Hurricane Chronicles von BondingTails (Wie Blätter im Wind || im Sturm der Zeit) ================================================================================ Kapitel 2: Der Weg in die falsche Richtung ------------------------------------------ „Naruto“, hörte ich eine vertraute Stimme. „Naruto, wach auf.“ Ich öffnete die Augen und erkannte Kakashi, der über mich gebeugt dastand. Ich spürte eine Matratze unter mir. Ich fühlte mich benommen. Verwirrt fragte ich mich, wo ich war. Ich schaute mich um, erkannte Sasukes Zimmer – und plötzlich fluteten die Erinnerungen meinen Kopf: Sasuke in diesem Raum, sein Rucksack auf dem Bett, gepackt und bereit für die große Reise. Ich erinnerte mich, weshalb ich hergekommen war, was Kakashi zu mir gesagt hatte. Ich erinnerte mich an die Wut über mein Unverständnis der Situation und der Motive Sasukes, an die Angst, zu spät zu kommen, ihn zu verlieren. Ich erinnerte mich an seine Überraschung, als ich ihn gepackt und aufs Bett geworfen hatte. Ich erinnerte mich, wie ich ihn festgehalten hatte, wie ich ihn umarmt hatte, wie ich seinen Nacken und schließlich seine Lippen geküsst hatte. Die Erinnerung war so präsent, dass ich es fast wieder spüren konnte. Ich sah wieder seinen erstaunten Blick, nachdem ich seinen Hals das zweite Mal berührt hatte. Seine ruhelosen Augen, die nicht sicher waren, was ich als Nächstes tun würde und ob es das war, was er wollte. Ich hatte es selbst nicht gewusst, was ich tun würde, bis ich es schließlich getan hatte. Ich hatte nur auf seine Lippen hinabgesehen und mein Kopf war auf einmal vollkommen leer gewesen. Ich hatte nur noch seine Augen und seine Lippen gesehen, hatte gewusst, dass ich wollte, dass er das eine schloss und ich das andere küssen durfte. Ich hatte das nicht geplant. Ich hatte es mir bisher nur vorgestellt, wie es sein würde, ihn zu küssen, wenn er nicht Sakuras Gesicht und ihre Lippen hatte. Doch ich hatte nicht erwartet, dass ich das so schnell herausfinden würde. Und als ich das dann getan hatte, als sich herausgestellt hatte, dass es wohl genau das war, was auch er wollte, wollte ich immer mehr und mehr davon. Mehr und mehr von Sasukes Lippen, Sasukes Haut, Sasukes Körper. Erst als er nur noch in Unterwäsche unter mir lag, schaltete sich mein Kopf wieder ein. Ich begriff, was ich im Begriff war zu tun. Ich verstand, wozu ich im Stande war in diesem Moment. Und deshalb wollte ich es ganz sicher wissen, dass ich keinen Fehler beging. Dass er das auch wollte, was ich vorhatte. Dass er mich danach nicht hasste. Dass ich nichts tat, was uns zerstören würde. Und er hatte bejaht, hatte mir bestätigt, dass ich weitergehen durfte, auch wenn ich nie ausgesprochen hatte, in welche Richtung und wozu. Auch das wusste ich selbst noch nicht. Ich hätte mich einfach von meinen Gefühlen leiten lassen. Schließlich hatten sie mich auch an diesen Punkt gebracht, was ich alles andere als bereute. Doch im nächsten Moment, nachdem ich mich wieder an Sasukes Hals geworfen und er seine Hand von meinem Rücken gehoben hatte, hatte ich einen Schmerz in meinem Nacken gespürt – und danach riss meine Erinnerung komplett ab. Ich blinzelte, richtete mich schlagartig auf, sodass Kakashi erschrocken ein Stück zurückwich. Ich glaubte, dass er bereits mehrere Male meinen Namen gesagt hatte, ohne dass ich reagiert hatte. Zu tief war ich in meinem Tagtraum aus meiner jüngsten Vergangenheit gefangen gewesen. Was war passiert? Weshalb sollte Sasuke mich bewusstlos geschlagen haben? Ich musste die Augen für einen Moment wieder schließen. Der Raum schwankte. Ich sah doppelt. Ich hielt eine Hand an meinen Kopf, als könnte das die Bewegung stoppen. Dann öffnete ich langsam meine Lider und ließ meine Augen das Zimmer absuchen, obwohl ich bereits wusste, dass sie nicht das finden würden, was sie finden wollten. Auch den vollgepackten Rucksack konnten sie nicht entdecken. Das Einzige, was sie fanden, waren meine Kleider, die noch immer auf dem Boden lagen. Nichts am Raum hatte sich verändert, außer dass Sasuke mitsamt seinen Sachen spurlos verschwunden war und das Fenster offen stand. Ich fragte mich, ob Kakashi es geöffnet hatte oder Sasuke dadurch verschwunden war. Warum hatte er dennoch fliehen wollen? Direkt nachdem er mir versprochen hatte, es nicht zu tun. Es ergab keinen Sinn. Es konnte einfach nicht sein. Irgendetwas musste ich übersehen haben. Vielleicht absichtlich. Denn als er mich geküsst hatte, hatte ich ständig versucht, den Gedanken abzuschütteln, dass es nur sein Abschied von mir sein könnte. „Oi“, hörte ich die Stimme meines Ausbilders wie aus der Ferne. „Antworte mir.“ Ich hatte ihn nicht nur gehört, sondern auch verstanden, doch ich konnte ihm nicht antworten. Ich starrte zum Fenster hinaus: Draußen war es taghell. „Kakashi-sensei!“, rief ich panisch und griff nach seiner Schulter. Er wich zurück, als konnte er noch nicht einschätzen, ob ich Freund oder Feind war. Ob ich ihm in meinem Zustand gefährlich werden konnte. „Wie lange ist es her, dass wir uns über Sasuke unterhalten haben?“, fragte ich ihn unvermittelt. Überrumpelt schaute er mich an, bevor er antwortete: „Das war gestern Abend.“ Meine Hand sank kraftlos von seiner Schulter. „Jetzt ist es Nachmittag.“ Sasuke hatte also einiges an Vorsprung. Mutlosigkeit wollte mich überschwemmen, aber ich drängte sie zurück. Ich würde schneller sein. Ich würde ihn einholen. Um jeden Preis. Meine Hände ballten sich wütend zu Fäusten. Warum hatte ich so lange geschlafen? Warum hatte Sasuke…? Nein, jetzt war keine Zeit dazu. „Wir müssen ihm nach!“, rief ich aufgebracht und wollte vom Bett aufstehen. Kakashi hielt mich an den Schultern zurück, drückte mich zurück auf die Matratze, und im nächsten Moment wusste ich, warum. Alles drehte sich vor meinen Augen. „Gib dir einen Moment“, sagte er ruhig. „Es ist gleich vorbei.“ Mir wurde schlecht. Ich fühlte mich erbärmlich. Schwach und nutzlos. Ich schloss wieder die Augen, doch das machte es nicht besser. Mein Magen war so verkrampft, als würde Sasuke – statt seine Finger zärtlich und unsicher über meinen Bauch streifen zu lassen, um festzustellen, dass ich an dieser Stelle kitzlig war – sich mit aller Macht dort hineinkrallen. Als ich die Lider wieder öffnete, ließ Kakashi meine Schultern los und entfernte sich ein Stück vom Bett, um mir den Raum zu geben, an meine Kleider zu kommen. „Was ist passiert?“, fragte er nach einem Moment leise, mit ernstem Blick gen Boden zu dem Kleiderhaufen dort gerichtet. Ich blickte ihm nicht ins Gesicht, zog mir zuerst meine Hose über, dann mein Shirt. Während ich meine Jacke überstreifte, sagte ich, mit Blick zu den nun kahlen Holzdielen hinab: „Sasuke hat mir versprochen zu bleiben.“ Kakashi schwieg. Er ließ mir alle Zeit, die ich brauchte. Doch keine Zeit der Welt würde mir ausreichen, um ihm zu erklären, was passiert war. Es waren Dinge, die man nur fühlen, aber nicht in Worte fassen konnte. „Er hat gesagt, er würde bleiben“, sagte ich deshalb das Einzige, was für Kakashi in diesem Moment wirklich wichtig war. Er sollte wissen, dass Sasuke versprochen hatte, dass er für mich hierbleiben würde. Es war das Einzige, was ich ihm sagen konnte. Dass Sasuke nicht mehr hier war, wusste er wohl längst. Im Innern meines Kopfes begann ein brennender Schmerz. Tränen stiegen mir in die Augen. „Er hat gesagt, er bleibt“, wiederholte ich mit schmerzhaft angespannten Stimmbändern. Kakashi gab keinen Laut von sich. Er wartete geduldig darauf, dass ich bereit war, ihm mehr zu erzählen. Aber das war ich nicht. Und wir hatten keine Zeit. Ich wischte mir die Tränen von den Wangen, aus den Augen und blickte entschlossen zu Kakashi auf. „Wir müssen ihm folgen“, stellte ich klar. „Wir müssen ihn zurückholen.“ Kakashi rührte sich nicht, keinen Millimeter, wie immer, wenn er nachdachte. „Wir müssen herausfinden, warum er gegangen ist. Und ihm klarmachen, dass das ein Fehler war. Dass es keinen Grund dazu gibt.“ Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ein wenig Verwunderung in seinem rechten Auge sehen konnte. Verwunderung darüber, dass ich selbst nicht wusste, warum Sasuke verschwunden war. In meinen Augen konnte er wahrscheinlich nichts mehr außer Entschlossenheit lesen. Ohne Worte hatte ich mir geschworen, dass ich Sasuke zurückbringen würde. Immer hatte ich nur ein Ziel vor Augen gehabt: Hokage zu werden. Ich hatte es mir nie vorstellen können, dass mir irgendetwas einmal wichtiger werden würde als das. Doch jetzt spürte ich, dass etwas anderes sich noch über meinen Kindheitstraum gestellt hatte. Ich würde Sasuke zurückbringen. Egal, was ich dafür tun musste. Ich würde ihn zurückbringen. Mit allen Mitteln. Egal über wie viele Leichen ich gehen musste. Und ich hatte das starke Gefühl, dass es einige sein würden. ~ Kakashi hatte es geschafft, mich davon abzuhalten, allein loszuziehen. Er war mit mir zu Tsunade gegangen und hatte mir geholfen, ein Team zu organisieren, das die Verfolgung aufnehmen sollte. Und er hatte sogar um Hilfe von den Ninja aus Sunagakure gebeten. Sie würden sich Sasuke von der anderen Seite in den Weg stellen. Dennoch hoffte ich, dass ich der Erste sein würde, der auf ihn traf. Ich wollte es sein, der ihn zurückbrachte. Ich wollte es sein, der ihn zur Vernunft brachte, ohne ihn dabei ernsthaft zu verletzen. Ich wollte es sein, der zuerst erfuhr, warum er mir das angetan hatte. Wir reisten stunden-, vielleicht sogar tagelang; ich hatte vollkommen mein Zeitgefühl verloren. Jedenfalls hatte ich ausreichend Zeit, um noch einmal alles Revue passieren zu lassen, was zwischen Sasuke und mir passiert war. Immer und immer wieder. Aber ich fand keinen Anhaltspunkt, keinen Hinweis darauf, dass Sasuke schon von Anfang an vorgehabt hatte, mich bewusstlos zu schlagen und einfach zu gehen. Er hatte mich zurückgeküsst, er hatte geholfen, mich auszuziehen, er hatte die Augen geschlossen und bei fast jeder Berührung von mir gekeucht; ich hatte seine Eile gespürt, seine Verzweiflung, seine Leidenschaft. Das konnte nicht vorgetäuscht gewesen sein. Es war echt gewesen. Es musste echt gewesen sein. Weshalb aber sollte er dann geflohen sein? Weil er, ebenso wie ich, noch nicht wusste, wie es mit uns weitergehen würde? Weil er Angst hatte vor dieser ungewissen Zukunft? Warum hatte er nicht einfach mit mir darüber gesprochen? Ich hätte seine Zweifel beseitigt. Ich hätte ihm die Welt versprochen, wenn ich ihn damit hätte aufhalten können. Und ich würde das allerselbe versuchen, wenn ich ihn nun finden würde. Das Schlimmste aber war, ich hatte ihn bereits gefunden. Und dennoch war er unerreichbar für mich. Wie Neiji mit seinem Byakugan gesehen hatte, steckte Sasuke tatsächlich in diesem Holzfass, dass die Schall-Ninja mit sich herumgetragen hatten. Jetzt stand es hier, nur wenige Meter von mir entfernt auf weitem Feld. Aber ich kam nicht an Kimimaro vorbei. Kakashis Hunde hatten Sasuke für uns aufgespürt und konnten uns bereits sehr früh sagen, dass er nicht allein losgezogen war. Er war in Begleitung von vier Ninja aus Otogakure. Wir waren bereits allen der Gruppe begegnet, hatten uns ihnen in den Weg gestellt, versucht, sie zu bekämpfen, versucht, sie auszutricksen, doch all das hatte nicht funktioniert. Wir mussten unser Team Stück für Stück aufsplitten. Zuerst verloren wir Chouji. Dann Neiji. Dann Kiba und Akamaru. Bis schließlich Shikamaru sich anbot, den Kampf gegen Tayuya zu übernehmen, damit ich die Verfolgung von dem anfangs nicht eingeplanten ehemaligen fünften Mitglied der Schall-Ninja aufnehmen konnte: Kimimaro. Und vor diesem stand ich jetzt. Ich hatte schon eine ganze Weile gegen ihn gekämpft und spürte, dass ich keine Chance hatte. Keiner meiner Angriffe schien ihm etwas anhaben zu können. Ich war verzweifelt, wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Ich konnte nur immer wieder zu dem Fass herübersehen. Es war eine bizarre Vorstellung, dass Sasuke darin versteckt sein sollte. Und warum? Warum hatte man ihn dort eingesperrt? Hatte man ihn vielleicht – wie mich – zuvor bewusstlos geschlagen, um ihn leichter verschleppen zu können? Vielleicht war es dann gar nicht Sasuke gewesen, der mir in den Nacken geschlagen hatte. Ich hoffte es so sehr. Ich hoffte, dass ich ihn aus seinem Gefängnis befreien und er mir erzählen würde, dass er nicht wegen mir gegangen war. Dass er mich nicht hatte verlassen wollen. Nicht nachdem, was zwischen uns gewesen war. Eines jedenfalls stand für mich fest: Sasuke war nicht freiwillig mitgegangen. Und ich würde ihn retten. Dann bemerkte ich die Siegel, die den Deckel des Fasses verschlossen. Womöglich war es sogar Schlimmeres als eine simple Transportmöglichkeit. Als ich meinen Blick wieder Kimimaro zuwandte, stellte ich mit Schrecken fest, dass er auf mich zugestürmt kam und mich schon fast erreicht hatte. Ich hatte keine Zeit zu reagieren, da holte er bereits mit seiner Waffe aus Knochen aus. Entsetzt verfolgte ich das Geschehen, mein Körper erstarrt. Alles, was ich denken konnte, war: Nein, ich muss noch Sasuke retten. Im nächsten Moment sah ich etwas Grünes von der Seite auf mich zu schnellen und Kimimaro von mir fortschleudern. Ich blinzelte, erkannte Rock Lee, der schützend vor mir stand. Er hatte Kimimaro mit einem gewaltigen Kick zur Seite geworfen und übers Gras schlittern lassen. Erstaunt und unendlich dankbar schaute ich ihn an. Er wandte seinen Blick jedoch nicht von seinem Gegner ab, als er sagte: „Bitte überlasse diesen Kampf mir, Naruto-kun.“ Jetzt drehte er den Kopf ein Stück, um mir zuzulächeln. „Ich werde mich um ihn kümmern. Ich werde ihn besiegen. Du kannst dich auf mich verlassen.“ „Gejimayu“, sagte ich bewegt. Ich wusste nicht, wie ich meine Dankbarkeit ausdrücken sollte. „Naruto-kun“, sagte er ernst, das Grinsen in seinem Gesicht war verschwunden. Er wandte mir wieder den Rücken zu, bevor er sagte: „Geh und bring uns Sasuke-kun zurück.“ Mein Blick ging automatisch zu dem Holzfass zurück. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass Rauch aus ihm aufstieg. Innerhalb von Sekunden entstand eine mehrere Meter hohe Rauchsäule, die sich immer weiter in den Himmel hinaufrankte. Sie verhieß nichts Gutes. Sie war violett-grau – für mich waren das Orochimarus Farben. Im nächsten Moment hörte man eine Explosion und sah den Rauch zu allen Seiten stieben. Das Fass musste gesprengt worden sein. Entsetzt beobachtete ich das Schauspiel, starrte in die Rauchsäule, versuchte, etwas in ihr zu erkennen. Meine Augen fanden eine schemenhafte Gestalt. Der Wind wehte den Rauch zur Seite und gab die Sicht frei auf Sasuke, der etwas entfernt vom Fass auf einem Hügel stand. Er wirkte verändert. Ich konnte nur nicht sagen, was sich gewandelt hatte. Ich konnte es nicht direkt zuordnen. Sein Gesicht sah eigentlich normal aus, aber ich konnte es auch nur aus dieser Entfernung sehen. Und nur sein Profil. Bevor er mir den Rücken zuwandte und losrannte. Ohne zu zögern, nahm ich die Verfolgung auf, Kimimaro und Lee vollkommen vergessen. Doch sie hatten mich nicht vergessen. Und Kimimaro hatte noch immer nicht vor, mich gehen zu lassen. Achtlos war ich losgerannt, hatte meinem Gegner den Rücken zugekehrt. Als ich über meine Schulter sah, konnte ich die Knochenwaffe sehen, die auf mich zuschnellte. Und plötzlich erstarrte jede Bewegung um mich herum. Lee hatte die Waffe mit bloßen Händen gestoppt. Mit einem kurzen Blick, den er nicht einmal sehen konnte, drückte ich ihm meine Dankbarkeit und meine Zuversicht aus, dass er diesen Kampf gewinnen konnte, und rannte weiter. Wir hatten keine Zeit, um noch mehr Worte zu verlieren. „Sasuke!“, schrie ich, während ich über den Hügel rannte. Warum lief er davon? Warum sollte er vor mir davonlaufen? Es machte keinen Sinn. Stimmte es doch, was die Ninja aus Otogakure gesagt hatten? War er wirklich freiwillig mitgegangen? Wollte er tatsächlich aus freien Stücken zu Orochimaru, nur um stärker zu werden? „Bleib stehen, Sasuke!“, rief ich, obwohl ich bereits wusste, dass er nicht auf mich hören würde, wenn er es beim ersten Mal schon nicht getan hatte. Aber ich wollte Antworten. Ich wollte ihn verstehen. Ich wusste von Itachi und von dem, was er getan hatte. Ich konnte es nachvollziehen, dass Sasuke sich rächen wollte, doch er musste doch einsehen, dass Rache keine Lösung war. Dass sie die Vergangenheit nicht ändern konnte. Dass sie seine Zukunft nur zerstören konnte. Ich folgte ihm über die weiten Felder, durch einen Wald, bis zu einem Wasserfall, in dessen Felsen zu beiden Seiten Skulpturen eingemeißelt waren, die zwei Shinobi darstellten, die ich nicht erkannte. Auf der anderen Seite des Flusses, auf dem steinernen Kopf des einen Ninja, blieb Sasuke stehen. Ich, aus Furcht, ihn noch weiter von mir fortzujagen, ihn Orochimaru in die Arme zu treiben, blieb ebenfalls stehen, auf dem Kopf des anderen. Die hunderte von Meter Abstand zwischen uns kamen mir wie eine treffende Darstellung der momentanen Distanz zwischen uns vor. Das fließende Wasser waren die noch ungeklärten Dinge, die unausgesprochenen Gefühle, die zwischen uns waren und in diesem Moment auch durch meinen Kopf strömten. Ich wusste, dass nichts diesen Fluss beenden konnte. Nichts würde diese Wassermassen aufhalten können. Nur Sasuke. Doch das schien er nicht vorzuhaben. Er schien nichts im Sinn zu haben, das im Entferntesten mich betraf. Er hatte mir den Rücken zugewandt. Ich fragte mich, ob er es nicht wagte, mir ins Gesicht zu sehen, oder ob er einfach keinen Grund sah, das zu tun. Als er sich in Bewegung setzte, sich von mir entfernen wollte, schrie ich: „Warum läufst du vor mir davon?“ Jetzt hielt er inne. Er schien zu überlegen, ob er sich davon provozieren lassen wollte oder nicht. Er wandte sich um. Zuerst dachte ich, er hätte sich darauf eingelassen, doch sein Blick war kalt. Er verriet keinerlei Emotion. Doch das war nicht der Grund, weshalb ich jetzt erschrak. Nicht nur war eine Hälfte seines Gesichts dicht mit diesen schwarzen Flecken übersät, die ich schon einmal gesehen hatte – sein linkes Auge war dunkel verfärbt mit einer orangenfarbenen Iris. Es sah nicht mehr normal aus. Es war unnatürlich. Es entstellte Sasukes Gesicht. „Ich laufe nicht davon“, stellte er ruhig klar. Ich starrte ihn entsetzt an. Er war also tatsächlich auf dem Weg zu Orochimaru. „Ich gehe nur fort von dem, was mich davon abhält, stärker zu werden.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder um und setzte gemächlich seinen Weg fort. Als hätte er alle Zeit der Welt. Als stünde hundert Meter entfernt nicht eine verzweifelte Seele, die ihn anflehte zu bleiben und das Gefühl hatte, ihn jeden Moment zu verlieren. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. „Bleib stehen, Teme!“ Als er nicht auf mich hörte, sprang ich. „Sasuke!“, schrie ich wütend und jetzt reagierte er, hörte wahrscheinlich, dass meine Stimme rasant näherkam. Er wandte sich im Gehen um, doch nicht mehr rechtzeitig, um mir noch ausweichen zu können. Ich landete auf seinem Bauch, rutschte mit ihm über den Felsen, bis er unter mir zum Liegen kam und zu mir aufschaute. Ich holte aus, zögerte, doch schlug dann zu. Ich benutzte meine linke Hand, in der Hoffnung, dass ich ihn so nicht bewusstlos schlagen würde in meiner Wut, traf damit seine Wange und schlug seinen Kopf zur Seite, sodass ich seine entstellte Gesichtshälfte nicht mehr sehen musste. Wenn sein Blick nicht so emotionslos gewesen wäre, hätte ich in diesem Moment denken können, dass wieder alles beim Alten war. Doch er schaute aus kalten Augen zu mir auf, drehte seinen Hals wieder gerade und spuckte mir ins Gesicht. Es war Blut, das aus seinem Mundwinkel lief, doch es tat mir nicht leid. Er musste aufwachen. Er musste es spüren. Doch es löste fast eine Gänsehaut bei mir aus, eben dieses warme Blut meine Wange hinablaufen zu spüren. Plötzlich griff er nach dem Kragen meiner Jacke und zog mich zu sich hinunter. Ich hoffte so sehr, mit jeder Faser meines Körpers, dass er mich küssen würde. Er brauchte sich nicht einmal dafür zu entschuldigen, was er getan und was er zu tun vorgehabt hatte. Er brauchte mich nur zu küssen und mir zu versprechen, dass er mit mir nach Konoha zurückkehren würde. Mehr nicht. Bitte. Bitte. Mehr nicht. Mehr verlange ich nicht, Sasuke. Doch mein lautloses Flehen nützte nichts. Plötzlich lachte er – ein leises schadenfrohes Lachen. „Worüber lachst du?“, wollte ich wissen. Er antwortete mir zuerst nicht, lachte nur weiter. „Was gibt es hier zu lachen?“, forderte ich eine Antwort. Dann sagte er: „Warum sollte ich nicht lachen dürfen? Wenn ich mich recht erinnere, hast du bei unserer letzten Begegnung auch gelacht.“ „Wovon sprichst du?“, fragte ich ihn verwirrt. Ich dachte daran, wie ich kurz hatte auflachen müssen, als seine Finger mich am Bauch gekitzelt hatten. Doch das konnte er wohl unmöglich meinen. „Du weißt genau, wovon ich spreche“, entgegnete er. „Ob du dich nun erinnern willst oder nicht, ich kann dir zeigen, wie es sich für mich angefühlt hat.“ Plötzlich hoben mich die Hände an meinem Kragen in die Luft, hoben mich hoch, bis ich mit den Füßen über dem Boden baumelte. Ohne jegliche Anstrengung war er währenddessen aufgestanden. „Und? Wo ist dein Lachen jetzt?“, fragte er mich, der ihn entsetzt ansah, und schlug mir in den Magen, sodass ich glaubte, gleich das Bewusstsein zu verlieren. Er legte so viel Kraft in diesen Schlag, dass ich mir sicher war, dass er sich nicht zurückhielt. Er könnte mich umbringen, wurde ich mir bewusst. Er würde mich fallen lassen wie einen zerbrochenen Shuriken. Und tatsächlich ließ er jetzt meinen Kragen los und warf mich die Klippe hinunter. Ich prallte auf der Wasseroberfläche auf und stieß in die Tiefe hinab. Plötzlich sah ich nur noch blau. Es war, als wäre ich in einer anderen Welt. Eine Welt ohne Sasuke. So schnell ich konnte, schwamm ich wieder nach oben. Als ich das Ufer des Flusses erreicht hatte und zu Sasuke zurückblickte, kam bereits eine Feuerkugel auf mich zu. Ich wich ihr nicht aus, sprang durch sie hindurch, geradewegs die Statue wieder hinauf zu ihm und entschied in diesem Moment, dass es nur eine Lösung gab: dasselbe zu tun, was er, oder vielleicht auch einer der vier Schall-Ninja, getan hatte; ich würde ihn bewusstlos schlagen und nach Konoha zurücktragen. Sasukes Blick war überrascht, als ich aus den Flammen auftauchte und direkt auf ihn zuflog. Ich landete einen Treffer in seinem Gesicht. Dann noch einen und noch einen. Bis er wieder Blut spuckte. Dieses Mal war es mehr; er spuckte es zu Boden und nicht in mein Gesicht. Jeder Schlag war eine Befreiung und eine Qual zur selben Zeit. Ich wollte ihm nicht wehtun. Ich wollte ihn nur zurückhaben. Ich zögerte. Er schützte sich nicht. Er wehrte sich nicht. Wollte er, dass ich ihn bewusstlos schlug? Wollte er, dass ich ihn zur Vernunft brachte, die er nicht mehr sehen konnte, seit Orochimaru ihn vergiftet hatte? „Ist das alles?“, fragte er plötzlich. „Mehr hast du nicht zu bieten?“ „Ich werde dich nach Konoha zurückbringen, selbst wenn ich dir jeden Knochen einzeln brechen muss!“, drohte ich ihm. Ich spürte die Wut in mir aufwallen. Ich konnte sie nicht zurückhalten. Sie übermannte mich. Und von da an ging alles so schnell. Unser Schlagabtausch verlief so reibungslos, als wäre er einstudiert worden. Doch irgendwann machte Sasuke einen Schnitt und zerstörte diese Balance zwischen uns. Er ließ Orochimarus Siegel seinen Körper in Besitz nehmen und verwandelte sich in ein seltsames Wesen mit Flügeln, die aussahen wie riesige Hände. Seine Haare hatten ihre Form verändert, in seinem Gesicht prangte ein schwarzes Zeichen. Ich erkannte ihn kaum wieder. Jedoch hatte ich auch nicht die Zeit, es zu versuchen, denn er kam auf mich zu, flog zu mir herüber und griff mich mit seinem mächtigen Chidori an. Ich versuchte mit meinem Rasengan zu kontern, doch irgendwie wusste ich, dass ich keine Chance hatte. Ein grelles Licht umgab uns, als unser Chakra kollidierte. Ein Licht, das die dunklen Schatten in Sasukes Gesicht jedoch nicht auslöschen konnte. Ich spürte den Wind, spürte die Kraft, die von ihm und vor allem von seiner linken Hand ausging, die immer näher kam, bis sie schließlich auf den Kern meines Rasengan traf und mit ihm zusammen explodierte. Die Wucht seiner Attacke drängte das Wasser des Wasserfalls zurück. Sie stoppte tatsächlich für einen Moment den Wasserstrom. Ich hatte es vorhergesehen. Ich hatte es gewusst, dass er dazu in der Lage war. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass er nicht nur das Wasser stoppte, sondern tatsächlich auch meinen Gedankenstrom. Denn im nächsten Augenblick verlor ich das Bewusstsein. ~ Ich sah, wie seine Augen sich schlossen, als mein Chidori ihn traf und ihn von mir fortschleuderte. Augenblicklich stoppte ich meinen Angriff. Ich streckte meine Hände nach ihm aus, bekam ihn aber nicht mehr zu fassen. Ich musste mit ansehen, wie er am Ufer des Flusses aufkam und reglos dort liegen blieb. Mein Chidori war also tatsächlich stärker als sein Rasengan. Ich konnte es noch gar nicht glauben, dass er überhaupt so stark war, dass er eine Chance gegen mich hatte, obwohl Orochimaru mir bereits eine Unmenge an neuer Kraft gegeben hatte. Ich konnte die Macht des Kyuubi aber auch noch gar nicht begreifen. Sie schien jedoch auch irgendwann an ihre Grenzen zu stoßen. So wie ich. Denn jetzt spürte ich, wie sich die Flügel auf meinem Rücken zurückzogen, ebenso wie die schwarzen Flecken, die meinen Körper übersäten und nun zurück zu meinem Nacken wanderten, der sie in sich aufsaugte. Und dann kam die Erschöpfung. Ich wartete ein paar Sekunden, spürte wie die Unruhe in mir die Trägheit in den Hintergrund drängte. Und als Naruto sich nicht regte, konnte mich nichts – weder die Schmerzen in meinem Nacken noch das Blei in meinen Beinen – davon abhalten, zu ihm zu gehen. Ich sprang von Fels zu Fels übers Wasser, landete auf der anderen Uferseite, blieb jedoch ein paar Schritte entfernt von dem stillen Körper am Boden wieder stehen. Er bewegte sich nicht. Jetzt fielen die ersten Regentropfen, trafen auf sein Gesicht, auf seine Augenlider, doch er zuckte nicht zurück. Mein Angriff konnte ihn nicht so sehr verletzt haben, oder? Er würde doch nicht… Ich hatte ihn doch nicht etwa… Mein Herz schlug unglaublich schnell in meiner Brust. Ich wagte es kaum, mich zu nähern. Ich wagte es kaum zu atmen. In der Hoffnung, so könnte ich einen Laut von ihm hören. Doch er blieb still. „Naruto“, wisperte ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören konnte, und wusste, dass er mir nicht antworten würde, wenn er es könnte. In diesem Moment löste sich mein Stirnband und kam klirrend neben ihm auf dem Boden auf. Er rührte sich noch immer nicht. Ich näherte mich noch einen Schritt und ging dann vor ihm in die Knie, sodass nicht mehr als sein Handgelenk in meiner Reichweite lag. Es sah fast so aus, als wollte er nach meiner Hand greifen. Doch er wusste nicht einmal, dass sie gerade in seiner Nähe war. Ich streckte meine Finger nach ihm aus, berührte seinen Arm, suchte seinen Puls. Ich fand ihn nicht. Ich rutschte nun doch noch ein Stück über den Boden näher an ihn heran, legte meine zitternden Fingerspitzen an seinen Hals. Ich befahl ihnen, meinen eigenen Herzschlag zu ignorieren, und tatsächlich spürte ich jetzt etwas schwach gegen sie pochen. Ich atmete wieder ein, bemerkte, dass ich die Luft angehalten hatte. Es bestand noch eine Chance. Ich war mir sicher, dass jemand nach ihm suchen und ihn bald hier finden würde. Dann war er wieder sicher. Dann würde er nach Hause zurückkehren. Zurück zu Sakura. Ich spürte warme Tropfen zwischen den eiskalten des Regens. Sie mischten sich auf meinem Gesicht. Eigentlich hatte ich mich nicht von ihm verabschieden wollen, doch jetzt konnte ich nicht mehr anders. Ich wusste, dass ich ihm nie wieder in die Augen sehen konnte, auch wenn er wahrscheinlich keine bleibenden Schäden von diesem Kampf davontrug. Ich könnte es nicht einmal dann, wenn er behauptete, mir verzeihen zu können, dass ich es nicht sicher gewusst hatte, ob er meinen Angriff überleben würde. Ich hatte keine andere Option mehr gesehen, rechtfertigte ich mich vor mir selbst. Er hatte sich einfach nicht vertreiben lassen. Nicht mit Worten, nicht mit Gewalt. Ich konnte mir noch immer nicht erklären, wieso. Warum war er mir überhaupt gefolgt? Nur weil ich mich Orochimaru anschließen wollte? Weil er Angst hatte, dass ich stärker und somit gefährlich für ihn werden könnte? Was ich hiermit wohl bewiesen hatte. Ich schaute auf den wehrlosen Körper hinab. Jetzt hätte ich wohl die einmalige Gelegenheit, ihn umzubringen. Hätte die Chance, Itachis Rat zu befolgen. Aber ich blickte nur auf dieses Gesicht hinab, das gerade so zerbrechlich auf mich wirkte – und wollte es berühren. Nach allem, was er zu mir gesagt hatte. Nach allem, was er mir angetan hatte in den letzten Tagen, wollte ich ihn dennoch berühren. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er das auch bei mir tun wollte. Ich schloss krampfhaft die Augen, zwang meine Finger zurück, brachte sie dazu, sich von seinem Hals zu entfernen. Es war nicht einfach. Es war der einzige Beweis, dass der Kontakt zwischen uns noch nicht vollkommen abgebrochen war. Dass noch eine Verbindung bestand, die mir das Recht gab, hier zu sein. Doch damit täuschte ich mich nur selbst. Ich hatte kein Recht mehr dazu. Ich hatte es nie gehabt. Ich hielt meine linke Hand mit meiner rechten fest, verhinderte, dass sie zu Narutos Hals zurückkehrte. Stattdessen beugte ich mich über ihn, als wollte ich sein Gesicht vor dem Regen schützen, doch von meiner Nasenspitze tropften ständig neue Wasserperlen – mal kalte, mal warme. Ich presste meine Stirn gegen die seine, spürte, wie sich das Zeichen Konohas in meine Haut presste, als wollte es mich brandmarken. Als wollte es mich abstempeln als einen von ihnen – jedoch als einen, der nicht normal war, denn das Symbol würde auf meiner Stirn verdreht zu sehen sein. Meine Hände wollten wieder nach vorn, wollten ihn an mich heranziehen, ihn an mich pressen, doch ich wusste, dass ich das nicht wagen würde. Zu groß war das Risiko, ihn aufzuwecken, ihn zu verletzen, ihn zu ersticken mit meiner Verzweiflung. Und zu groß war die Gefahr, dass ich mich dann nicht mehr losreißen könnte, bevor seine Kameraden auftauchten und mich umbrachten für das, was ich getan hatte, und für das, was ich noch tun würde. Ich hob meine Stirn von dem Platz auf seiner, schaute auf seine geschlossenen Lider hinab und hoffte so sehr, dass die warmen Tropfen ihn aufwecken würden, bevor ich davonlaufen konnte. Doch er lag nach wie vor vollkommen reglos da. Es war eine Qual und eine Erleichterung zugleich. Ich dachte daran, wie es sein würde, ihn nach dem heutigen Tage nie wieder zu sehen. Aber irgendwie hatte ich die Hoffnung und gleichzeitig die Befürchtung, dass wir uns wieder begegnen würden. Ich konnte nur darauf vertrauen, dass ich bis dahin die Angelegenheit mit Itachi geklärt hatte, denn unser nächstes Aufeinandertreffen würde ich nicht überleben, das wusste ich. So stark Orochimaru mich auch bereits gemacht hatte, ich spürte es, dass die Kräfte, die in Naruto verborgen lagen, noch viel größer waren als alles, was sich antrainieren oder von anderen stehlen ließ. Narutos Kraft kam von etwas, das einem Naturphänomen glich. Einem Wunder. Und diese übernatürliche Kraft stand über den Dingen, die für einen Menschen machbar waren. Und wenn er sie erst einmal einzusetzen wusste, dann hatte ich keine Chance mehr. Nachdem ich ihn in dieser seltsamen Form eines feuerroten Fuchses gesehen hatte, fragte ich mich allerdings auch, ob es nicht eine Macht war, die auch eine Gefahr darstellte. Eine Gefahr für Narutos Leben. Ich kniff die Augen wieder zu, zwang meine Gedanken, eine andere Richtung einzuschlagen. Ich sollte nicht länger hier bleiben. Ich musste gehen. Ich musste einfach nur meine Augen geschlossen halten und gehen. Nicht mehr zurückblicken und meine Zukunft einzig und allein meiner Rache widmen. So schwer konnte das doch nicht sein. Das hatte ich schon Jahre lang getan, bevor ich die Gefühle erkannt hatte, die ich für diesen kleinen Dobe hier hegte. Damals war mein Ziel noch klar und deutlich vor meinen Augen gewesen, der Weg dorthin eindeutig, die Mittel, ihn zu beschreiten, ebenfalls. Es gab nichts, das mich diesen Weg, und meine Mittel, anzweifeln ließ. Es gab keine Kompromisse. Doch irgendwann hatte ich bemerkt, dass ich mein Ziel allmählich aus den Augen verloren hatte. Weil ich nur noch Augen hatte für Naruto. Ich erinnerte mich an so viele Situationen, in denen ich mich dabei erwischt hatte, wie ich ihn heimlich beobachtet hatte. Ich war so erleichtert gewesen, jedes einzelne Mal, dass er es nie bemerkt hatte. Jetzt konnte ich es schon gar nicht mehr sagen, wann es begonnen hatte. Wann ich die Gefühle für ihn entdeckt oder endlich richtig interpretiert hatte. Irgendwann hatte ich einfach festgestellt, dass ich von niemandem so sehr beeinflusst werden konnte wie von ihm. Alles drehte sich nur noch um ihn. Der Gedanke an Itachi war in den Hintergrund gerückt. Es hatte mich schockiert, als ich das zum ersten Mal wahrgenommen hatte. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nicht begriffen, was es war, das mich mit Naruto verband. Warum ich zu glauben schien, dass er mir das geben konnte, was sonst nur mein großer Bruder mir hatte geben können – allerdings vor langer Zeit. Ich begann zu verstehen, dass es mit Worten auch nicht wirklich zu erklären war. Ebenso wenig wie ich das Band zu Itachi damals hätte erklären können. Er war mein Bruder. Ich liebte ihn. Ich sah zu ihm auf. Er war mein Vorbild. Obwohl er mir das Leben nicht einfach gemacht hatte, die Erwartungen meiner Familie und aller anderen um mich herum nach oben geschraubt hatte. Ich liebte ihn trotzdem. Weil er – wenn auch nicht immer – für mich da war. Er war einfach da. Und ich wusste, ich brauchte ihn. Ich hatte irgendwann geschlussfolgert, dass es mit Naruto ähnlich war. Dass ich auch zu ihm aufsah, weil er sich durch nichts kleinkriegen ließ. Dass er in meinem Leben fest verankert und nicht mehr daraus wegzudenken war. Er war da. Für mich. Und ich brauchte ihn. Es gab vieles, was uns verband und über die Jahre zusammengeschweißt hatte. Es waren unter anderem die Dinge, die wir gemeinsam erlebt hatten. Eine gemeinsame Vergangenheit. Das war etwas, das ich – als Einzelgänger – nicht mit vielen teilte. Was ich außerdem mit ihm gemeinsam hatte, war unser Ehrgeiz. Etwas, das uns immer wieder aneinandergeraten ließ. Aber auch diese Rivalität verband uns. Ich erinnerte mich noch so gut an das gemeinsame Training im Land der Wellen, bei dem wir die ganze Nacht durchtrainiert hatten, weil keiner von uns hatte aufgeben wollen. Keiner hatte dem anderen unterlegen sein wollen. Wir hatten uns gegenseitig angestachelt und an unsere Grenzen getrieben. So sehr, dass wir uns gegenseitig stützen mussten, um am nächsten Morgen zum Haus unseres Auftraggebers zurückzukommen. Aber wir hatten es geschafft. Bis an die Spitze. Gemeinsam. Und ich war schon lange nicht mehr so glücklich gewesen wie an diesem Tag. Narutos Arm um meine Schultern gelegt zu haben, sein keuchender Atem so nahe bei mir, hatte mir Herzklopfen bereitet. Auch wenn mir jeder einzelne Muskel am Körper wehtat, war ich nahezu enttäuscht gewesen, als wir schließlich das Haus erreicht hatten. Ich hätte noch länger neben ihm hergehen können, mit so langsamen Schritten, dass man von Weitem gar nicht sicher gewesen wäre, ob wir überhaupt vorankamen. Und später an diesem Tag, bei dem Kampf gegen Haku, hatte Naruto sich für mich direkt in die Schusslinie begeben. Er hatte mich beschützen wollen und hatte mich schließlich dazu gebracht, dass ich ihn beschützen musste. Und wollte. Ich hatte es nicht glauben können, als er mich im Arm gehalten hatte. Wie sanft, wie liebevoll er es getan hatte. Sein Blick, als er die ganzen Nadeln in meinem Körper gesehen und befürchtet hatte, dass ich es nicht überleben würde. Seine Tränen. Ich war mir an diesem Tag so sicher gewesen, dass er dasselbe für mich empfand wie ich für ihn. Ich hatte es zu spüren geglaubt. Ich hatte meine Wünsche die Oberhand gewinnen lassen. Doch ich hatte schnell festgestellt, dass sich nichts geändert hatte. Dass ich es mir wohl nur eingebildet hatte. Dass ich meine Augen vielleicht absichtlich vor der Realität verschlossen hatte. Ich machte den Fehler und öffnete sie jetzt. Ich sah auf das nasse Gesicht hinab, das fast so aussah, als weinte er auch jetzt. Als weinte er mit mir. Nur waren seine Wangen dabei nicht gerötet, wie sie es hätten sein müssen. Und seine Haut war kalt. Ebenso wie seine Lippen, wie ich mit Entsetzen feststellte, als ich mich hinunterbeugte und sie mit meinen berührte. Es war kein Kuss – diese Berührung hatte nichts von der, die wir noch vor wenigen Tagen in meinem Bett ausgetauscht hatten. Es war wie ein Kontakt mit einem Gegenstand, etwas Kaltem, Leblosem. Ein Kontakt, den man zwar spüren konnte, doch es steckte nichts in ihm. Kein Gefühl, keine Bedeutung, kein Leben, kein Sinn. Es tat nur weh. Weil am anderen Ende nichts ankam. Alle Kraft verließ meinen Körper. Meine Finger, die an seinen Kopf zurückgefunden hatten und sich dort, so sanft sie konnten, in Hals und Wangen pressten, entkrampften sich und ließen schließlich von ihm ab. „Sayounara.“ Ich warf noch einen Blick auf meinen Stirnschutz, der neben ihm auf dem Boden lag. Ich überlegte, ihn aufzuheben und mitzunehmen, doch ich wusste, dass es besser war, das nicht zu tun. Ich wollte keine Andenken an ihn. Ich würde auch so durch zu vieles an ihn erinnert werden. Wie in Trance stand ich auf, mied seinen Anblick, drängte all die Erinnerungen zurück, und ging los, zu schwach zu rennen. Es war mir vorerst egal, wohin. Nur weg von hier. Weg von allem, was ich kannte. Von allem, was Erinnerungen wach- oder mich zu sich zurückrufen könnte. ~ Ich spürte ein ständiges Auf und Ab. Ich hörte Äste knarzen, Laub rascheln, Vögel zwitschern. Alles zog so schnell an mir vorbei. Ich sprang scheinbar durch einen Wald. Nein. Jemand trug mich. Jemand hielt mich sicher fest. Sasuke… Ich dachte an seine starken Arme, die mich in seinem Bett an sich gepresst hatten, und Hoffnung flutete mich, auch wenn ich sie in meinem gelähmten Körper nur gedämpft spüren können. Ich zwang meine schweren Augenlider auf. Nur verschwommen konnte ich durch den schmalen Spalt etwas sehen, doch ich erkannte helle Haare. Es war nicht Sasuke. Enttäuschung schwemmte alle Hoffnung fort. Nach einem genaueren Blick erkannte ich Kakashi. Ich wusste, was das bedeutete: Sasuke war nicht hier. Ich hatte ihn nicht aufhalten können. Ich war gescheitert. Ich hatte ihn verloren. Nein. Ich wollte es nicht wahrhaben. Vielleicht war Sasuke direkt hinter uns. Ich war nur zu schwach, um meinen Kopf zu drehen und nachzusehen. Ich versuchte, meinen Mund zu öffnen. „Sensei…“, keuchte ich. Es war mein dritter Versuch; die beiden Male zuvor hatte kein Laut meine geöffneten Lippen verlassen. Meine trockene Kehle weigerte sich, aber ich zwang sie dennoch. „Sasuke… Wo ist er?“ Kakashi schaute über seine Schulter zu mir zurück. „Ruh dich jetzt aus“, wich er meiner Frage aus. Ich wusste, was das bedeutete. Ich spürte ganz langsam die Tränen aufkommen. Mein Körper war zu schwach für eine schnellere Reaktion; ich konnte ihn kaum spüren. Er war taub vor Schmerz und Erschöpfung. Und Leid. Sasuke… Das war mein letzter Gedanke, bevor ich wieder von der alles verschluckenden Dunkelheit eingehüllt wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)