The Story of a Bastard Child von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 46: Begrenzte Möglichkeiten ----------------------------------- Sie stellte ein Foto auf ihren Schreibtisch und betrachtete es eine Zeitlang wortlos, bis ein Klopfen sie aus ihren Gedanken riss und sie umdrehen ließ. „Herein.“ Ihr Blick war auf die Tür gerichtet und sie sah wie ihre Mutter mit einem verlegenen Lächeln eintrat, langsam zu ihrem Bett schritt und sich darauf setzte. „Besuchst du heute noch Noriko?“, fragte sie und starrte auf das Foto, dass Mimi gerade aufgestellt hatte. Wehmütig blickte sie zu Boden und nickte beiläufig mit dem Kopf, ohne groß etwas zu sagen. „Wie geht es ihr denn?“, hakte ihre Mutter weiter nach und rutschte zum Fußende, sodass sich Mimi ebenfalls hinsetzen konnte. Mimi zuckte nur mit den Schultern und wusste nicht genau, was sie antworten sollte. Es fiel ihr unsagbar schwer, über Noriko zu sprechen, besonders nach dem Vorfall, den sie live miterleben durfte. Schon damals im Club hatte sie sich hilflos gefühlt, doch jetzt fand sie für ihre Empfindung keine Worte mehr. Es war nicht nur Hilflosigkeit. Nein, es war eher die Gewissheit, die sie quälte und ihr die schmerzhafte Wahrheit bewusst machte. „Sie hat jetzt ein Atemgerät, da sie so schlecht Luft bekommt“, sagte Mimi auf einmal und eine Schwere machte sich in ihr breit. Ihrer Mutter fiel es nach wie vor immer noch schwer über Ayame und Noriko zu sprechen, da ihr Vater sie sehr verletzt hatte. Zwar versuchte er auch zu Mimi wieder Kontakt aufzunehmen, wollte sie sogar in seine neue Wohnung einladen, doch Mimi war noch nicht bereit ihm gegenüber zu treten. Sie wusste nicht, wie sie auf ihn reagieren würde. Selbstverständlich war sie wütend. Er bemühte sich zwar um sie, indem er immer wieder Kontakt zu ihr, beziehungsweise ihrer Mutter aufnahm, doch sie konnte ihm einfach nicht verzeihen, dass er sie all die Jahre belogen hatte. Zu Noriko hatte er bis jetzt immer noch keinen Kontakt aufgenommen. Ignorierte die Tatsache, dass sie ebenfalls sein Kind war, das wohl nicht mehr allzu lange leben würde. Augenblicklich stellten sich bei Mimi die Nackenhaare auf. Daran wollte sie nicht denken. Das konnte sie Noriko nicht antun. Sie ebenfalls mit diesem mitleidigen, herzzerreißenden Blick anzustarren und ihr damit mitzuteilen, dass ihre gemeinsame Zeit vorbei war. Noch war sie das nicht. Die wenigen Momente, die sie noch gemeinsam hatten, wollte Mimi in aller Fülle genießen, sie aufsaugen und für immer in ihrem Herzen behalten. Plötzlich bemerkte sie, wie ihre Mutter den Arm um sie legte und sie fest an sich drückte. „Es tut mir leid, dass alles so gekommen ist“, murmelte sie mit schwerer Stimme. Fassungslos hob Mimi den Kopf an und starrte zu ihrer Mutter. „Du kannst doch gar nichts dafür. Papa hat den Mist gebaut und uns all das verschwiegen“, antwortete sie dringlich, wirkte aber gleichzeitig hilflos. Ihre Mutter durfte sich keine Vorwürfe machen. Sie hatte zwar die Augen vor der Wahrheit verschlossen, aber konnte sie ihr das verübeln? Es ging schließlich um ihre Familie, die sie nicht verlieren wollte. Satoe schmunzelte verhalten und lockerte den Griff um Mimi etwas. „Ich habe mich für nächste Woche mit Ayame verabredet. Wir wollen nochmal reden und diesmal wollen wir auch versuchen nüchtern zu bleiben“, sagte sie lachend und drückte Mimi nochmal kurz an sich, bevor sie aufstand und sich für die Arbeit fertig machen wollte. Mimi rutschte zum Fußende und krallte ihre Finger in das Bettgitter. „Mama?“ Satoe drehte sich fragend herum, kurz bevor sie ihre Zimmertür erreicht hatte. „Ja?“ „Denkst du, dass du Ayame jemals verzeihen kannst?“ Ihre Mutter lehnte sich an den Türrahmen und musterte Mimi nachdenklich. Es dauerte einen Moment bis sie antwortete. „Ich weiß es noch nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Mimi presste ihre Stirn gegen das Gitter und war sich unsicher, was sie erwidern sollte. Genau genommen, konnte sie eine Versöhnung der beiden nicht erzwingen, auch wenn es ein geheimer Wunsch von Noriko war. Die Zeit heilte zwar alle Wunden, doch ob ihre Mutter es jemals vergessen konnte? Mimi war sich da nicht so sicher. _ „Und wie geht es dir?“, fragte sie behutsam und lächelte milde. Ihr fiel es unglaublich schwer, unbeschwert und locker mit ihr umzugehen, auch wenn sie und die anderen sich sehr bemühten. Sie hatten sich bei ihr getroffen, da es von dort aus einfacherer war, dass tragbare Sauerstoffgerät notgedrungen auszutauschen. Noriko lächelte schwach und zupfte an dem Sauerstoffschlauch, der in ihrer Nase befestigt war. „Mir geht es gut! Ihr braucht mich wirklich nicht wie ein rohes Ei zu behandeln“, sagte sie fast schon ein wenig vorwurfsvoll, auch wenn sie wusste, dass sie es nur gut meinten. Chiaki hatte sie seit dem Krankenhaus keine Sekunde aus den Augen gelassen und würde sogar heute bei ihr übernachten, da ihre Mutter länger arbeiten musste. Man merkte bereits, dass ihre Kräfte allmählich schwanden. Es fiel ihr schwer länger zu stehen, weshalb sie auf ihrem Stuhl saß, während sich der Rest in der kleinen Küche verteilte, um eine Kleinigkeit zu kochen. Mimi lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und überlegte fieberhaft, was sie ihr bloß antworten sollte. Sie hatte sich fest vorgenommen, sie nicht anders zu behandeln, doch wenn sie so vor ihr saß, fiel es ihr nicht leicht ihre Vorsätze einzuhalten. Chiaki hatte sich neben sie gesetzt und hielt ihre Hand, während Etsuko die Paprika klein schnitt und in den Topf hinzu gab. Masaru rührte in der Gemüsesoße herum, schielte aber bewusst zu Mimi, die sich prompt unter Druck gesetzt fühlte, etwas zu sagen. Sie fuhr sich mit ihrer Zungenspitze über ihre trockenen Lippen, öffnete den Mund ein wenig, als sich Etsuko plötzlich zu ihnen wandte und Noriko mit einem herausfordernden Blick fixierte. „Was ist?“, hakte sie nach und drückte auffällig Chiakis Hand. „Wir wollten doch noch etwas besprechen, oder?“, meinte Etsuko mit Nachdruck. Mimi streifte Etsuko mit einem skeptischen, aber auch verwirrten Blick, bis sie wieder bei Noriko hängen blieb. Sie zog die Augenbraue in die Höhe, merkte jedoch relativ schnell, dass ihre Schwester den Kopf senkte und aus dem Fenster stierte. Yasuo, der sich ebenfalls gesetzt hatte, wippte hibbelig auf dem Stuhl herum, so als ahnte er bereits, um was es ginge. „Was ist hier los? Verheimlicht ihr uns etwas?“, wollte Mimi entrüstet wissen und stemmte die Hände in die Hüfte. Sämtliche Schreckensszenarien machten sich in ihrem Kopf breit und vernebelten ihre Gedankengänge. Ihre Augen weiteten sich und sie versuchte telepathischen Kontakt zu Noriko aufzunehmen, doch sie scheute es ihr ins Gesicht zu sehen. „Jetzt redet schon! Wenn irgendwas ist, will ich es wissen!“ Mimi hatte die Arme vor der Brust verkrampft und sah in der kleinen Runde hin und her. Es machte den Eindruck, als wüssten alle mehr als sie, auch wenn Masaru und Chiaki genauso überrascht schienen. Langsam wurde die Unruhe immer spürbarer. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte nun auch Chiaki und umfasste die Hand von Noriko. Sie seufzte und schüttelte nur mit dem Kopf. „Nein, also mir geht es nicht schlechter, als vorher auch, aber…“ Sie machte eine dramatischte Pause, nahm Blickkontakt zu Etsuko auf, die ihr nur bestätigend zunickte. Mimi runzelte daraufhin die Stirn, blickte zu Masaru, der immer noch am Herd stand und nichtsahnend mit den Achseln zuckte. „Etsuko und ich hatten schon länger vorgehabt, es euch zu sagen, aber bisher noch keine gescheite Gelegenheit gefunden…“ „Ja, also eigentlich geht es um meine Abschlussarbeit“, ergänzte Etsuko geheimnisvoll und erhaschte die volle Aufmerksamkeit. „Dein Abschlussprojekt?“, hinterfragte Masaru misstrauisch. „Davon wusste ich auch nichts“, stieg Mimi mit ein und eine deutliche Verwirrung machte sich breit. „Wir waren uns halt lange nicht sicher ob es klappt, aber…ich möchte eine Dokumentation über Noriko machen“, eröffnete sie mit einem breiten Grinsen. Noriko lief etwas rot an und wurde ganz verlegen. „Ich war anfangs auch ganz überrascht gewesen, aber Etsu kann wirklich überzeugend sein.“ Während der Rest überrascht drein blickte, bemerkte Mimi Masarus skeptischen Blick sofort. „Klingt wirklich toll, aber meint ihr nicht, dass es etwas ‚zu spät‘ ist?“ Kaum hatte Masaru seine Worte ausgesprochen, kehrte Totenstille ein. Zu spät. Mimi konnte es schon nicht mehr hören. Warum musste es nur soweit kommen? Wieso musste sie krank sein? Mimi haute ihre Zähne fest in ihre Unterlippe und zog sie schmerzvoll nach hinten. „Ich glaube, wir haben schon ziemlich viele gute Aufnahmen“, warf Etsuko in den Raum und sah direkt zu Yasuo, der seinen Stuhl hinuntergerutscht war und sich zu verstecken schien. „Du verdammter Maulwurf!“, erwiderte Masaru fassungslos, bevor er sich den Mädchen zuwandte. „Ihr habt meinen kleinen Bruder dazu benutzt, alles zu filmen? Hast du ihm deswegen die Kamera geschenkt, Nori?“ „Möglicherweise“, räumte sie kleinlaut ein und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Zu meiner Verteidigung, mich haben sie erst vor kurzem eingeweiht“, mischte sich nun auch Yasuo ein und setzte sich wieder aufrecht hin. Mimi stand immer noch am selben Fleck und wusste nicht, was sie von der ganzen Aktion halten sollte. Eine Dokumentation? Über Noriko? Was würde da wohl nur auf sie zukommen? _ Nach dem Essen hatte sie sich auf den kleinen Balkon verzogen und starrte zum unendlich wirkenden Sternenhimmel. Sie hatten viel gequatscht, unter anderem auch über die Dokumentation und wie Etsuko es sich vorgestellt hatte. Sie wollte viele kleine Ausschnitte aus ihrem Leben verwenden, die sie in den letzten Monaten aufgezeichnet hatte. Erst jetzt wurde Mimi bewusst, in welchen Momenten Yasuo sie mit der Kamera verfolgt hatte. Manche empfand sie auch als sehr intim, besonders als sie ihrer Schwester den Kopf rasiert hatte und sie für einen kurzen Moment im Tränenmeer versunken war. Sie war sich nicht sicher, ob sie solche Momente mit anderen teilen und auf Band festhalten wollte. Mimi trat etwas näher zum Geländer, wandte sich kurz um. Im Wohnbereich saßen alle zusammen, lachten, erzählten sich Geschichten und verschwendeten keinen Gedanken an morgen. Ein müdes Lächeln zog sich über ihre Lippen, als sie sich wieder zum Himmel wandte. Sie brauchte diese Auszeit um Nachzudenken. Es fiel ihr schwerer als gedacht, normal mit ihrer Schwester umzugehen. Immer wenn sie sie sah, wurde ihr bewusst, dass es nicht mehr lange dauern würde. Sie hatte stark abgenommen, war nicht mehr das Mädchen, das sie voller Selbstbewusstsein in der Bar damals dumm angemacht hatte. Genau genommen war sie eher ein Schatten ihrer Selbst, der immer mehr verschwand und sich allmählich auflöste. Es war unaufhaltsam. Gewissheit, die kein Arzt der Welt ändern könnte. Sie brauchten ein Wunder. Doch Wunder waren in der realen Welt leider Mangelware. „Hey, alles klar bei dir?“, ertönte Masarus tiefe Stimme und ließ sie zusammenfahren. „Mensch, erschreck‘ mich doch nicht so“, grummelte Mimi und sah wie er sich zu ihr auf den Balkon quetschte. „Sorry“, entschuldigte er sich dämlich grinsend und erinnerte sie unweigerlich an Tai, der sie auch schon oft mit so einem Blick angesehen hatte. Generell fielen ihr viele Ähnlichkeiten zu ihm auf, auch wenn sie Masaru noch nie davon erzählt hatte. Wahrscheinlich würden die beiden sich sogar ziemlich gut verstehen, dumme Witze reißen und herzlich darüber lachen. Mimi presste die Lippen aufeinander und ärgerte sich insgeheim darüber, dass er es wieder geschafft hatte, sich in ihre Gedankengänge zu drängen, obwohl sie viel Wichtigeres im Kopf haben müsste. „Und was hältst du von der Idee? Klingt ja schon irgendwie interessant!“, meinte Masaru locker und vergrub die Hände in der Hosentasche. Mimi kuschelte sich in ihre Jacke, die sich übergezogen hatte. Es war bereits sehr kalt geworden, für Anfang Dezember definitiv nichts Ungewöhnliches. Doch die Kälte, die sie in ihrem Herzen spürte, hatte nichts mit der Jahreszeit oder den Temperaturen zu tun. Es war die Wahrheit, die ihr Herz in Beschlag nahm und es mit Kälte ummantelte. „Sie wird sterben“, murmelte sie ehrfürchtig und Tränen stiegen in ihren Augen auf. Die Tatsache, die sie nicht wahrhaben wollte, war näher denn je. Es hatte sie mit einem Schlag getroffen und sie auf den Boden gerissen. Und sie schaffte es nicht von alleine aufzustehen. Ihre Füße waren wie in Beton gegossen und wurden vom Boden magisch angezogen, sodass sie für einen kurzen Moment wirklich Bedenken hatte, sich weiterhin auf zwei Beinen halten zu können. Masaru blieb ihr trauriges Gesicht natürlich nicht unbemerkt. Behutsam legte er einen Arm um sie und drückte sie näher an sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Mimi kämpfte mit sich selbst, da sie nicht vor ihm in Tränen ausbrechen wollte, doch seine Geste brachte ihre Dämme zum Brechen. Es überkam sie einfach. Vollkommen unkontrolliert. Obwohl sie wusste, dass er es kein bisschen leichter hatte als sie. Beide hatten nicht mehr über den Vorfall von damals gesprochen, auch wenn Mimi gemerkt hatte, wie sehr Masaru die angespannte Beziehung zu seinem Vater belastete. Sie war zurzeit nicht in Lage, ihm anständige Ratschläge zu geben. Mimi selbst, hatte schon Wochen nicht mehr mit ihrem eigenen Vater gesprochen, da er ein Feigling war und nicht zu seinen Fehlern stehen konnte. Eine einsame Träne rann ihre Wange hinunter und sie verfestigte den Griff um ihn. Wie betäubt, lag sie in seinen Armen und wünschte, dass sie nochmal die Zeit zurückdrehen könnte. Sie war in der Vergangenheit immer so verdammt egoistisch gewesen. War sauer, wenn sie nicht das bekam, was sie wollte, bis sie es letztlich doch immer auf dem Silbertablett präsentiert bekam. Ihre Wünsche hatten sich mit der Zeit jedoch geändert. Sie wollte, dass Noriko weiterhin bei ihr blieb. Ein Teil ihres Lebens war, mit dem sie lachen und weinen konnte. Doch es war zu spät. Die Zeit lief gegen sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)