Unter einem Mond von Kunoichi (Wichtelgeschichte für Erenya) ================================================================================ Kapitel 3: Ein Gespräch ----------------------- Der nächste Tag begrüßte sie trüb und regnerisch und tat sein Übriges, um die allgemeine Laune an den Siedepunkt zu bringen. Es war schon fast Mittag und die meisten Gäste hatten die Herberge längst verlassen, als sich Harada, Shinpachi und Ikura zu einem späten, sehr schweigsamen Frühstück einfanden. Sie alle waren nur schwer aus ihren Betten gekommen und vor allem Shinpachi wirkte kreidebleich und rührte keinen Bissen an, massierte sich aber von Zeit zu Zeit die Schläfen. Harada nahm an, dass es an den beträchtlichen Mengen gebrannten Weines aus dem Ausland lag, den Ikura gestern zum Probieren serviert und der seinem Freund scheinbar endgültig den Rest gegeben hatte. In einer der seltenen Trockenepisoden setzten sie das Ochsengespann wieder in Bewegung und rumpelten mit ihrem Karren die schlammgeflutete Hauptstraße entlang, doch das Wetter blieb ein unberechenbares Hindernis. Während es erst bloß leicht zu nieseln begann und sich wenig später sogar die Sonne durch eine Front aus grauen Wolken kämpfte, brach im nächsten Moment der Himmel über ihnen zusammen und durchnässte sie bis auf die Haut. Wenn ihnen – was bei dieser Witterung sowieso eher die Ausnahme war – andere Menschen entgegenkamen, fiel der beiderseitige Gruß nur knapp oder gänzlich aus und es wurde sich bemüht, schnell den nächsten Unterschlupf zu erreichen. Der einzige, den das alles überhaupt nicht störte, war Kentaro. Seit der Junge Vertrauen zu den beiden fremden Männern gefasst hatte, lief er mit funkelnden Augen hinter Harada her, studierte jede seiner Bewegungen, imitierte seinen Gang und seine Sprechweise und trug einen langen Stock mit sich herum, von dem er behauptete, es sei ein Speer. Außerdem schien er erstaunlich wenig atmen zu müssen, denn er redete fast pausenlos und das stundenlang. „Wisst Ihr, Harada-san, mein Vater nimmt mich auf seinen Handelsreisen mit, seit ich halb so alt bin wie jetzt, aber in Edo bin ich zum ersten Mal gewesen. Das Schloss ist wirklich riesig! Es ist viel beeindruckender als das in Nagoya und es gibt dort auch viel mehr Wachen. Überhaupt habe ich noch nie eine so große Stadt gesehen. Aber ich mag Nagoya trotzdem lieber, schließlich bin ich da aufgewachsen“, sprudelte es aus ihm heraus. „Eines Tages will ich auch die Hauptstadt sehen und den Palast des Kaisers. Seid Ihr schon einmal dort gewesen, Harada-san?“ „Ja, aber es ist schon eine Weile her“, antwortete der Angesprochene ausweichend, denn von ihrer Vergangenheit bei den Shinsengumi hatten weder er noch Shinpachi bisher etwas erwähnt. „Wenn ich könnte, würde ich auch in den Kriegerstand eintreten“, schwärmte Kentaro weiter, „und dann in etliche Schlachten ziehen und ganz viel Ruhm ernten. Habt Ihr schon viele Schlachten geschlagen, Harada-san?“ „Genug jetzt!“, rief Ikura seinem Sohn streng zu und dieser verstummte augenblicklich. „Hab ich dir denn gar nichts beigebracht? Was denkst du dir, ihn dermaßen auszufragen?“ Kentaro ließ verlegen die Schultern hängen und so leid er Harada auch tat, war es ein Segen, seine Stimme eine Zeit lang nicht hören zu müssen. Zumindest Shinpachis Kopfweh konnte er gerade sehr gut nachempfinden. Die Straße führte über offenes Gelände mit weiten Reisfeldern zu beiden Seiten und keiner Möglichkeit, sich irgendwo unterzustellen, als der Regen wieder zunahm und in heftigen Sturzbächen auf die Gruppe herniederging. Gereizt trieb Ikura seine Ochsen zur Eile an, da erzitterte plötzlich die Erde unter ihren Füßen und nahm ihnen das Gleichgewicht. Harada strauchelte und konnte sich nur aufrecht halten, indem er sich rechtzeitig am Wagen festhielt, während Shinpachi neben ihm auf allen Vieren landete. Das Beben war eines von vielen, wie sie die Insel häufig erschütterten, und weder besonders stark, noch dauerte es ungewöhnlich lang. Dennoch bemerkte Harada, als es endlich nachgelassen hatte, dass sich auch Kentaro und Erenya aus dem Matsch erhoben. „Geht’s euch gut?“, fragte er und Shinpachi wischte sich die schmutzigen Hände an seiner ebenso schmutzigen Hose ab. „Dieser Tag geht eindeutig in die Geschichte der schlechtesten Tage ein“, sagte er mürrisch, doch Haradas Aufmerksamkeit galt bereits Erenya, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht von Kentaro stützen ließ und mit dem linken Bein nicht mehr aufzutreten vermochte. „Sie ist umgeknickt“, erklärte der Junge, als Harada sich vor ihr hinkniete, um ihren Knöchel zu betasten. Er war schon dick geworden und ein rascher Blick zum vollbeladenen Karren verriet, dass dort unmöglich noch jemand drauf sitzen konnte. „Ich werde dich tragen“, sagte er kurzerhand und bedeutete ihr, auf seinen Rücken zu steigen. „Wir müssen hier weg, bevor wir uns alle den Tod holen.“ Zögernd schlang Erenya ihre Arme um seinen Hals und ließ sich von ihm hinaufheben. Harada spürte die Wärme ihres Körpers unter der triefenden Kleidung und ein Zittern, von dem er nicht wusste, ob es von Kälte, Schmerz oder Aufregung kam. Als Schlusslicht folgten sie den anderen aus der Ebene ins nächste Waldstück hinein, wo es zwar ein wenig trockener, dafür aber auch wesentlich dunkler war. Die Nacht hatte kaum merklich hinter der pechschwarzen Decke aus Wolken Einzug gehalten und zwang Ikura frühzeitig die Laternen an seinem Wagen zu entzünden. Sie fuhren noch fast eine Stunde durch Regen und Finsternis, bis zum Glück am Rande der Straße ein Dörfchen auftauchte, in dem es laut dem Händler auch eine Unterkunft geben sollte. Durchnässt und abgespannt brachten Ikura und Kentaro ihre Tiere im Stall unter und weil Shinpachi im Gebäude Übernachtung und Verpflegung organisierte, hatte Harada einen Moment allein mit Erenya. Er setzte sie unter einem Vordach auf den Stufen zur Veranda ab und zeigte dann auf ihren Fuß, damit sie verstand, worauf er hinauswollte. „Scheint nicht gebrochen zu sein“, sagte er, nachdem er den Knöchel etwas eindringlicher untersucht hatte. „Das wird bald wieder.“ Verstohlen blickten er und Erenya einander an und aus Sekunden wurden langsam Minuten, bis Harada – mehr zu sich als zu ihr – leise meinte: „Ein Jammer, dass du meine Sprache nicht sprichst, sonst könnte ich dir sagen, was für schöne, braune Augen du hast.“ „Ich danke Euch für das Kompliment.“ Harada erstarrte wie vom Donner gerührt und spürte, wie sein Gesicht zu brennen begann. „Aber-“, setzte er an, suchte vergeblich nach Worten, um seiner Verwirrung Ausdruck zu verleihen und klappte den Mund am Ende resigniert wieder zu. „Tut mir leid“, sagte Erenya sofort, als habe sie einen großen Fehler gemacht. „Bitte verratet mich nicht an Ikura-san! Er weiß nicht, dass ich japanisch spreche und er will auch nicht, dass ich es lerne. Kentaro-kun hat es mir heimlich beigebracht.“ Sie hatte einen deutlichen Akzent, doch ansonsten war ihre Aussprache klar und fließend. Harada ließ sich neben ihr auf die Stufen sinken und brachte noch immer keinen Ton heraus. Hunderte Fragen wirbelten wie ein Orkan durch seinen Kopf und am liebsten hätte er sie alle zugleich gestellt. „Ich bin Euch ein paar Antworten schuldig“, ermutigte Erenya ihn, „also haltet Euch bitte nicht zurück.“ Den Schreck halbwegs überwunden fiel Harada das erste und simpelste ein, was er überhaupt hätte fragen können: „Wo kommst du denn her?“ „Von einem Kontinent namens Europa“, erwiderte sie. „Ich kam vor einem Jahr mit meinem Onkel auf einem Handelsschiff hierher, als wir vor der Küste von Piraten überfallen wurden. Sie haben die Männer der Crew getötet und nur mich verschont. Dann haben sie mich an Ikura-san verkauft, zusammen mit vielen anderen Dingen, die unser Schiff geladen hatte.“ „Er hat dich gekauft?“ Harada klang entsetzt. „Ist das erlaubt? Hat dir keiner geholfen?“ „Er hat es so gedreht, als würde er mir das Leben retten – und vielleicht hat er das ja sogar. Außerdem verteufeln viele Leute die Menschen aus dem Ausland sowieso. Sie halten uns für Barbaren und wollen uns so schnell wie möglich wieder loswerden, benutzen aber unsere Gewehre zu gerne für ihren Krieg. Das ist so widersprüchlich.“ Ihre Stimme hatte eine Spur von Bitterkeit angenommen und obwohl Harada die Einstellung seines Volkes kannte, hatte er keine Ahnung gehabt, dass die Feindseligkeit im Land so weit reichte, ein unschuldiges Mädchen ihrem Schicksal zu überlassen. „Und konntest du nicht fliehen?“ „Es ist schwer, wenn man niemanden versteht, niemanden kennt. Ich war allein und hatte Angst und ich wusste nicht wohin. Also bin ich bei Ikura-san geblieben und Kentaro-kun hatte gleich einen Narren an mir gefressen. Für ihn bin ich wie eine große Schwester geworden. Sein Vater hat ihm zwar verboten mit mir zu sprechen, aber er hat sich einfach darüber hinweggesetzt.“ „Da hat er wirklich ganze Arbeit geleistet“, bemerkte Harada und Erenyas Lippen zeigten den Anflug eines Lächelns. „Das Lernen war eher spielerisch“, sagte sie, „und ich hab viel zugehört.“ Sie schwiegen einen Augenblick und Harada versuchte, die ganzen neuen Informationen irgendwie zu verarbeiten, doch je angestrengter er sie sortieren wollte, desto ungeordneter kamen sie ihm vor. Ganz abgesehen davon, dass immer noch Fragen offen geblieben waren. „Warum sträubt sich Ikura-san so dagegen, dass du die Sprache lernst?“ Erenya zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich will er verhindern, dass ich zu selbstständig werde und dann doch noch fliehe. Dabei möchte ich so gern wieder nach Hause. Ich möchte meine Eltern wiedersehen.“ Tränen glitzerten in diesen wundervollen braunen Augen und Harada zerriss es beinahe das Herz. „Du wirst bestimmt nach Hause kommen“, sagte er zuversichtlich, aber Erenya begegnete ihm mit unerwarteter Heftigkeit. „Nein, Ihr versteht das nicht! Ikura-san wird mich niemals gehen lassen. Er ist ein Sammler und ganz besessen von exotischen Dingen. Und leider gehöre auch ich dazu.“ Sie zog die Beine eng an ihren Körper und vergrub das Gesicht in den Knien. Harada wusste nichts, was sie hätte trösten können. „Darf ich dir noch eine Frage stellen? Eine letzte?“, bat er und sie drehte den Kopf, sah ihn an und gab ihm so ihr stilles Einverständnis. „Warum hast du dich entschieden, jetzt doch mit mir zu sprechen?“ Erenya lächelte und es war dasselbe anmutige Lächeln, das ihr schon gestern unter den Kirschbäumen so gut gestanden hatte. „Ich weiß nicht genau“, sagte sie. „Ich hab es wohl einfach nicht mehr ausgehalten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)