebte es tatsächlich, und sein Blut würde ihm den Todesstoß versetzen. Ein einzelner Tropfen warmes, rotes Blut… Nikolai war so in Gedanken versunken gewesen, dass er zusammenzuckte, als sich die Nadel in seine Fingerkuppe bohrte, gierig den austretenden Blutstropfen aufsaugte und in das Innere des Kerns schickte. Der gesamte Raum schien für einen Moment den Atem anzuhalten; bis auf das Klicken und Rauschen der Speicherblöcke herrschte Totenstille. Als ein heller, klarer Ton aus den Tiefen der Säule erklang, atmete das Team sichtlich erleichtert auf; bis mit einem Mal die verschlungenen Adern an der Außenhaut des Kerns in einem grellen Blauweiß aufleuchteten. Geblendet kniff Nikolai die Augen zusammen. So schnell wie das Leuchten gekommen war, legte es sich auch wieder, aber kaum war es erloschen, fuhr ein unheimlicher Schlag durch seinen Körper, wie ein Stromstoß, durch seine Arme direkt ins Rückenmark und weiter ins Hirn und in die Beine. Sämtliche Muskeln erschlafften mit einem Mal; als er am Fuß der Säule zusammenbrach, war er schon nicht mehr bei Bewusstsein. Sergej sah wie sich die Sperren um CyCos Datenpyramide in Luft auflösten, zu glühenden Funken zerstoben, und katapultierte sich mit einem einzelnen Tastendruck mitten in das Gitter hinein. Das hellblaue Neon schlug über ihm zusammen wie Meeresbrandung. Die Struktur der Daten lag herrlich klar vor ihm, ungeschützt und offen; er brauchte sich nur noch zu bedienen. Plötzlich spürte er einen eiskalten Hauch an seiner Seite und er drehte sich überrascht um. Seine Augen weiteten sich in stummem Entsetzen. Er war mitten in die Falle getappt. Ein schwarzer Schatten hüllte ihn ein, erstickte ihn in seiner eisigen Kälte und riss ihn unbarmherzig mit sich, weg aus dem Gitter, hinein in eine Dunkelheit, in die ihnen niemand folgen konnte. In der Wohnung in Arakawa zuckten Melody und Makoto zusammen, als Sergej schrill aufschrie, ehe sein Körper erlahmte und er in sich zusammensackte. Watanabe und der Rest des Teams standen immer noch wie angewurzelt auf ihren Posten, als sich all die aufgestaute Energie des Kerns in einem einzige, elektromagnetischen Impuls entlud und sie alle von den Füßen holte; sie sollten erst Stunden später wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachen. Das erste, das Nikolais geschundene Nerven registrierten, war die harte Oberfläche, auf der er lag. Das nächste war der pochende Schmerz in seinem Hinterkopf. Was war bloß passiert? War er mal wieder abgestürzt? Hoffentlich hatte er es wenigstens zurück in sein Wohnklo geschafft… Mit einiger Mühe stützte er sich aus seiner Bauchlage hoch, bevor er seine Lider auseinanderquälte. Das Licht war trüb und grau; anscheinend war der Morgen schon angebrochen. Er lag auf einem blanken, von Rissen durchzogenen Betonboden, der sich unter seinen Händen rau anfühlte. Seine Gelenke knackten, als er aufstand, aber irgendetwas in seinem Schädel knackte noch viel lauter, als er seine Umgebung endlich richtig wahrnehmen konnte. Nikolai hatte es immer für pure Übertreibung gehalten, wenn jemandem vor Überraschung die Kinnlade herunterklappte, doch diese Meinung musste er jetzt revidieren. Er stand auf einer kreisrunden, kahlen Plaza, umgeben von Gebäuden in verschiedenen Stadien des Verfalls. Wolkenkratzer, Wohnblöcke, Geschäfte, Cafés: alles sah aus, als hätte entweder ein Tornado oder ein Krieg in dieser Stadt getobt. Der Himmel über ihm hatte die Farbe von stumpfen Blei; die Luft schmeckte nach Asche und Eisen. Aber erst als er ein paar Schritte gegangen war und genau in die Mitte des Platzes stand, sah er ihn: ein riesiger Turm, bestimmt mehrere hundert Meter hoch, der sich majestätisch über jeden anderen Wolkenkratzer erhob. Blankes Metall und hellblau schimmernde Adern. Nikolais Augen weiteten sich erschrocken und er presste sich reflexartig die Hand auf den Mund, als ihm bittere Galle die Speiseröhre hochstieg. Durch unsichtbare Risse in seinem Bewusstsein sickerten die Ereignisse der letzten Stunden wieder in sein Inneres, giftig und kalt wie Quecksilber. Er erinnerte sich. CyCo, der Kern, die Nadel… Aber wo zur Hölle war er jetzt? War er in diesem eisigen Keller eingefroren und nach einem Atomkrieg wieder aufgetaut worden? Anders konnte er sich seine momentane Lage nicht wirklich erklären… „Nikko!“ Wie von der Tarantel gestochen wirbelte er herum. Sergej lief auf ihn zu, heftig winkend, als wolle er einen bereits fahrenden Bus anhalten. Nikolai rührte sich nicht, bis er bei ihm angekommen war; er konnte nichts anderes tun als starren. Leise keuchend stützte der Hacker seine Hände auf die Knie; anscheinend war er recht weit gelaufen. Sein Zopf hatte sich gelöst, das dunkle Haar fiel ihm in wirren Strähnen ums Gesicht und auf der rechten Wange hatte er einen dunklen Rußfleck. „Hätte nicht gedacht, dass ich dich hier finde“, sagte er und grinste schief, scheinbar bemüht die Situation aufzulockern. Nikolai hakte seine Daumen in die Gürtelschnallen und runzelte die Stirn. „Hast du irgendeine Ahnung, wo wir hier sind?“ „Die hab ich allerdings.“ Auch er legte die Stirn in Falten. „Ich glaube, wir sind im Inneren der KI.“ Beinahe hätte Nikolai losgeprustet. „Bitte was? Im Inneren der KI? Wie soll das denn gehen?“ Der Blick, den Sergej ihm zuwarf, konnte man nur als genervt beschreiben. „Wie genau das funktioniert weiß ich auch noch nicht hundertprozentig, aber ich glaube, durch meine Direktverbindung mit der Matrix, deine Direktverbindung mit der KI und den Virus in deiner DNS wurde unser Bewusstsein wohl in das Innere des Speichers transferiert… Wahrscheinlich gab es eine extrem üble Rückkopplung mit deinem Sensorium.“ Nikolais Kopf fuhr so schnell herum, dass er seine Wirbel knacken hörte. „Mein bitte was? Du hast mir ein Sensorium verpasst?!“ Zumindest hatte Sergej den Anstand einigermaßen schuldbewusst auszusehen. „…Ja.“ „Und wieso hast du mir das nicht erzählt? Oder, viel besser, mich um Erlaubnis gefragt?“ „Die Erlaubnis hättest du mir doch sowieso nicht gegeben und gesagt habe ich es dir nicht, weil ich genau dieses Theater vermeiden wollte!“ Wütend fletschte er die Zähne. „Entschuldige, dass ich es nicht mag, wenn jemand meinen Körper als bessere Sicherheitskamera missbraucht!“ „Darum ging es doch gar nicht, und das weißt du!“ „Aber, aber. Wer wird denn gleich streiten?“ Die beiden Streithähne hielten inne und drehten sich in die Richtung, aus der die honigsüße Stimme gekommen war. Ihre Augen weiteten sich praktisch synchron. Vor ihnen, wie aus dem Boden gewachsen, stand der wahrscheinlich merkwürdigste Mensch, der ihnen je unter die Augen gekommen war. Er war jung, fast noch ein Teenager, mit schneeweißer Haut, sehr groß und sehr mager, mit langen, spinnenartigen Gliedmaßen. Seine Kleidung schien aus irgendwelchen schwarzen, weißen und grauen Lumpen zusammengenäht zu sein, die wahllos um Brust und Hüfte geschlungen waren, so dass er wenigstens halbwegs anständig bedeckt war. Nikolai spannte unwillkürlich die Muskeln an und schob sich ein Stück vor Sergej; er traute diesem seltsamen Ding nicht über den Weg. Pechschwarzes, zerzaustes Haar hing ihm bis auf die Schultern herab und malte dunkle Tintenstriche auf seine Wangen, als er ein paar Schritte vor ihnen stehenblieb und sich neugierig vorbeugte, schmale Lippen zu einem Lächeln verzogen. „Streitet euch nicht“, bat der Fremde sanft. „Ich bekomme so selten Besuch… Hier drin ist es einsam geworden.“ Ein entscheidendes Rädchen in Sergejs Hirn schien einzurasten und er machte einen Schritt nach vorne. „Bist du die KI?“ Die schmalen Lippen zogen sich zu einem breiten Lächeln auseinander und entblößten dabei strahlend weiße, spitze Zähne. „Oh, du hast mich erkannt!“ Wie ein Kind klatschte er in die Hände. „Wie schmeichelhaft!“ „Hast du einen Namen?“, fragte Sergej. Die KI hielt einen Moment inne und sagte dann langsam, so als wäre er sich nicht sicher: „Splitter.“ „Splitter?“, hakte Nikolai überrascht nach. „Ja… Ich… Ich bin nur ein Splitter von dem, was einmal war…“ Fahrig fuhr sich Splitter mit der Rechten übers Gesicht, so als hätte er Kopfschmerzen. Sergej warf Nikolai einen skeptischen Blick zu; dieser nickte nur. „Okay… Hör zu, Splitter. Mein Partner und ich müssen kurz etwas miteinander besprechen. Wir sind gleich wieder da, okay?“ Die KI legte den Kopf schief und nickte dann langsam. „Ihr kommt aber wieder, oder?“ „Klar. Dauert auch nicht lange.“ Sprach's, hakte sich bei Nikolai ein und zog ihn mit sich, in eins der leerstehenden Häuser, die die Plaza umgaben. Die ganze Zeit spürten sie dabei Splitters Blick im Nacken. In der Ruine angekommen, ließ sich Sergej auf einen Mauerrest fallen. „Und, was hältst du von der Sache?“ „Ich weiß nicht“, antwortete Nikolai langsam. „Liegt das an mir oder ist diese KI ein bisschen komisch?“ „Ein künstlich erschaffenes Bewusstsein ist wahrscheinlich nie ganz clean, aber ich verstehe was du meinst.“ Nachdenklich starrte der Hacker auf den Boden. „Ich war mir sicher, dass der Virus in deiner DNS ausreichen würde um die KI ein für alle Mal umzulegen, aber anscheinend habe ich mich da getäuscht. Eva hat ihr Spielzeug scheinbar auch für solche Eventualitäten ausgerüstet.“ „Und wie kommen wir hier wieder raus?“ „Keine Ahnung.“ Wütend kickte Nikolai einen Gipsbrocken gegen die Wand, der prompt zerplatzte und die Luft weiß färbte. „Wie, du hast keine Ahnung?“, fragte er aufgebracht. „Du bist doch der Meisterhacker, oder nicht? Dann lass dir gefälligst auch was einfallen! Ich will zurück in meinen Körper!“ „Ich doch auch!“, hielt Sergej dagegen. „Aber… Nein, das ist wahnwitzig. Obwohl… Es könnte klappen… Wenn wir Glück haben.“ „Hör auf in deinen nicht vorhandenen Bart zu murmeln und weih mich ein“, forderte Nikolai. Als Sergej den Kopf hob, funkelten seine dunklen Augen verschmitzt. „Du erinnerst dich doch an diesen riesigen Turm, der aussieht wie der Kern der KI bei CyCo, oder?“ „Ich hab keinen IQ von dreihundert, aber so senil bin ich auch wieder nicht.“ „Gut. Wenn wir annehmen, dass das, wo wir uns gerade befinden, eine Art Abstraktion der eigentlichen Konstruktion der KI ist, dann dürfte der Turm das Herzstück beinhalten. Das heißt, dass es dort ein Steuermodul geben müsste, mit dem man die KI manuell abschalten kann. Dann müsste unser Bewusstsein auch wieder in die eigentliche Quelle transferiert werden, schließlich sind wir kein programmierter Bestandteil ihrer Struktur.“ „Und im Klartext?“, fragte Nikolai nach. „Im Klartext: ich muss in den Turm rein, den Hauptcomputer finden und das alles hier abschalten!“ „Oh oh, das klingt aber gar nicht nett.“ Erschrocken sahen sie nach oben. Splitter baumelte von einem der wenigen intakten Dachbalken, offensichtlich nicht erfreut von dem, was er gehört hatte. „Dabei war ich doch so nett zu euch.“ Er ließ sich fallen und landete elegant in der Hocke. Als er aufstand, sah Nikolai in dem spärlichen Licht seine Augen funkeln. Er hatte harte Augen, dunkelgrau mit hellen Einschlüssen, wie Glimmerbrocken in Granit. Langsam kam er auf sie zu, den Kopf gesenkt. „Wieso wollt ihr denn schon gehen? Und mir auch noch wehtun?“ Sein Tonfall war weinerlich, wie bei einem kleinen Kind das seinen Willen nicht bekam. „Ihr habt mir doch schon wehgetan… Irgendwas hat ganz schlimm gebrannt…“ Erst als er direkt vor ihnen stand, hob er den Kopf, sah ihnen voll ins Gesicht, die Lippen gespitzt wie eine Rosenknospe. „Naja, wenn ihr mir wehtut, dann kann ich das ja auch, oder?“ Nikolai reagierte sofort. Mit der Linken schubste er Sergej so heftig zur Seite, dass er beinahe gefallen wäre, mit der Rechten griff er nach seinem Messer und blockte gerade noch rechtzeitig Splitters erste Attacke ab. Die Nägel der KI waren mit einem Mal lang und scharf wie Skalpelle und Nikolai schaffte es nicht, sich rechtzeitig wegzudrehen, sodass ihm der Daumennagel eine lange blutige Scharte in die Wange riss. Gespannt wie eine Sprungfeder stand er ihm nun gegenüber; mit einem schnellen Sprung hatte er sich außerhalb seiner Reichweite postiert. Sergej stand an der leeren Türöffnung und beobachtete den Kampf mit stoischer Ruhe. Splitter legte wieder den Kopf schief und leckte sich langsam und bedächtig das Blut vom Daumen. Als die rote Flüssigkeit seine Zunge berührte, zogen sich seine Pupillen mit einem Mal zusammen und wurden dann lang und schmal wie Katzenpupillen. „So ist das also.“ Der kindliche Unterton war aus seiner Stimme verschwunden. „Das bist du also…“ Während Splitter wie erstarrt dastand, nutzte Nikolai seine Chance und floh aus dem engen Gebäude, raus auf den offenen Platz. Sergej folgte ihm. „Was war denn das für eine komische Aktion?“ „Keine Ahnung, aber hoffen wir, dass er so schnell nicht mehr zu sich kommt. Los, wir müssen zum Turm.“ Sie bogen in eine Straße ein, die in die Stadtmitte zu führen schien, dorthin, wo sie den Turm vermuteten. „Und du bist dir sicher, dass das klappt?“ „Nein. Aber eine andere Möglichkeit haben wir nicht!“ Splitter sah dem davoneilenden Paar nach und leckte sich nachdenklich über die Lippen. Seine Kopfschmerzen waren besser geworden, er konnte wieder einigermaßen klar denken. Das nervige Interferenz-Rauschen hatte sich in seinen Hinterkopf verlagert und übertönte nun nicht mehr alles mit seinem störenden Knacken. Träge setzte er sich in Bewegung, den beiden hinterher, die grauen Augen unfokussiert und trübe. Vielleicht würde sich bald auch der Rest des Nebels lichten… Sie machten Pause in einer halb zusammengefallenen Kirche; die Straße, an der sie stand, war voller Trümmer eines kollabierten Bürogebäudes. Stahlträger ragten wie groteske, moderne Skulpturen in den dunkelgrauen Himmel. Nikolai lehnte mit dem Rücken an der Wand und starrte blicklos an die mit verblassten Malereien bedeckte Decke. „Wie weit sind wir noch weg vom Turm?“ Sergej zuckte mit den Achseln. „Schwer zu sagen. Wenn wir das Tempo halten, dann vielleicht eine halbe Stunde.“ Nikolai knabberte gedankenverloren auf seiner Unterlippe herum. „Weißt du, was ich mich immer noch frage?“ Wenn wir hier nur als Bewusstsein existieren, wieso nehmen wir dann trotzdem haptische Reize wahr? Wieso funktionieren unsere Implantate weiterhin? Und welche Folgen haben solche Sachen“ Er deutete auf den Schnitt an seiner Wange. „Für unsere echten Körper?“ Auffordernd sah er Sergej an, der mit konzentriert gerunzelter Stirn auf den staubigen Boden starrte. „Okay, ich hätte da eine Theorie“, begann dieser schließlich. „Unsere Implantate und der ganze andere Kram funktionieren wahrscheinlich, weil wir in dieser Welt als eine Art Programm existieren. Jedes Computerprogramm funktioniert anders, erfüllt andere Zwecke und muss dementsprechend auch andere Parameter bedienen, wenn du verstehst was ich meine. Durch mein Implantat und dein Sensorium wurden wahrscheinlich entsprechende Daten über unsere Körper und deren Beschaffenheit heruntergeladen, die dazu dienten, die Körperbilder zu formen, die wir momentan vor uns sehen. Das wir optische, akustische und haptische Reize weiterhin wahrnehmen, liegt wahrscheinlich auch an deinem Sensorium. Hättest du keins gehabt, würden wir hier bestimmt als pure Präsenzen existieren, wie im Cyberspace. Ich denke, dass es auf unsere realen Körper keinen Einfluss hat, wenn wir uns hier verletzten, zumindest nicht so lange es nur Schürfwunden und Prellungen sind. Wenn die KI durch diese doppelte Schnittstelle tatsächlich so eng mit unseren Körpern verknüpft ist wie ich denke, dann würde aber eine Amputation beispielsweise zum Absterben der Nerven im entsprechenden Körperteil führen… Und ein Tod hier würde höchstwahrscheinlich auch einen Tod in der realen Welt bedeuten, oder zumindest ein dauerhaftes Koma. Aber wenn wir die KI an sich abschalten, dann müssten wir in unsere Körper zurückkehren, da wir ja kein integraler Bestandteil sind und dementsprechend an unseren Ursprungsort zurückgeschickt werden. Das ist ungefähr so, als würde man einen USB-Stick in einen Computer stecken: wenn der Computer abstürzt, sind die Daten auf dem Stick trotzdem weiter vorhanden.“ „Tolle Theorie“, kommentierte Nikolai trocken. „Sehr beruhigend.“ Schweigen senkte sich auf sie, während sie die zersplitterten Kirchenbänke und den mitten durchgebrochenen Altar betrachteten; es sah aus, als hätte hier jemand eine Bombe hochgejagt. „Nur mal so fürs Protokoll: ich bin verdammt sauer auf dich.“ Der Hacker winkte nur müde ab. „Weiß ich, weiß ich. Tut mir Leid. Glaub mir, ich hatte das Ganze auch entschieden anders geplant, aber ändern kann ich's jetzt auch nicht mehr, schließlich-“ „Sch.“ Nikolai legte ihm einen Finger auf den Mund und brachte ihn so effektiv zum Schweigen. Seine bernsteinfarbenen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Hier schleicht jemand rum.“ „Deine Ohren sind wirklich gut.“ Splitter trat hinter einer geborstenen Säule hervor, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. „Aber etwas anderes hätte ich von meinem Meister auch nicht erwartet.“ Verwirrt sah er zu Sergej, der zuckte jedoch nur mit den Achseln. Kurz entschlossen zog er sein Messer und stellte sich in Position. Sie hatten den Altar im Rücken und das Kirchenportal direkt vor ihnen; doch durch den Mittelgang kam Splitter auf sie zu, und es war mehr als fraglich, ob er sie einfach so vorbeilassen würde. Die KI machte jedoch keine Anstalten anzugreifen; sie blieb einfach ein gutes Stück von ihnen entfernt stehen und stützte die Hände in die knochigen Hüften. „Denkst du, dass du mir mit so einem Ding wirklich wehtun kannst?“ „Probier's doch aus“, knurrte Nikolai, den Daumen fest auf dem rutschsicheren Griff. Splitter lächelte katzenhaft. „Wie du willst.“ Sergej sah nur einen weißen Blitz, der den Mittelgang entlanghuschte; keine halbe Sekunde später stand Splitter direkt hinter Nikolai und hielt ihm einen rasiermesserscharfen Fingernagel direkt an den Hals. Der Hacker wollte eingreifen, doch sein Partner bedeutete ihm stehenzubleiben. Er umklammerte sein Messer so fest, dass seine Knöchel schneeweiß hervortraten; ansonsten rührte er sich nicht. Splitter beugte sich vor, sodass sein Kinn auf der Schulter seines Opfers zu liegen kam und ritzte die blasse Haut leicht an. Ein dünner Blutfaden lief Nikolai den Hals hinunter und eine warme, feuchte Zungenspitze tanzte über den flachen Schnitt. „Hm…“ Die KI klang, als würde sie einen teuren Wein verkosten. „Du bist es wirklich… Ich war mir erst nicht sicher, aber jetzt schmecke ich es ganz deutlich… Meister. Wie schön, dass du endlich gekommen bist.“ Der Nagel wurde zurückgezogen, dafür schlangen sich seine mageren Arme nun um Nikolais Oberkörper und pressten ihn fest gegen den seltsamen Körper der KI. Auf diese Chance hatte er gewartet. Nikolai fasste seine Waffe etwas lockerer und rammte Splitter die Klinge mit aller Kraft in den Oberschenkel, nur um sie dann unbarmherzig nach oben zu reißen. Er spürte deutlich, wie die blanke Klinge das Fleisch zerschnitt und am Knochen entlangschabte. Ein geradezu trommelfellzerfetzender Schrei entrang sich Splitters Kehle und er stieß Nikolai instinktiv von sich fort, ehe er auf ein Knie fiel. Aus der tiefen Wunde plätscherte eine schwarze, bitter riechende Flüssigkeit, und die KI presste beide Hände darauf, um die Blutung zu stoppen. Dabei funkelte er ihn finster an. „Das war nicht nett, Meister. Ich hätte euch schon nichts getan…“ Er verzog das Gesicht und lockerte seinen Griff ein wenig. „Oh, verdammt, tut das weh! Wer hätte gedacht, dass so ein kleines Ding so viel Schmerz verursachen kann… Aua, au…“ Seine Hände und sein Bein waren schon komplett besudelt; unter ihm bildete sich langsam aber sicher eine schwarze Pfütze, deren Oberfläche regenbogenfarben schimmerte, wie Öl auf Wasser. „Nikko, komm, wir müssen hier weg!“ Nikolai war wie angewurzelt stehen geblieben und hatte den Verletzten angestarrt, angewidert und fasziniert im selben Atemzug. Erst Sergejs Stimme riss ihn aus seiner Trance und er drehte sich weg. Dafür hatte Splitter nun aber Sergej ins Auge gefasst. „Lass die Hände von meinem Meister! Du bist derjenige, der mich auslöschen wollte, oder? Zum Glück habe ich dich noch erwischt! Ich werde dich auch nochmal erwischen!“ Seine schrillen Schreie klangen ihnen noch eine ganze Weile in den Ohren. Nikolai war bleich wie ein Laken. „Wieso nennt er mich Meister?“ Die Frage war eher an ihn selbst gerichtet, Sergej beantwortete sie aber trotzdem. „Ich glaube, ich weiß wieso. Du bist doch Evas Klon, oder? Wahrscheinlich hat er das in deiner DNS erkannt und akzeptiert dich sozusagen als ihr Kind… Wenn Eva seine Königin, seine Mutter war, dann ist es nur logisch, dass du jetzt sein neuer Meister bist.“ Ein kurzes Nicken war die Antwort; das klang für ihn logisch genug. „Sergej?“ „Hm?“ „Wenn wir noch mal auf diesen Typen treffen, will ich, dass wir uns trennen. Du rennst so schnell du kannst zum Turm und ich versuche ihn abzulenken. Er hat ja scheinbar eh einen Narren an mir gefressen.“ Der Hacker runzelte die Stirn. „Aber…“ „Kein Aber, verstanden? Im Kampf bist du mir sowieso nur im Weg.“ Sergej nahm diesen Kommentar so wie er gemeint war: als Nikolais Art ihm zu sagen, dass er ihm wichtig war. Splitter betrachtete den tiefen Schnitt in seinem Bein, der sich nur langsam schloss. Der Schmerz jedoch fing bereits an abzunehmen; bald würde er wieder laufen können. Verdrossen starrte er in Richtung Kirchenportal. Das Blut seines Meisters hatte bereits geholfen, doch ganz war der Nebel noch nicht verschwunden, der sich wie giftiger Mehltau auf seine Rezeptoren und Synapsen gelegt hatte. Aber das war kein Problem. Weit konnte er nicht gekommen sein, und wenn er ihn erstmal eingeholt und dieses lästige Anhängsel beseitigt hatte, das ihn unbedingt loswerden wollte, dann würde sich alles einrenken… Er kam wieder auf die Beine, allerdings wesentlich weniger elegant als sonst, und humpelte zum Portal. Bei jedem Schritt wurde er sicherer und als er endlich den Mittelgang hinter sich gebracht hatte, lief er wieder so leichtfüßig wie immer. Das schwarze Blut an seinem Bein und seinen Händen sah aus wie eine düstere Kriegsbemalung, als er auf die halb zerstörte Straße trat. „Fast geschafft!“, keuchte Sergej. Er war bereits außer Atem, während Nikolai neben ihm immer noch so frisch wirkte, als hätte er nichts Anstrengenderes hinter sich als einen gemütlichen Spaziergang. Das jahrelange Ausdauertraining zahlte sich letztendlich aus, wie er schadenfroh bemerkte. Aber Sergej hatte Recht: der Turm war vielleicht noch fünfhundert Meter von ihnen entfernt, wenn nicht sogar weniger. Jetzt, wo sie ihm so nahe waren, realisierten sie erst seine ungeheuren Dimensionen. Der Tokio Tower hätte wahrscheinlich mindestens zweimal in dieses Gebäude gepasst. Alles, was sie noch tun mussten, war einer breiten, unversperrten Zugangsstraße bis zu seinem Eingang zu folgen… „Sergej, pass auf!“ Es wäre ja auch zu schön gewesen. Ein unheimlich lautes, metallisches Kreischen ertönte, und das stählerne Skelett eines schon lange zerfallenen Wolkenkratzers neigte sich bedenklich zur Seite, bis es schließlich unter seinem eigenen Gewicht kollabierte. Nikolai schubste Sergej in einen nahen Hauseingang, quetschte sich daneben und betete, dass sie kein Stahlträger traf und zu Mus verarbeitete. Egal ob sie hier drin nur als Bewusstsein aus Bits und Bytes existierten: es fühlte sich verdammt echt an, so echt, dass er auf die Begegnung mit einem tonnenschweren Trümmerteil wirklich verzichten konnte. Erst als das Donnern und Dröhnen auf der Straße aufgehört hatte, trauten sich die beiden wieder nach draußen. Der Staub hatte sich noch nicht gelegt, aber sie konnten erkennen, dass die Straße praktisch auf ganzer Breite von Metallschrott und Mauertrümmern versperrt war. Nikolai seufzte frustriert. „Na super… Tja, dann müssen wir uns wohl einen Weg da durch suchen.“ „Bin schon weiter als du“, ließ Sergej vermelden. Tatsächlich hatte er bereits eine Lücke zwischen den Stahlstreben entdeckt und sich hindurchgequetscht. Gerade wollte Nikolai es ihm gleichtun, als eine inzwischen vertraute Silhouette aus dem Schutz der Staubschleier trat und ihm lächelnd den Weg versperrte. „Hallo, Meister. So schnell sieht man sich wieder.“ Splitter schnurrte beinahe, während Nikolai die Fäuste ballte. „Hast du noch nicht genug?“ „Nein, leider nicht“, antwortete die KI leichthin. „Immerhin habe ich so lange auf dich gewartet… Dein Blut schmeckt anders als das von Mutter. Was bist du? Ihr Kind? Ihr leibliches?“ An seinem Gesichtsausdruck konnte Nikolai ablesen, wie weh er ihm tun konnte, wenn er „ja“ sagte, aber er blieb ehrlich: „Nein, ich bin ihr männlicher Klon.“ Das erleichterte Splitter sichtlich und er ging lächelnd auf ihn zu. „Weißt du, ich bin jetzt schon ziemlich alt, aber noch nie ist jemand außer Mutter so zu mir gekommen. Ich habe lange darauf gewartet, Meister, weißt du?“ Diesmal passte er zwar besser auf, konnte aber trotzdem nicht verhindern, dass die KI mit ihrer übermenschlichen Geschwindigkeit in Sekundenbruchteilen hinter ihm war und ihn an sich presste. „Ich habe so lange gewartet…“, hauchte er ihm ins Ohr. Nikolai wand sich in seinem Griff wie ein frisch gefangener Aal, versuchte ihm die Arme auseinander zu biegen; ohne Erfolg. Dafür, dass er so unglaublich dünn war, hatte er erstaunliche Kräfte. „Was wehrst du dich? Gefalle ich dir etwa nicht? Ich kann mich auch verändern, das ist kein Problem…“ Er ließ ihn los, packte ihn an den Schultern und drehte ihn so, dass er seine Verwandlung mitansehen konnte. Gegen seinen Willen fasziniert beobachtete Nikolai gebannt das bizarre Schauspiel. Splitters Körper schien sich mit einem Mal in warmes Wachs verwandelt zu haben; weiche Kurven entstanden dort, wo sich vorher die Haut über die Knochen spannte, das verfilzte Haar wurde lang und seidenweich und seine vorher flache Brust wölbte sich mit einem Mal so heftig, dass die fadenscheinige Lumpen Schwierigkeiten hatten, die üppige Pracht zu bändigen. Die Frau legte einen schlanken Finger an ihre vollen Lippen und klimperte mit ihren dichten Wimpern. „So besser?“ Als er nicht reagierte, lächelte sie und stellte sich provokativ in Pose. Nikolai wurde rot und sah weg. „N-Nein, vorher war es doch besser.“ „Gut.“ Im Handumdrehen sah Splitter aus wie vorher und kam ihm wieder näher. Diesmal wich er jedoch zurück, Stück für Stück, bis er schließlich mit dem Rücken an die scharfkantigen Trümmerteile stieß, die die Straße versperrten. Er hoffte nur, dass sich Sergej an ihren Plan gehalten hatte und nicht irgendwo in der Nähe lauerte, um ihm doch noch zu helfen. „Was willst du eigentlich von mir?“, fragte er mit gepresster Stimme, während er nach seinem Messer tastete. „Ich? Ich will mich mit dir vereinen, Meister.“ Splitters Glimmeraugen schimmerten hoffnungsvoll. „Als Mutter mich damals erschaffen hat, hat sie mir versprochen, dass ich nicht für immer einsam sein würde. Irgendwann würde sie mir jemanden schicken, mit dem ich dann zusammenbleiben dürfte. Ich warte schon lange, aber bisher war immer nur Mutter hier. Du und dein seltsamer Freund sind die ersten Fremden hier. Deswegen weiß ich, dass du für mich bestimmt bist…“ Er wollte ihn berühren, doch Nikolai schlug mit dem Messer nach ihm. Verletzt zog er seine Hand zurück. Der hoffnungsvolle Schimmer in seinen Augen erlosch und machte einem bösartigen Glanz Platz. „Was soll das? Du bist für mich bestimmt, begreif das doch! Wen willst du denn stattdessen? Diesen komischen Hacker? Oh, du dummes Kind!“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Druganow, so heißt er doch, oder? Sergej Druganow. Du musst wissen, ich habe Zugriff auf praktisch alles in der Matrix, auch auf alles was deinen kleinen Freund betrifft, und das Meiste davon ist nicht schön…“ „Spar dir dein Geplapper für jemanden den es interessiert!“ Nikolai warf seine Lederjacke ab und griff nach den Dolchen, die samt Lederscheide ordentlich an seinen Oberarmen festgeschnallt waren. Die Klingen waren nur fünfzehn Zentimeter lang, aber aus einem speziellen, gehärteten Stahl und rasiermesserscharf. Splitter sprang überrascht zurück, als er in einer schnellen, glatten Bewegung beide Dolche nach unten riss und der KI so beinahe ein dekoratives X in den Bauch geritzt hätte. „Gefällt dir wohl nicht, wenn jemand was Schlechtes über diesen Sergej sagt, was? Aber soll ich dir was sagen: du kennst ihn gar nicht richtig! Du weißt gar nicht, was er für ein Mensch ist!“ „Und du bist nicht mal ein Mensch!“, pfefferte Nikolai zurück, ehe er erneut angriff. Seine Implantate arbeiteten auf Hochtouren; jeder Tritt, jeder Schwung mit den Klingen, jede einzelne Bewegung saß perfekt. Trotzdem war die KI schneller als er, blieb hartnäckig gerade so weit aus seiner Reichweite, dass er sie mit den Spitzen seiner Dolche maximal kitzeln konnte. Und ihr Mundwerk stand dabei nicht einen Moment lang still. „Du hast ihm nie was bedeutet, weißt du das? Du warst für ihn ein netter kleiner Fick zwischendurch, das ist alles! Denkst du er liebt dich? Quatsch! Du warst ihm damals nützlich und du bist ihm heute nützlich! Damals hat er dich mit Informationen bezahlt und heute mit neuen Organen und Implantaten! Er ist kein rettender Engel, kein besserer Mensch als du, nicht mal ansatzweise!“ Für einen Moment ließ er seine Deckung außer Acht und Nikolai nutzte die Lücke sofort aus. Mit der Kraft der schieren Wut packte er ihn an der Schulter und knallte ihn auf den Boden, bohrte ihm die Knie in den Bauch und rammte die Klingen seiner Dolche in zwei dünne Risse im Boden, sodass Splitters Hals beidseitig von rasiermesserscharfen Stahl eingerahmt war. Er lächelte nur süßlich und sah mit einem provozierenden Unschuldsblick zu Nikolai auf, dessen Gesicht vor Wut beinahe so weiß war wie sein eigenes. „Sag mir eines, Meister: wie fühlt man sich so als Stricher?“ „Ich hasse dich“, stieß er heiser hervor. „Wirklich? Hasst du wirklich mich oder nicht viel eher die Tatsache, dass du nun schon zum zweiten Mal auf ihn reingefallen bist?“ „Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nur dich hasse“, entgegnete Nikolai ruhig und positionierte seinen rechten Dolch so auf Splitters Brustkorb, dass er nur noch zustechen musste. Die vorstehenden Rippen der KI erwiesen sich dafür als überaus praktisch. „Schade. Dann muss ich mich wohl mehr anstrengen.“ In einer ungeheuren Kraftanstrengung schleuderte Splitter ihn von sich herunter; Nikolai landete schmerzhaft auf seinem Steißbein und sprang sofort wieder auf. Er und Splitter umkreisten einander wie wilde Tiere, bereit, jederzeit übereinander herzufallen. „Du kannst wirklich gut mit deinen Messern umgehen, Meister. Du wurdest sehr gut ausgebildet. Sag mir, wie viele Menschen hast du umgebracht?“ „Ich habe nicht mitgezählt“, zischte Nikolai. Eine glatte Lüge; die Zahl stand ihm Tag für Tag wie mit Neon gemalt vor Augen, aber das musste diese Abnormität ja nicht wissen. „Weißt du, in meinem langen Leben habe ich mich auch intensiv mit Psychologie beschäftigt“, sagte Splitter im Plauderton. „Und soll ich dir sagen, wieso du Sergej so anziehend findest? Weil du denkst, dass er dein Gegenpol ist, dein reines Gegenstück, nicht mit diesem Pestkreis aus Blut gezeichnet, der dich so anwidert, ohne den du aber auch nicht leben kannst. Hätte dich jemand von den Yakuza in Shinjuku aufgelesen und mit nach Hause genommen, wärst du abgehauen und hättest deinen langsamen Selbstmord fortgesetzt. Aber bei Sergej hast du durchgehalten… Und das nur, weil du ihn als deinen Retter akzeptieren kannst. Du siehst ihn als etwas Besseres, als jemanden der über dir steht, mit mehr Moral, mehr Integrität, aber dennoch nicht so fern, dass du dich ihm nicht nähern kannst. Du leugnest es, vor der gesamten Welt und sogar vor dir selbst, aber du kannst es nicht ewig verschweigen: du bist jemandem verfallen, der sogar noch mehr Blut an den Händen kleben hat als du!“ Nikolai hielt inne, die Dolche immer noch kampfbereit erhoben. „Wie meinst du das?“, fragte er beherrscht. Splitter stemmte wieder die Hände in die Hüften. „So wie ich es gesagt habe. Dein Sergej wird in mehr als zehn Ländern gesucht, und zwar wegen Mord, Entführung und ähnlichen Spielereien.“ „Lüge“, stieß Nikolai hervor, die Hände so fest um die Dolchgriffe gekrampft, dass er es in seinen Knöcheln knacken hörte. In seinem Magen ballte sich ein eiskalter, tonnenschwerer Klumpen der Angst zusammen. Die Kälte schien in seinen ganzen Körper auszustrahlen und ließ seine Glieder schwer und unbeweglich werden. Splitter schmunzelte. „Nein, keine Lüge. Darauf kann ich dir Brief und Siegel geben. Oh, Druganow hat sich mitnichten selbst die Hände schmutzig gemacht. Sein eigener Pestkreis ist wesentlich weiter gestreut. Er hat Aufträge erteilt und allerhöchstens auf den Knopf gedrückt, der die Bombe hochgejagt hat. Auch ein Hacker kann nicht alle seine Feinde durch die Matrix beseitigen, weißt du? Er hatte nicht mal den Mut, selbst auf den Abzug zu drücken oder jemandem eigenhändig die Kehle durchzuschneiden, dafür ist er nicht taff genug. Aber jemanden zu engagieren und ein paar Tage später die Todesanzeige in der Tageszeitung zu lesen, das ist ja auch viel bequemer… Und beschert einem weniger Albträume.“ Seine Arme waren inzwischen tonnenschwer, seine Finger kraftlos. Klirrend fielen seine Dolche zu Boden. Stumm starrte er auf die blanken Klingen, die glänzend und tödlich vor seinen Füßen lagen. Mit katzenhafter Anmut schlich Splitter näher und schlang ihm schließlich die Arme um den Oberkörper, drückte ihn an sich. Nikolai spürte den Herzschlag der KI: gleichmäßig und mechanisch wie ein Uhrwerk. Sein eigenes Herz raste, pochte heftig gegen seine Rippen, als wolle es seinem knöchernen Gefängnis entkommen. „Ich bin da, Meister“, flüsterte Splitter andächtig. „Ich lasse dich nicht allein. Ich nutze dich nicht aus, versprochen…“ „Splitter…“ Er sah zu ihm auf, einen verdächtigen Glanz in den Augen. Das heftige Pochen seines Herzens wurde schwächer, sein rasender Puls beruhigte sich, die schmerzhafte Anspannung wich aus seinen Muskeln. Langsam hob er die rechte Hand, legte sie Splitter auf die Wange, fuhr mit dem Daumen den Schwung seines Wangenknochens nach. „Aber eine Frage hätte ich da noch…“ „Ja, Meister?“ In einer einzigen flüssigen Bewegung riss Nikolai sein Knie hoch, traf Splitter damit voll in die Weichteile, stieß ihn von sich weg und griff nach hinten, dort wo an seinem Gürtel ein schlichter Perlmuttgriff hing. Als er auf den Stahlknopf drückte, der in der Mitte eingelassen war, sprang eine dreißig Zentimeter lange Klinge aus ihrem Gehäuse und fing fröhlich funkelnd das trübe Tageslicht ein. „Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dass ich nur zwei Dolche habe?“ Sergej hatte sich tatsächlich an den Plan gehalten. Als er Splitters Stimme hinter den Trümmern gehört hatte, hatte er sich schleunigst in eine schmale Spalte zwischen zwei Mauerresten gedrückt. Erst als er sicher war, dass Nikolai so schnell nicht nachkommen würde, schickte er ein letztes Stoßgebet gen Himmel und kletterte weiter durch die Trümmer Richtung Turm, wobei er das ungute Gefühl in seiner Magengrube tunlichst zu ignorieren versuchte. Die letzten hundert Meter bis zum Eingang des Turms überwand er problemlos und zu seiner Überraschung war sogar das Eingangstor offen, sperrangelweit offen. Vorsichtig, in ständiger Erwartung einer Falle, trat er über die Schwelle in die Eingangshalle. Geschockt blieb er keinen halben Meter von der Tür stehen. Das Innere des Turms war vollkommen leer, zumindest so weit er es erkennen konnte. Der Boden bestand aus polierten, sechseckigen Stahlplatten, die hohl dröhnten, als er über sie schritt. Als er den Kopf in den Nacken legte, konnte er nichts erkennen; die stählernen Wände verloren sich irgendwo weit oben in reiner Schwärze. Das Licht kam von einem leuchtenden, blauen Kreis im Zentrum der Halle, so als hätte jemand einen riesigen LED-Spot versehentlich nicht an der Decke, sondern im Boden angebracht. Stirnrunzelnd ging er auf diesen Kreis zu… Und trat schließlich vorsichtig darauf. Wahrscheinlich war das eine absolute Schnapsidee und unter ihm würde sich jeden Moment eine Falltür öffnen, die ihn in seinen unvermeidlichen und viel zu frühen Tod riss, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es richtig war. Als er schon eine halbe Minute auf dem Kreis stand und immer noch nichts passiert war, weder positiv noch negativ, fragte er sich für einen Moment, ob ihn sein Bauchgefühl dieses Mal getrogen hatte… Doch bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, kippte die Welt. Zumindest fühlte es sich so an. Er glaubte zu fallen, aber nicht einfach nur nach unten, sondern gleichzeitig auch nach oben, nach links und rechts und alles dazwischen. Die Welt vor seinen Augen verschwamm, löste sich in einen Wirbel aus bunten Funken auf, sodass er sich für eine Sekunde in die Matrix zurückversetzt fühlte; allerdings war ihm in der Matrix niemals so speiübel gewesen. Eine gefühlte Ewigkeit später war der wilde Ritt zu Ende und er lag keuchend auf dem blau leuchtenden Boden. Doch als er einen schnellen Blick in die Runde warf, wurde ihm bewusst, dass er mitnichten auf demselben Fleckchen Erde lag, auf dem er vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte. Der blaue Kreis befand sich nun inmitten eines kreisförmigen Flurs, von dem mehrere Schiebetüren abgingen. Hastig rappelte sich Sergej auf und verließ den Kreis, ehe dasselbe noch mal passierte. Was genau war eben eigentlich passiert? Teleportation? Hätte er sich in der realen Welt befunden, hätte er diese Theorie mit einem höhnischen Lachen und mindestens fünf verschiedenen Gründen abgetan, nach denen Teleportation absolut unmöglich war. Aber hier bestand er theoretisch nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Bits und Bytes… Bevor er sich an der Lösung dieses Problems festbeißen konnte, schüttelte er energisch den Kopf und schritt auf die erste Tür zu. Mit den interessanten Gegebenheiten dieser Welt konnte er sich später ausführlich auseinandersetzen, wenn er seinen Körper wieder hatte; seine momentane Mission war es, dafür zu sorgen, dass sie möglichst schnell wieder in ihre jeweiligen Körper zurückkehren konnten. Mit einem hydraulischen Zischen öffnete sich die erste Tür, die sich jedoch als Enttäuschung erwies: in dem kahlen Raum, der dahinter lag, waren lediglich Kartons gestapelt, vollgestopft mit allem möglichen Krempel. Bei den nächsten zwei Türen lief es ähnlich: eine führte in eine Bibliothek, in der tatsächlich noch gedruckte, gebundene Bücher standen, und die andere in einen ähnlichen Lagerraum. Aber bei der vierten Tür hatte er Glück: er wurde von dem vertrauten, grünlichen Glühen eines hochwertigen Monitors begrüßt. Außer einem massiven, etwas altmodischen Terminal stand nichts in dem Raum, abgesehen von einem recht abgewetzten Bürostuhl, den sich Sergej kurz entschlossen heranzog. Als er vor der Tastatur saß, atmete er einmal tief durch. Nikolai mochte der bessere Kämpfer von ihnen sein, aber wenn es um Computer ging, reichte ihm niemand so schnell das Wasser. Aus einer eingebauten Schublade zog er einen Satz Kabel und suchte sich die raus, die in sein Implantat passten. Das Gefühl beim einstecken war fremdartig; es kribbelte an der Innenseite seines Schädels, ein rhythmisch pulsierender Schmerz machte sich in seinen Schläfen breit. Das, was er hier vor sich sah, war nicht der Cyberspace mit dem er praktisch aufgewachsen war, sondern etwas völlig anderes. Vor einem schneeweißen Hintergrund bauten sich leuchtend rote Gitter und Datengebilde auf, zwischen denen Befehle und Subprogramme wie seltsame Blüten hingen, aneinandergeknüpft mit bunten Neonfäden, die wie DNS-Stränge gedreht waren. Das, was er hier vor sich sah, war das Innere einer KI, ihr Herz, Hirn, Nervensystem und Muskelapparat in einem. Eine beinahe heilige Erregung erfasste ihn: so nah würde er einem so außergewöhnlichen Gebilde nie wieder kommen. Im Inneren gab es keine Virusprogramme und Abwehrmechanismen, vor denen er sich in Acht nehmen musste; trotzdem musste er aufpassen. Die Programmierung der KI hatte bösartige Zacken und tiefe Grate, Schlünde, durch die er in das blanke Chaos sehen konnte, aus dem sie geboren worden war. Er tippte langsam, bedächtig, was zum einen der ungewohnten Tastatur und zum anderen der Wichtigkeit der Lage geschuldet war. Dabei entdeckte er, dass sein Virus doch wesentlich mehr Schaden angerichtet hatte, als er zunächst vermutet hatte. „Das ganze Ding ist ein einziger fauler Zahn“, stieß er aufgeregt hervor. Auf seinen Wangen zeichneten sich hektische rote Flecken ab. „Ein Schubs an der richtigen Stelle und hier kracht alles zusammen. Super!“ Sergej tippte immer schneller, das innere Auge permanent auf die roten Strukturen gerichtet, die unter seinen flinken Fingern zu erzittern schienen. Nur noch wenige Anschläge, und er hatte hier absolut alles unter Kontrolle, nur noch ein Code und sie konnten zurück, bald war der Spuk vorbei… „Sergej.“ Er erstarrte in seiner Bewegung und drehte sich um. Nikolai war ihm doch noch hinterhergekommen! Hieß das, er hatte die KI abschütteln können? Sergejs Lächelnd erstarrte auf seinen Lippen, als er endlich verstand, was genau er da vor sich sah. Im unbarmherzigen, weißen Licht der LED-Spots sah Nikolai aus wie einem Horrorfilm entsprungen. Sein rechter Arm endete wenige Zentimeter über den Ellenbogen; er sah das schartige Weiß des Knochens, der aus dem zerfetzten, blutverschmierten Fleisch ragte. „Sergej…“, sagte Nikolai noch einmal, mit ersterbender Stimme, und sackte auf dem sterilen Boden zusammen. Endlich reagierte Sergejs Körper wieder. Er riss sich die Kabel aus den Implantaten und eilte zu ihm, stützte ihn, sodass er halb auf seinem Schoß zu liegen kam. Auch auf der Stirn war ein tiefer Schnitt; Nikolais rechtes Auge ertrank in einem Strom aus Blut. Sergej sah die breite Blutspur im Flur; wie viel Blut er wohl schon verloren hatte? Und wie viel musste er noch verlieren, damit er…? „Sergej… Ich hab ihn erwischt…“, krächzte Nikolai schwach. „Sch, nicht reden. Spar dir deine Kräfte“, sagte der Hacker hilflos. Das warme Blut aus Nikolais Armstumpf durchtränkte seine Jeans und färbte den Boden um sie herum rot. Sergej war kein Arzt, kein Sanitäter, er hatte keine Ahnung wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Sein Körper war kalt und hart, wie aus Stein gemeißelt. Nikolai hustete und spuckte einen Blutschwall direkt auf Sergejs Schoß. Die klebrige Wärme war unerträglich, genauso wie die wächserne Hautfarbe des Verletzten. Sergej packte die verbliebene Linke und drückte sie so fest, wie er wagte. „Du schaffst das, ganz bestimmt. Wir kommen hier beide zusammen raus, okay? Und dann bauen wir uns irgendwo ein neues Leben auf, nur wir beide, ja?“ Er wusste selbst wie unrealistisch das war und wie hohl seine Stimme klang, aber er konnte die Worte nicht stoppen. Noch flossen keine Tränen, seine Augen waren trocken wie die Wüste Gobi, aber tief in seiner Brust hatte sich ein Schmerz festgekrallt, der schlimmer war als alle Rippenbrüche und Herzanfälle der Welt zusammen. „Ich… Ich bin kaputt…“, sagte Nikolai stockend, den Blick starr auf Sergej gerichtet. „Magst du… mich trotzdem noch?“ „Natürlich“, flüsterte er. „Das ist doch heutzutage scheißegal… Wir besorgen dir die beste Prothese, die für Geld zu haben ist, ja?“ „Be…Beweis mir, dass du mich noch magst…“ „Okay“, sagte Sergej leise, die Kehle so fest zusammengeschnürt, dass es ihm Mühe machte, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Er beugte sich hinunter, um Nikolai seinen letzten Wunsch zu erfüllen und presste seine Lippen sanft auf die blutverschmierten seines Partners. Als er sich wieder aufrichtete, lächelte Nikolai dankbar. „Vielen Dank…“ Seine Stimme wurde wieder fester. „Ich bin so froh...“ Fassungslos verfolgte Sergej, wie sich Nikolais bernsteinfarbene Augen langsam grau färbten. Ein raubtierhaftes Lächeln schlich sich auf seine besudelten Lippen. „Wirklich, vielen Dank… Du Idiot.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)