Unter einem Mond von Kunoichi (Wichtelgeschichte für Erenya) ================================================================================ Kapitel 5: Eine Berührung ------------------------- Edo hatte sich verändert. In Haradas Abwesenheit war das Shogunat gefallen und nun ließ die neue Regierung in allen Straßen ihre Truppen patrouillieren und versetzte die Bürger damit in eine ängstliche, misstrauische Grundhaltung. Zwar ging jeder weiterhin seiner gewohnten Arbeit nach, doch die meisten Gespräche fanden nur noch hinter vorgehaltener Hand oder verschlossenen Türen statt. Selbst das Schloss Edo war von der kaiserlichen Streitmacht besetzt worden. Harada hatte die Wachen gesehen, die vor dem Herrenhaus des Tosa-Clans postiert waren, kurz nachdem er und Erenya gestern in der Stadt angekommen waren. Dort hatte er, wie der Zufall es wollte, auch Shiranui wiedergetroffen – einen Oni, mit dem ihn eine schon lange währende Rivalität verband, er aber dennoch in Koufu Seite an Seite gekämpft hatte. Und dessen Information war nicht gerade leicht verdaulich gewesen: „Kodos Armee trainiert so intensiv, als hätte sie vor, bald in den Krieg einzugreifen. Um die Rasetsu am Leben zu erhalten, ist eine große Menge an Blut nötig.“ Die Worte hallten in Haradas Kopf nach wie ein Echo und gaben seiner Wut mit jedem Mal ein klein wenig mehr Auftrieb. Nicht nur, dass es fatal war, das künstlich erschaffene Heer von Oni noch zu stärken und zu vergrößern, indem man es in die Schlachten der Menschen schickte, würde Kodo dabei auch das Leben unzähliger Zivilisten gefährden. Ganz abgesehen von dem Leid, das er seiner Tochter Chizuru mit diesem Verhalten bereitete. Harada konnte das unmöglich zulassen und plante zu handeln, sobald die rechte Zeit dafür gekommen war, doch im Moment galt seine oberste Priorität allein Erenya. Zu Pferd hatten die beiden sechs Tage von Nagoya bis Edo gebraucht und weil sie das Reiten nie gelernt hatte, hatte sie die ganze Zeit hinter Harada im Sattel gesessen und sich an ihn geschmiegt, wie ein hilfloses Kätzchen. Er wusste, dass er ihr einziger Schutz und ihre einzige Hoffnung war – und er würde ihr Vertrauen niemals missbrauchen! Weil Edo kein sicherer Ort mehr war, seit die Shinsengumi ihre Stellung als Hüter für Recht und Ordnung hatten aufgeben müssen, war Harada nachmittags ohne Erenya zum Hafen gegangen, um sich einen groben Überblick über die Handelsflotten – die sogenannten Schwarzen Schiffe – zu verschaffen. Doch schnell war ihm klar geworden, was für ein schwieriges Unterfangen es werden würde, dem Mädchen eine Heimreise zu organisieren: Geschäfte mit ausländischen Seeleuten wurden von der Regierung streng überwacht, viele japanische Kaufleute hatten keinen Kontakt zu ihnen, weil sie nur inländische Produkte vertrieben, und mit den Fremden selbst konnte Harada sich natürlich nicht verständigen. Ohne Erenyas Sprachkenntnisse scheiterte jeder Versuch einer sinnvollen Kommunikation und gegen Abend gab er es schließlich auf und kehrte erfolglos ins Gasthaus zurück. Das Zimmer, in dem Erenya eigentlich auf ihn hatte warten sollen, war leer und die Tür zur Veranda einen Spalt geöffnet. Als Harada nachschaute, fand er sie draußen auf einem Kissen sitzend, mit verträumtem Blick in den sternenklaren Himmel, an dem der Vollmond riesengroß und blendend hell auf sie hinab schien. „Ich bin wieder da“, sagte er und sie zuckte so heftig zusammen, dass er schuldbewusst hinzufügte: „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“ „Ist nicht schlimm“, entgegnete sie und er ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. „Habt Ihr schon jemanden finden können, der mich mitnehmen will?“ Ihre Stimme klang unsicher und nervös, als wolle sie die Antwort hören und gleichzeitig lieber nicht hören. „Erenya, du musst nicht so förmlich sein“, warf Harada ein, was er schon lange hatte anbringen wollen. „Du bist keine Bedienstete mehr und schon gar nicht meine.“ Auf Erenyas Wangen zeichneten sich dunkelrote Flecken ab und sie korrigierte hastig: „In Ordnung. Hast d-du jemanden gefunden?“ „Leider nein, ich habe alles versucht, aber wahrscheinlich bleibt uns nichts anderes übrig, als dass du selbst mit den Seeleuten sprichst und ich nur mitkomme, um aufzupassen, dass dir nichts geschieht.“ Erenya schlug frustriert die Augen nieder und Harada streichelte ihr zärtlich übers Haar. „Keine Sorge, wir finden schon eine Lösung“, sagte er aufmunternd. „Wir gehen morgen einfach noch mal gemeinsam zum Hafen.“ „Es ist ja nicht nur das“, gab sie leise zu. „Ich bin gerade so schrecklich durcheinander und weiß gar nicht, was ich fühlen soll. Einerseits freue ich mich auf Zuhause und auf meine Eltern und andererseits habe ich ein schlechtes Gewissen wegen Kentaro-kun. Ich hab ihn wirklich sehr lieb gewonnen und er hat so geweint bei unserem Abschied, dass ich plötzlich gar nicht mehr weggehen mochte.“ Harada berührte mit den Fingern ihr Kinn und hob sacht ihren Kopf an. „Siehst du den Mond?“, fragte er. „Bei genauerem Hinsehen kannst du die Form eines Hasen erkennen, der Reiskuchen macht. Das geht auf eine uralte Legende zurück.“ „Davon hab ich noch nie was gehört“, meinte Erenya, doch tatsächlich waren da auf einmal Ohren, ein Körper und sogar ein Bottich, die sich auf der Oberfläche des Mondes zu einem Bild einten. „Wann immer du in deiner Heimat auf den Mond blickst und den Hasen siehst“, sagte Harada, „musst du daran denken, dass Kentaro ihn auch sehen kann. So bleibt ihr für immer miteinander verbunden, egal wo ihr seid.“ Für einen kurzen Augenblick wurde es ganz still um sie herum – so still, als gäbe es außer ihnen nicht einen einzigen Menschen auf der Welt – und Erenya atmete die kühle Nachtluft in tiefen Zügen ein. „Das ist eine schöne Vorstellung“, wisperte sie. „Kannst du mir die ganze Geschichte vom Hasen erzählen, Harada?“ „Nun ja“, begann er, „sie handelt von einem Fuchs, einem Affen und dem Hasen, die vor langer Zeit befreundet in den Wäldern lebten. Eines Tages begegneten sie einem alten Wanderer, in Wirklichkeit dem Herrn des Himmels, Taishakuten, der sie-“ Doch er verlor den Faden, denn Erenyas Körper hatte sich entspannt, ihre Augen hatten sich geschlossen und ihr Kopf war an seine Schulter gesunken. Stocksteif saß Harada da, wagte nicht sich zu rühren – aus Angst, er könne sie wieder aufwecken – und ertappte sich bei dem Wunsch, dieser Moment möge auf ewig währen. Vorsichtig, als könne sie unter seinen Händen zerbrechen, nahm er Erenya auf, trug sie ins Haus und legte sie auf ihrem Bett ab. Dann breitete er die Decke über ihr aus und wollte sich gerade erheben, um das Licht zu löschen, als er ihre Finger spürte, die den Saum seines Ärmels fest umschlossen hatten. Ihr Gesicht wirkte unendlich friedlich im Schlaf und Harada schaffte es nicht, sich wieder von ihrem Anblick zu lösen. Noch bis spät in die Nacht saß er bei ihr, bis ihn die Müdigkeit doch noch übermannte und er mit dem bedrückenden Gefühl einschlief, dass es bald nicht nur Kentaro betraf, dessen einzige Verbindung zu ihr nur der Mond sein würde. Am darauffolgenden Tag machten die zwei sich bereits mit den ersten Sonnenstrahlen auf den Weg zur Bucht von Edo, wo der Horizont seine roten und goldenen Farben in die schimmernde See mischte. Kleine Fischerboote, gewaltige Handels- und vereinzelt sogar kanonenbewehrte Kriegsschiffe schaukelten sanft in der meerwärts wehenden Brise. Schäumende Gischt peitschte am Kai hoch und das Kreischen der Möwen verlor sich zwischen den Rufen der Männer, die schon zu so früher Stunde über die Planken liefen und Kisten verluden. Harada und Erenya hielten Ausschau nach westländischen Schiffen und sehr bald trat Erenya auf einen der Matrosen zu und sprach ihn an. Es wurde nur eine kurze Unterhaltung und nach vielem Kopfschütteln wandte sie sich wieder Harada zu und sagte: „Keine Ahnung, wo der herkommt, aber er versteht kein Wort.“ So ging das noch eine ganze Weile weiter und als fast die Hälfte aller anliegenden Schiffe abgearbeitet war, wirkte Erenya doch reichlich enttäuscht. „Wenn ich bloß jemanden von der Flotte meines Onkels finden könnte“, sagte sie. „Die pflegen seit Jahren Beziehungen zu Japan, da kann es gar nicht sein, dass niemand hier ist.“ „Wo du davon sprichst, fällt mir ein, du hast nie erwähnt, warum dein Onkel dich auf seinem Schiff mitgenommen hat“, bemerkte Harada. „Für ein Mädchen ist das sehr ungewöhnlich.“ „Ja, das haben meine Eltern auch gemeint“, erwiderte Erenya düster. „Sie wollten, dass ich studiere oder heirate, dabei wollte ich mir viel lieber die Welt ansehen, schon seit ich ein kleines Kind war. Deshalb hab ich mich einfach heimlich an Bord geschlichen und als sie mich entdeckten, war es zu spät zum Umkehren.“ „Und bereust du, dass du das damals getan hast?“ Sie legte die Stirn in Falten, überlegte und sagte dann lächelnd: „Nein, jetzt nicht mehr.“ Schweigend passierten sie eine Ansammlung Ruderboote, aus denen ein paar Fischer den ersten Fang des Morgens in ihre Handkarren verfrachteten, um ihn zum Verkauf auf den Markt zu bringen, da führte Erenya die Konversation überraschend fort. „Was ist mit dir, Harada? Über deine Vergangenheit weiß ich überhaupt nichts. Was hast du gemacht, bevor du uns mit Nagakura-san begegnet bist?“ Mit aufmerksamem Blick nahm Harada die Soldaten der neuen Regierung wahr, die das Treiben am Hafen überwachten und sagte zögerlich: „Darüber reden wir nachher. Hier gibt es zu viele neugierige Ohren, immerhin habe ich nicht für die Seite gearbeitet, die gegenwärtig an der Macht ist.“ Sie ließen die Fischerboote hinter sich und erreichten wieder ein Handelsschiff – diesmal einen Sechsmaster – so gigantisch, dass alle anderen neben ihm den Eindruck von Nussschalen erweckten und vorbeiströmende Menschen ehrfurchtsvoll zu ihm hinaufschauten. Auf dem Steg gestikulierte ein dickbäuchiger, in hübsche Seide gekleideter Mann, offenbar mit dem Ziel, die Mannschaft zu koordinieren, die gerade seine Ladung löschte. Wie angewurzelt war Erenya stehengeblieben, hatte gelauscht und hielt anschließend auf ihn zu. Harada beobachtete, wie sie den Kaufmann ansprach und ihre Miene sich erhellte, als er in der gleichen Sprache zu antworten schien. Doch dann grinste er anzüglich, packte sie am Handgelenk und zog sie nah an sein widerliches, unrasiertes Gesicht. Sofort versuchte Erenya sich loszureißen, kam aber nicht gegen seine Stärke an und drohte stattdessen ins Wasser zu fallen. Innerhalb von Sekunden war Harada an ihrer Seite und hielt dem Händler die Spitze seines Speers unters Kinn. „Lass sie los, wenn du am Leben hängst!“, verlangte er in gefährlichem Ton. Der Mann konnte die Worte nicht verstanden haben, wohl aber die Geste, denn er wirkte recht erschrocken und wich mit erhobenen Händen zurück. In einer einzigen fließenden Bewegung schob Harada Erenya an sich vorbei und lenkte sie, ohne sich von dem Händler abzuwenden, runter vom Steg und an Land. „Was hat er zu dir gesagt?“, fragte er dort, während sie ihren zitternden Knien nachgab und auf eine niedrige Mauer sank. „Das übersetze ich besser nicht.“ Fahrig rieb sie die roten Striemen auf ihrem Unterarm und Harada fiel auf, dass ihre Augen feucht waren, obwohl sie sich bemühte, ihn nicht anzusehen und stur zu Boden starrte. „Lass dich von sowas nicht entmutigen“, riet er ihr mitfühlend. „Gib jetzt nicht auf!“ „Ich gebe nicht auf!“, sagte Erenya entschlossener als erwartet. „Wie könnte ich, wo wir schon so weit gekommen sind.“ „Das ist die richtige Einstellung“, bekräftigte er sie. „Aber vielleicht sollten wir trotzdem erst eine Pause einlegen und uns danach weiter umhören. Es ist bald Mittag und ich kriege langsam Hunger. Gibt es etwas, das du gerne essen möchtest?“ „Dango“, murmelte sie dumpf und Harada lachte. „Davon wirst du nicht satt, dir wird höchstens schlecht.“ Sie waren schon zum Verlassen des Hafens aufgebrochen, als eine unbekannte Stimme jäh Erenyas Namen rief. Perplex drehten die beiden sich zu dem Urheber um und entdeckten einen älteren Mann mit ergrautem Haar, aber verblüffend jungenhaften Zügen, der sie ungläubig musterte. Noch bevor Harada dazu kam, eins und eins zusammenzuzählen, hatte Erenya sich ihm überglücklich in die Arme geworfen und redete sehr schnell und sehr hastig in ihrer Sprache auf ihn ein. Er reagierte sowohl bestürzt, als auch erleichtert und nach langem Dialog führte sie ihn zu Harada herüber und verkündete freudig: „Das ist Bram, ein guter Freund meiner Familie. Ich kenne ihn schon eine Ewigkeit. Er sagt, sein Schiff habe gerade erst hier angelegt und er will auch erst in einem Monat wieder zurück, wenn alle Geschäfte erledigt sind, aber dann wird er mich mit nach Hause nehmen!“ Harada schmunzelte angesichts ihrer unbändigen Begeisterung und konnte sich gleichzeitig nicht erklären, woher mit einem Mal diese innere Betroffenheit kam, die sich wie ein Brennen in seinem Bauch über den ganzen Körper ausbreitete. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)