Muzukashii Sekai von Harulein (MiA x Meto / Tsuzuku x Meto) ================================================================================ Kapitel 32: [Tsuzuku] Act 32 ---------------------------- Ich saß im Essraum des Tempels, zusammen mit den anderen und doch allein für mich, und starrte das Essen an, das sich auf dem lackierten Tablett vor mir befand. Die anderen um mich herum waren längst mit Essen beschäftigt, weswegen es bis auf ab und an ertönendes Tellerklappern still im Raum war, doch ich fühlte mich absolut nicht danach, das, was da vor mir lag, zu mir zu nehmen. Mir war nicht übel oder so, sondern ich erkannte den Reis, das Gemüse und den Seetang irgendwie … nicht als etwas Essbares. Als hätte ich verlernt, was ‚Nahrung‘ bedeutete. „Tsuzuku?“, sprach mich eine von den anderen, eine junge Frau namens Hitomi, mit meinem Pseudonym an. Ich hatte, bei der obligatorischen Vorstellungsrunde am ersten Tag, es nicht geschafft, den anderen meinen wahren Namen zu nennen und war dabei geblieben, dass mich alle weiterhin, so wie auch im Akutagawa-Park, mit ‚Tsuzuku‘ ansprechen sollten. „Hm?“ „Magst du nichts essen?“ Sie rückte ein Stück näher zu mir und blickte fragend auf mein Tablett und dann mich an. „Ich kann nicht …“, antwortete ich leise. Hitomi sah mich einen Moment lang einfach nur an und ich blickte zurück, sah, dass sie ziemlich dünn war, vielleicht noch weniger wog als ich. Ihre knapp kinnlangen, schwarzen Haare waren stumpf und ihre Arme in dem langärmligen Shirt so schmal, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob sie nicht zerbrachen. „Du … hast es auch nicht so … mit dem Essen, nicht wahr?“, fragte sie schließlich mit leiser Stimme. Ich blickte auf den Teller, auf die salzig eingelegten Pflaumen, etwas, das ich nun wirklich überhaupt nicht mochte, und antwortete: „Wenn du damit Bulimie meinst …“ Sie nickte, sah mich an, blickte dann auf meine tätowierten Arme und die blassen Narben dazwischen und schaute mir mit einem ganz merkwürdigen Blick in die Augen. Einen Moment lang sah es aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann wandte sie sich von mir ab und wieder ihrem Teller zu, aß langsam das Gemüse und den Reis und tat so, als hätten wir eben gar nicht miteinander gesprochen. Ich machte keinen Versuch, sie wieder anzusprechen, dafür war dieser Moment eben zu seltsam gewesen. Stattdessen versuchte ich nun ebenfalls, etwas zu essen. Nur Reis, alles andere hatte einen zu starken Geschmack. Ich aß sehr langsam und vorsichtig und musste zwischendurch immer wieder kurze Pausen machen, damit mir nicht wieder übel wurde. Ab und zu schaute ich zu Hitomi, doch sie blickte unablässig auf ihren Teller und machte keinerlei Anstalten, noch einmal Kontakt zu mir aufzunehmen. Warum sie mich wohl angesprochen hatte? Als ich nach dem Essen aufstand (ich hatte fast alles einfach auf meinem Teller liegen gelassen), und zurück in mein Zimmer wollte, stand Hitomi ebenfalls auf. Auf dem Weg in mein Zimmer hörte ich Schritte hinter mir, sah mich jedoch nicht um, obwohl, oder vielleicht gerade weil ich mir sicher war, dass sie es war, die mir folgte. Irgendwie hatte mich der Moment, als sie auf meine Tattoos und die Narben geschaut hatte, ziemlich beunruhigt. Und wie sie mich danach angesehen hatte. Als wüsste sie etwas über mich, ohne mich zu kennen. Komori, mein Zimmergenosse, lag auf dem Bett und hob den Kopf, als ich hereinkam. „Wieso warst du nicht beim Essen?“, fragte ich. „Mir ist nicht gut“, antwortete er. „Hab Kopfschmerzen.“ Dann war es wohl besser, wenn ich ihn alleine ließ. Also verließ ich das Zimmer wieder und ging in den Tempelgarten, setzte mich auf eine der Bänke dort und blickte auf den Zen-Garten vor mir, in dem sich gerade ein einzelner Mönch befand, der mit einer Harke unablässig Kreise in den grauen Sand malte. Ich wusste, das war irgendeine meditative Übung, keine Gartenarbeit, und so beobachtete ich ihn aufmerksam dabei, um vielleicht von ihm zu lernen. Ich wollte ein bisschen was von der Ruhe und Gelassenheit dieser Mönche abhaben, bewunderte sie für ihre innere Stärke und Geduld. Und so bemerkte ich zuerst nicht, dass sich jemand auf die Bank neben meiner gesetzt hatte und ebenfalls dem Mönch zusah. Erst, als ich einen schweren, gedehnten Seufzer vernahm, blickte ich zur Seite und sah Hitomi dort sitzen. Sie sah mich an, stand auf und setzte sich neben mich. „Dieser Junge mit den hellblauen Haaren, der gestern bei dir war, wer war das?“, fragte sie unvermittelt und sah mich wieder mit diesem seltsamen Blick an. Irgendetwas daran kam mir bekannt vor, doch ich konnte nicht sagen, was es war, oder woher. „Mein Freund. Meto“, antwortete ich. „Dein Freund? Also, fester Freund?“, fragte sie und sah mich etwas verwundert an. Ich nickte. Hitomi lächelte, ein kleines, scheues Lächeln, dann stand sie auf und wandte sich zum Gehen. Doch als sie schon ein paar Schritte weit weg war, drehte sie sich noch einmal um und kam zurück. Sie blieb direkt vor mir stehen, beugte sich vor und sagte leise: „Dann hast du ja einen Grund, von der Grenze wegzubleiben.“ Und noch ehe ich sie fragen konnte, was sie damit meinte, lief sie davon, verschwand irgendwo im Tempelgebäude und ließ mich allein. Kurz darauf stand ich ebenfalls auf und ging wieder hinein. Komori war nicht im Zimmer, als ich es wieder betrat, und ich vermutete, dass er wegen seiner Kopfschmerzen die hier arbeitende Krankenschwester aufgesucht hatte. Ich legte mich auf mein Bett, blickte hoch an die hölzerne Decke und fragte mich, was Hitomi mir wohl hatte sagen wollen. Ihr ganzes Verhalten ergab für mich die Botschaft, dass sie mir irgendetwas mitteilen wollte, es aber aus irgendeinem Grund nicht auf den Punkt bringen konnte oder wollte. Die Art, wie sie mich ansah, und das, was sie zu mir gesagt hatte: Da war etwas, was mich hatte aufhorchen lassen und mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf ging. Was hatte sie mit ‚Grenze‘ gemeint? Ich blieb eine ganze Weile so liegen, hing meinen Gedanken nach und lauschte dem entfernten, gleichförmigen Gesang der Mönche in der Gebetshalle. Fast wäre ich davon eingeschlafen, doch ich schreckte immer wieder auf, fand keine wirkliche Ruhe, wusste jedoch nicht, was mich wach hielt. Komori kam wieder ins Zimmer, legte sich ebenfalls hin und sagte erst einmal nichts. Als er mich dann doch ansprach, wäre ich fast schon wieder eingeschlafen gewesen. „Tsuzuku?“ „Mh?“ „Du warst doch immer im Akutagawa-Park, oder?“ „Ja. Wieso fragst du?“ „Ich glaub, ich hab dich da ein paar Mal gesehen.“ „Kann sein“, antwortete ich und fragte dann, weniger aus Interesse, als mehr um das Gespräch anstandshalber in Gang zu halten: „Wo hattest du denn deinen Schlafplatz?“ „Im Park hinter der Einkaufspassage. Manchmal war ich auch in dem Waldstück auf der anderen Seite vom Fluss.“ Den Park kannte ich. Dort war ich doch vor ein paar Wochen erst gewesen, hatte mich betrunken, zu viel geraucht und gebrochen, bevor Meto mich dann gefunden hatte. Aber natürlich hatte ich Komori damals nicht bemerkt, ich kannte ihn ja erst, seit ich hier war. „Die Leute im Akutagawa, das ist ‘ne richtige kleine Gemeinschaft, ne?“, fragte er nach einer Weile und fügte dann noch hinzu: „Ich hätte da auch gern dazu gehört, aber irgendwie bin ich so gar nicht geeignet für Gruppen.“ „Ich auch nicht“, sagte ich. „Aber ich kann auch nicht gut alleine sein.“ „Wieso, was passiert, wenn du alleine bist?“ Komori setzte sich auf und sah mich an, ich spürte sein Interesse und dass es mich ein bisschen nervös machte. Zuerst wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Schließlich kannte ich ihn kaum und hatte ja so meine Schwierigkeiten, jemandem so etwas Privates wie den Grund, warum ich nicht gern allein war, zu erzählen. Doch dann dachte ich daran, dass ich die nächsten drei Monate hier mit ihm auf diesem Zimmer wohnen würde und dass es vielleicht besser war, wenn er wusste, was mit mir los war. Und so antwortete ich: „Dann ist niemand da, der aufpassen kann, dass ich mich nicht verletze.“ „Wie, dass du dich nicht verletzt? Hast du … ein Selbstverletzungsproblem?“, fragte er und sah mich erschrocken an. Ich nickte. „Im Moment ist es nicht so schlimm, du musst dir keine Sorgen machen.“ „Wie lange hast du das denn schon?“ Gute Frage. Eigentlich war ich schon immer ein bisschen so gewesen. Meine Tattoos und Piercings, das Implantat, der Spalt in meiner Zunge, das kam nicht von ungefähr. Doch dass ich mich selbst schnitt, das war erst nach Mamas Tod gekommen, genauso wie die Bulimie. „In der Form erst seit zwei Jahren“, antwortete ich. „Seit ich auf der Straße lebe.“ „Dann warst du deshalb nie in Behandlung?“, fragte Komori. Ich schüttelte den Kopf. „Ich war in meinem Leben erst ein einziges Mal bei ‘nem Psychologen.“ „Weswegen?“ „Ich hab, als ich noch zur Schule ging, mal eine Fensterscheibe zerschlagen, und bin deswegen beim Schulpsychologen gelandet. Der hat irgendwas von ADHS gesagt, aber da kam nichts nach.“ „Und du glaubst auch nicht, dass das stimmt?“ „Ich weiß nicht. Hat mich damals auch nicht interessiert.“ „Hm …“ Komori sah mich einen Moment lang nachdenklich an, dann sagte er: „Ich finde auch, man muss das gar nicht unbedingt wissen, wie man ein Problem nennt. Das macht’s manchmal nur schwerer.“ Einen Moment hatte ich das Gefühl, ihm vielleicht ein bisschen zu viel erzählt zu haben. Es war nicht ganz einfach für mich, so offen zu sein. Doch auf der anderen Seite wusste ich, dass es besser war, wenn mein Zimmergenosse hier ein bisschen was über mich und mein Problem wusste. Schließlich musste er wissen, was zu tun war, sollte ich hier einen Absturz erleben. „Gibt’s was, was ich tun kann, wenn du … dich wieder verletzt?“, fragte er. „Ich hab mein Messer nicht mehr, das ist bei meinem Freund. Es kann also zurzeit nicht viel passieren. Aber, wenn ich mies drauf bin, dann lass mich einfach in Ruhe.“ „Okay.“ Komori stand auf, machte einen Schritt auf mich zu und lächelte dann. „Und? Wollen wir jetzt hier rumsitzen oder gehen wir irgendwo hin?“ Ich hob die Schultern, wusste auch nicht, was noch mit dem Tag anzufangen war. Zum Schlafen gehen war es noch zu früh und ich war auch nicht mehr müde. „Wir können uns ja mal die Buddha-Halle ansehen, ich glaube, die Mönche sind fertig mit ihren Gebeten“, schlug Komori vor. Und da mir auch nichts Besseres einfiel, stimmte ich zu und wir verließen das Zimmer in Richtung der Halle. Kaum hatten wir diesen Ort betreten, der irgendwie wirklich eine ganz besondere Ausstrahlung hatte, spürte ich eine ähnliche Ruhe wie die, die mir bisher der nächtliche Sternenhimmel hatte geben können. Vor der großen Buddha-Statue kniete jemand und ich musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um Hitomi handelte, die mit gesenktem Kopf auf dem Boden saß und leise vor sich hin murmelte. Sie hatte etwas in der Hand, doch ich konnte nicht sehen, was es war. Als sie uns hörte, verstummte sie, hob sie den Kopf und drehte sich halb zu uns um. Ihr Blick war dunkel und schmerzerfüllt, ihre Augen leicht gerötet, und ihre rechte Wange sah aus, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige versetzt. Einen Moment starrte sie Komori und mich nur an, dann fauchte sie: „Haut ab! Verschwindet! Kann man denn hier nirgendwo alleine sein?!“ „Alles … okay bei dir?“, fragte Komori. „Geht euch nichts an!“ Hitomi sprang auf, kam auf uns zu und sah mich kurz ganz direkt an, mit demselben seltsamen Blick wie heute Mittag. Wieder kam mir etwas daran seltsam vertraut vor, doch wieder verstand ich nicht, was sie mir mitteilen wollte. Dann rauschte sie an uns vorbei und schlug die Tür hinter sich zu. Komori und ich blieben noch etwas in der Halle, schließlich hatten wir sie uns genauer ansehen wollen, und ich versuchte, ein bisschen was von dem ruhigen Gefühl, das ich dem Buddha gegenüber hatte, festzuhalten und mir einzuprägen. Ich wollte meine Zeit hier nutzen, um mich ein wenig weiter zu entwickeln und vielleicht etwas zu finden, das mir, sollten meine Schuldgefühle wieder stärker werden, helfen konnte. Wo, wenn nicht hier, sollte es so etwas geben? „Glaubst du daran?“, fragte Komori. „Woran?“ „Daran, dass das hier funktioniert. Dass Buddha zu einem glücklichen Leben helfen kann.“ „Ich hoffe es“, antwortete ich. „Ich fände es aber auch schön, wenn es einen Gott und einen Himmel gäbe.“ Kaum hatte ich es ausgesprochen, war er wieder da, der Gedanke an Mama. Daran, wie ich mit ihr, ihrem Geist, gesprochen hatte. Ich biss mir auf die Lippe, blickte den Buddha an und versuchte, es niederzuringen. Ich wollte nicht weinen, nicht hier und nicht jetzt, wo Meto nicht da war, um mich im Arm zu halten. Versuchend, die schon meine Sicht verschwommen machenden Tränen am Fließen zu hindern, fuhr ich mir mit den Händen über die Augen und blinzelte heftig, was Komori, der neben mir stand, natürlich bemerkte. „Alles okay, Tsuzuku?“, fragte er, klang besorgt. „… Geht gleich wieder …“, brachte ich mit zitternder Stimme heraus, spürte im selben Moment, wie die erste Träne über meine Wange lief. „Kannst du … wieder ins Zimmer gehen … und mich hier … ein bisschen allein lassen?“ „Ja, natürlich“, antwortete er und ging hinaus. Ich schaute mich noch einmal um, um sicher zu sein, dass mich niemand sah, und ließ mich dann vor der Buddha-Statue auf die Knie sinken. Beim Gedanken an Mama flossen meine Tränen, fast stumm, ich schluchzte kaum. Es war die Art von Weinen, die sich zwar sehr traurig, aber auch irgendwie erleichternd anfühlte. Und es war viel mehr Trauer darum, dass Mama nicht mehr da war, als Schuldgefühle wegen dem, was ich damals zu ihr gesagt hatte. Der Wunsch, mich zu bestrafen, blieb beinahe aus, war nichts weiter als ein blasser, wirkungsloser Gedanke, den ich leicht beiseiteschieben konnte. Und irgendwann, es waren vielleicht ein paar Minuten vergangen, trockneten meine Tränen wieder, ich stand auf, verbeugte mich kurz vor dem Buddha und ging zurück aufs Zimmer. „Geht’s dir wieder gut?“, fragte Komori. Er lag auf dem Bett und rauchte, sicherlich wohl wissend, dass das eigentlich hier nicht erlaubt war. Ich hatte seit gestern keine Zigarette mehr gehabt und so bat ich ihn um eine, die er auch sofort grinsend rausrückte. Im Gegensatz zu ihm setzte ich mich zum Rauchen ans offene Fenster und ließ den Rauch nach draußen, was sicher besser war, als wenn es hier drinnen danach roch. Obwohl ich gern rauchte, konnte ich den Geruch von kaltem Zigarettenrauch in geschlossenen Räumen nicht ausstehen und hatte auch schon früher immer genau darauf geachtet, zumindest das Fenster zu öffnen. Ein anderer Grund war, dass ich es mir wegen Mama einfach angewöhnt hatte, draußen zu rauchen und so Rücksicht auf ihre Konstitution zu nehmen. Ich hatte mit sechzehn damit angefangen, im Bewusstsein, dass es ungesund war, doch das hatte mich nicht wirklich davon abhalten können. Das Wort ‚ungesund‘ schien mich noch nie besonders beeindruckt zu haben und wenn ich mein Leben rückblickend so betrachtete, hatte ich schon immer einen Hang dazu gehabt, Dinge zu tun, die weder gesund noch besonders klug waren. Und ich hatte das auch längst als einen Teil von mir akzeptiert. Den Rest des Tages hingen wir wirklich mehr oder weniger nur herum. Es gab ja nichts zu tun und so etwas wie Bücher hatte ich nicht, um mir die Zeit zu vertreiben. Irgendwann gingen wir noch mal raus in den Garten, schauten den Mönchen bei ihren Übungen zu, und ab und an stellte Komori mir eine Frage, die ich beantwortete, wenn ich wollte, oder schwieg, wenn mir nicht nach Reden war. Hitomi sah ich nicht mehr und als ich einmal kurz an sie dachte, vermutete ich, dass sie in ihrem Zimmer war und hoffte, dass es ihr einigermaßen gut ging. Als Komori und ich wieder auf die Leute im Akutagawa-Park zu sprechen kamen, stellte ich fest, dass ich diese Gemeinschaft schon jetzt, an meinem dritten Tag hier, vermisste. Nicht nur Meto und Koichi fehlten mir, obwohl sie mich ja gestern besucht hatten, sondern auch Haruna, Hanako und Yami, die ganzen Leute, selbst die, mit denen ich eigentlich gar nicht viel zu tun gehabt hatte. Aber ich war nun einmal Teil dieser Gruppe gewesen und hatte meine leeren Tage damit zugebracht, die anderen zu beobachten. Als es langsam dunkel wurde, gingen Komori und ich wieder ins Zimmer. Er kramte in seiner Tasche und zog eine Schachtel Zigaretten hervor, die er mir zuwarf. „Hier, ich hab noch mehr davon.“ Er grinste mich an und ich hatte das Gefühl, dass wir uns ein bisschen angefreundet hatten. Dass es mir tatsächlich gelungen war, etwas sozialer zu werden. Und das fühlte sich ziemlich gut an. Ich verstaute die Zigaretten in meiner Tasche, die ich immer noch nicht ausgeräumt hatte, obwohl es hier im Zimmer ja einen Schrank gab. Aber irgendwie kam es mir wie eine große Sache vor, meine schwarze Reisetasche, in der ich seit fast zwei Jahren mein Leben mit mir herumtrug, ganz auszupacken und die Sachen in einen Schrank zu tun. Gerade, als ich mich soweit hatte und sie doch ausräumen wollte, klopfte es an der Tür. „Aoba-san, sind Sie da?“, hörte ich von draußen die Stimme der Psychologin, bei der ich das Aufnahmegespräch gehabt hatte, Frau Watanabe. „Ja“, antwortete ich. „Was gibt’s?“ Sie öffnete die Tür und sagte: „Ich würde gern kurz den Hilfeplan mit Ihnen besprechen. Kommen sie mit in mein Büro?“ „Ja, klar.“ Ich warf Komori noch einen Blick zu, dann folgte ich Frau Watanabe aus dem Zimmer, den Gang in Richtung ihres Büros hinunter. „Wir haben Gruppen, aber auch Einzeltermine“, sagte sie, als ich ihr im Büro gegenüber saß. „Sie können wählen oder beides in Anspruch nehmen, wie Sie möchten. Was ist Ihnen denn derzeit lieber?“ „Ich hätte lieber Einzelgespräche“, antwortete ich nach kurzem Nachdenken. Ich hatte zwar keine Ahnung von Therapiegruppen, doch allein wenn ich das Wort schon hörte, spürte ich, dass mir nicht danach war, meine Probleme mit mehr als einer Person auf einmal durchzusprechen. „In welchen Abständen denn? Zweimal, dreimal in der Woche?“, fragte Frau Watanabe. Darauf wusste ich so schnell keine Antwort. Zwar war ich ja hier, weil ich Hilfe wollte, doch ich wusste, dass diese Hilfe auch mit harter Arbeit verbunden war und davor hatte ich ein wenig Angst. Sie sah, dass ich zögerte, lächelte und bot mir an: „Machen wir erst mal zwei Termine pro Woche. Und wenn Sie doch in eine Gruppe wollen, einfach sagen, okay?“ Ich nickte. Sie trug etwas in eine Tabelle am Computer ein, vermutlich ein Zeitplan, und schrieb mir dann eine kurze Reihe an Tagen und Uhrzeiten auf einen Zettel. Den reichte sie mir, ich faltete ihn zusammen und verstaute ihn in meiner Hosentasche. Als ich wieder ins Zimmer kam, hatte Komori sich schon ausgezogen und ins Bett gelegt, schlief aber noch nicht. „Hat sie mit dir auch schon gesprochen?“, fragte ich. „Nein, das kommt dann wohl morgen. Was hat sie denn gesagt?“ „Dass es Gruppen und Einzeltermine gibt. Würdest du in so eine Gruppe gehen?“ „Weiß nicht, vielleicht schon. Wenn’s hilft …“ Er drehte sich zur Wand und fügte noch ein „Gute Nacht“ hinzu, dann war von ihm nichts mehr zu hören. Meine Tasche stand immer noch vor dem offenen Schrank, doch ich war jetzt nicht mehr in der Stimmung, sie auszuräumen. Stattdessen zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus, legte mich ins Bett und war innerhalb von ein paar Minuten eingeschlafen. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich hörte schnelle Schritte auf dem Gang, lautes Rufen und sah ein blaues Licht durchs Fenster blitzen. Irgendetwas stimmte nicht. Komori war nicht aufgewacht, ich hörte seine schlafenden Atemzüge. Leise stand ich auf, ging zum Fenster und sah, wie zwei Männer in neonorangener Krankenwagenkleidung eine Trage aus diesem Gebäude schoben, auf der auch jemand lag. Im Dunkel, das nur von dem blitzenden Blaulicht durchbrochen wurde, konnte ich nicht erkennen, wer es war, den sie da in den Krankenwagen hinter dem geöffneten Gartentor schoben, doch ich hatte irgendwie ein sehr, sehr mieses Gefühl. Eigentlich war ich niemand, der bei einem Unglück hinlief und nachfragte, doch dessen zum Trotz zog ich mich hastig an und trat dann auf den Gang hinaus. Auf der Seite, wo sich die Zimmer der Frauen befanden, standen einige von ihnen herum und redeten aufgeregt. Frau Sato war auch da und ich erinnerte mich, dass ich ihren Namen am Morgen auf der Liste für den Nachtdienst gesehen hatte. „Was ist denn los?“, fragte ich, als ich die Gruppe erreicht hatte. Maya, eine der jüngeren Frauen, fast noch ein Mädchen, sah mich mit vom Weinen geröteten Augen an und antwortete: „Es ist Hitomi.“ Hitomi. Ich spürte, wie mir der Schreck in die Knochen fuhr. Ausgerechnet sie, und das gerade heute! „Was ist mit ihr?“, fragte ich. „Sie hat sich die Arme aufgeschnitten.“ Ich konnte förmlich fühlen, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Der Schreck hatte eine seltsame Gänsehaut auf meinen Armen ausgebreitet und ich verspürte ein fast schon schmerzhaftes Zittern. „Warum … ich meine …“, stotterte ich, „Ist irgendwas … passiert, was sie dazu …“ Frau Sato, die mich nun auch gesehen hatte, kam dazu und sagte leise: „Ich glaube, Hitomi brauchte keinen äußeren Grund mehr.“ „Ich … ich hab heute doch noch mit ihr gesprochen“, sagte ich. Zuerst dachte ich daran, wie sie neben mir auf der Bank im Garten gesessen hatte. Doch dann fiel mir wieder ein, wie Komori und ich sie in der Gebetshalle gesehen hatten. Da war sie in keinem guten Zustand gewesen. Doch hätte ich ahnen können, dass sie so etwas tun würde? Nur, weil ich selbst Erfahrung damit hatte, mich selbst zu verletzen? In diesem Licht ergab es einen Sinn, dass sie mich beim Mittagessen angesprochen und mit diesem Blick auf meine Narben geschaut hatte. Weil sie das selbst kannte. Und vertraut kam sie mir deshalb vor, weil sie war wie ich. ‚Wie ich … wie ich … wie ich …‘ hallte es in meinem Kopf wider. „Schafft sie’s? Kommt sie durch?“, fragte ich, um dieses Widerhallen in meinem Kopf zu übertönen. „Wir haben sie noch rechtzeitig gefunden. Die Chancen stehen gut, dass sie diese … Attacke überlebt“, antwortete Frau Sato. Sie sprach es nicht in Worten aus, doch in ihrem Tonfall lag ein unüberhörbares ‚Aber psychisch gesund wird sie nur schwer werden‘. Als ich hörte, wie der Krankenwagen mit Sirenengeheul davonfuhr, wandte ich mich zum Gehen. Ich wusste, jetzt würde ich lange brauchen, um wieder einschlafen zu können, doch ich wollte allein sein, nicht noch mehr hören. Ich war schon fast an meiner Zimmertür angekommen, da hörte ich es: Maya, die schon wieder zu weinen anfing, sagte irgendwas, das ich wegen ihrer Schluchzer nicht verstand, und Frau Sato antwortete: „Das ist Borderline.“ Es war, als würde mich eine unsichtbare Hand mitten ins Gesicht schlagen. Oder einen Eimer eisig kalten Wassers über mir auskippen. Ich stolperte, wäre fast gefallen, fing mich nur gerade so, riss die Tür zum Zimmer auf, stürzte hinein und fand gerade noch rechtzeitig zu meinem Bett, um hinein zu fallen und mich tief unter der Decke zu vergraben. Es kostete mich meine ganze, gesamte Kraft, die Tür in meinen Gedanken, hinter der tausende Fragen und noch mehr Schmerz lauerten, geschlossen zu halten und über nichts nachzudenken, keinen Gedanken in dieser Richtung zuzulassen. Irgendwann war ich eingeschlafen, doch dieser Schlaf war alles andere als erholsam und ich wachte am Morgen wie gerädert auf. Mein Kopf tat weh, ich hatte Bauchschmerzen und spürte einen unheilvollen Druck im Herzen, während ich mich anzog und zum Frühstück ging, mehr um nicht allein auf dem Zimmer zu sitzen, als um etwas zu essen. Komori war schon aufgestanden und saß am Frühstückstisch im Essraum. Zuerst wusste ich nicht mehr, was in der Nacht passiert war. Doch dann sah ich Hitomis leeren Platz und es fiel mir wieder ein: Sie hatte sich die Arme aufgeschnitten, war aber noch rechtzeitig gefunden und ins Krankenhaus gebracht worden. Doch an dem Punkt, als Frau Sato gesagt hatte, dass Hitomi wohl durchkommen würde, endete meine Erinnerung. Ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder ins Bett gekommen war und woher meine plötzlichen Kopfschmerzen kamen. Beim Frühstück aß ich wegen meiner ziemlich starken Bauchschmerzen so gut wie nichts, hatte aber auch absolut keinen Appetit. Immer wieder blickte ich zu Hitomis leerem Platz und dachte daran, wie sie gestern mit mir gesprochen hatte. Als ich nach dem Frühstück in mein Zimmer zurückwollte, ertönte hinter mir, aus der Richtung des Empfangsraumes, ein lautes „Hey!“. Ich drehte mich um und sah Koichi und Meto über den Gang auf mich zu kommen. Augenblicklich fühlte ich mich um einiges besser, der Druck in meinem Herzen wurde weniger und ich spürte die Bauchschmerzen kaum noch. Ich lief auf Meto zu, der überrascht stehen blieb, und schloss ihn in meine Arme, drückte ihn an mich und küsste ihn. „Ich hab dich vermisst“, sagte ich leise. „Schon? Ich war doch vorgestern erst da.“ „Ich brauch dich aber jeden Tag.“ Meto hob eine Hand, strich mir durchs Haar und sagte: „Wenn der Winter vorbei ist, hast du mich immer, jeden Tag.“ „Das ist noch so lange hin …“ „Ja, vorher hast du noch Geburtstag.“ „Gott, seid ihr süß!“, mischte sich Koichi mit leuchtenden Augen in unsere Verliebten-Sphäre ein. Ich lächelte, ließ Meto los und umarmte Koichi ebenfalls, wenn auch natürlich sehr viel weniger innig. „Ist was passiert?“, fragte mein bester Freund (ja, das war er, definitiv). Mit einem Mal waren die Bauchschmerzen wieder da. Einen Moment hatte ich Hitomi fast vergessen können, doch jetzt lief der Film von ihr, wie sie gestern mit mir gesprochen hatte und dann die Szene in der Gebetshalle, wieder durch meinen Kopf. „Eine von den Frauen hier … ist letzte Nacht ins Krankenhaus gekommen“, sagte ich. „Warum?“, fragte Koichi nichtsahnend. „Sie … hat sich geschnitten. Absichtlich. Ich hatte gestern noch mit ihr gesprochen und …“ Ich konnte nicht mehr weitersprechen, spürte, wie mir die Tränen in die Augen sprangen. Ich wusste nicht, ob es Angst um Hitomi war, die mich weinen ließ, oder der Schock, dass sich zum ersten Mal jemand, den ich kannte, selbst verletzt hatte. Auf einmal sah ich mein eigenes Verhalten wie von außen an und das tat irgendwie ziemlich weh. „Willst du aufs Zimmer gehen und dich hinlegen, oder sollen wir in die Stadt, dich ablenken?“, fragte Koichi, der meine Verzweiflung natürlich bemerkte. Meto sagte nichts, sah mich jedoch sehr besorgt an und griff nach meiner Hand. „In die Stadt“, sagte ich kurzentschlossen. „Ich muss hier raus.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)