Millenium von abgemeldet (Die Argentum-Chroniken) ================================================================================ Prolog: Der Tag des jüngsten Gerichts ------------------------------------- Wie Blätter an einem lauen Herbstmorgen fielen sie. Unendlich viele bunte, glänzende und strahlende Funken, sanken auf den Boden, tanzten, wann immer sie vom warmen Wind erfasst und erneut empor gehoben wurden. Unzählige starre Blicke, fassungslose Augenpaare, entsetzte Mienen betrachteten jenes Schauspiel, dass durch all seine Pracht und wunderliche Schönheit die Grausigkeit, der es entstammte, ganz verdrängte. Das, was man für rot-gold gefärbte Blätter oder die Funken eines Lagerfeuers halten mochte, war in der Tat nichts anderes, als die Überreste all jener, die Tapfer in die Schlacht gegen die Heerscharen der Unterwelt gezogen waren. Doch niemand, absolut niemand hatte mit einer Niederlage, ja einer Vernichtung wie dieser rechnen können. Alles, was die menschlichen Streitkräfte an Möglichkeiten aufgeboten hatte war mit einem einzigen Gegenschlag zertrümmert und ausgelöscht worden. Zurück blieben die Gesichter der unglücklichen Geschlagenen, die sich schon als die nächsten Opfer wähnten. Ihre Gesichter glichen Masken, bleiche, vor Angst verzerrte Masken. Und ihr aller Blick war auf den Schlitz gerichtet, welcher die Luft zwischen den Menschen entzwei gerissen hatte. Wie ein Erdspalt, hervorgerufen durch ein zerstörerisches Beben, sah er aus, doch reichte er senkrecht in die Höhe und seine Konturen verschwammen auf Grund der sengenden Hitze, die von ihm ausging. Silbriger, undefinierbarer Schrott war rings herum um die Scharen an Überlebenden verteilt. Er war bis vor kurzem noch Teil eines gigantischen Werkzeugs gewesen, das eben jenen Aufmarsch hatte verhindern sollen, doch die Kreatur, deren Auge von der Größe eines Hauses nun aus dem Spalt in die Welt der Menschen blickte, hatte es mit einem Schlag vernichtet. Ihr Auge glich dem Inneren eines brodelnden und hungrigen Vulkan. Es loderte voller Lust und dem einzigen Wunsch, alles, was sich ihm in den Weg stellte, dem Erdboden gleich zu machen. Über diesem einzelnen Auge ragte ein Hörnerpaar hervor, das in Richtung seiner Feinde gebeugt war. Ein schuppenbesetzte Hand, die nur drei Finger zählte, drückte den Spalt weiter und weiter auseinander, bis immer mehr des Wesens zu sehen war und schließlich zeigte sich der monströse Oberkörper des Ungeheuers aus der Unterwelt. Seine Brust war von Hornplatten besetzt, ebenso, wie sei Kiefer, der sich auf und ab bewegte und immer blanke, weiße Reißzähne entblößte. Mit einer so ruckartigen und schnellen Bewegung, wie es keiner der paralysierten, umherstehenden Menschen bemerken konnte, war die zweite Hand des Monsters hervorgeschnellt und mit geballter Kraft beider Hände riss das Wesen den Spalt auseinander, der die beiden Welten miteinander verband. „Kuul nash grazaar!“ Die Stimme, die tief aus dem Brustkorb der dunklen Kreatur hervorquoll war so verzerrt und grollend, dass den Menschen es wie ein Brüllen vorkam, dass ihnen heiße Schauer über den Rücken liefen ließ. Flammen züngelten um das riesige Monster hervor, dass sich nun über die Dächer der Stadt erhob und seine wütende Faust auf das nächstbeste Gebäude niederfahren ließ und es zertrümmerte. Horden von viel kleineren, im Vergleich zu ihrem Anführer winzigen, Kreaturen stürmten unter lauten Kreischgeräuschen aus dem nun bis in den Sternenhimmel ragenden Spalt und fielen über ihre menschliche Beute her. Der Tag des jüngsten Gerichts war angebrochen. Behemoth war erschienen. Kapitel 1: Calgary ------------------ 15 Jahre später. Leises Murmeln. Rascheln von Kleidung. Laute von Türen, die geöffnet und geschlossen werden. Ganz gedämpft. Ein furchtbar lautes Gähnen. Mit einem Satz saß das eben noch sich im Halbschlaf befindliche Mädchen auf einmal neben seinem Bett. Mit rasendem Herzen betrachtete es die Gestalt, die sich in ihre Decke wickelte und noch einmal ausgiebig gähnte, nur um sich dann die andere Seite zu drehen und weiterzuschlafen. „Percy!“ Noch immer aufgebracht von dem plötzlichen Schrecken legte sie eine Hand auf ihre Brust und zwang sich, ihren Herzschlag zu fühlen. Das beruhigte sie immer. Langsam dämmerte es ihr und ihre Erinnerungen kehrten zurück. Der blasse, zwei Jahre jüngere Kerl, der erstens in ihrem Bett lag und zweitens auch noch ihre Decke an sich gerissen hatte, war niemand anderes als Percy Donald Calgary, ihr Bruder. Nun, einer von ihren Brüdern. Als sie sich halbwegs beruhigt hatte, setzte sie sich auf die Bettkante und legte dem jüngeren eine Hand auf die Stirn. Letzte Nacht hatte der Kleine wieder einmal nicht schlafen können. Alpträume plagten ihn immer wieder, suchten ihn alle paar Wochen heim, doch zu seinem älteren Bruder wollte Percy damit nicht gehen. Sie seufzte und schmiegte sich einige Minuten an den warmen, in Decken verhüllten Körper und genoss die Nähe ihres Bruders. Er sah ihr viel ähnlicher, als es ihr Zwillingsbruder Aidan tat. Sie hatten beide das gleiche, mahagonifarbene Haar von ihrer Mutter geerbt. Außerdem besaßen sie wesentlich mehr Humor als ihr Aidan. „Naomi …“, murmelte die Gestalt unter den Daunen und zog das Mädchen zu sich. Sie lächelte, als sie die Finger des Jungen spürten, wie er nach ihrer Hand tastete und sie schließlich fand und feste drückte. „Ich will noch nicht aufstehen.“ Sie kicherte und löste sich langsam aus dem Klammergriff des Äffchen. Nicht umsonst nannte sie ihn ab und an Lemur, die hingen sich auch immer so an ihre Liebsten. „Hey mein Kleiner, du kannst ruhig noch weiterschlafen, aber dann verpasst du, wie ich zum Rosenkranz aufbreche.“ Mit einem Mal war der Junge hellwach und seine haselnussbraunen Augen starrten Naomi entsetzt an. „Das ist heute?!“, fragte er erschrocken und schmiss die Decken bei Seite. „Warum sagt mir denn keiner was?“ „Das weißt du schon seit über einem Jahr, Percy“, tadelte die ältere Schwester ihren Bruder, der nur eine grummelige, unverständliche Antwort gab. „Ich meine damit gestern … man hätte mich doch gestern noch mal erinnern können …“ Jaja, so war ihr Bruder. Naomi schmunzelte. Wenn sie ihn nicht regelmäßig daran erinnerte, dass er am 16. Februar Geburtstag hatte, dann vergäße er wohl auch das. „Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich würde mich gerne anziehen, ehe ich aufbreche.“ Percy lief rötlich an, als er bemerkte, dass Naomi zum Schlafen wie immer nur ihre Unterhose und ein Top trug … und er hatte neben seiner halbnackten Schwester geschlafen? Jetzt, da sich der vierzehnjährige Junge dieser Situation bewusst wurde, wandte er seinen Kopf blitzschnell von der auflachenden Naomi ab und erhob sich dann vom Bett, ohne noch einen weiteren Kommentar dazu abzugeben. „Kannst du Mama sagen, dass ich pünktlich zum Lunch unten sein werde? Sie braucht Edward nicht herauf zu schicken.“ Ein kaum hörbares „Mhm“ ertönte aus dem Bereich der Tür, welche kurz darauf geöffnet wurde, als ihr Bruder den Raum verließ. Sie stand noch einen Moment da und grinste vor sich hin, ehe sie durch ihr Zimmer marschierte und auf der anderen Seite des Raumes, die Vorhänge auseinander zog. Gleißendes Sonnenlicht erfüllte den Raum und blendete sie einen Moment, bis sie den Blick in den Garten des Jahrhunderte alten Herrenhauses gewahrte. Er sah aus, wie an jedem Sommermorgen, die Hecken perfekt gestutzt und die Blüten der Apfelbäume strahlten eine unglaubliche Lebensfreude aus. Trotz der sonst kahlen Fläche des englischen Rasens kam ihr das Anwesen nie leer vor. Sie war hier aufgewachsen, traditionell, von vielen Werten geprägt und tief in ihrem Inneren spürte das Mädchen, dass sie diese Umgebung immer als ihr Zuhause betrachten würde. Auch, wenn es sie von hier fort zog. Sie wollte das Neue entdecken, was heute endlich auf sie zukam und worauf sie sich schon freute, seitdem sie vor gut eineinhalb Jahren davon erfahren hatte. Als Tochter der Calgary-Familie begann für sie heute das neue Schuljahr auf der Kaizawa-Akademie, einer Schule für Krieger im Kampf gegen die Wesen der Unterwelt. Dunkelheit wurde durch ein flackerndes, kaum bemerkbares Licht durchbrochen. Reihen von Tausenden und Abertausenden von Büchern umgaben die Gestalt des jungen Manns, der sich in ihrer Umgebung so wohl fühlte, als wäre es seine Familie. Die Bücher gaben ihm Kraft, vermittelten ihm Geborgenheit, etwas, dass er von den Menschen um ihn herum wenig zu spüren bekam. Auf seiner Handfläche tanzte ein Licht, kaum größer als das einer Kerze und erhellte die hieroglyphische Schrift des Buches. Mit heiserer, dumpfer Stimme murmelte der Junge unverständliche Worte einer fremden Sprache. Er wiederholte die Worte, prägte sie sich genaustens ein und wurde dabei immer schneller. Das Licht auf seiner Hand flackerte erneut, als wäre ein Windstoß durch die Bücherreihen gehuscht und hätte versucht, es auszulöschen. „Treibst du dich schon wieder hier unten herum, Aidan?“, erkundigte sich eine alte, strenge Stimme. Der Junge schrak aus seinen Gedanken hoch und schob das Buch wieder an die Stelle, aus der er es heraus geholt hatte. Im nächsten Moment erhellte ein weithaus helleres Licht die Reihen um ihn herum und ein Mann mit ergrautem Haar tauchte neben ihm auf. Aidan strich sich durch das kurze, dunkle Haar und starrte dem Alten wütend in die Augen. „Kann ich nicht in Ruhe studieren, oder darf ich das nun auch nicht mehr?“ Sein Blick fand den des alten Mannes, doch die Strenge, die anfänglich noch in diesem enthalten war, wich davon und zurück blieb etwas gänzlich anderes – Besorgnis. „Aidan, du weißt, dass es gefährlich ist, zu viel zu wissen.“ Die Stimme des Mannes war voller Weisheit und bitterem Ernst, doch die des Jungen voller Trotz. „Ach ja, aber hätte es nicht meinen Vater gerettet, hätte man mehr gewusst!?“ „Nicht nur du trauerst um deinen Vater. Denke daran, auch deine Schwester und dein Bruder haben keinen Vater gehabt.“ Der Mann legte Aidan eine hand auf die Schulter in dem Versuch, den aufgebrachten Jungen zu beschwichtigen, doch dieser riss sich los und fauchte den Alten bloß an. „Aber sie haben wenigstens noch eine Mutter!“ Damit wand er sich von dem Grauen ab und verschwand in der Dunkelheit der Gänge. Warum tauchte der Alte immer dann auf, wenn Aidan es am wenigsten gebrauchen konnte? Er hätte ein weiteres Geheimnis um das Feuer in ihm beinahe bezwungen – doch nur beinahe. Donald war der Vater seines Vaters, ein ergrauter Versager, der es in der wichtigsten Argentum-Familie nie zu etwas gebracht hatte, niemals die Stigmamagie erlernt, niemals für das, was er erreichen wollte, gekämpft hatte. Und seit einigen Wochen, Monaten, spionierte er ihm nun hinterher. Hatte er denn wirklich gar nichts zu tun? Eigentlich war das nur logisch, schließlich hatte Donald nie etwas getan in seinem Leben. Aidan schüttelte verärgert den Kopf und näherte sich dem sanft schimmernden, silbrigen Licht, dass aus der Ecke des Raumes drang. Er war mit Sicherheit über hundert Meter von dem Platz des Buches entfernt, das er eben noch studiert hatte und es ärgerte ihn, dass er immer, sobald er etwas interessantes gefunden hatte, unterbrochen wurde. Die Bibliothek von Babylon war einfach unendlich groß und barg Wissensschätze, die niemand zu erahnen mochte. Selbst er kannte nicht einmal annähernd alles von dem, was er gelesen haben wollte, ehe er seine Ausbildung an dieser Akademie antrat. Aber daran ließ sich nun auch nichts mehr ändern. Er hatte sich einige der Bücher der leichteren Lektüre und vor allem der legitimen Literatur mitgenommen, die er bei Zeiten lesen würde, wenn er an der Schule in Langeweile geriet. Er trat näher an den Rosenkranz, der sich nun vor ihm befand. Das Portal, welches ihn durch die Zwischenwelten, die Divergenzen, transportierte und ihn binnen Sekunden an dem Rosenkranz seines Zieles absetzen würde, vibrierte auf Grund seiner unsagbaren Macht. Jedes Mal, wenn Aidan an eines dieser Wunderwerke herantrat, staunte er über die Vollkommenheit, die Menschen zu Schaffen im Stande waren. Ein makelloser, glatter Silberring schwebte in der Luft vor dem Jungen. Um diesen Ring herum schwebte ein weiterer silberner Ring, dessen Oberfläche jedoch mit einer Unzahl an magischen Formen und Wörtern bedeckt war. Unterhalb des doppelten Kreises hing ein Kreuz, das nur mit einer feinen, glänzenden Linie mit dem Gebilde verbunden war. Aidan griff an seine Brust und holte unter seinem Hemd ein Amulett hervor, dass ebenfalls ein solches silbernes Kreuz war, wie das des Kreises. „Öffne dich“, murmelte er und durchtrennte mit seinem Kreuz den silbrigen Faden. Eine Druckwelle ging von dem Rosenkranz aus und der Junge griff mit einer Hand hinein, dann verschwand die Bibliothek um ihn herum und vor seinen Augen wurde es schwarz. „Aidan Lewis Calgary, hast du dich wieder in diesem Drecksloch herumgetrieben?“ „Guten Morgen auch, Sharon“, gab Aidan lustlos auf die schnippische Stimme seiner Mutter zur Antwort. Sie stieß einen genervten Laut aus, als sie ihren Namen vernahm. Sie hasste es, dass ihr ältester Sohn sie nicht mit „Mum“ oder ähnlichem anredete, doch das tat Aidan aus dem ganz bestimmten Grund, dass er diese Frau nicht als seine Mutter wahrnahm. „Immerhin bist du pünktlich. Zieh dir etwas anständiges an und dann kommst du in den großen Saal.“ Der große Saal war eine Mischung aus Wohn- und Esszimmer, welches die gesamte erste Etage des Ostflüges des Hauses Calgary einnahm. In die Wände war eine Vielzahl an Fenstern eingelassen, die allesamt von schweren, purpurnen Gardinen verhangen waren und somit nur einen geringen Blick nach außen gewährten. Dennoch genügte der einfallende Sonnenschein, um das ganz Zimmer zu erhellen. Jedes dieser Zimmer mutete wie eine Zeitreise ins Jahr 1880 an, die Möbel, die Wandbemalung, die Architektur – einfach alles wirkte, als ob man sich nie aus dem viktorianischen Zeitalter hatte befreien können. „'N Morgen Aid“, kam es aus der anderen Ecke des Raumes, wo der lange Esstisch stand. Naomi räkelte sich unglaublich damenhaft auf ihrem Stuhl und hatte eine Scheibe Toast bereits auf ihrem Teller. Sie trug bereits die Uniform, die auch er gleich anzuziehen hatte. Seitdem sie geliefert worden war, hatte er sie sich noch nicht ein einziges Mal angeschaut, doch er musste gestehen, dass ihm die der Mädchen gefiel. Naomi hatte die Beine unter dem Tisch ausgestreckt und so konnte Aidan gut erkennen, dass sie dunkelgraue Kniestrümpfe trug und dazu einen dunkelroten Faltenrock, der bereits ein gutes Stück darüber aufhörte. Auch die Bluse sagte ihm zu, in ihrem schlichten Dunkelgrau und dem Kragen, der in der gleichen Farbe, wie der Rock aufgesetzt war. Sie bemerkte ganz offensichtlich seinen neugierigen Blick und errötete leicht. „Findest du, sie steht mir?“ Aidan runzelte die Stirn, dann zuckte er nur die Achseln und setzte sich zwei Plätze neben seine Schwester, die nur enttäuscht seufzte. „Doch Mann, natürlich steht dir das!“ Percy kam just in diesem Moment in den Raum hineingeschossen und setzte sich zwischen Aidan und Naomi, wobei er seinem Bruder jedoch nicht eines einzigen Blickes würdigte. „Danke, Percy“, erwiderte Naomi lächelnd und zwinkerte dem jüngeren zu, der sich bereits eifrig über das bereitgestellte Frühstück hermachte. „Was kann ich den jungen Hausherren und -herrinen zu Trinken bringen?“ Die sanfte, ruhige Stimme des Butlers Edward klang besänftigend an Aidans Ohr und dieser setzte zum ersten Mal am heutigen Morgen ein Lächeln auf, als er sich zu dem in die Jahre gekommenen Mann herumdrehte. „Einen Earl Grey, bitte“, kam es sowohl aus seinem, als auch aus dem Mund seiner Schwester zum gleichen Augenblick und skeptisch blickten sich beide an. Doch Edward schmunzelte nur und wuschelte dem Kleinen dann durch die Haare. „Und du, mein Lieber?“ Aidan driftete gedanklich bereits wieder ab. Edward war die einzige Person in dieser gottverdammten Familie, die schon immer für ihn da gewesen war. Er ließ sich nicht von den ständigen Weisungen seines Urgroßvaters entmutigen oder erniedrigen, sondern stand seinen Mann und tat, was man von ihm verlangte. Und dennoch schaffte er es dabei, immer er selbst zu sein, zeigte seine Zuneigung und Verbindung, die er zu den Kindern des Hauses hatte immer wieder, obwohl Sharon diese missbilligte. Die meisten Erinnerungen, die er mit einem Familienmitglied gemeinsam erlebt hatte, waren mit Edward. „Beeilt euch, wir sind bereits spät dran“, die angespannte, hohe Stimme seiner Mutter schnitt durch die beinahe idyllische Frühstücksstille und ihr darauf folgendes Klatschen, das sie wohl noch einmal dazu animieren sollte, schneller zu essen, machte Aidan jedoch nur ärgerlich. „Aidan, du trägst ja noch gar nicht deine Uniform“, stellte sie entsetzt fest und strich sich die langen, mahagonifarbenen Haare aus dem Gesicht. Offenbar war auch sie heute morgen noch nicht dazu gekommen, sich vollständig im Bad fertig zu machen. Normalerweise trug sie ihre Haare hochgesteckt, doch das nahm wohl Zeit in Anspruch, über die sie heute nicht verfügte. „Jetzt aber kusch, ich will dich in fünfzehn Minuten am Rosenkranz sehen, hast du mich verstanden, Aidan?“ Ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu und ohne sie nur eines weiteren Blickes zu würdigen, erhob sich Aidan von seinem Platz und ließ seinen Tee und das angefangene Toastbrot einfach stehen. „Fünfzehn Minuten!“, hallte es ihm noch hinterher, doch durch den Knall der sich etwas zu schließenden Tür, vernahm er glücklicherweise nur noch ihren Tonfall, der ihm letztendlich doch noch den Antrieb dazu gab, sich möglichst schnell in seine Uniform zu kleiden. In dem Studierzimmer ihres Großvaters herrschte ein schummriges, unbeständiges Licht, das den alten Raum nur spärlich erhellte. In seiner Mitte schwebten zwei silberne Kreise, die Naomi bisher nur von der Ferne hatte betrachten dürfen. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie heute Gebrauch von einem Rosenkranz machen. Das Portal, das sie direkt zur Kaizawa leiten sollte, schien nur darauf zu warten, endlich sie und ihren Bruder in sich hineinzuziehen. Noch wirkte es harmlos und strahlte kaum etwas von dem Licht zurück, welches durch die schwachen Lampen gegeben wurde. Sie hörte ein Rascheln, als ihr Bruder neben sie trat und sie wortlos an der Hand fasste. Sein Blick war starr auf das Portal gerichtet; sie wusste genau, dass er es schon häufiger benutzt hatte. Woch auch immer er hingereist war, es hatte ihn in den letzten drei Jahren maßgeblich verändert. „Öffne dich“, seine Stimme war leise, doch bestimmt und mit diesen Worten fuhr er mit Hilfe des kleinen, silbernen Siegels in Form eines Kreuzes durch das Band, das den Rosenkranz verschloss. Mit einem hohen Klang, begann er zu vibrieren. Die Luft um ihn herum schien zu verschwimmen, als würde er glühen und ohne sich noch einmal umzudrehen, streckte er seine Hand aus. „Warte“, vernahm Naomi im letzten Moment die Stimme ihres kleinen Bruders. „I-ich wollte euch doch noch ein letztes Mal drücken.“ Der Kleine schmiegte sich an den Körper seiner großen Schwester, die sich von Aidan löste und dafür Percy in ihre Arme schloß. „Du brauchst mich nicht zu vermissen, ich komme ja schon bald wieder. Und dann gehen wir wieder gemeinsam spazieren.“ „In den Wald?“ Percys Stimmung besserte sich deutlich auf, als er die Aussicht auf einen langen Spaziergang nur mit seiner Schwester gewahrte. „Na sicher, aber dafür musst du mich jetzt auch wirklich gehen lassen.“ Sie drückte ihm einen festen Kuss auf die Stirn und murmelte einige Worte, die sie mal auf einer Seite eines Buches gelesen hatte, dass ihr Großvater Donald in die Hände gedrückt hatte. Gesegnet seist du auf all deinen Wegen – oder so ähnlich. „Tschüss, Aidan“, presste der Junge dann noch zwischen seinen Lippen hervor, als ihn der größere unvermittelt am Arm packte und ihn zu sich heran zog. Aidans Augen waren zu Schlitzen zusammengepresst, als er seinem Bruder in die Augen sah. „Pass gut auf dich auf.“ Dann wandte er sich blitzschnell ab und ließ den verwunderten Jungen dort stehen, wo er sich von seiner Schwester verabschiedet hatte. Er griff wieder nach Naomis Hand und ging zu dem noch immer pulsierenden Rosenkranz. Er nickte dem Mädchen zu, dann streckte er die freie, linke Hand aus und hielt sie in die Ringe hinein. Ein komisches Gefühl machte sich in Naomis Magengegend bereit, als sie bemerkte, wie das Zimmer um sie verschwand. Das ohnehin schwache Licht wurde noch dunkler, bis es irgendwann erlosch und sie in bodenlose Schwärze stürzte. Es war das Gefühl des freien Falls. Als ob ihr Bauch in die Luft gerissen wurde und sein Inhalt auf den Kopf gestellt. Übelkeit kroch in ihr empor, doch sie unterdrückte den Brechreiz, denn im nächsten Moment war es bereits gleißend hell um sie. Sie konnte zwar nichts erkennen, da alles verwaschen und verwackelt war, doch die Geräuschkulisse nahm sie wahr. Hunderte verschiedener Stimmen schlugen in einem Hagel über sie herein und vermengten sich zu einer Decke des Wörterlärms. Sie konnte zwar nichts verstehen, doch als sich ihr Sichtfeld etwas geklärt hatte, da sah sie, dass es offenbar vielen genauso wie ihr ergangen war. Die meisten, die mit ihr und ihrem Bruder, dem die Reise offenbar nichts ausgemacht hatte, hier angekommen waren, taumelten orientierungslos umher und wurden oftmals von deutlich älteren Personen gestützt oder betreut. Bei näherer Betrachtung kam Naomi zu dem Schluss, dass es sich wohl um deren Eltern handeln musste. Warum war ihre Mutter nicht mitgekommen? Ach, sie besaß kein Argentum-Siegel, da sie kein Familienoberhaupt war. Die Rosenkranz-Portale konnten bekannterweise nur durch die Träger eines solchen Schlüssels geöffnet und verschlossen werden und nur denen, die früher oder später einmal ihre Familie anführen würden, wurde ein solcher Schlüssel vermacht. Ihr Vater hatte, genauso wie ihr Groß- und Urgroßvater einen solchen Schlüssel – nun er hatte ihn wohl besessen, als er noch am Leben gewesen war. Sie schüttelte ihren Kopf, um die schlechten Gedanken zu vertreiben und merkte, dass sie ihre Umgebung nun deutlich klarer wahrnehmen konnte. Ihr Mund glitt immer weiter auf, je länger sie sich im Kreis drehte und die Plattform bestaunte, auf welcher sie ausgekommen waren. Ein riesiger Rosenkranz schwebte mitten über der Plattform, mindestens so groß, wie ein Haus. Sein gewaltiges silbernes Kreuz, dass zu seiner Öffnung und Schließung diente, war größer als Naomi selbst und lag am Boden, das silberne Band zertrennt. Eine gewalte Steinstatue in Form eines Ritters in Rüstung hielt als Schwert das zugehörige Argentum-Siegel in den Händen und überwachte jene, die den Platz betraten und verließen. Die Plattform schwebte in der Luft. Das fiel ihr erst jetzt auf und erschrocken trat sie von dem Rand zurück, dem sie gefährlich nahe gekommen war. Sie war eine flache Scheibe, die sich über dem Meer, direkt vor der Skyline einer überdimensional riesigen Stadt erhob. „Tokio“, flüsterte sie ehrfürchtig und betrachtete die gigantischen Häuser, die Stockwerke weit in die Höhe schossen und einen Einblick auf das Landesinnere verwehrten. Von dem Plateau führte eine Art Hängebrücke zu einem riesigen Gebäudekomplex, welcher schon aus sicherer Entfernung hochmodern aussah. Aus wie vielen Teilen er bestand vermochte sie von hier aus nicht zu sagen, doch das war nicht das Einzige, was sie so faszinierte. Über mehrere Etagen waren die Gebäude auf verschiedenen Ebenen erbaut, die offenbar durch Türme, die sämtliche Decks durchstießen, verbunden waren. Umso erstaunter war Naomi, als sie feststellte, dass die Kaizawa-Akademie ein Schiff war. Ein riesiges Stadtschiff, dessen Rumpf aus der Entfernung wie ein Parkhaus anmutete, nur dass die verschiedenen Decks allesamt mit Gabäuden vollgestopft waren. „Hast du sie dir so vorgestellt?“, ertönte die Stimme ihres Bruders an Naomis Ohr und erschrocken zuckte sie zusammen. „N-nein, ich weiß nicht, was ich mir wirklich vorgestellt habe.“ „So geht es mir auch“, antwortete er und fügte dann mit einem Unterton, der beinahe fasziniert klang, hinzu: „Doch wie auch immer ich sie mir erdacht habe, es war kein Vergleich zu dem hier.“ Und dann verkürzte sich die Hängebrücke, zog die Plattform an das Schiff heran. „Herzlich Willkommen auf der Kaizawa!“, ertönte es über dem Geschwisterpaar in der Luft und ein riesiges Hologramm von einem Mann mittleren Alters erschien im blauen Morgenhimmel. „Meine lieben Schüler und Schülerinnen, ob neu oder bereits altgedient, bitte nehmt euch diesen Augenblick und lauscht meiner kurzen Ansprache.“ Er machte eine kurze Pause und strich sie das lange, violette Haar aus dem Gesicht. Genauso violett, wie seine Frisur war auch der Anzug, den er trug und lediglich der Hut, den er sich nun auf den Kopf setzte, war blendend weiß. „Für alle, die mich nicht kennen, mein Name ist Direktor Phineas. Für alle, die mich kennen, bin ich dieser ebenfalls. Dieses Schuljahr wird anders, meine Lieben und ich kann euch auch sagen, warum. Etwas Unheilvolles zieht auf, etwas, das seit Jahren bereits darauf wartet, in diese Welt zu gelangen. Und deshalb möchte ich euch alle dazu anspornen, euer Bestes zu geben. Euer Studium ist äußerst wichtig, doch dürft ihr niemals das Wichtigste vergessen – “ Er pausierte wieder und starrte mit seinem etwas irren und verrückten Blick in die Menge. Es war, als könne er zu jedem persönlich sprechen. „So, das war's auch schon von mir! Wenn es Probleme gibt, wendet euch an die Vertrauenspersonen. Man sieht sich!“ Dann erlosch das Hologramm und irritiert starrte das Geschwisterpaar gen Himmel. „Und, was ist nun das Wichtigste?“, erkundigte sich Naomi schließlich bei ihrem Bruder. Vielleicht hatte sie ja irgendetwas verpasst und das Superbrain hatte alles durchschaut, doch auch dessen Blick sprach Bände. „Sieht wohl so aus, als müssten wir das erst herausfinden.“ Dann deutete er auf das doppelseitige Tor, welches in das Empfangsgebäude hineinführte. Der Strom der Schüler ergoss sich dort hinein und Aidan winkte Naomi zu, dass sie ihm folgen sollte. Endlich waren sie da. Endlich würde der aufregende Teil ihres Lebens beginnen. „Kaizawa, ich komme“, murmelte das Mädchen noch, ehe es im Aufmarsch der Schüler verschwand und ihrem Bruder folgte. Kapitel 2: Blutgeburt --------------------- Wir glauben das, was wir sehen. Und wir sehen das, was wir glauben. Diese Worte schwirrten immer und immer wieder durch den Kopf des Jungen mit dem Hut. Sein weiter, schwarzer Mantel wehte im eisigen Wind der über die verschneiten Dächer des kleinen Dorfes fegte. Sein Saum war zerrissen, die Fütterung angefressen, doch die Person wirkte alles andere als herunter gekommen. Ihre Füße wurden von festen Lederstiefeln von der frostigen Kälte warm gehalten, ebenso wie die Finger in dünne Handschuhe gepackt waren. Das Gesicht des Jungen war unter dem breitkrempigen Hut nicht erkennbar, doch sein heißer Atem stieg in dichten Wolken in die vom Mond erhellte Nacht und verlieh der Gestalt etwas dämonisches, unheimliches. Ein Geräusch ertönte, als schlüge ein Vogel mit seinen Flügeln und erhebe sich in die Luft und der Kopf des jungen Mannes fuhr herum. Er war auf der Jagd, genauso wie der Rabe, der über ihm kreiste und dessen unheilvolle, gelbe Augen die überschaubare Fläche des kleinen Städtchens taxierten. Er stieß einen lauten, krächzenden Schrei aus, der jedem Menschen durch Mark und Bein gehen musste. Doch der Junge hob langsam seinen Kopf, blickte in Richtung des Raben und des Mondes und ein schmaler Teil seines Kiefers wurde sichtbar, bis schließlich sein Mund von dem bleichen Licht erhellt wurde. Er verzerrte sich zu einem schmallippigen Grinsen und seine blasse Zunge fuhr darüber, lüstern und hungrig. Die Jagd hatte begonnen. Mit einer wirbelnden Bewegung schwang sich der junge Mann von dem Dach, auf dem er verweilt hatte, herunter und stürzte hinab in die lehmigen Gassen des Städtchens. Sein Aufprall verlief beinahe lautlos, dennoch versanken seine Stiefel ein gutes Stück in dem winterlichen Matsch, der die Gasse bedeckte. Mit einem schmatzenden Geräusch rannte er unvermittelt los, der Rabe stets über ihm, ihn bewachend. Immer wieder gab er unheilvolle Töne von sich und Hutträger huschte von Gasse zu Gasse, darauf bedacht, so wenig wie möglich im fahlen Licht des Mondes aufzutauchen. Der Junge schloss die Augen, noch während er auf eine Mauer zuschoss und einen Bruchteil einer Sekunde, ehe er kollidierte, öffnete er sie erneut, doch leuchteten sie nun in einem unheilvollen, durchdringenden Gelb. Das Gelb des Raben. Der Körper des Jungen schoss in die Luft und mit einem Sprung von unwahrscheinlicher Reichweite katapultierte er sich über die Mauer hinweg, landete sanft auf der anderen Seite und stand einer von Blut bedeckten Kreatur gegenüber. „Ich wusste, dass du hier auftauchen würdest, Jäger“, stieß der Blutbedeckte mit einem irren Tonfall aus und wischte sich dabei den roten Mund an seinem zerfetzten Ärmel ab. Seine messerspitzen Zähne glänzten im Mondlicht, das die Gasse just in diesem Moment erreichte und erhellte. Die Gestalt veränderte sich, ihr eben noch wirres, dunkles Haar, wurde fahl und spröde, ebenso, wie die Haut des des Wesens. Es schien binnen Sekunden zu altern, während aus den Fingern und Nägeln lange, hornbesetzte Klauen wurden und die ohnehin scharfen Zähne noch ein mal an Länge zunahmen. Insbesondere die Eckzähne des Monsters wuchsen und dann riss es den Mund auf und jeder, der die Kreatur nun sah, würde bezweifeln, dass dies einmal ein Mensch gewesen war. „Stirb, elender Bastard“, kreischte der Vampir und stürzte auf den Jungen zu, der sich mit linken Hand jedoch an die Hutkrempe fasste und einen Satz zur Seite machte. Er wich noch zwei, drei Schritte zurück, ehe er seinen Gegner genauer fixierte. Offenbar war sich das Wesen seiner vollen Kräfte noch nicht bewusst und das musste er ausnutzen. Im nächsten Moment stürmte der Vampir auf ihn zu und der Junge rettete sich mit einem Überschlag nach hinten, wobei er jedoch erneut seinen Hut davor bewahren musste, in den Dreck zu fallen. Nun, da er einigen Abstand zwischen sie gebracht hatte, konnte er auch zum Gegenangriff ansetzen. „Princeps gloriosissime caelestis militiae, sancte Michael Archangele.“ Glorreichster Fürst der himmlischen Heerscharen, heiliger Erzengel Michael. Die Wörter kamen leise, ja beinahe schwach über die Lippen des Jungen. Dennoch hatte er nun die volle Aufmerksamkeit des Vampirs. „Defende nos in praelio adversus principes et potestates.“ Verteidige uns im Kampfe gegen die Fürsten und Gewalten. „Nein“, keuchte die Kreatur der Unterwelt, als sie bemerkte, was der Junge da vorhatte und welchen Vorgang er da unwiderruflich in Gang setzen wollte. „Tu das nicht, Jäger.“ „Adversus mundi rectores tenebrarum harum.“ Gegen die Weltherrscher dieser Finsternis. „Du begehst einen schrecklichen Fehler, Jäger!“ Die Stimme des Vampirs wurde krächzender, als er bemerkte, wie auswegslos die Situation für ihn wurde und das verdorbene Wesen setzte zu einer Verzweiflungstat an. Mit einem lauten Aufschrei sprang es auf den Jungen zu, doch dieser wirbelte herum und verschwand in der Wirbelbewegung seines zerrissenen Mantels. Nur ein paar Meter hinter dem vorwärtshastenden Vampir tauchte er wieder auf und fuhr mit seiner Rezitation fort, als sei nichts weiter vorgefallen. „Contra spiritualia nequitiae, in caelestibus.“ Gegen die bösen Geister unter dem Himmel. Ein heiserer Aufschrei ertönte, als sich ein heller, heißer Bolzen in die Brust des Wesens bohrte und dieses zusammenbrach. Hatte der Vampir vermutet, dies sei das Ende gewesen, so musste der Jäger ihn jedoch enttäuschen, denn die wahre Qual hatte für ihn erst begonnen. Der Junge näherte sich dem wehrlosen, zitternden Wesen, dessen eigenes Blut nun seinen Körper bedeckte. Es rann aus einem tiefen Loch in seiner Brust, denn der Bolzen war bereits wieder verschwunden. Der Hutträger stieß die Kreatur mit einem Tritt endgültig auf den Boden und warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Dann legte er Zeige- und Mittelfinger aneinander und richtete sie auf den Vampir. „Veni in auxilium hominum; quos Deus ad imaginem similitudinis suae fecit, et a tyrannide diaboli emit pretio magno.“ Komm den Menschen zu Hilfe, die Gott nach seinem Ebenbild erschaffen und aus der Tyrannei des Teufels um einen hohen Preis erkauft hat. Aus dem Nichts tauchten drei weitere Bolzen auf, die für einen Augenblick noch über der am Boden liegenden Kreatur schwebten und dann in ihren Oberkörper hineinfuhren. Lediglich ein Keuchen kam über die Lippen des zuckenden Vampirs, als sein Schicksal endgültig besiegelt wurde, was der Jäger mit einem leichten Lächeln begrüßte, das seine schmalen Lippen umspielte. Zwischen den vier Einstichen in seiner Brust, zeichneten sich nun schmale, silbrige Linien ab. Sie brannten sich in die Haut des Vampirs, verschmorten das Fleisch und hinterließen ein perfektes Kreuz. „Ecce Crucem Domini!“ Seht das Kreuz des Herrn! Die Stimme des Jungen wurde bei jedem Wort lauter, nahm an Kraft zu und aus dem leichten Lächeln wurde ein niederträchtigen Grinsen. „Fugite, partes adversae.“ Flieht, ihr feindlichen Mächte! Das Kreuz begann zu brennen. Weiße, grelle Flammen schossen aus der Brust des Vampirs in die kalte Nacht empor und erhellten die Gasse, während sie auf den sterbenden Körper übergriffen. Die Kreatur am Boden wand sich, als ihr Körper aufgefressen, von den Qualen, die die heiligen Worte ihm bereiteten, aufgezehrt wurde. „Vergiss nicht meinen Namen nicht, wenn du jemals in der Hölle nach ihm gefragt wirst.“ Der Junge rückte seinen Hut im matten Mondschein zurecht und zum ersten Mal erlangte der sterbende Vampir einen direkten Blick in das blasse Gesicht des jungen Manns. Seine Augen hatten inzwischen wieder einen normalen, braunen Farbton angenommen, doch auf den Lippen spiegelte sich noch immer diese Lust, das Verlangen nach dem Tod des Vampirs wieder. „Andrej Jareniskij ist mein Name. Behalte ihn.“ Dann erlosch das Augenlicht des Unterweltlers, als es von den Flammen vernichtet wurde und Sekunden später blieb nur die verkohlte und ausgezehrte Hülle des Verdorbenen zurück. Andrej strich mit seinen Finger von Kopf bis Fuß über die Hülle und langsam begann sich diese in Asche aufzulösen, wurde vom seichten Wind in den Himmel emporgehoben und stieg, stieg immer weiter, als wolle sie die Sterne erreichen. „Komm her, Nevermore und bring mich fort von diesem Ort.“ Der Rabe stieß aus der Luft zu seinem Freund herab und landete auf dessen Schulter. Dann packte Andrej den Vogel und als dieser sich in die Lüfte erhob, erschien nur ein schwarzer Wirbel um die beiden herum, als verdrehe sich die Dimension und im nächsten Moment waren sie beide von der russischen Winternacht verschluckt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)