Last Desire: After Story I von Sky- (Long Lost Fellow) ================================================================================ Kapitel 8: Verdacht auf eine Revolte ------------------------------------ Thomas zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen und irgendwie wirkte er in diesem Moment unheimlich, so wie er aussah. Schließlich aber räusperte sich Anne kurz und es schien zuerst so, als wolle sie etwas sagen, doch stattdessen deutete sie nur auf ein Dokument und schwieg weiterhin. In diesem Moment fragte sich Jeremiel, ob diese Frau überhaupt mal sprach. Wahrscheinlich sagte sie nur etwas, wenn es wirklich notwendig war. Thomas überflog das Dokument, auf welches die schwarzhaarige Schönheit gedeutet hatte. „Aha. Anne hat notiert, dass es in der Heimat nahe dem Hauptquartier hin und wieder mal eine Sichtung eines Head Hunters gab, der nicht die übliche Maskierung trug. Statt der Gashalbmaske und der Schutzbrille trug er eine blutrote Maske und er soll auch einzelne Head Hunter heimlich verfolgt haben. Anne hat es allerdings nicht gemeldet, sondern erst einmal nur den Unbekannten beobachtet. Sie vermutet, dass er entweder etwas mit der Verschwörung zu tun haben könnte, oder aber er beobachtet die Head Hunter aus einem anderen Grund.“ „Tja… fragt sich nur, wer eine rote Maske trägt.“ „Es gab vor langer Zeit jemanden“, sagte Eva schließlich. „Ich weiß nicht mehr, wer es genau war, aber er war auch ein Head Hunter. Allerdings hat man lange nichts mehr von ihm gehört und er war auch der Einzige, der eine solche Maske trug. Entweder ist es derselbe von damals, oder aber jemand verkleidet sich als ihn.“ In dem Fall war es wohl ratsam, diesen Maskierten zu beobachten und der Meinung war auch Thomas. Also trug er Anne auf, sich darum zu kümmern. Die Naphil mit den bernsteinfarbenen Augen nickte nur und es war nicht eine einzige Gesichtsregung zu erkennen. Ihr Blick war eiskalt und abweisend, als wolle sie niemanden an sich heranlassen. Diese Frau gab Jeremiel wirklich Rätsel auf. Schließlich bot Levi an „Ich könnte mich im Hauptquartier wegen der Listen erkundigen. Mag vielleicht sein, dass alles abgestritten wird, aber wenn jemand nachfragt, kann ich vielleicht den Strippenzieher aus der Reserve locken und ihn zum Angriff provozieren. Auf die Weise finden wir vielleicht heraus, ob wirklich Adonaj oder Ra’am dahinterstecken.“ „Ist das nicht riskant?“ fragte Jeremiel besorgt, doch Levi lächelte nur überlegen und erklärte „Wenn ich schon Araphel und seine Gefolgsleute in die Knie zwingen konnte, dann wird das auch kein Problem für mich werden. Zwar bin ich nur ein Mensch, aber ich bin auch ein Chajal und bin mir meiner Fähigkeiten durchaus bewusst. Das wird schon klappen und ein gewisses Risiko müssen wir eingehen, wenn wir die Verantwortlichen schnappen wollen, die nicht nur Jagd auf begnadigte Kriegsverbrecher machen, sondern auch noch Unschuldige töten und sogar schon bald Jagd auf Elohims Sohn machen wollen. Wenn wir nähere Informationen haben, werden wir das sofort Elohim und Ain Soph melden und die werden sich der Sache dann annehmen. Aber solange wir nicht wissen, wer dahintersteckt, würde es nur problematisch werden.“ Dem konnten die anderen nur zustimmen. So war das Gespräch beendet und Levi, Eva und Jeremiel verließen zusammen mit Hannah und Anne das Büro. Im Flur rannte eine Schar Kinder herum und lachte fröhlich. Ein kleiner Junge eilte auf sie zu und blieb direkt vor Anne stehen. Er hatte rotbraunes Haar und dunkelgrüne Augen und er schien nicht älter als sechs Jahre zu sein. Stolz präsentierte er ihr eine Zeichnung, die er mit Wachsmalstiften gemalt hatte und die sie beide und ein bunt gemaltes Haus und eine lächelnde Sonne zeigte. „Guck mal Anne, das hab ich für dich gemalt!“ Und nun sah Jeremiel, wie dieser eiskalte und abweisende Blick wich und diese bernsteinfarbenen Augen von einer fremdartigen Wärme erfüllt wurden. Ein schwaches aber dennoch sehr liebevolles Lächeln spielte sich auf die Lippen der schweigsamen Frau. Zärtlich streichelte sie den Kopf des Jungen, dann kniete sie sich kurz hin und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor sie die Zeichnung entgegennahm. In diesem Moment wirkte sie wie eine Mutter, die sich um ihr Kind kümmerte. Und deshalb fragte er Levi auch „Ist das ihr Sohn?“ „Nicht ganz, eher ihr Ziehsohn“, erklärte Levi und sah, wie Anne den Jungen auf den Arm nahm und mit ihm davonging. „Kenans Eltern waren beides Seraphim, die Miswa gedient haben. Als diese davon erfuhr, wollte sie den Jungen ebenfalls in ihre Dienerschaft aufnehmen und das hätte eigentlich genauso gut den Tod des Jungen bedeutet. Deshalb versteckten sie ihn der Menschenwelt und wurden daraufhin zur Strafe von Miswa wegen Ungehorsams hingerichtet. Der Kleine war ganz alleine und wäre beinahe im Eis eingebrochen und ertrunken. Anne rettete ihn und kümmert sich seitdem um ihn. Der Kleine ist auch der Einzige, für den sie so etwas wie Zuneigung empfindet. Allen anderen begegnet sie kaltherzig und abweisend und es ist kein Geheimnis, dass sie absolut kaltblütig ist, wenn es ums Töten geht. Sie hasst sowohl die Unvergänglichen, als auch die Menschen.“ „Und wie kommt es, dass ausgerechnet der Junge zu ihrem Ziehsohn wird, wenn Anne doch so eiskalt ist?“ fragte Eva und ging zusammen mit Levi weiter und Jeremiel folgte ihnen. Auf diese Frage wusste selbst der Head Hunter keine eindeutige Antwort. „Ehrlich gesagt weiß das keiner so wirklich. Vielleicht, weil der Kleine bei ihr Beschützerinstinkte weckt. Immerhin ist er ein Kind, aber selbst die anderen Kinder beachtet Anne nicht wirklich. Was ich allerdings weiß ist, dass auch Annes Eltern von Miswa ermordet worden sind. Ob das der Auslöser dafür war, dass sie sich entschlossen hat, sich um Kenan zu kümmern, weiß ich allerdings nicht. Fakt ist, dass Kenan sich schon seit dem 8. Jahrhundert in Annes Obhut befindet und sie den Jungen mit ihrem Leben beschützt. Das letzte Mal, als man versucht hat, Kenan zu entführen und als Druckmittel gegen Anne einzusetzen, hat sie über 50 Menschen getötet. Deshalb passt lieber auf, sie versteht überhaupt keinen Spaß, was ihren Schützling betrifft. Lediglich Kindern krümmt sie kein Haar.“ „Wie kann ein Naphil denn so stark sein und so lange leben?“ fragte Eva, denn sie wusste, dass kein Naphil auf der Welt es schaffte, eine so hohe Lebensspanne zu erreichen. Die meisten wurden allerhöchstens 500 Jahre alt, vielleicht auch 600 Jahre. Aber dann waren die Kraftreserven auch aufgebraucht und sie starben dann. „Nun, Anne ist keine vollwertige Naphil. Ein Elternteil war es, aber der andere war ein Sefira. Somit ist Anne zu einem Viertel Mensch, zu einem Viertel Seraph und zur Hälfte Sefira. Deshalb ist ihr Machtpotential deutlich höher als das eines anderen Naphils und darum konnte sie auch so alt werden.“ „Schon eine gewisse Ironie, dass sie sozusagen die Verbindung dreier verschiedener Rassen verkörpert. Und wieso hasst sie die Menschen und die Unvergänglichen, wenn sie doch zum Teil selbst menschlich und zur Hälfte Sefirot ist?“ „Sie ist eben eine notorische Einzelgängerin, die mit keinem etwas zu tun haben will. Solange sie Kenan hat, ist sie zufrieden.“ Sie gingen durch einen langen Flur und es wurde Jeremiel immer deutlicher klar, wie gigantisch das Haus in Inneren war. Hatte es von außen wie eine kleine unscheinbare Jugendherberge gewirkt, erinnerte es irgendwie fast schon an eine Art Stadt im Inneren eines Gebäudes. Es gab Läden, einzelne Wohnungen mit Familien, ja sogar eine Schule. Es war wirklich verrückt und als er nachfragte, wie das sein konnte, erklärte Levi, dass es einem Wunder zu verdanken sei, welches sie von Miswa gekauft hatten. Dadurch wirke das Gebäude von außen so unscheinbar, dass niemand es beachtete und im Inneren war es groß genug, um eine ganze Stadt zu beherbergen. „Wie viele leben hier?“ „Insgesamt sind es 300 Familien. Nicht alle sind Nephilim, sondern teilweise auch Flüchtlinge aus der Heimat. Wenn ein Seraph mit einem Menschen Nachkommen zeugt, wird dies als Verrat an der eigenen Rasse angesehen und deshalb werden auch die Seraphim verfolgt, wenn das ans Tageslicht kommt. Deshalb dürfen auch sie hier wohnen, weil man auf die Weise verhindern will, dass Familien auseinandergerissen werden. Die Nephilim selbst stammen aus allen Teilen der Welt. Afrika, Asien, Europa, Australien… Viele von ihnen sind Waisenkinder und die intakten Familien, die hier leben, kümmern sich um die Waisenkinder und nehmen sie als Pflegekinder auf. Mit der Zeit ist das hier eine komplett autonome Gemeinschaft geworden. Hier werden Geschäfte betrieben, die Kinder unterrichtet, Wohnungen zugewiesen, man bekommt eine Ausbildung und Arbeit und es steht jedem Naphil frei zu kommen und zu gehen, wann er will. Es werden ausnahmslos alle aufgenommen. Ganz egal ob sie in Gefahr sind oder nicht. Seraphim haben eine Aufenthaltsgenehmigung, wenn familiäre Gründe vorliegen und das Gleiche gilt auch für die Sefirot und für die Menschen. Da ich Mitgründer des Heims bin, bin ich nicht an diese Vorschrift gebunden und ihr dürft deshalb auch das Heim betreten. Ansonsten wäre der Zutritt strengstens untersagt.“ Ganz schön strenge Vorschriften, dachte sich Jeremiel, als Levi sie weiter durch das Heim führte. Aber andererseits sind sie ja auch notwendig. Immerhin leben diese Halbblüter hier ja versteckt, weil sie verfolgt werden und ihnen ansonsten der Tod droht. Im Grunde sind sie alle wie Asylanten, aber dennoch haben sie das Beste aus ihrer Situation gemacht. Als sie eine Art Einkaufspassage erreichten, bemerkte Jeremiel wieder Anne, die durch ihre pechschwarze Erscheinung und ihren stechend gelben Augen, die an die eines Adlers erinnerten, deutlich aus der Masse hervorstach. Bei sich hatte sie Kenan, dessen Hand sie festhielt. Der Kleine wirkte aufgedreht und fröhlich und schien irgendwo hinzuwollen und zerrte dabei aufgeregt an Annes Hand. Doch diese blieb die Ruhe selbst und ihr sanftmütiges Lächeln und diese dennoch so kalte und gefährliche Aura, die von ihr ausging, ließ sie an eine schwarze Löwin erinnern, neben der Kenan wie eine kleine Maus wirkte. Irgendwie konnte er nicht anders, als sie anzusehen. Nicht, weil er in sie verliebt war. Es war eher eine gewisse Faszination, die er für sie hegte. Ehe er sich versah, waren Eva und Levi in dem Gedränge verschwunden und er begann sie zu suchen. Aber dummerweise war in der Passage so viel los, dass er sie gar nicht mehr wiederfand, bis ihn plötzlich jemand an der Schulter packte und ihn etwas grob umdrehte. Ehe er sich versah, hielt ihm jemand ein Messer an die Kehle. Vor ihm stand ein junger Mann mit ungesund blasser Haut, staubgrauen Augen und platinblonden Haaren. Er trug eine Kapuze und Handschuhe und machte nicht gerade den freundlichsten Eindruck. „Na da haben wir ja endlich unseren Spion.“ „Äh… was?“ fragte Jeremiel überrascht und verstand erst nicht so wirklich, was hier geschah. Redete der Kerl da gerade von ihm? „Hören Sie, ich will keinen Ärger und…“ „Was macht ein Sefira, den ich hier noch nie zuvor gesehen habe, im Heim? Du hast wohl gedacht, du kommst hier einfach so rein, kannst uns ausspionieren und uns dann Schwierigkeiten machen, was? Tja, da muss ich dich wohl enttäuschen, denn ich bin immer wachsam, mein Freund. Und ich lasse nicht zu, dass du den anderen auch nur ein Haar krümmst, du dreckiger Sefira.“ Offenbar hält der mich für einen Eindringling, dachte sich Jeremiel und überlegte, wie er das schnell klären konnte, ohne dass er gleich einen offenen Kampf riskieren musste. „Ich bin in Begleitung von Le… ähm… Sereas hier und hab ihn gerade aus den Augen verloren.“ „Glaubst du etwa, ich fall auf den Trick rein? Tut mir leid, aber das war es für dich. Ich…“ „Es reicht“, sprach eine Stimme streng und sogleich kam Thomas hinzu, der das Handgelenk des Mannes ergriff und ihn dann auch schon von Jeremiel wegzog. „Er ist als Sereas’ Begleitung da. Du kannst gehen.“ Der junge Mann mit den staubgrauen Augen funkelte Jeremiel misstrauisch an, ging dann aber. Jeremiel atmete erleichtert aus und sogleich erklärte Thomas „Da hast du Glück gehabt. Es gibt hier nämlich einige Nephilim, die nicht für ihre Rücksicht und Sanftmut bekannt sind. Wenn du hier bist, solltest du besser aufpassen, dass du in Sereas’ Nähe bleibst, sonst kann es schnell zu Ärger kommen.“ „Und wer war das gerade eben?“ „Anthony Winter. Ein Naphil, mit dem ich und Sereas in Deutschland gelebt habe. Er half mir, Hannah zu retten und begleitete uns schließlich nach Amerika. Vorher hieß er Anton Friedrich Helmstedter. Bei ihm wäre ich vorsichtig, er hat seine drei Brüder durch die Sefirot verloren, ebenso wie seine Eltern. Dementsprechend ist er auf deinesgleichen nicht sonderlich gut zu sprechen.“ „Kommen solche Übergriffe oft vor?“ „Ja. Immerhin haben viele ihre Familien verloren und leben in Angst, da bleiben gewisse Spannungen nicht aus und es kommt mal hin und wieder zu Schlägereien. Das Heim bietet zwar eine willkommene Zufluchtsstätte, aber es hat auch seine Schattenseiten. Viele der Seraphim, die hier leben, sind schwer traumatisiert, die verwaisten Nephilim aggressiv und gewalttätig und wenn ein Sefira hier einfach so frei herumspaziert, bleibt es nicht aus, dass es solche Hassangriffe gibt.“ Thomas wandte sich schließlich um und machte sich auf den Weg und Jeremiel folgte ihm. Schließlich fanden sie Levi und Eva wieder und sogleich ermahnte er seinen Freund in einem strengen Ton, „Pass besser auf deine Begleitung auf. Ich will nicht noch mehr Ärger hier im Heim.“ „Wird nicht wieder vorkommen, Tom.“ „Du sollst mich nicht so nennen.“ Damit ging Thomas wieder und wirkte ziemlich gereizt. Nun wandte sich Levi Jeremiel zu und nun wirkte auch er sehr ernst. „In Zukunft musst du darauf achten, immer in meiner Nähe zu bleiben und keine Alleingänge zu unternehmen. Das wäre einfach zu gefährlich.“ Jeremiel entschuldigte sich für den ganzen Ärger und schließlich gingen sie so langsam aber sicher wieder zurück. Sie verabschiedeten sich von Thomas und Hannah und verließen dann das Heim. Als sie zurück nach Boston fuhren, fragte Jeremiel, wie es denn jetzt weitergehen würde. „Nun“, begann Levi. „Ich werde mich gleich auf den Weg zum Hauptquartier machen und das klären. Zwar glaube ich nicht, dass sich da großartig etwas tun wird. Stattdessen werden die alles herunterspielen und unter den Teppich kehren wie die Bürokraten, aber wenn ich ihnen unter die Nase reibe, dass ich klare Indizien habe, die auf eine Verschwörung hinweisen, werden sie versuchen, mich zu töten. Ich spiele also den Köder bei der Geschichte und wenn ich die Hauptverantwortlichen identifiziert habe, werden wir sofort Meldung bei Elohim und Ain Soph erstatten und die werden sich dann um den Rest kümmern. Solange wir aber noch nicht wissen, wer dahinter steckt, müssen wir aufpassen. Wir sollten vielleicht auch noch Samajim einweihen, dass dieser ein wachsames Auge auf Nivkha hat.“ „Ja, besser wäre es, bevor es wieder so eskaliert wie damals.“ „Und du kommst wirklich zurecht?“ fragte Eva ihren Mann besorgt. „Ich will nicht, dass du dich in so große Gefahr begibst und ich dich wieder verliere.“ „Eva, hier geht es um das Leben unzähliger Kinder und Familien, die schon seit langer Zeit in Angst leben müssen. Wen haben sie denn sonst? Ohne Thomas, Anne und mich wären sie auf sich allein gestellt und deshalb muss ich dieses Risiko eingehen. Ansonsten wird es einen weiteren Genozid geben und ich glaube nicht, dass das die Nephilim ein weiteres Mal überstehen werden.“ Mit wachsamen Augen hatte die Halb-Naphil den Besuch beobachtet und dachte nach. Dieser Jeremiel war also Evas Schwager in spe und damit der Verlobte von Araphel. Naja, es konnte ihr herzlich egal sein. Sie hatte mit Liam zwar schon mal unfreiwillig das Vergnügen gehabt, hatte auf diese Begegnung aber auch wirklich verzichten können. Allerdings… damals war Liam noch mit diesem Nikolaj liiert gewesen, wenn sie sich recht erinnerte. Und dieser Jeremiel hatte dieselbe Aura wie er. Natürlich wusste sie, dass Nikolaj ebenso Opfer des Nowgorod-Massakers geworden war wie der Rest von Evas Familie. Anne war ja selbst dabei gewesen und hatte das Ausmaß dieser gezielten Abschlachtung gesehen. Ein weiterer Grund, warum sie die Menschen hasste, genauso wie sie die Unvergänglichen verachtete. Sie hätte damals helfen und Evas Familie retten können, aber sie hatte daran kein Interesse gehabt und für sich selbst keinen Grund gesehen. Sie hatte keine emotionale Bindung zu dieser Familie und kannte sie auch nicht, außerdem war ihr Kenans Leben wichtiger gewesen als das der anderen. Tja… die Menschen verstanden es genauso gut wie die Unvergänglichen, sich selbst auszurotten. Egal auf welche Art und Weise. Sie waren da alle gleich und würden sich auch nie ändern. Deshalb blieb sie lieber allein. Tja und nun würde es bald also eine Revolte geben und die großen Alten würden erneut versuchen, Elohim aus dem Weg zu räumen und an die Macht zu gelangen. Zwar hatte Anne die Sefirot-Kriege selbst nicht miterlebt, aber genug Geschichten in der Heimat gehört. Und nun stand alles wieder auf der Kippe und es würde neuen Krieg geben. Na was soll’s. Es interessierte sie genauso wenig, was die anderen trieben und ob sie Krieg führen mussten. Allerdings machte sie sich Gedanken, was ein Krieg für sie und Kenan bedeuten würde. Vor allem, wenn Miswa tatsächlich zurückkehren sollte. Miswa die Strenge, auch genannt „die Henkerin“… die Mörderin ihrer Eltern… Sie würde Jagd auf Kenan machen und mit ihm wahrscheinlich kurzen Prozess machen. Das durfte Anne nicht zulassen. Genauso wenig, wie sie zulassen durfte, dass diese Person ihn zu seiner Dienerin machte. Also kam Anne zu dem Schluss, dass es besser war, wenn der Krieg verhindert wurde. Da das geklärt war, musste nur noch überlegt werden, was sie tun konnte. Nun, Levi würde zum Hauptquartier gehen und die Drahtzieher auf der Reserve locken, während Thomas wahrscheinlich erst mal im Heim bleiben würde, um die Nephilim und die Seraphim auf das Schlimmste vorzubereiten. Das war wahrscheinlich sowieso das Beste, da er der am besten Geeignete für den Job war. Er mit dem strengen militanten Auftreten… Außerdem war das sein Job und nicht ihrer. Natürlich war es ihre Aufgabe, das Heim zu beschützen, immerhin war es Teil der Abmachung gewesen, damit Kenan hier ein sicheres Zuhause hatte. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie freiwillig die Babysitterin spielen würde. Sie würde an vorderster Front kämpfen und jeden töten, der in der Absicht herkommen würde, den Nephilim und den Seraphim etwas anzutun. Das genügte auch. Aber nun galt es zu überlegen, was sie jetzt tun konnte. Hier zu bleiben und sich zurückzuhalten war wahrscheinlich keine Option. Dadurch sanken die Chancen drastisch, dass sie einen Krieg vermeiden konnten. Also? Anne hatte sich ans Geländer gelehnt und beobachtete aufmerksam die Nephilim in der Einkaufspassage. „Hey Anne!“ Hannah kam auf sie zu und winkte. Anne stand mit verschränkten Armen da und sah sie nur kurz an, das war es aber auch schon. Für gewöhnlich grüßte sie niemanden und sie verabschiedete sich auch nie. Wozu denn auch? Sie kam und ging, wie es ihr beliebte und so war es schon seit Jahrtausenden und es würde sich auch nie ändern. „Gerade bespricht sich Thomas mit Vince und Anthony. Er macht sich offenbar Sorgen, dass es schon sehr bald zu einem Angriff kommen wird. Wenn ich könnte, würde ich auch gerne helfen, aber irgendjemand muss ja für die anderen da sein, die nicht kämpfen können. Kaum vorstellbar, dass es bald wieder Krieg geben wird. Als wäre der Krieg vor über 70 Jahren nicht schon schlimm genug gewesen. All die armen Menschen, die damals in die Züge gepfercht wurden wie Tiere… Das weckt jedes Mal schlimme Erinnerungen. Und wenn ich mir vorstelle, was dir passiert ist… Sie haben Kenan entführt und dich gefoltert. Das muss schlimm gewesen sein, hm?“ Anne war es nicht entgangen, dass Hannah oft zu ihr kam und mit ihr redete, wenn ihr Ehemann beschäftigt war. Warum es aber ausgerechnet sie treffen musste, konnte sich die schweigsame Halb-Naphil nicht erklären. Vielleicht, weil Hannah irgendwie auf den Trichter gekommen war, sie bräuchte Gesellschaft oder so. Die brauchte Anne doch sowieso nicht. Sie war lange genug ohne diese ausgekommen und sie gedachte auch für die Zukunft, nichts daran zu ändern. Lediglich Kenan zuliebe hatte sie den Kontakt zur Menschenwelt aufgesucht weil sie nicht wollte, dass er sich schlecht fühlte, weil er einsam war. Ihr war klar geworden, dass der Junge ganz anders als sie war. Er brauchte diese Nähe zu den anderen, um glücklich zu sein. Und er war hier in diesem Heim glücklich und deshalb würde sie es beschützen. Darum gab es auch nur eines, was sie tun konnte, um zu gewährleisten, dass Kenan weiterhin glücklich blieb und in diesem Heim sicher leben konnte, ohne dass sie beide sich ständig verstecken oder auf der Flucht leben mussten. Wortlos wandte sich Anne ab und ging, wobei sie Hannah einfach zurückließ. Die angeschlagene Naphil war zuerst überrascht, eilte dann aber der Schwarzhaarigen hinterher und rief „He Anne, wo willst du denn hin? Warte doch!“ Keine Antwort. Hannah blieb stehen und sie ließ die schweigsame Halb-Naphil gehen. Sie ahnte, dass diese etwas vorhatte und wahrscheinlich wegen der Geschichte mit der bevorstehenden Revolte nachgedacht hatte. Sie wollte etwas tun. Und in dem Fall blieb Hannah wohl nichts anderes übrig, als sie gehen zu lassen. Anne war schon des Öfteren einfach gegangen und in dem Fall wusste die jüngere Naphil, was sie derzeit zu tun hatte. Es war dann ihre Aufgabe, auf Kenan Acht zu geben, solange Anne unterwegs war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)