Unter einem Mond von Kunoichi (Wichtelgeschichte für Erenya) ================================================================================ Kapitel 1: Ein Blick -------------------- Es war ein endloser Weg, hinein irgendwo ins Nirgendwo – wenn man es denn überhaupt als Weg bezeichnen konnte. Sie hätten schon seit Stunden von ihm abgekommen sein können, nur um ziellos und verloren durch die Wildnis zu irren, so wenig ließ sich der überwucherte Trampelpfad von der restlichen Umgebung unterscheiden. Trotzdem hielt Shinpachi unumstößlich an seiner Abkürzung fest und zur Bewahrung des Friedens – naja, und vielleicht auch, weil er selbst nicht besser wusste, wo es langgehen sollte – folgte Harada nun dem Rücken seines Freundes einen steilen Höhenzug hinauf. Zu ihren Füßen funkelten die letzten Strahlen der Abendsonne durch das noch spärliche Blätterkleid des Waldes, bevor die Dämmerung sie in graues Zwielicht verwandeln würde. Ein Fuchs, aufgeschreckt von den schweren Schritten der Männer, floh raschelnd ins Dickicht, aus den Kronen der Bäume erklang das tosende Spektakel unzähliger Vögel, doch einer anderen Menschenseele waren sie schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr begegnet. Die Luft war warm und schwer vom Blütenduft, den der Frühling mit sich brachte. Harada fühlte seine Kleidung unangenehm schwitzig am Körper kleben und zu allem Überfluss taten ihm allmählich die Beine weh. Es war ein langer und beschwerlicher Marsch gewesen und bisher, obwohl der Tag sich nun dem Ende neigte, war noch keine Bleibe für die Nacht in Sicht. Umweg hin oder her, er hätte auf zwei Pferde und die befestigte Hauptstraße bestehen sollen, dachte er verdrossen, wo man wenigstens genug Platz hatte, um auch mal nebeneinander herzugehen. „Im nächsten Tal gibt es eine Herberge“, sagte Shinpachi schon leicht außer Atem, als habe er die Gedanken seines Gefährten lesen können. „Vom Gipfel aus kannst du sie sehen.“ „Ich will es hoffen“, gab Harada keuchend zurück und sammelte seine verbliebenen Kräfte für die letzten paar Meter des Aufstiegs. Im Allgemeinen hatte er keine schlechte Kondition – ganz im Gegenteil – doch diese Wanderung zwang ihn langsam aber sicher in die Knie. Was hätte er jetzt nicht alles für ein heißes Bad gegeben, um die müden Muskeln zu entspannen! Wortlos erklommen die beiden den wildbewachsenen Hügel und während Haradas Blick an Shinpachis Hinterkopf hängenblieb, fragte er sich, was in ebendiesem wohl gerade vorgehen mochte. Dieser kurze Dialog war das einzige gewesen, was das vorangegangene lange Schweigen durchbrochen hatte und Harada ahnte, dass dieser Umstand nicht der Anstrengung ihrer Reise geschuldet war. Nein, Shinpachis Laune hatte schon in den letzten Tagen weit hinter dem zurückgelassen, was Harada sonst von ihm gewohnt war. Und obwohl er immer geglaubt hatte, alle Facetten seines besten Freundes zu kennen, war er von dieser fremden, ständig grübelnden Seite überrascht. Normalerweise hätte er keinen Moment lang gezögert, Shinpachi direkt anzusprechen, worin das Problem bestand, hätte er sich nicht denken können, was ihn zu beschäftigen schien. „Ich bin nicht wie Kondo-san oder Hijikata-san. Ich bin wahrscheinlich nicht dazu geeignet, ein Samurai zu sein. Einem Herren zu folgen, den ich nicht gewählt habe und für ihn mein Leben zu riskieren, ist nichts für mich.“ Es lag bereits zwei Wochen zurück, dass diese Aussage getroffen worden war und Harada mit Shinpachi die Shinsengumi verlassen hatte. Er bereute ihre Entscheidung mit keiner Sekunde, hatte er doch seine eigenen Überzeugungen – und Shinpachi niemals alleine gehen lassen wollen – zweifelte aber mittlerweile daran, ob sich sein Begleiter der ganzen Tragweite im Vorfeld ebenso bewusst gewesen war. Ja, zwischenzeitlich fragte er sich sogar, ob Shinpachi überhaupt einen Plan hatte und nicht bloß so tat als ob. Denn was wurde aus einem Samurai, der ebensolcher nicht mehr sein wollte? Den sozialen Stand zu wechseln war ein Ding der Unmöglichkeit, aber auch um eine neue Anstellung schien er nur wenig bemüht. Harada hoffte inständig, dass es sich bloß um eine Phase der Selbstfindung handelte, die nicht mehr allzu lange andauern konnte, denn langsam wurden ihre finanziellen Ressourcen knapp. Würde Shinpachi zu den Shinsengumi zurückkehren wollen und ihm klar und deutlich sagen, dass es eine Fehlentscheidung und er mit diesem neuen Leben überhaupt nicht zufrieden war – niemals hätte Harada ihm je einen Vorwurf gemacht. Wenn er nur endlich mit der Sprache herausrücken würde! Wenn er es nur selbst endlich merken würde! Harada hatte sich eigentlich vorgenommen, das Thema sensibel anzugehen und noch zu warten bis Shinpachi von sich aus zu der Erkenntnis kam, doch wenn es so weiterging wie jetzt, würde er irgendwann ein echtes Machtwort sprechen müssen. Auf der anderen Seite der Anhöhe wand sich der Pfad in schlangenförmigem Zickzack wieder den Hang hinab und mit Erleichterung erblickte Harada unter sich die matten Laternenlichter eines kleinen Dorfes. Es konnte aus kaum mehr als einem Duzend einfacher Häuser bestehen und nur die Herberge mit ihren angrenzenden Ställen stach ein wenig imposanter daraus hervor. Kirschbäume in voller Blütenpracht zierten die breite Hauptstraße, die aus südlicher Richtung gen Norden am Dorf vorbeiführte und sich irgendwo in der Ferne zwischen Wäldern und Reisterrassen verlor. Harada und Shinpachi rochen die Düfte von warmen Abendessen, je dichter sie der Zivilisation kamen und plötzlich erinnerten ihre Mägen sie wieder daran, wie lange die letzte Mahlzeit bereits her war. Sie hatten die Hauptstraße fast erreicht, als Shinpachi so abrupt stehen blieb, dass Harada scharf abbremsen musste, um nicht in ihn hinein zu stolpern. „Was ist los?“, fragte er irritiert und Shinpachi gebot ihm durch das Heben seiner Hand zu schweigen. „Hör mal!“ Gedämpfte Schreie, Hilferufe und das ihnen so vertraute Klirren von Stahl auf Stahl drangen von rechts des Weges, ganz aus der Nähe an ihre Ohren. Ohne zu zögern schob Harada sich an seinem Freund vorbei, rannte durchs Unterholz den Geräuschen entgegen – alle Sinne in höchste Alarmbereitschaft versetzt und jegliche Erschöpfung vergessen – und hörte hinter sich, wie Shinpachi es ihm gleichtat. Tiefhängende Zweige und undurchdringliches Gestrüpp machten ein schnelles Vorankommen unmöglich und Harada befürchtete schon zu spät zu sein, als er die Böschung hinab schlitterte, auf die Straße trat und etwas Kleines ihm hart gegen die Brust prallte. Bevor das Geschöpf – nein, ein Mädchen! – rücklings zu Boden fiel, streckte er rasch seine Hand aus, packte sie am Ärmel und zog sie auf die Beine. Ängstliche rehbraune Augen musterten ihn in der Unsicherheit, ob er Freund oder Feind war, in ihrem Blick lag ein stummes Flehen. Schnell versuchte Harada einen Eindruck von der vorherrschenden Situation zu gewinnen, doch die Szene war sehr unübersichtlich. Ein vollbepackter Ochsenkarren stand schräg auf der Straße, die Plane war heruntergerissen worden und etliche Güter lagen verstreut auf dem Boden. Männer, in dreckige Lumpen gekleidet, standen in wildem Durcheinander um den Wagen herum und schienen ihn zu plündern, während einer – offensichtlich der Besitzer, denn er trug die traditionelle Tracht eines Kaufmannes – mit über dem Kopf gefalteten Händen niederkauerte. Und dann waren da noch etliche weitere, die mit dem Gesicht nach unten lagen, in der Pfütze ihres eigenen Blutes. Zorn pulsierte durch Haradas Venen wie glühende Lava und bevor sich die Diebesbande seiner und Shinpachis Gegenwart überhaupt gewahr wurde, hatte sich der Speer durch die Brust des ersten gebohrt, den er erreichen konnte. Es folgte ein kurzes Handgemenge, doch die Schwerter der Banditen waren stumpf und ihr Widerstand währte nur so lange, bis drei weitere der ihren den Tod gefunden hatten. Dann flohen sie Hals über Kopf hinein in den Wald und ließen den Großteil der Beute, aber auch eine Spur der Verwüstung zurück. Harada und Shinpachi ließen ihre Waffen sinken, klopften sich den Schmutz von der Kleidung und wandten sich schließlich dem Kaufmann zu, der in seiner knienden Position verblieben war und sich nun ehrfürchtig vor ihnen verneigte. Er war von kleiner, fast mickriger und sehr dürrer Statur, hatte wenig Haupthaar, obwohl er noch nicht alt zu sein schien, und einen schwarzen Spitzbart. „Danke, danke! Tausend Dank!“, stammelte er und rief in energischem Ton: „Kommt her ihr zwei und erweist diesen Männern gefälligst Respekt!“ Ein Junge – er konnte kaum sein zehntes Lebensjahr vollendet haben – kam mit weißem Gesicht und zitternden Beinen hinter dem Ochsenkarren hervor und warf sich neben dem Händler in den Staub. Ebenso das junge Mädchen, das zuvor versehentlich in Harada hineingelaufen war. Sie musste in Chizurus Alter sein, doch es fiel auf, dass sie im Gegensatz zu dem Jungen, der unverkennbar der Sohn des Kaufmannes war, ganz anderes aussah. Sie ist nicht von hier, stellte Harada interessiert fest, und noch dazu sehr hübsch! „Bitte, steht wieder auf!“, forderte er freundlich von den dreien und zögernd erhoben sie sich und blickten sich in dem Chaos um, das die Diebe hinterlassen hatten. „Ich heiße Harada Sanosuke, das ist Nagakura Shinpachi.“ „Ikura Shinzaburo“, stellte der Kaufmann sich mit einer weiteren Verbeugung vor. „Das sind mein Sohn Kentaro und meine Dienerin Erenya. Wir sind auf dem Weg von Edo nach Nagoya und wollten hier in der Herberge die Nacht verbringen. Wenn es Euch recht ist, würde ich Euch gerne als Dank zum Abendessen einladen, Harada-san, Nagakura-san.“ „Da nehmen wir gerne an“, antwortete Shinpachi, bückte sich nach einem Leinensäckchen und legte es auf den Wagen zurück. „Aber zuerst helfen wir, deine Ware aufzusammeln.“ Ikura bestand darauf, dass diese Arbeit eines Kriegers unwürdig war und während er, sein Sohn und seine Bedienstete die Sachen wieder einluden, kümmerten sich Harada und Shinpachi um die Entsorgung der Leichen. Fünf von ihnen gehörten den Plünderern an, die zwei anderen waren die Ronin, die Ikura zu seinem Schutz angeheuert hatte. Sie sahen blutjung aus und konnten kaum Kampferfahrung gehabt haben, sodass sich Harada nicht sonderlich über ihre Niederlage wunderte. Nachdem auch das erledigt war, trieb Ikura seine Ochsen das letzte Stück bis zur Herberge voran und in der alles umfangenen Dunkelheit, die mittlerweile Einzug gehalten hatte, leuchteten die Laternen des Dorfes wie Sterne am Firmament. Harada lauschte mit halbem Ohr den Gesprächen Shinpachis und Ikuras über die Gefährlichkeit der Straße in der heutigen Zeit und beobachtete dabei das Dienstmädchen, Erenya, das ein paar Schritt weiter vor ihm herging und dessen lange gewellte Haare ihr elegant über den Rücken fielen. Schürfwunden an Händen und Knien erzählten von dem kürzlichen Überfall und besorgt schloss Harada zu ihr auf. „Hast du dich vorhin verletzt?“, fragte er sanft und Erenya schaute erst erschrocken, dann beschämt zu Boden und eilte ohne eine Antwort zu geben bis nach vorne zu den Ochsen. Harada blieb verwirrt am Ende des Gespanns zurück, kratzte sich am Kopf und gelangte schlussendlich zu der Annahme, dass dieses Mädchen wohl einfach unglaublich schüchtern sein musste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)