Last Desire 11 von Sky- ================================================================================ Prolog: Evas Vorbereitungen --------------------------- Es war dunkel und in dem kleinen Laden hingen unzählige Gerüche von getrockneten Blüten und Kräutern in der Luft. Räucherstäbchen brannten in einer Schale und sorgten für ein solches Geruchschaos, dass man kaum noch atmen konnte. Und so chaotisch, wie dieses Duftreich war, so verhielt es sich auch mit dem Inneren des Ladens. Es war alles vollgestopft mit Requisiten, Tierknochen und Glaskugeln. Tarotkarten lagen verstreut herum und man fand auch Amulette und Pentagramme. Und da der Rest mit schweren orientalischen Tüchern oder vergoldeten Ornamenten beschmückt war, konnte man ziemlich schnell die Übersicht verlieren und vergessen, was man eigentlich wollte und wieso man überhaupt hereingekommen war. Es war ja an sich schon ein Wunder, dass man so viel Dekoration überhaupt in diesem kleinen Laden unterbringen konnte. Aus einer kleinen Ecke des Ladens kam eine Frau mit offensichtlich südländischer Abstammung zum Tresen. Sie hatte eine dunkle Haut, trug schweren Goldschmuck an den Händen und Fußgelenken, große goldene Ohrringe und mit Türkissteinen besetzte Ketten. Zusätzlich trug sie ein orientalisches Tuch, welches ihren Kopf und ihre Schultern bedeckte. Sie sah aus wie eine Zigeunerin und als sie ihre Besucherin sah, spielte sich ein listiges Lächeln auf ihre Lippen. „Herzlich Willkommen in meinem bescheidenen Laden, Eva. Was kann ich als Händlerin der tausend Wunder für dich tun? Willst du die Meere teilen, Wasser in Wein verwandeln oder umgekehrt? Willst du die Toten wiedererwecken oder die unheilbar Erkrankten heilen? All diese Wunder verkaufe ich gerne, allerdings hat jedes Wunder auch seinen Preis, wie du weißt.“ Eva, die von diesem Geruchschaos ein wenig benebelt war und Mühe hatte, ihre Gedanken beisammen zu halten, brauchte eine Weile, um zu antworten. „Guten Tag, Minha. Nein, ich bin an diesen Wundern nicht interessiert. Ich wüsste auch gar nichts damit anzufangen.“ Doch die Zigeunerin lachte und begann damit, die verstreuten Karten auf ihrem Tisch wieder einzusammeln und Ordnung zu machen. „Du wirst dich wundern, was die Menschen alle für Wunder haben wollen. Vor einiger Zeit hatte ich einen Kunden, der genau solche ungewöhnlichen Wunder kaufen wollte.“ „Die Geschichte kenne ich“, unterbrach Eva, bevor die Wahrsagerin weitersprechen konnte. „Er wurde später hingerichtet. Wie so viele, die deine Wunder gekauft haben und leichtfertig damit umgegangen sind.“ „So etwas ist nun mal der Preis für ein Wunder: das eigene Glück. Also… wenn du kein Wunder haben willst, was kann ich dann für dich tun?“ Eva beugte sich etwas vor und sah der Zigeunerin fest in die Augen. Ihr Blick wurde ernst und sie erklärte „Samajim sagte mir, du hast Ahavas Schwert in Verwahrung. Ich bin hier, weil ich es dringend brauche.“ „Oho“, rief Minha und hob erstaunt und neugierig die Augenbrauen. „Dann stimmen also die Gerüchte?“ „Das tut nichts zur Sache. Ich brauche das Schwert, weil ich mich um ein persönliches Problem kümmern muss. Ich habe auch etwas mitgebracht, um dich für den Aufwand angemessen zu entschädigen.“ Damit hole Eva einen goldenen Armreif hervor, der wie eine Schlange aussah. „Das habe ich noch aus Elohims Schatzkammer. Ich denke, das dürfte deinen Geschmack treffen, oder?“ Minha nahm den Armreif entgegen und begutachtete ihn genau. Dann ließ sie ihn in einer Schublade verschwinden und kam schließlich um den Tresen herum. „Komm mit, ich gebe dir das Schwert.“ Eva folgte der Zigeunerin durch den Laden in ein Hinterzimmer. Aus einem Wandschrank, der mit mehreren Schlössern gesichert war, holte sie ein Schwert hervor, welches wie ein altes japanisches Samuraischwert aussah. Minha hielt es wie einen wertvollen Schatz in den Händen, zögerte aber noch, es Eva zu geben und blickte sie ernst an. „Du musst dir auch wirklich sicher sein. Bedenke gut, dass das Schwert nur von Ahava selbst richtig geführt werden kann. Sobald du es an dich nimmst, wird das, was dein Innerstes ausmacht, sich auf deinem ganzen Körper abzeichnen. Die Finsternis wird dich und deinen Körper zerfressen und es wird ein äußerst schmerzhafter Prozess. Wenn du das Schwert zu oft benutzt, wird das dein Tod sein.“ „Das weiß ich“, sagte Eva und nahm das Schwert an sich. Sie wirkte ernst und nachdenklich. „Aber ich werde nicht zulassen, dass mein Bruder erneut in Gefahr gerät und er dann doch hingerichtet wird, wenn er sich einen Fehler erlaubt. Es ist besser, wenn er sich an nichts erinnert und glaubt, außer uns beiden gäbe es keine anderen Sefirot. Ich habe eben Angst um ihm.“ „Liebe wird zu Angst, Angst zur Verzweiflung und Verzweiflung artet in Hass aus. Du wandelst auf einem sehr gefährlichen Pfad, Eva. Du weißt, was für schreckliche Konsequenzen das hat, wenn du dich von der Finsternis in deinem Herzen vereinnahmen lässt.“ „Du klingst schon wie Samajim. Was ist denn eigentlich mit dir los, Minha? Normalerweise erteilst du nie Ratschläge.“ Doch die Zigeunerin lächelte nur wissend und ging zusammen mit Eva wieder zurück in den Laden, wo die Weißhaarige schon wieder von dem Geruchschaos überwältigt wurde. Aber Minha war schon komplett dagegen abgestumpft und nahm es auch nicht mehr wahr. „Das stimmt. Für gewöhnlich mache ich das auch nicht. Ich habe mich schon nicht für den Krieg damals interessiert und es kümmert mich auch herzlich wenig, welche Seite gewinnt. Ich verkaufe meine Wunder an jene, die sie brauchen. Und zugegeben: während des Krieges habe ich sehr viele Vorteile gehabt, weil es immer mehr Leute gab, die ein Wunder brauchten. Aber die meisten sind unvernünftig und blauäugig und wissen nicht, welch fatale Konsequenzen ein Wunder haben kann. Sollen sie sich doch ruhig ins Verderben stürzen. Solange ich einen angemessenen Preis für meine Dienste erhalte, ist es in Ordnung. Allerdings hätte es nicht sonderlich viele Vorteile für mich, wenn Elohim sein Ziel erreichen würde. Es wäre das Beste für alle, wenn er endlich getötet wird, aber es macht mir Sorgen, wer überhaupt in der Lage dazu sein wird, wenn er seine alte Macht wiederhergestellt hat. Der Einzige, der ihn ohne Probleme hätte aufhalten können, war Hajjim. Doch er ist tot und selbst Samajim konnte es nicht alleine mit ihm aufnehmen. Fraglich ist also, ob du es schaffen wirst. Du weißt ja: die Liebe kann den Zorn besiegen und so konnte Ahava Elohim aufhalten. Aber was kann denn die Verzweiflung ausrichten? Wohl nicht allzu viel, wie mich dünkt.“ „Einen Versuch ist es trotzdem wert. Danke für alles, Minha.“ Damit verließ Eva den Laden und sogleich wehte ihr die angenehm kühle Luft entgegen. Mit dem Schwert in beiden Händen bog sie in eine kleine Seitengasse ein und blieb mit dem Rücken zur Wand gelehnt stehen. Sie zog die Klinge aus der Schwertscheide und betrachtete sie. Kein einziger Kratzer und sie sah fast wie Weißgold aus. Es war lange her, seit sie so eine Waffe zuletzt in den Händen gehalten hatte. Und da kamen ihr auch Erinnerungen zurück. Erinnerungen an den Krieg, die Angst und die vielen Toten. Elohims unbändiger Hass auf die Unvergänglichen und alles, was vergänglich war. Es stimmte schon, was Minha gesagt hatte. Verzweiflung konnte den Hass nicht bekämpfen. Verzweiflung wird zu Hass, das war nun mal unumgänglich. Und fraglich war, ob sie dann auch so enden würde wie Elohim. Nichts war gefährlicher als die Verzweiflung, das wusste sie. Sie konnte die aufrichtigsten Seelen ins Verderben stürzen und sie in einen Strom aus Hass und Schmerz reißen. Ob sie auch eines Tages diesen Weg einschlagen würde? Tja, wer wusste denn schon, was das Schicksal für sie bereithielt. Ein rasender Schmerz durchfuhr Evas Arm und war so plötzlich gekommen, dass sie das Schwert fallen ließ. Sie biss sich auf die Unterlippe und hielt sich den linken Arm, der sich anfühlte, als würde sich eine Säure durch die Haut fressen. Also doch… Minha hatte Recht gehabt. In dem Falle durfte sie bloß keine Zeit verlieren. Sie musste unbedingt verhindern, dass die anderen nach dem Alpha-Proxy suchen würden. Insbesondere musste sie Liam vor ihm fernhalten, ansonsten waren all ihre Bemühungen, ihn zu beschützen, völlig umsonst gewesen. Kapitel 1: Erwachen ------------------- Stimmen… ja er hörte Stimmen und zuerst war er sich nicht ganz sicher, ob er vielleicht träumte, ob er tot war oder ob er wie ein Wunder tatsächlich überlebt hatte und er nun langsam wieder zu sich kam. Da! Da waren sie wieder diese Stimmen. Und dann wurde eine Tür geschlossen. Wer sprach da nur und was war mit ihm überhaupt? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Also öffnete er die Augen und wurde sogleich vom grellen Licht der Deckenbeleuchtung geblendet. Tja, so wie es aussieht, lebe ich wie durch ein Wunder noch. Mensch, mein Schutzengel muss echt Überstunden leisten, anders kann man sich doch nicht erklären, dass ich nach der Attacke noch lebe. Und sogleich war sein nächster Gedanke Ezra… L… die anderen! Ruckartig setzte er sich auf, was er aber sofort wieder bereute, weil ihm sofort wieder schwarz vor Augen wurde. „Bleib besser noch etwas liegen“, hörte er eine Stimme sagen, die ihm verdächtig bekannt vorkam. „Du hast ganz schön was abgekriegt und hattest verdammtes Glück, dass euer Freund noch da war, um euch zu helfen.“ Beyond blinzelte ein paar Male, da er ziemlich Mühe hatte, klar zu sehen. Was er sah, waren dunkelrote Augen und ein goldener Ring in der rechten Iris. Moment mal, das war doch Liam. Was zum Teufel war denn hier los und wo war er überhaupt? „Kann mir bitte mal jemand erklären, was passiert ist? Irgendwie scheine ich so einiges verpasst zu haben, seit ich das Messer in den Rücken abgekriegt habe.“ Nun setzte er sich deutlich langsamer als vorher auf und bemerkte auch, dass er eigentlich gar keine Schmerzen hatte. Zwar fühlte er sich ziemlich erschöpft und müde, aber ansonsten fehlte ihm nichts, soweit er das beurteilen konnte. Liam, der offenbar gewartet hatte bis sein „Patient“ aufgewacht war, hatte wie immer einen finsteren Blick und betrachtete Beyond schweigend, bevor er dann antwortete „Nachdem ihr angegriffen worden seid, habe ich einen Anruf erhalten und bin mit dem nächsten Flieger nach England gekommen. Euer Freund Dathan hatte sich schon zusammen mit Elion um euch gekümmert und geschildert, was passiert ist. Keine Sorge, den anderen geht es gut. Ezra steht zwar nach wie vor noch unter Schock, aber so wie es aussieht, seid nur ihr beide schwer verletzt worden. L, Nastasja und Sheol fehlt nichts.“ Diese Nachricht war eine unglaubliche Erleichterung für den Serienmörder und er war heilfroh, dass den anderen nichts passiert war. Aber irgendwie hatte er doch in Erinnerung gehabt, dass Jeremiel gesagt hatte, dass er die anderen getötet hätte, oder war das nur Einbildung gewesen? Irgendwie war das Ganze ziemlich verwirrend und so ganz konnte sich Beyond einfach nicht erklären, wie das alles nur passieren konnte. Und sogleich stellte auch Liam die Frage, die Beyond befürchtet hatte. „Was ist mit Jeremiel passiert? Ezra sagte, er habe versucht, euch zu töten.“ „Das war nicht Jeremiel“, murmelte Beyond und legte eine Hand auf seine Stirn, um sie irgendwie zu kühlen, denn sie fühlte sich unangenehm heiß an. Auch seine Augen brannten leicht. „Ich weiß nicht wieso, aber er war plötzlich wieder Sam Leens. Keine Ahnung, warum das so war, aber das war eindeutig er. Eine der Proxys… Simrah hieß sie, wenn ich mich recht erinnere… sie hat Elion und Jeremiel befohlen, Ezra und mich umzubringen. Und sie sagte, dass kein Proxy sich gegen den Einfluss des Alphas wehren kann. Elion hätte Ezra tatsächlich erschossen, aber da richtete Jeremiel die Waffe auf ihn und schoss das ganze Magazin leer, bevor er mit den Proxys verschwunden ist. Was danach passiert ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Aber wie kann es sein, dass den anderen nichts passiert ist?“ „Sheol sagte mir, Jeremiel hätte zwar auf sie geschossen, aber er hätte nie getroffen. Lediglich Nastasja bekam einen Streifschuss ab, aber das war auch nichts Ernstes. Und L war auch vollkommen unversehrt, so wie ich erfahren habe.“ Soso, dann hatte Jeremiel offenbar gelogen, als er Simrah gesagt hatte, er hätte die anderen umgebracht. Aber wieso hat er überhaupt geschossen und wieso war er mit den Proxys mitgegangen? Irgendwie verstand der Serienmörder gar nichts mehr und er spürte rasende Kopfschmerzen. Sogleich reichte Liam ihm ein Glas Wasser und zwei Tabletten. „Wie lange war ich weggetreten?“ „Fast zwei Tage. Dathan hat deinen ganzen Körper zurückgesetzt, da er seine Fähigkeiten offenbar noch nicht gezielt einsetzen kann. Leider hat er es ein bisschen zu gut gemeint und ich musste das wieder geradebiegen. Deshalb ist dein Körper noch vollkommen ausgelaugt und ich würde dir dringend anraten, dich heute auf jeden Fall noch nicht allzu viel zu bewegen. Ansonsten könntest du einen Kreislaufzusammenbruch erleiden. Du hast momentan eh noch eine etwas zu niedrige Körpertemperatur, das Gleiche gilt auch für deinen schwachen Puls.“ „Ich hatte eh nicht vor, heute noch einen Marathon zu machen.“ Dathan hatte seinen Körper zu weit zurückgesetzt? Nun, was das bedeutete, wollte der Serienmörder lieber nicht wissen. Also fragte er auch nicht weiter nach und schluckte die Tabletten. „Was ist mit Elion?“ Als der Name fiel, wurde der Unvergängliche deutlich ernster. Das bedeutete wohl nichts Gutes, oder? „Als ich eintraf, wirkte er auf mich verwirrt und leicht orientierungslos. Wie es scheint, erinnert er sich überhaupt nicht, was passiert ist und was er getan hat. Alles, woran er sich noch erinnert ist, dass eine Stimme ihn gerufen hat, aber das war es auch schon. Bevor er wieder in diesen willenlosen Zustand verfällt, habe ich ihn vorsichtshalber im Keller einquartiert und dafür gesorgt, dass er nicht ausbrechen kann. Solange wir nicht wissen, wie der Alpha-Proxy es fertig bringt, ihn zu steuern und wie wir dagegen vorgehen können, ist er eine Gefahr für uns alle und das weiß er auch. Deshalb hat er auch extra darum gebeten, eingesperrt zu werden.“ „Und wie geht es ihm?“ „Nicht gut. Er steht völlig neben sich und spricht kaum ein Wort. Seit Tagen nimmt er auch nichts mehr zu sich und will niemanden an sich heranlassen. Ezra ist in einem ähnlichen Zustand, aber Dathan kümmert sich gerade um ihn.“ Oh Mann, dass es Elion so schlecht ging, hätte selbst Beyond nicht gedacht. Aber andererseits… was hatte er denn auch erwartet? Elion war die Sanftmut in Person und er liebte Ezra über alles. Dass er in diesem Zustand versucht hatte, ihn zu töten, war natürlich der absolute Schock für ihn und da konnte man auch nicht erwarten, dass er sich so schnell davon erholte. Aber es hätte ja auch schlimmer kommen können. Wenn Dathan nicht da gewesen wäre, dann wären er und Ezra noch draufgegangen. Gerade wollte Beyond noch etwas fragen, da klopfte es an der Tür und L kam herein. Als er dann sah, dass Beyond wieder bei Bewusstsein war, lief er direkt zu ihm hin und schloss ihn in die Arme. Doch sogleich setzte es auch schon eine Kopfnuss, woraufhin der Vorwurf kam „Was hast du dir wieder bei dieser Aktion gedacht, du Idiot? Du hast mir versprochen, keine gefährlichen Sachen mehr zu machen und was ist? Du gehst mal wieder fast dabei drauf. So langsam habe ich den Eindruck, du machst das mit Absicht.“ „Entschuldige. Beim nächsten Mal warne ich dich eben vor, wenn ich ein Messer in den Rücken kriege.“ „Den Sarkasmus kannst du dir sparen. Fast zwei Tage warst du nicht bei Bewusstsein und ich mach mir Sorgen um dich.“ Irgendwie wird er seiner Mutter auch immer ähnlicher, hab ich langsam das Gefühl. Als nächstes beginnt er wohl auch noch auf Russisch zu fluchen. Aber wo er Recht hat, hat er eben Recht. Im Grunde war das ja eine riskante Aktion gewesen. Doch wenn ich es nicht gemacht hätte, dann wäre Ezra womöglich jetzt tot. „Wie gesagt: es tut mir Leid, aber sag mal, wo sind wir hier überhaupt? Das ist jedenfalls nicht unser Hotelzimmer.“ „Nein, das ist Wataris alte Villa. Dathan hat uns angeboten, solange hier Quartier zu beziehen, nachdem die Proxys im Hotel so ein Chaos angerichtet haben. Liam hat sämtliche Spuren beseitigt, damit die Polizei auch keine Probleme macht. Watari selbst ist noch im Krankenhaus und wird wahrscheinlich die nächsten Tage auch noch dort bleiben. Frederica ist aber schon wieder zurück.“ Nun, wenn alle da sind, kann ich genauso gut aufstehen. Also stand Beyond auf, woraufhin ihm wieder schwarz vor Augen wurde und er kurz ins Straucheln geriet, doch L hielt ihn fest und stützte ihn ein wenig. „Das hast du nun davon, dass du auch immer übertreiben musst.“ „Ja Mama…“ Sie verließen das Zimmer und sogleich trafen sie auf einen jungen Mann mit roten Augen und ordentlich frisierten schwarzen Haaren. Er trug zwei Nietenhalsbänder und hatte ein etwas blasses und schüchtern wirkendes, aber dennoch freundliches Gesicht und bemerkte sofort „Oh, wieder unter den Lebenden?“ Beyond sah ihn verständnislos an und versuchte sich zu erinnern, ob er den Kerl schon mal irgendwo gesehen hatte. Nein, das Gesicht konnte er beim besten Willen nicht zuordnen und so fragte er „Äh… und du bist?“ „Dathan“, antwortete der junge Mann und senkte etwas verlegen den Blick, wobei er rot um die Wangen wurde. „Nachdem ich es endlich mit der Zeitrücksetzung drauf habe, wollte ich die Brandverletzungen endlich verschwinden lassen, damit ich nicht mehr ganz so abstoßend aussehe. Ehrlich gesagt muss ich mich ja selbst noch an diesen Anblick gewöhnen. Immerhin kenne ich mich ja nur mit diesen Narben.“ Wow, das war wirklich mal eine Radikalveränderung. Vor dem Brand hatte Dathan gar nicht mal so schlecht ausgesehen. Er hätte wirklich das Zeug zum Model, wenn Beyond ganz ehrlich war. Sogleich konnte er sich auch nicht den nächsten Kommentar verkneifen und stieß L scherzhaft in die Seite. „Da hat sich deine Mutter ja einen hübschen Freund ausgesucht, findest du nicht?“ Als Dathan das hörte, riss er weit die Augen auf und verfiel in ein fürchterliches Gestammel, woraufhin er dann unbeholfen und wild mit den Händen gestikulierte. L schüttelte nur den Kopf, sagte aber nichts. Und als Beyond dann nicht aufhörte, sondern zur Krönung des Ganzen sagte „Stell dir mal vor: Dathan wird dein neuer Stiefvater“, da reichte es dem Detektiv endgültig und sofort setzte es was mit der Zeitung, die er dem Serienmörder über den Kopf zog. Dieser rieb sich schmollend die getroffene Stelle und grummelte beleidigt „Hey, ich bin immer noch ziemlich angeschlagen.“ „Dann benimm dich auch entsprechend und hör auf, solch einen Blödsinn zu erzählen. Noch ein solcher Kommentar und es gibt wieder was mit der Zeitung.“ „Wo nimmst du bloß immer diese Zeitung her?“ Diese Frage würdigte L mit keiner Antwort, stattdessen wandte er sich Dathan zu und fragte „Wo willst du eigentlich hin?“ „In den Keller und sehen, ob ich für Elion etwas tun kann. Ezra geht es übrigens wieder besser und er fragt auch schon nach, ob er Elion vielleicht sehen kann. Ich komme gleich zu euch ins Wohnzimmer, wenn ich fertig bin.“ Damit ging der Unvergängliche und Beyond und L sahen ihm noch nach. „Scheint so, als hätte er sich ganz gut mit der Tatsache abgefunden, dass er kein Mensch ist.“ „Frederica und Mum haben einiges dazu beigetragen, dass er sich damit besser abfinden kann.“ Mit einem Mal war L deutlich wortkarger geworden und Beyond ahnte schon, was los war. Er konnte sich wohl noch nicht so ganz mit der Tatsache anfreunden, dass seine Mutter jetzt offenbar einen Freund hatte. Naja, er tat sich ja auch immerhin noch sehr schwer damit, dass sein älterer Zwillingsbruder mit Liam zusammen war. Und Dathan hatte nun mal eine sehr fragwürdige Vergangenheit, das konnte man nicht leugnen. Immerhin wusste keiner so wirklich, wer er war. Fest stand nur, dass es sich bei ihm um einen Unvergänglichen handelte, der vor 28 Jahren Alice Wammy begegnet war. Schließlich gingen sie ins Wohnzimmer, wo auch schon die anderen waren. Und so wie es aussah, herrschte gerade Streit zwischen Ezra und Nastasja. Worum es ging, konnte Beyond noch nicht so ganz feststellen, doch als Liam als Dazugekommener die Lage zu entschärfen versuchte, stellte sich dann doch recht schnell heraus, worum es ging. Nämlich um Elion. „Verdammt noch mal, warum müsst ihr ihn im Keller einsperren wie ein Tier? Er hat das doch nicht gewollt. Wie könnt ihr das nur tun?“ „Weil es sowohl um seine als auch um unsere Sicherheit geht. Außerdem geschah es auch auf seinen eigenen Wunsch hin. Solange wir noch nicht wissen, wie es der Alpha-Proxy schafft, Elion unter seine Kontrolle zu bringen, müssen wir ihn einschließen.“ „Damit er wieder so eingesperrt ist wie im Institut? Fuck, wir sind doch seine Familie und von dir hätte ich das am allerwenigsten erwartet. Du bist für ihn wie seine Ersatzmutter und du lässt zu, dass er weggesperrt wird. Du bist echt verlogen.“ „Rede nicht in diesem Ton mit mir, junger Mann! Wer austeilen kann, der sollte auch einstecken können. Du hast verdammtes Glück gehabt, dass Dathan in der Nähe war, ansonsten wärst du noch auf der Intensivstation des Krankenhauses gelandet. Ich arbeite bereits an einer Möglichkeit, wie wir Elion vor dem Alpha-Proxy schützen können, aber das braucht seine Zeit und bis dahin wird er wohl oder übel im Keller bleiben müssen, bevor wir nach Jeremiel auch noch ihn verlieren.“ Beide waren laut geworden und schließlich schaffte es Liam, die beiden Streithähne auseinander zu bringen und die erhitzten Gemüter zu besänftigen. Frederica kam schließlich mit einem Tablett herein und servierte Tee und Gebäck. „Es bringt doch nichts, wenn wir alle streiten“, sagte das Albinomädchen schließlich und goss jedem eine Tasse ein. „Wenn wir die Proxys stoppen und Jeremiel befreien wollen, müssen wir zusammenhalten und uns überlegen, was wir am besten tun können. Wahrscheinlich werden sie zurückkommen und auch versuchen, Elion in ihre Gewalt zu bringen. Wir müssen auf jeden Fall vorbereitet sein, wenn sie kommen und uns eine gute Strategie überlegen.“ „Soll der Alpha-Proxy doch kommen“, sagte Beyond und schob sich einen Zuckerwürfel in den Mund. „Nennt mir einen guten Grund, warum ich ihn nicht für das umbringen sollte, was er getan hat. Er oder besser gesagt sie ist doch das reinste Monster. Nicht nur, dass sie L’s Eltern umgebracht hat, nein sie tötete auch Alice Wammy, führt bis heute noch Experimente an Menschen durch und züchtet Hybride heran, die sie kontrolliert und auf uns hetzt. Wegen ihr ist Jeremiel jetzt zu einem willenlosen Proxy geworden und Elion hätte uns beinahe umgebracht. Nenn mir auch nur einer einen guten Grund, wieso ich sie nicht umbringen sollte.“ „Weil das absoluter Unsinn ist“, antwortete Liam kühl und trank seinen Tee ohne Zucker. „Selbst ich hatte Schwierigkeiten mit ihr und wir sollten diese Frau nicht unterschätzen. Sie ist extrem stark und deshalb ist es die absolut dümmste Idee, wenn sich ihr ein Mensch entgegenstellt. Ich habe sie zwar nur kurz gesehen, aber was ich gespürt habe, war eine so unfassbar starke Macht, die auch voller Groll war. Wer auch immer sie ist, sie kann definitiv kein Mensch sein. Oder sie ist irgendwann mal einer gewesen. Das wäre auch möglich.“ Schöne Scheiße. Wenn Liam sagt, dass diese Frau genauso stark ist wie er, dann konnte das doch nur in einem Fiasko enden. Frederica war nicht stark genug, Sheol war kein Proxy mehr und Elion konnte sich nicht gegen die Kontrolle des Alpha-Proxys wehren. Also was sollten sie tun? Viele Möglichkeiten blieben ja nicht mehr. „Toll“, sagte Ezra, der genauso demotiviert war. „Wir sind also voll am Arsch!“ „Das habe ich nicht gesagt“, erklärte der Mafiaboss ruhig und sein kühler Blick ruhte auf ihnen. Eigentlich hätte Beyond erwartet, dass er sauer wurde sogar selbst den Vorschlag brachte, Jeremiels Entführer zu töten. Aber so wie es aussah, hatte er stattdessen beschlossen, einen kühlen Kopf zu bewahren, um so einen Weg zu finden, um Jeremiel zu retten, ohne sein Leben unnötig in Gefahr zu bringen. Außerdem hielt er immer noch an seinem Versprechen fest, seine Familie zu beschützen. „Es gibt da jemanden, der sogar um einiges stärker ist als ich und Eva. Nämlich Dathan.“ „Wie jetzt?“ rief Sheol, als er das hörte und ungläubig glotzte er den Mafioso an. „Du machst wohl Witze. Allein bei unserer ersten Begegnung hatte ich fast die Hosen voll, weil du so verdammt stark warst. Und ausgerechnet Dathan ist sogar noch stärker als du? Wie soll das denn gehen?“ „Das weiß ich auch nicht“, erklärte der Unvergängliche ruhig und verschränkte nachdenklich die Arme. „Mich verwirrt das Ganze eh momentan. Dass es Hybride gibt, ist ja alles noch im Rahmen des Erklärbaren. Aber ich verstehe nicht, dass es noch mehr von unserer Sorte gibt. Ich bin immer davon ausgegangen, dass Eva und ich die Einzigen wären und Delta, Johnny und Marcel sind Abkömmlinge von mir. Und nun komme ich nach England und erfahre sogleich, dass es einen weiteren Unvergänglichen gibt, der obendrein so stark ist, dass er mir echt noch gefährlich werden könnte.“ „Na von irgendwoher müssen die Unvergänglichen doch kommen“, erklärte Nastasja, die sogleich damit begann, Lakritzschnecken auseinanderzudrehen und sie dann zu essen. „Und soweit unsere Theorie mit den Aussagen des Alpha-Proxys stimmig ist, ist Ajin Gamur als das Ur-Nichts und der Anfang aller Dinge die Quelle der Ewigkeit. Aus ihm entstand Ain Soph und dieser spaltete sich in unzählige Fragmente, nämlich die Sefirot, besser bekannt als die Unvergänglichen. Und du und Eva, ihr gehört auch dazu. Warum du allerdings nichts davon weißt, wundert mich ehrlich gesagt auch. Ich meine, du bist immerhin ihr älterer Zwillingsbruder und ihr ward ursprünglich ein gemeinsames Wesen. Da ist es schon merkwürdig, dass du nichts weißt. Vielleicht seid ihr den anderen ja nie begegnet.“ „Das ist nicht ganz richtig“, warf Frederica vorsichtig ein und blickte kurz zu Liam, als zögere sie noch, es zu sagen. „Als ich in Nowgorod in Evas alten Körper aufgewacht bin und die Opritschnina getötet habe, da bin ich in der Welt der leeren Träume gelandet. Das ist eine surreale Welt, die die Grenze zum Nichts darstellt. Dort lebt ein Sefira mit dem Namen Nazir, den sie auch den Beobachter nennen. Er ist der mächtigste aller Sefirot und er fungiert auch als neutraler Ratgeber und Mentor. Er hat mir beigebracht, wie ich meine Kräfte gezielt einsetzen kann und er sagte mir, dass er dies jeden Sefira gelehrt hätte. Auch Eva und Liam. Ich habe ihn auch letztens wieder aufgesucht und gefragt, aber er sagte nur, dass Liam seine Erinnerungen verloren habe, aber er wollte mir auch nicht sagen wieso das so ist. Er sagte, dass dies ein abgeschlossenes Kapitel ist, über welches nur die wenigsten ein Wort verlieren. Demnach also muss Eva wissen, warum du deine Erinnerungen verloren hast.“ „Vielleicht sollte ich mal diesen Nazir aufsuchen und ihm ein paar Fragen stellen.“ „Besser nicht“, sagte Frederica sofort, als sie das hörte. „Es gibt wohl einige Sefirot, die auch als die großen Alten bekannt sind. Sie sind die mächtigsten Unvergänglichen und die meisten haben kein Interesse an der Menschenwelt und kümmern sich hauptsächlich nur um ihre eigenen Belange. Und so weit ich von Nazir erfahren habe, sind einige von ihnen richtig gefährlich. Wir sollten nichts riskieren, vor allem da Nazir direkt Ajin Gamur unterstellt ist und dieser steht sogar noch weit über den Sefirot.“ „Wie weit?“ fragte Sheol, der sich nicht sonderlich viel darunter vorstellen konnte. Doch auch Frederica musste sich einen geeigneten Vergleich überlegen, denn es war in so einer beschränkten Sprache wie die der Menschen nicht einfach, etwas so Gewaltiges in Worte zu fassen. „Nehmen wir mal als Vergleich die Religion. Die Proxys wären sozusagen etwas Ähnliches wie Propheten, die göttliche Macht herbeiführen können, ohne selbst etwas Göttliches zu sein. Die untergeordneten Sefirot wie Delta, Johnny, Marcel und ich könnte man mit Engeln vergleichen, Liam und Eva mit Erzengeln und die großen Alten mit Gott. Und Ajin Gamur steht sogar noch über Gott, weil er den Anfang und das Ende aller Dinge verkörpert. Er hat keine Grenzen und deshalb gibt es nichts und niemanden, der gegen ihn eine Chance hätte. Die großen Alten sind die Einzigen, die ihn in seiner Entscheidung beeinflussen könnten und deshalb ist es immens gefährlich, sich mit ihnen anzulegen. Denn wenn sie die Zerstörung unserer Welt wollen, werden sie es entweder selbst tun, oder sie werden Ajin Gamur bitten, sich darum zu kümmern. Und wenn er für sich einen Grund sieht, uns alle zu töten, wird er es definitiv tun. Das kann schon alleine aus einer Laune heraus passieren, dass er das will. Deshalb möchte ich dich in aller Freundschaft bitten, davon abzusehen, Liam. Nazir ist zwar neutral, aber er wird es sich definitiv nicht gefallen lassen, wenn man unhöflich ihm gegenüber wird.“ „Pah“, sagte der Unvergängliche abschätzig und wirkte sichtlich verärgert. „Und was sollen wir dann tun? Ich würde schon gerne wissen, was das alles zu bedeuten hat und wieso ich mich an nichts erinnern kann, aber Eva anscheinend schon. Wahrscheinlich ist das ja wohl auch wieder der Grund, wieso sie schon wieder untergetaucht ist und ich sie nicht finden kann. Und wenn dieser Alpha-Proxy ebenfalls ein Unvergänglicher ist, dann Prost Mahlzeit. Irgendwie gefällt mir die ganze Sache nicht. Allein schon wenn ich das mit den großen Alten oder diesem Ajin Gamur höre, kommt mir die Galle hoch. Irgendwie lässt mich das Gefühl nicht los, als wäre hier eine ganz große Sache im Gang und dass vielleicht sogar noch mehr von der Sorte mit drin stecken. Und eines verrate ich euch: wenn die großen Alten oder wie die sich auch sonst nennen meinen, sie könnten sich alles erlauben und Gott spielen, dann wird es zappenduster. Ich lasse nicht zu, dass die hier noch mehr Unheil anrichten, als Eva eh schon angerichtet hat und wenn die es wagen sollten, Jeremiel auch nur ein Haar zu krümmen, dann ist es mir vollkommen egal, wie mächtig sie sind. Dann ist endgültig Schluss mit lustig.“ Kapitel 2: Lacie Dravis ----------------------- Schließlich kam Dathan zurück, der sich um Elion gekümmert hatte und konnte schon mal mitteilen, dass es ihm jetzt viel besser ging. Nastasja bedankte sich bei ihm für die Hilfe und sogleich nahm der Unvergängliche neben ihr Platz und wollte an der Gesprächsrunde teilnehmen. Inzwischen waren sie wieder zum Hauptthema zurückgekommen und Nastasja begann zu überlegen, was es mit der Fähigkeit des Alpha-Proxys auf sich hatte, dass er die niederen Proxys steuern konnte. „Wenn ich es mit einer Ferndiagnose versuchen müsste, würde ich glatt sagen, dass es sich vielleicht um eine Art biochemische Reaktion handelt, die durch die Stimme des Alpha-Proxys ausgelöst wird.“ „Eine Frequenz, die über den Hörnerv ans Hirn weitergeleitet wird und den Telencephalon temporär beeinträchtigt und von dort aus den Cerebrum mit dem des Alpha-Proxys synchronisiert, woraufhin dieser sich nach Belieben steuern lässt.“ „Könnte auch einer von euch beiden mal die Laiensprache verwenden?“ rief Ezra genervt, der überhaupt keine Ahnung hatte, was Liam und Nastasja gerade redeten. Da die beiden aber als Mediziner auch mit der Neurologie sehr gut vertraut waren, blieb es ja nicht aus, dass sie sich in ihrer Sprache unterhielten. Sogleich erklärte die Humanbiologin „Ich vermute, dass in der Stimme des Alpha-Proxys eine Art versteckter Ton enthalten ist, der bei Bedarf aktiviert wird. Wie du ja eigentlich in der Schule gelernt haben müsstest, nehmen wir über die Ohren den Schall auf und dieser wird bis zum Hörnerv weitergetragen und dort an unser Gehirn geleitet, wo er erst zu einem Ton verarbeitet wird. Alles, was wir wahrnehmen, löst eine Reaktion unseres Gehirns aus, ein biochemischer Prozess eben. Nicht anders verhält es sich mit unseren Emotionen. Alles wird über unser Gehirn gesteuert, aber unser Gehirn hat seine Grenzen. Es kann nicht zwischen Realität und Sinnestäuschung unterscheiden und auch nicht klar erkennen, was echt ist oder nur eine Halluzination. Und es ist bewiesen, dass bestimmte Frequenzen Einfluss auf unsere Psyche haben. Ich habe vor kurzem Rumikos Abhandlung über die Psychologie der Töne gelesen und war fasziniert von ihrer Arbeit. Es gibt Töne, die uns entspannen und welche, die uns aggressiv machen. Warum also sollte es nicht einen Ton geben, der ähnlich wie der einer Hundepfeife funktioniert? Er ist für normale Ohren nicht hörbar, lediglich für die Proxys und löst diese biochemische Reaktion im Großhirn aus.“ „Und wofür ist das Großhirn da?“ „Für unser bewusstes Denken. Vereinfacht ausgedrückt erledigt es die reine Kopfarbeit und das Kleinhirn hingegen regelt unsere Bewegungen. Da Proxys während des Prozesses nicht imstande sind, eigenständig zu denken und zu handeln, müsste das eigentlich heißen, dass die Stimme des Alpha-Proxys sozusagen das Großhirn hackt und die anderen Proxys auf diese Weise steuern kann. Um also zu gewährleisten, dass Elion gegen seine Kontrolle geschützt ist, müssten wir diesen biochemischen Mechanismus außer Kraft setzen. Klingt zwar so recht einfach, aber solange wir die nötige Frequenz nicht haben, wird es ungeheuer schwierig werden, den Mechanismus zu finden. Was wir bräuchten wäre also jemand, der etwas damit anzufangen weiß. Ich könnte mich zwar reinarbeiten, aber es würde zu lange dauern.“ „Dann rufen wir doch Rumiko an und fragen sie, ob sie uns helfen kann. Immerhin hat sie Musik und Psychologie studiert und keiner kennt sich mit Tönen besser aus als sie. Vielleicht findet sie ja die Frequenz.“ Da keiner einen besseren Vorschlag hatte, holte L den Laptop schaltete diesen ein und schloss sogleich die Webcam an. Danach schickte er Rumiko eine Nachricht und kurz darauf lief der Chat, wo er ihr den ganzen Sachverhalt erklärte. Im Krankenhaus herrschte dieser leichte und unverkennbare Geruch von Desinfektionsmitteln. An diesem so steril gehaltenen Ort konnte man sich nicht wirklich wohl fühlen und die ganze Zeit nur im Bett zu liegen, war auch nicht das Wahre. Doch Watari wusste, dass er nichts mehr ausrichten konnte. Seine Rolle war wahrscheinlich schon längst beendet und womöglich war der Herzinfarkt ja ein deutliches Zeichen, dass es jetzt an der Zeit war, Frederica die Nachfolge zu überlassen und sich hier in London zur Ruhe zu setzen. Die Aufregung vertrug er sowieso nicht mehr und er konnte auch nicht mehr viel tun. Er war alt und nicht mehr so agil wie früher und er hatte Frederica alles beigebracht, was sie wissen musste. Von nun an lag es an den anderen, den Kampf weiterzuführen. Er war eindeutig zu alt geworden für derlei Abenteuer, auch wenn das recht hart klang. Ein zaghaftes Klopfen an der Tür erweckte schließlich seine Aufmerksamkeit und er dachte zunächst, es wäre eine der Schwestern oder der Arzt, aber dann kam eine junge Frau herein. Sie hatte langes platinblondes Haar, ein sehr schönes Gesicht und wunderschöne glänzende Augen mit einer hellblauen Iris. „Guten Tag, darf ich stören?“ Der alte Mann rückte seine Brille zurecht und versuchte zu erkennen, wer diese Frau war, aber er konnte sie einfach nicht zuordnen. „Mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Ich bin es: Lacie Dravis“, erklärte sie und trat nun näher. „Ich dachte, ich komme dich mal besuchen. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als ich dich bei Alices Grab so liegen sah.“ „Stimmt. Du warst bei mir und hast den Notarzt angerufen. Ich muss mich wohl bedanken. Ohne dich wäre ich wohl jetzt tot.“ Die junge Frau lächelte schüchtern und holte aus ihrer Tasche eine Thermoskanne hervor. „Der Tee im Krankenhaus schmeckt fürchterlich und ich weiß ja, dass du gerne Earl Grey trinkst. Wie geht es dir denn?“ „Ich erhole mich langsam wieder, aber ich merke allmählich, dass ich alt werde. Mein Herz macht auch nicht mehr alles mit und ich denke, dass ich mich hier in England zur Ruhe setzen werde, um hier meinen Lebensabend zu verbringen. Ich möchte mich auch bei dir bedanken, dass du dich um das Grab meiner Tochter gekümmert hast. Es hätte sie sicherlich gefreut, dass jemand sie regelmäßig besuchen kommt. Ich hingegen war all die Jahre verhindert, weil ich mich um den Sohn einer verstorbenen Freundin kümmern musste, den sie mir kurz vor ihrem Tod anvertraut hat.“ Während Watari mit ihr sprach, beschäftigte ihn eine Frage: wie konnte diese Frau, die äußerlich nicht älter als 26 oder 27 Jahre alt sein konnte, so jung aussehen? Wenn sie eine gute Freundin von Alice gewesen war, dann musste sie doch deutlich älter sein. Eigentlich doch 52 Jahre. Und sogleich fragte er auch „Ich weiß, dass man einer Frau diese Frage nicht stellen darf, aber wie alt bist du eigentlich?“ „Was schätzt du?“ fragte sie geschickt und warf ihm einen verspielt herausfordernden Blick zu. „Eine Frau von Klasse verrät ihr Alter nicht, aber ich weiß mich eben durchaus jung zu halten. Aber es geht hier ja auch nicht um mich, sondern um dich, immerhin liegst du hier nach einem überstandenen Herzinfarkt. Wie lange musst du noch hier bleiben?“ „Eine Woche. Die Ärzte haben da offenbar noch eine Unregelmäßigkeit entdeckt und wollen mich erst mal noch ein paar Tage hier behalten. Und da ich ja auch schon in die Jahre gekommen bin, erholt man sich von solchen Dingen nicht mehr so schnell wie die jungen Leute.“ Verständnisvoll nickte Lacie und setzte sich schließlich auf einen Stuhl. „Hast du denn wenigstens jemanden? Nicht, dass du ganz alleine bist.“ „Ich habe ein paar alte Freunde von früher. Die Duncans sind zwar schon tot, genauso wie mein guter Freund Marcus Horatio, aber der alte McFinnigan ist noch da und so schnell wird er auch nicht von uns gehen. Ich glaube, der wird mich noch lange überleben, genauso wie der gute Charles Miltner. Und da ich weiß, dass mein Schützling in den besten Händen ist, kann ich auch mit gutem Gewissen in den Ruhestand gehen. Er braucht mich nicht mehr und das ist auch ganz gut so. Ich habe mein Bestes gegeben und auch wenn ich viele Fehler gemacht habe, habe ich wenigstens bei ihm etwas richtig gemacht, nachdem ich bei so vielen Menschen versagt habe. Meine Tochter habe ich in den Tod getrieben, genauso wie einen armen Jungen damals im Waisenhaus, weil ich ihm nicht geholfen habe. Und seinem Freund habe ich auch nicht geholfen. Ach, ich frage mich wirklich, wie ich nur so blind sein konnte. Das alles hätte wahrscheinlich gar nicht passieren müssen. Wenn ich von Anfang meiner Tochter zugehört hätte, dann hätte ich von ihren Problemen gewusst und ihr vielleicht helfen können. Und vielleicht hätte ich auch diesen schrecklichen Selbstmord im Waisenhaus damals verhindern können, wenn ich nicht meine Augen vor den Tatsachen verschlossen hätte.“ Tröstend legte Lacie ihm eine Hand auf die Schulter. „Watari, es wird alles wieder gut werden, das verspreche ich dir. Ich werde dafür sorgen, dass das alles bald endlich vorbei sein wird und dieser Alptraum ein Ende hat. Es wird auch nicht mehr lange dauern.“ „Was hast du vor? Was weißt du über den Alpha-Proxy und seine Ziele? Was hatte Alice mit ihm zu tun?“ Lacie wich seinem Blick aus und sagte nichts. Sie sah unglücklich aus und man konnte auch nicht sagen, was ihr in diesem Moment durch den Kopf ging. Dann aber stand sie auf, blickte aus dem Fenster und wirkte sehr nachdenklich. „Glaubst du an Gott?“ „Ich weiß nicht. Wieso stellst du mir diese Frage?“ Wieder schwieg sie einen Moment und während sie aus dem Fenster sah, in den grauverhangenen Himmel, da erinnerte sie ihn irgendwie an Alice. Es war derselbe melancholische Blick und für einen Moment hätte er wirklich gedacht, sie würde da stehen, aber dem war doch nicht so. „Ich dachte mir nur… wenn es einen Gott gibt, warum hasst er uns so sehr? Was haben wir getan, dass er uns all das antut? Vielleicht, weil wir ihm das genommen haben, was er so geliebt hat? Wer weiß… ich denke oft über so etwas nach. Ich meine, was würden die Menschen tun, wenn ihnen alles genommen wurde, was ihnen lieb ist? Wie würden sie reagieren? Kennst du die Novelle Michael Kohlhaas?“ „Ich hatte es in meiner Jugend gelesen.“ „Sie hat wirklich etwas sehr Tragisches an sich. Ich hatte großes Mitgefühl für den armen Mann, dem Unrecht widerfahren ist und er dann auch noch seine Frau verliert, obwohl er sich nur Gehör verschaffen wollte. Aber ich fand es so traurig, dass er an nichts anderes mehr denken konnte, als an Rache und er immer grausamer wurde, bis er schließlich hingerichtet wurde. Das regt einem schon zum Nachdenken an. Da habe ich den Roman Der Graf von Monte Christo erheblich bevorzugt. Denn da sieht Dantès wenigstens noch rechtzeitig ein, dass er zu weit gegangen ist und kann alles noch in Ordnung bringen, bevor es zu spät ist. Was glaubst du wohl, wer Gott wohl ist? Michael Kohlhaas, oder Edmond Dantès?“ Irgendwie verstand Watari nicht so ganz, was Lacie ihm damit sagen wollte. Warum antwortete sie nicht einfach auf seine Fragen, sondern begann gleich so etwas zu erzählen? Schließlich warf Lacie einen kurzen Blick auf ihre Uhr und wirkte überrascht. „Oh, schon so spät? Tut mir leid, Watari, aber ich muss jetzt los. Ich habe noch etwas sehr Wichtiges zu erledigen. Wenn Dathan und die anderen Jeremiel befreien wollen, werden sie auf jeden Fall Hilfe brauchen und da ich leider nicht viel Zeit habe, muss ich mich beeilen. Erhol dich gut und denk noch mal darüber nach, was dein Gott für eine Person ist.“ Damit verabschiedete sich die Blondhaarige und verließ das Zimmer. Offenbar hatte sie es sehr eilig. Watari sah ihr nach und überlegte, was das zu bedeuten hatte und ob Lacie auf irgendetwas hinaus wollte. Seit L sich mit der Sache beschäftigt hatte, schien es allzu deutlich zu sein, dass Lacie sie auf eine bestimmte Spur bringen wollte. Nicht umsonst hatte sie die anderen auf Dathans Spur gebracht, da steckte vermutlich mehr dahinter. Wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte, hatte Lacie ihm vermutlich einen versteckten Hinweis geben wollen. Michael Kohlhaas… Edmond Dantès… beides Männer, denen Unrecht widerfahren war und daraufhin einen Rachfeldzug starteten. Konnte das etwa das Motiv des Alpha-Proxys sein? Rache? Es war wohl besser, wenn er L anrief und ihm von dem Besuch erzählte. Also holte er sein Handy hervor und wählte die Nummer. Nach einer Weile ging L ran und fragte „Watari, ist irgendetwas passiert?“ „Es ist nichts Ernstes“, beruhigte ihn der 74-jährige, da er sofort die besorgte Stimme hörte. „Ich hatte nur vorhin einen Besuch von Lacie. Sie hat da etwas angedeutet, was dir und den anderen vielleicht weiterhelfen könnte.“ Und damit schilderte er den Verlauf des Gesprächs und ihre merkwürdigen Andeutungen. Und auch L war neugierig und sagte schließlich „Ja, da könnte durchaus etwas dran sein. Aber so ganz verstehe ich es noch nicht, was diese Gottesanspielungen bedeuten sollen. Stellt sich mir allerdings die Frage: wenn das Motiv des Alpha-Proxys Rache ist, wieso hat er Alice umgebracht und wollte auch Sie töten? Ich werde auf jeden Fall weiter dran bleiben. Momentan versuchen wir einen Weg zu finden, um Elion vor dem Einfluss des Alpha-Proxys zu schützen. Erholen Sie sich gut, Watari und versprechen Sie mir, dass Sie ja wieder gesund werden.“ „Ich werde mein Bestes geben“, versicherte der alte Mann und lächelte. „L, ich möchte, dass du eines weißt: ich wollte dir und den anderen nie etwas Böses. Alles was ich wollte war, dich zu beschützen und dir zu helfen, deine Fähigkeiten zu einem guten Zweck einzusetzen.“ Es war das allererste Mal, dass Watari ihn duzte und eine Weile schwieg L am anderen Ende der Leitung. Er schien zu ahnen, was seinem Mentor durch den Kopf ging und schließlich hörte man ihn leise seufzen. „Watari, ich habe Ihnen nie einen Vorwurf gemacht und würde Ihnen auch nie einen machen. Ich weiß doch, was Sie für mich getan haben und ich werde Ihnen auch immer dafür dankbar sein. Für mich sind Sie all die Jahre ein Vater, Großvater, Mentor und Freund gewesen und das werden Sie auch… Ja Beyond, du kannst meinetwegen ruhig demonstrativ die Augen verdrehen. Watari, Sie haben so viel aufgegeben, um mich vor Dr. Brown zu beschützen und das werde ich Ihnen nie vergessen. Das ist mein Ernst. Entschuldigen Sie mich bitte, aber gerade ist hier ein gewisses Durcheinander.“ „Schon in Ordnung. Jeremiels Rettung hat absoluten Vorrang und ich bin ja außer Lebensgefahr. Es kann aber sein, dass Lacie vorbeikommt, weil sie euch offenbar helfen will. Ich wünsche noch viel Glück bei der Suche.“ Damit war das Gespräch beendet und so legte Watari sein Handy wieder zurück. Als er wieder alleine in seinem Zimmer war und Ruhe eingekehrt war, dachte er nach. Wie hing das alles bloß miteinander zusammen und was für eine Rolle spielte Lacie bei der ganzen Sache? Kannte sie den Alpha-Proxy? Wusste sie über seine Pläne Bescheid und wollte auf eigene Faust etwas dagegen unternehmen? Aus seiner Manteltasche holte er ein Medaillon heraus und öffnete es. Darin befanden sich ein Foto von seiner Frau Teresa und seiner Tochter Alice. „Alice, warum nur hast du dich auf diese ganze Sache eingelassen, anstatt mit mir darüber zu reden?“ L hatte die anderen über das Gespräch mit Watari in Kenntnis gesetzt und wollte auch sogleich von Beyond wissen, wie das Gespräch mit Rumiko verlaufen war. „Sie wird nach der Frequenz suchen, allerdings könnte das etwas dauern und sie muss auf jeden Fall mit Elion sprechen, da er der Einzige ist, der auf diese Frequenz reagiert. Bis dahin können wir uns ja mal überlegen, was diese komische Lacie Dravis im Schilde führt und wieso sie bei Watari im Krankenhaus auf der Matte steht. Also ich finde das mehr als merkwürdig.“ „So merkwürdig ist das nicht“, erklärte L. „Immerhin hat sie Watari und Frederica gefunden und den Notarzt verständigt.“ Aber Beyond blieb dabei, dass das irgendwie doch ziemlich merkwürdig war. So viele Zufälle auf einem Haufen waren nicht normal und ihn ließ einfach das Gefühl nicht los, als würde da mehr dahinterstecken. Es war doch mehr als seltsam, dass Lacie sich nie persönlich bei ihnen blicken ließ und nie Klartext redete, sondern immer Andeutungen machte. Gezielte Andeutungen, wie auch schon Watari festgestellt hatte. Während er bei einem Glas Erdbeermarmelade nachdachte, wandte er sich an Dathan, der gerade etwas aufschrieb. Lacie hatte sie zu ihm geführt und wie sich herausstellte, nicht grundlos. Er war ein Unvergänglicher und hatte Verbindungen zu Alice Wammy, immerhin hatte er sie damals aus dem brennenden Restaurant gerettet und war danach ihr Patient im Krankenhaus gewesen. Und nun stellte sich heraus, dass er die Schöpfung des Unborns war, der im Körper des Alpha-Proxys lebte. Und als er so darüber nachdachte, begann er sich eine Frage zu stellen, die gar nicht mal unberechtigt war. Wer war denn die treibende Kraft hinter Projekt AIN Soph? Der Alpha-Proxy oder der Unborn? Fakt war ja, dass der Unborn nur dann vollständig von einem Körper Besitz ergreifen konnte, wenn er in den Körper eines Embryos gepflanzt wurde. Und das am besten so früh wie möglich, denn bei Elion hätte es als Einziger fast geklappt, wenn nicht Nastasja dazwischengefunkt wäre und er nicht so eine unerschütterliche Friedfertigkeit besessen hätte. Bei allen anderen hatte es nicht richtig funktioniert und soweit er wusste, war der Unborn somit nicht in der Lage, vollständig Besitz vom Alpha-Proxy zu ergreifen. Stattdessen übertrug dieser den Unborn auf Ungeborene, um sie zu infizieren und dem Unvergänglichen einen Körper zu geben. Nun fragte sich, wer wohl wem half. Vor allem aber wäre interessant zu wissen, wieso es diesem Unvergänglichen so schwer fiel, auf normale Weise Besitz von einem Körper zu ergreifen und wieso er diesen Aufwand nötig hatte. Offenbar war er ganz anders als Liam und Eva, denn die hatten keinerlei Probleme damit und wie es mit Dathan aussah, konnte er nicht sagen, weil er ja immer wieder im selben Körper aufwachte und seine Erinnerungen verlor, wenn er starb. Konnte es sein, dass dieser Unvergängliche anders war als die anderen? Was, wenn er kein normaler Unvergänglicher war? Tja, aber wie sollten sie das herausfinden? Das war eine gute Frage. Vor allem aber würde es Beyond interessieren, wie Joseph Brown in Kontakt mit diesem Unvergänglichen kam und wieso er ihm unbedingt helfen wollte. Immerhin hatte dieser nicht gerade die besten Absichten. Wenn den Serienmörder nicht alles täuschte, dann hatte der Unborn doch vor, alle Unvergänglichen in sich aufzunehmen und alles Vergängliche auszulöschen, was also bedeutete, wirklich alles zu vernichten, um dann Ain Soph wieder zurückzuholen. Doch wie Elion von Nazir erfahren hatte, würde das nichts bringen, denn alles, was zerstört wurde, ging automatisch ins Nichts und wurde damit wieder zu einem Teil von Ajin Gamur. Demnach also war das ganze Projekt vollkommen hirnrissig, weil nach der Zerstörung der vergänglichen Welt nichts mehr übrig blieb und Ain Soph offenbar nie wieder zurückkehren würde. Ob der Unborn sich dessen gar nicht im Klaren war? Wer weiß. Womöglich wollte er es trotzdem versuchen, oder er wollte es einfach nicht wahrhaben. Aber was für eine Rolle spielte Jeremiel bei der Sache? Irgendwie wurde der BB-Mörder das Gefühl nicht los, dass L’s Zwillingsbruder nicht grundlos entführt wurde. Immerhin hatte dieser doch keine Proxy-Kräfte und war demnach vollkommen uninteressant. Trotzdem hatte man ihn manipuliert und entführt, was nur einen Schluss zuließ: der Alpha-Proxy oder besser gesagt der Unborn hatte etwas ganz Bestimmtes mit ihm vor. Womöglich war er ja der Einzige, von dem er wirklich Besitz ergreifen konnte, nachdem es bei Elion erfolglos geblieben war. Also musste Jeremiel etwas haben, was die anderen nicht besaßen. Oder aber… und hier begann Beyond eine ganz verrückte Idee zu sinnen. Was, wenn es um Liam ging? Es war doch merkwürdig, dass dieser sich gar nicht an irgendwelche Unvergänglichen erinnern konnte, aber Eva vermutlich schon. Wenn seine Erinnerungen absichtlich gelöscht wurden und selbst dieser Nazir darüber schweigt, musste Liam doch eigentlich Verbindungen zu dem Unvergänglichen haben, der in diesem Unborn lebt. Zumindest wäre das doch eine logische Erklärung dafür. Kapitel 3: Ein kleiner Hinweis ------------------------------ Wie ein melancholisches Trauerlied hallte die Stimme durch die kahlen und durch Neonröhren beleuchteten Gänge und klang schön und schaurig zugleich, ohne dass sich jemand den Grund dafür erklären konnte. Es war eine Melodie, die viele von ihnen kannten und die des Öfteren ertönte. Auch James verband viele Erinnerungen mit dieser Melodie. Aber diese waren ihm egal und ihn interessierte es auch nicht. Für ihn zählten einzig und allein Resultate und als er in die Gefangenenzelle ging, erfüllte ihn schon fast eine gewisse Genugtuung, als er Jeremiel da sitzen sah, mit einem leeren und nichts sagenden Blick. Eine leblose Puppe, mehr nicht und das geschah diesem Dreckskerl ganz recht, nachdem dieser die Unverschämtheit besessen hatte, ihn in den Arm zu schießen. „So mein Freund, jetzt läufst du mir nicht mehr so schnell davon. Du und deine Freunde haben mir oft genug Probleme bereitet und nun gehörst du endlich mir. Mal sehen, wer dich jetzt noch retten kommt.“ Damit wollte James ihn schon am Kragen packen, aber da hörte er auch schon eine Stimme und hielt abrupt inne. „James, lass deine Finger von ihm. Er ist keines von deinen Spielzeugen.“ Fast schon erschrocken zuckte er beim Klang dieser Stimme zusammen und drehte sich um. Und tatsächlich stand sie vor ihm. Der Alpha-Proxy oder besser gesagt die „Mutter“, wie sie von allen im Institut genannt wurde. Dabei handelte es sich nicht um ein Verwandtschaftsverhältnis, sondern mehr um eine Art Titel. „Entschuldige bitte, ich dachte nur, ich sollte auch ihn disziplinieren.“ „So wie du es geschafft hast, 01, 02 und 07 zu disziplinieren? Seien wir doch mal ehrlich, James. Du bist eine einzige Enttäuschung und mehr nicht. Du hast auf ganzer Linie versagt und nichts als Ärger gemacht. Wirklich alles hast du bis jetzt vermasselt und deine Alleingänge sind mir schon seit langem ein Dorn im Auge. Glaubst du etwa, ich würde nicht mitkriegen, dass du deine Machtpositionen für deine Spielchen ausnutzt? Dachtest du allen Ernstes, ich wüsste nicht, was du mit Elion gemacht hast?“ „Aber Mutter, du hast doch gesagt, ich solle ihn auf die richtige…“ Ein brutaler Faustschlag traf den Neurologen ins Gesicht und riss ihn von den Füßen. Als er am Boden lag und wieder aufstehen wollte, rammte der Alpha-Proxy ihm seinen Absatz in den Brustkorb. „Deine Ausreden habe ich langsam wirklich satt. Der einzige Grund, warum ich dich zurückgeholt habe, war der, weil ich dir noch eine allerletzte Chance geben wollte, dich zu beweisen und dass du es würdig bist, nach deinem Vater Projekt AIN SOPH weiterzuleiten. Aber so wie es aussieht, kriegst du nicht einmal das richtig hin. Du widerst mich einfach an mit deinen abartigen Vorlieben. Genauso wie der ganze Rest von euch.“ „Ne-nein bitte. Mutter, gib mir noch eine Chance. Ich werde dir beweisen, dass ich fähig bin.“ „Du willst es einfach nicht kapieren, oder? Es war deine Chance und du hast sie verspielt. Ich habe keine Lust, mich mit so unfähigen Nichtsnutzen wie dir herumzuärgern. Glaubst du etwa, ich hab nicht mitgekriegt, was du und deine Kollegen hinter meinem Rücken mit den Proxys getrieben habt und hattest du allen Ernstes geglaubt, du könntest dir alles erlauben, nur weil Joseph dein Vater war? Wenn ich dich nicht für die Fertigstellung von 06-V-02-A und 06-V-02-B gebraucht hätte, dann hätte ich dich auch gar nicht wieder zurückgeholt. Aber da die beiden fertig sind und ich jetzt im Besitz von 08 bin, hast du deine Rolle zu Ende gespielt und ich habe keine Verwendung mehr für dich.“ James ahnte, dass ihm noch schlimmes bevorstand und er bekam es mit der Angst zu tun. Dass der Alpha-Proxy nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen war, wusste er ja ohnehin schon, aber dass dieser ihn jetzt töten wollte, konnte doch nicht sein Ernst sein! Nach all den Bemühungen der letzten Jahre? Das war doch wohl ein schlechter Scherz. „Mutter… ich kann es besser machen. Ich schwöre es.“ „Nein“, sagte der Alpha-Proxy und zog sein Schwert. „Ich brauche dich jetzt nicht mehr. Deine Rolle ist nun zu Ende gespielt und ich habe dich sowieso noch nie leiden können. Menschen wie du sind der Grund, warum es sie besser nicht geben sollte. Und deshalb werde ich das machen, was ich eigentlich schon längst hätte tun sollen, seit dein Vater mich nicht mehr daran hindern kann!“ Und damit schlug der Alpha-Proxy mit der Klinge zu. Mit einem sauberen Hieb riss die Klinge eine tiefe Wunde in die Brust des Wehrlosen und Blut floss. Laut schrie der Neurologe auf und presste eine Hand auf die blutende Wunde. „Menschen wie du kotzen mich an“, sagte seine Angreiferin mit einer hasserfüllten Stimme und funkelte ihn mit Augen an, die nichts als Zorn und Verachtung beherbergten. „Glaub ja nicht, dass ich dich so schnell sterben lasse, du Parasit. Für deine diversen Fehltritte wirst du noch sehr teuer bezahlen, das verspreche ich dir.“ Damit trat sie James mit ihrem Absatz ins Gesicht und rammte ihm die Spitze ihres Schwertes ins linke Auge. James’ Schreie erfüllten den ganzen Raum, doch Jeremiel sah dies alles vollkommen resigniert mit an und wirkte gänzlich teilnahmslos. Er starrte ausdruckslos ins Leere und sagte rein gar nichts. Man hätte ihn wirklich für eine leblose Puppe halten können. Dann aber wandte sich der Alpha-Proxy ihm zu und strich ihm schon fast zärtlich durchs Haar. „Ruh dich aus. Es wird noch ein sehr anstrengender Prozess für dich werden. Und schon bald wirst du endlich erwachen, Elohim. Dann werde ich mein Versprechen einlösen und dich aus der Verbannung zurückholen. Nicht mehr lange und wir werden beide unsere Rache bekommen.“ Damit wandte sie sich um und verließ die Zelle, wobei sie sich an einem vom Sicherheitspersonal wandte. „Räum das mal auf“, sagte sie nur und wies mit ihrem blutgetränkten Schwert auf den schwer verletzten Wissenschaftler, der blutend und vor Schmerz stöhnend auf dem Boden lag. „Gebt ihm 06-V02-A, sie soll sich mit ihm austoben. Dafür, dass sie ihren ersten Einsatz mit Bravour gemeistert hat, hat sie sich dieses kleine Spielzeug hier als Belohnung mehr als verdient.“ Damit verschwand der Alpha-Proxy und kümmerte sich nicht weiter um James. Insgeheim bereute sie es zutiefst, dass sie James nicht schon viel früher getötet hatte. Aber irgendjemand musste ja die Drecksarbeit erledigen. Wenn sie geahnt hätte, wie viel Ärger dieser widerliche Psychopath verursachen würde, dann hätte sie sich vermutlich jemand anderen gesucht, der die Heranzüchtung der Proxys, sowie die Experimentreihe übernehmen würde. Wirklich alles musste man selber machen. Aber zum Glück hatte sie jetzt Jeremiel und damit würde es ohnehin nicht mehr lange dauern, bis sie endlich am Ziel war. Jetzt galt es nur noch, diese verdammte Nervensäge Lacie ein für alle Male zum Schweigen zu bringen, bevor sie sich noch weiter einmischte. Inzwischen hatten sich Nastasja und die anderen soweit besprochen und überlegten nun, was als nächstes zu tun war. Solange Rumiko noch nach der Frequenz suchte, mit welcher der Alpha-Proxy die anderen steuern konnte, wollten sie sich eine Strategie überlegen, mit dem sie ihre Angreifer aus dem Versteck locken konnten. Denn aus irgendeinem Grund war es weder Liam, noch Frederica möglich, ihn aufzuspüren, was nach ihrer Theorie daran lag, dass seine Präsenz von jemandem verschleiert wurde. Und wer käme außer dem Alpha-Proxy denn sonst in Betracht? Tja, ihre Aussichten waren nicht die besten und der Einzige, der in der Lage gewesen wäre, die Proxys aufzuspüren, war Jeremiel und der war weg. Die einzige Idee wäre, dass sie Elion benutzen würden, doch solange er noch eine Gefahr darstellte, ging das leider nicht. Und blindlings zu suchen, war auch kaum eine Alternative. Das würde auch nicht viel bringen. Was also sollten sie tun? Tja, das war nicht gerade einfach. Auch Liam war nicht gerade sicher, was sie tun sollten, doch da klingelte es plötzlich an der Tür. Dathan stand auf und ging hin, da er wohl dachte, dass es vielleicht der Pfarrer war, der nach dem Rechten sehen wollte. Doch als er die Tür öffnete, sah er niemanden und fand nur etwas auf der Türmatte liegen. Nämlich etwas Längliches, das in Paketpapier eingewickelt war. Ein Briefumschlag lag dabei und die Handschrift erkannte er sofort als die von Lacie wieder. Merkwürdig, hatte sie das gerade eben auf der Türschwelle abgelegt? Aber warum war sie denn wieder abgehauen, ohne wenigstens Hallo zu sagen? Das passte doch gar nicht zu ihr. Normalerweise blieb sie doch immer auf eine Tasse Tee war und brachte ihm Bücher zum Lesen mit, oder lieh sich selbst welche aus, die sie selbst noch nicht gelesen hatte. Eigentlich waren sie sehr gute Freunde, aber auf einmal wollte sie nicht mal da bleiben, um ihn wenigstens zu grüßen. Das war schon sehr merkwürdig. Nun, vielleicht hatte sie es eilig, oder sie steckte gerade in Schwierigkeiten. Das konnte ja auch möglich sein. Also nahm Dathan das etwas seltsame „Paket“ mit und ging wieder zu den anderen zurück. Auch die waren mehr als verwundert und sogleich fragte auch schon Beyond „Was hast du denn da?“ „Das hat Lacie mir vor die Tür gelegt und sie ist gleich sofort wieder abgehauen. Aber ich hab echt keine Ahnung, was das sein soll.“ „Womöglich ist es ein Hattori Hanzo Schwert“, witzelte Sheol breit grinsend, dessen Kommentar unbeantwortet blieb, denn diesem schenkte keiner von ihnen wirklich Beachtung. Dathan begann nun sein „Paket“ zu öffnen und fand tatsächlich ein Schwert. Und es war nicht irgendein Schwert, sondern exakt das Gleiche, welches er benutzt hatte, um den Unborn in Fredericas Körper zu zerstören. Es besaß sogar die gleiche transparente Klinge. Nun verstand Dathan überhaupt nichts mehr. Dieses Schwert existierte also tatsächlich? Aber warum schickte Lacie es ihm? „Was zum…“ Beyond sah sich das näher an, sah aber genauso verwirrt aus und fragte „Ist das eine Glasklinge?“ Sofort betastete er die Klinge, stellte aber fest, dass es kein Glas war, sondern irgendein anderes Material. Aber Kunststoff war es auch nicht. Es fühlte sich einfach wie Metall an. Da Dathan selbst keine Ahnung hatte, was gerade ablief, öffnete er den Brief, den Lacie ihm hinterlassen hatte. Viel stand da aber nicht geschrieben. „Dieses Schwert ist dein rechtmäßiges Eigentum und wurde lange Zeit sicher verwahrt für den Tag, an dem du es gebrauchen wirst. Nun ist die Zeit gekommen und es wird dir mit Sicherheit noch gute Dienste leisten. Tut mir leid, dass ich nicht länger geblieben bin, aber mir bleibt nicht viel Zeit. Wenn ihr mehr erfahren wollt, dann geht am besten zum Anfang deiner jetzigen Geschichte zurück. Viel Glück Lacie Dravis.“ „Toll, sie lässt ein Glasschwert zurück und sagt ein paar Worte, aber wir wissen immer noch nicht, was wir jetzt machen sollen“, rief Sheol genervt und setzte sich wieder hin. Ezra sagte nichts, er konnte bei der ganzen Sache sowieso nicht mitreden und hatte keine Ahnung, was hier so alles abging. Für ihn war das schon ein wenig zu hoch. Schließlich aber nahm Liam das Schwert und sah es sich genauer an. „Das ist keine normale Waffe“, sagte er und deutete auf eine Gravur, die sich auf dem Griff des Schwertes befand. „So ein Schwert habe ich auch, allerdings ist es anders. Es ist keines, das von Menschen geschmiedet und auch nicht aus den Metallen geschaffen wurde, welche man in dieser Welt findet. Vermutlich gibt es noch mehr solcher Waffen, die von Unvergänglichen benutzt werden. Delta, Marcel und Johnny haben kein solches Schwert, was aber auch daran liegt, weil sie diese Welt noch nie verlassen haben. Wenn es stimmt und es außer mir und Eva noch eine Großzahl anderer Unvergänglicher gibt, dann müssen auch noch mehr von diesen Waffen existieren. Und so wie es aussieht, will unsere geheimnisvolle Helferin, dass Dathan es benutzt. Vermutlich gegen den Unborn oder dem Alpha-Proxy.“ Schön und gut, dachte Beyond und war noch nicht so hundertprozentig sicher, was diese Aktion sollte und wie Lacie darauf kam, dass ausgerechnet Dathan kämpfen sollte. Und außerdem war es doch mehr als seltsam, dass sie sich nicht vor ihnen blicken ließ, sondern gleich wieder abhaute. Und was meinte sie damit, dass sie dort hingehen sollten, wo Dathans jetzige Geschichte angefangen hatte? Wann hatte sie angefangen? Das war doch vor zwei Jahren, als Lacie ihn versehentlich über den Haufen gefahren und dann zum Pfarrer gebracht hatte. Dann konnte das nur eines bedeuten: dieser verdammte Pfaffe wusste mehr, als er zugegeben hatte und von ihm konnten sie die Antworten bekommen. Also wandte er sich L zu. „Ich glaube, wir sollten diesem Pfarrer in Greenwich aufsuchen. Immerhin scheint er Dathan zu kennen und mehr darüber zu wissen.“ Der Meinung war L genauso, allerdings sorgte er sich auch ein Stück weit darum, dass die Proxys während ihrer Abwesenheit versuchen könnten, Elion zu entführen, oder dass er ausbrechen könnte, wenn der Alpha-Proxy ihn rief. „Ein paar von uns sollten hier bleiben.“ „Ich bleibe hier“, meldete sich Frederica. „Mit den Proxys werde ich schon fertig und ich denke, es wäre das Beste, wenn auch Ezra und Sheol hier bleiben und dann vielleicht mit jemandem weggehen können, der auf sie aufpassen kann. Nastasja, wäre es in Ordnung, dass du auch hier bleibst? Dann würden Beyond, L, Dathan und Liam zum Pfarrer gehen.“ Mit dem Vorschlag waren sie einverstanden und so machten sie sich fertig zum Aufbruch. Draußen herrschte ein schneidender Wind und es schneite auch. Aus reiner Gewohnheit hätte Dathan beinahe seinen Mundschutz wieder angelegt, bis er dann aber wieder realisierte, dass er ihn gar nicht mehr brauchte. Etwas beschämt lächelte er und murmelte „Irgendwie fällt mir das immer noch ziemlich schwer, mich selbst im Spiegel zu erkennen.“ Nastasja legte einen Arm um ihn und wirkte irgendwie nachdenklich. Ihre Stimmung war schon die ganze Zeit ziemlich gedämpft. Und das merkte er sofort, woraufhin er sie nach einem schüchternen Zögern direkt ansah und dabei rot um die Wangen wurde. „Wi-wir finden Jeremiel schon. Da m-mach dir k-keine Sorgen. Wenn wir die Proxys finden, dann finden wir auch sicherlich ihn.“ „Das weiß ich. Aber… ich bin nun mal seine Mutter. All die Jahre war ich nicht für ihn da und nun das. Ich hab einfach Angst, dass er nie wieder er selbst sein wird und es zu spät sein wird, wenn wir ihn finden. Er ist doch mein Sohn.“ „Ich werde alles tun, um euch zu helfen. Versprochen.“ Damit verabschiedete er sich von ihm und ging mit Liam, L und Beyond (von denen die letzten beiden mal wieder wegen irgendetwas am Zanken waren) nach draußen. Da es bis nach Greenwich zu weit war, um dorthin zu laufen, fuhren sie in Dathans Wagen hin und gerieten auch recht schnell ins Verkehrschaos. So verzögerte sich alles erheblich und die Zeit nutzte Liam, um nachzuhaken. „Wer genau ist dieser Pfarrer eigentlich?“ „Reverend Kings? Nun, er ist ein wirklich freundlicher Mann, der immer einen guten Rat weiß. Aber er kann auch ein klein wenig eigen sein, wenn er will. Er ist zudem Kettenraucher hat irgendwie einen ziemlichen Spaß daran, den Küster durch die Gegend zu scheuchen. Das mit den beiden schon ein wenig merkwürdig. Naja, er ist noch recht jung für einen Pfarrer, wahrscheinlich so um die 30 oder 35 Jahre, aber er macht einen guten Job und er ist ziemlich beliebt in London. Als ich mit einer Amnesie aufgewacht bin, hat er sich gut um mich gekümmert und er schaut hin und wieder mal bei mir vorbei, wenn etwas ist. Man kann ihm aber wirklich vertrauen.“ Doch Beyond war da nicht so wirklich überzeugt, denn er war nun mal ein Mensch, der anderen grundsätzlich misstraute und sowieso nicht gerade eine hohe Meinung von anderen Leuten hatte. Zwar hatte er seine radikal mistanthropische Seite mit der Zeit langsam abgelegt und war ein klein wenig sozialer geworden, aber es hielt sich deutlich in Grenzen. Für Fremde hatte er einfach keine Sympathien übrig und seine Familie war da die Einzige, die er an sich ranließ. Kein Vergleich zu dem Beyond, der er vor seiner Begegnung mit L gewesen war, aber bei ihm konnte man ohnehin keine Wunder erwarten. Und L war ja schon damit zufrieden, dass er zumindest ein kleines bisschen aufgeschlossener geworden war. Auch wenn es sich immer noch im Bereich des Mindestmaßes bewegte. Aber wenn L mal ganz ehrlich war, dann war Beyond ihm als solcher Mensch deutlich lieber. Ansonsten wäre er einfach nicht er selbst. Die Veränderung hatte ihm aber trotzdem gut getan und L war auch froh, dass Beyond nicht mehr ganz so aggressiv und feindselig war. Es reichte ja schon, wenn er mit Liam seine Probleme hatte. Und was Dathan betraf, so wusste er noch nicht, wie er ihn eigentlich einzuschätzen hatte. Zwar schien er ganz anständig zu sein, aber ihm missfiel einfach der Gedanke, dass keiner etwas über ihn wusste (nicht mal er selbst) und das war ja schon störend. Vor allem aber, weil dieser Typ mit Nastasja zusammen war. Nicht, dass L ihr dieses Glück nicht gönnte, aber es fiel ihm einfach schwer sich das vorzustellen, dass seine Mutter vielleicht mal einen anderen Kerl heiraten würde. Und im Grunde hatte Beyond ja Recht: Dathan würde sein Stiefvater werden und daran wollte er lieber nicht denken. Irgendwie konnte er sich einfach keinen anderen Mann an der Seite seiner Mutter vorstellen, als seinen Vater. Und als er ihr das mal gesagt hatte, da hatte sie ihm nur eine Hand auf die Schulter gelegt, den Kopf geschüttelt und gesagt „L, werde langsam mal erwachsen...“ Vielleicht hatte sie ja Recht, oder aber sie konnte es einfach nicht sein lassen, ihn wie ein kleines Kind zu behandeln. Und das hatte er nun wirklich nicht nötig. Aber was sollte er denn machen? Nach zwanzig Jahren hatte er seine Mutter wieder und dann war sie gerade mal fünf Jahre älter als er. Sie konnte seine große Schwester sein, aber nie im Leben seine Mutter. Es war ja allein schon der Gedanke daran unglaublich genug. Wenn er so nachdachte, bevor die ganze Sache angefangen hatte... da war er ganz alleine und hatte nur Watari. Und jetzt hatte er Beyond, zwei Adoptivbrüder, einen älteren Zwillingsbruder, eine Mutter die in die Zukunft gereist war und eine Art Pflegebruder, da Elion ja nicht adoptiert worden war. Tja, dann gab es noch Beyonds Seite der Familie (nämlich die Millers) und unfreiwilligerweise Liam, der hoffentlich niemals sein Schwager werden würde. Zwar war er ihm wirklich dankbar für die Hilfe bei der Suche nach Jeremiel, aber er mochte diesen Kerl einfach nicht und das beruhte auch auf Gegenseitigkeit. Erstens war der Kerl in seinen Augen kalt wie ein Eisblock, zweitens hatte er nicht gerade das, was man einen vertrauenswürdigen und freundlichen Charakter nennen konnte und drittens war der Kerl verdammt noch mal Mafiaboss und das trug auch nicht dazu bei, dass man ihm vertrauen konnte. In L’s Augen war Liam ein finsterer Kerl, dominant, rücksichtslos, eiskalt, skrupellos und zwielichtig. Nun, es mochte auch daran liegen, weil er Evas menschliche Wiedergeburt war, dass er und Liam sich nicht so grün waren. Womöglich aber hing es auch ein Stück weit damit zusammen, weil L irgendwie das Gefühl hatte, er müsste seinen Bruder beschützen. Insbesondere vor so einem zwielichtigen Kerl wie ihm. Aber in dieser Situation musste er sich eben mit ihm arrangieren und im Grunde war Liam wahrscheinlich auch der Einzige, der sie vor den Proxys beschützen konnte. Und wenigstens konnte sich L darauf verlassen, dass dieser wirklich alles daran setzen würde, um Jeremiel zu befreien. Kapitel 4: Eva gegen alle ------------------------- Als sie die Kirche St. Michael erreicht hatten und schon aussteigen wollten, da hielt Liam plötzlich inne und seine Miene verfinsterte sich. „Was ist?“ fragte L und auch die anderen blieben sitzen, denn zuerst dachten sie, er würde vielleicht die Anwesenheit der Proxys wahrnehmen. Doch dann stieg er wortlos aus dem Wagen aus und ging einfach los. Ohne großartig nachzufragen, folgten ihm die anderen und sahen auch sofort, was es mit seinem merkwürdigen Verhalten auf sich hatte: es war Evas Präsenz, die er wahrgenommen hatte. Die weißhaarige Frau mit den strahlend blauen Augen und dem goldenen Ring in der linken Iris schien offenbar schon gewartet zu haben und wirkte ein wenig unruhig. Außerdem sahen sie sofort, dass ihre rechte Hand bandagiert war. Sie kam ihm entgegen und sank sogleich zusammen, da seine Gegenwart sie wohl irgendwie einzuschüchtern schien. „Hallo Bruderherz“, grüßte sie ihn und wich schuldbewusst seinem Blick aus, der von Kälte und Härte zeugte. „Ist ja mal nett, dass du dich auch wieder mal blicken lässt, Eva. Weißt du eigentlich schon, dass die Proxys Jeremiel entführt haben und er wieder zu Sam Leens geworden ist, nachdem er selber zu einem Proxy geworden ist? Wo warst du überhaupt die ganze Zeit?“ „Ich hatte einige Dinge zu erledigen“, erklärte sie und wirkte irgendwie eingeschüchtert. Sie bot schon ein ziemlich trauriges Bild und man hätte die beiden genauso gut für ein Ehepaar halten können, in welchem der Mann mit Gewalt den Ton angibt und Eva im Grunde die unterdrückte und tyrannisierte Ehefrau war. „Schön, wenn du Dinge zu erledigen hattest, die wichtiger waren, als deine eigene Familie“, bemerkte der Unvergängliche kalt und verschränkte die Arme. Da er mit seinen knapp zwei Metern Größe eh schon eine furchteinflößende Erscheinung war, wirkte er nun noch gefährlicher und bedrohlicher als ohnehin schon. „Du hast schon so viele Menschen geopfert, um deine Familie zurückzuholen und letzten Endes haust du einfach wieder ab und überlässt sie dieser Gefahr. Wie verantwortungslos kann man bloß sein?“ „Du verstehst das nicht“, versuchte sie zu erklären und wirkte dabei nur noch verschüchterter als ohnehin schon. Sie war auch ziemlich kleinlaut geworden. „Ich habe meine Familie doch gar nicht im Stich gelassen. Es gab nur ein paar Dinge, die ich tun musste.“ „Und was bitteschön?“ „Das kann ich nicht sagen. Wirklich nicht.“ Nun wurde es Liam langsam genug. Ihm platzte so langsam der Kragen, denn seine Geduld mit Eva war ohnehin schon sehr knapp begrenzt. Aber dass sie jetzt auch noch nicht mal eine vernünftige Entschuldigung parat hatte, dass sie einfach verschwunden war und nicht einmal Jeremiels Entführung verhindert hatte, reichte ihm nun endgültig. Er packte sie am Kragen und funkelte sie hasserfüllt an. „So langsam reicht mir deine Geheimniskrämerei. Du bist mir ohnehin noch ein paar Antworten schuldig. Nämlich zum Beispiel auf die Frage, wie es sein kann, dass ich überhaupt nicht wusste, dass es außer uns noch andere Unvergängliche gibt und wieso ich mich an nichts erinnern kann. Wieso hast du mir das all die Jahre verschwiegen und mich in dem Glauben gelassen, wir beiden wären die Einzigen?“ Eva wirkte ziemlich unglücklich und man hätte echt meinen können, sie würde gleich in Tränen ausbrechen, aber sie tat es nicht. Und als Dathan sie so sah, musste er sich an Alice erinnern. Sie hatte genau denselben verzweifelten und hoffnungslosen Blick… als hätte sie sich selbst längst aufgegeben. Doch Liam schien das gar nicht wahrzunehmen und zu erkennen, wie es seiner jüngeren Zwillingsschwester ging. Stattdessen reagierte er umso wütender, als Eva immer noch nicht mit der Sprache rausrücken wollte. Auch L konnte irgendwie nicht wirklich verstehen, was sie daran hinderte. Aber es musste wohl ein sehr wichtiger Grund sein, denn so wie sie aussah, würde sie ihm am liebsten die Wahrheit sagen, aber irgendetwas hielt sie davon ab. „Das ist ja mal wieder so was von typisch für dich“, sagte er schließlich und stieß sie verächtlich weg. Eva stolperte nach hinten und wäre beinahe gestürzt, doch sie fing sich wieder. „Du machst wie immer nur dein eigenes Ding, ohne Rücksicht auf Verluste und ich darf hinterher wieder alles ausbügeln, was du angerichtet hast. Weißt du, so langsam habe ich deine ganzen Aktionen satt und ich bin es leid, hinterher derjenige zu sein, der es ausbaden darf. Ich bin dein älterer Bruder und ich will verdammt noch mal wissen, wieso ich mich an nichts erinnern kann und warum du mich immer nur angelogen hast. Und warum hast du nichts unternommen, als sie Jeremiel mitgenommen haben? Er gehört zu deiner Familie und du weißt, wie viel er mir bedeutet. Ich schwöre dir eines: wenn du nicht endlich mit der Sprache rausrückst, dann schlage ich noch einen ganz anderen Ton an, das verspreche ich dir.“ „Du verstehst das nicht“, erklärte Eva und wirkte irgendwie noch verschüchteter und ängstlicher als ohnehin schon. Sie konnte ihrem Bruder nicht mal wirklich in die Augen sehen. „Ich kann es einfach nicht sagen. Bitte Liam, vertrau mir einfach. Ich kümmere mich schon darum.“ „Dir vertrauen?“ rief er und lachte spöttisch. „Wieso sollte ich dir vertrauen, Eva? Du hast mir nie einen Grund dafür gegeben und ich kann mich nicht entsinnen, dass du jemals vertrauenswürdig warst. Du warst es doch, die einfach so abgehauen ist und sich über 400 Jahre nicht blicken ließ. Kurz, nachdem du wieder auftauchst, verschwindest du auch schon wieder und ich erfahre die Dinge immer erst viel zu spät. Du verschweigst mir so vieles und ich soll dir vertrauen? Nenn mir auch nur einen guten Grund, warum ich das tun sollte.“ „Weil ich dich schützen will, Bruderherz.“ „Wovor denn bitteschön?“ „Das kann ich dir nicht sagen.“ Nun hatte Liam endgültig genug davon. Er hatte mit seiner Schwester ohnehin schon nicht sehr viel Geduld, aber nun reichte es ihm. Also wandte er sich von ihr ab und machte Anstalten zu gehen. „Mir reicht es endgültig mit dir. Mach doch was du willst, aber ich werde nach Jeremiel suchen und diesen verdammten Alpha-Proxy eigenhändig erledigen, wenn du das schon nicht tun willst.“ Als Eva das hörte, da regte sich etwas in ihr. Ihre Augen weiteten sich und was man sah war Angst. Angst um ihre Familie, aber insbesondere Angst um ihren Bruder. Blitzschnell war die kleine verschüchterte Eva verschwunden und ehe Liam und die anderen sich versahen, hatte sie ein Schwert gezogen, dessen Klinge weißgolden schimmerte und richtete sie mit einem wild entschlossenen Blick auf ihren älteren Zwillingsbruder. „Nein, das werde ich nicht zulassen“, rief sie und machte sich bereit zum Angriff. „Du wirst dich da raushalten und ich lasse nicht zu, dass du nach Jeremiel und dem Alpha-Proxy suchst. Das ist nicht deine Angelegenheit, Liam. Also halt dich da raus und lass mich die Sache klären!“ „Soso“, sagte der Mafiaboss kalt und lächelte verächtlich. Dann begann er auch sein Schwert zu ziehen. Es war genauso ungewöhnlich wie Evas und Dathans, weil diese Klinge pechschwarz war. Sie war sogar so tiefschwarz, dass sie das ganze Licht zu absorbieren schien. „Du willst mich allen Ernstes mit Gewalt abhalten? Na schön, Eva. Das kannst du gerne haben. Und eines schwöre ich dir: wenn ich mit dir fertig bin, dann wirst du die nächsten hundert Jahre noch daran zu arbeiten haben.“ Es sah wirklich ganz stark danach aus, als würde die Situation nun endgültig eskalieren. Beyond und L hätten am liebsten eingegriffen, aber sie wussten beide, dass sie gegen die Unvergänglichen keine Chance hatten. Und sich in diesen heftigen Geschwisterstreit einzumischen, wäre mit großer Sicherheit lebensgefährlich. Aber dann ging Dathan dazwischen und versuchte die Situation zu entschärfen. „Hey ihr beiden! Ich weiß ja nicht, was ihr für Probleme habt, aber wir werden das Hauptproblem sicherlich nicht lösen können, indem wir uns alle gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wenn wir Jeremiel retten wollen, müssen wir zusammenarbeiten. Können wir nicht in Ruhe und auch ganz vernünftig miteinander reden?“ „Ganz gewiss nicht“, erklärte Liam und stieß ihn beiseite. „Mit jemandem wie Eva kann man nicht vernünftig reden. Das konnte man noch nie. Denn kaum, dass es für sie problematisch wird, haut sie einfach ab und ich kann einfach nicht verstehen, wieso sie mich die ganze Zeit einfach so angelogen hat. Und du Grünschnabel hältst dich da gefälligst raus. Das ist allein eine Sache zwischen uns beiden und wenn sie Stress haben will, den kann sie gerne haben. Ich hab endgültig genug.“ Damit ging Liam auf sie los und griff an. Er holte blitzschnell zum Schlag aus und schlug zu, doch Eva konnte den Angriff parieren und bei dem Aufprall der beiden Klingen wurde eine so immense Kraft freigesetzt, dass sie es alle deutlich spüren konnten. Ein Mensch hätte diesen Schlag nicht so leicht abwehren können. Nun hatte sich auch Evas Blick verfinstert und sie sah wild entschlossen aus, Liam nicht so einfach gehen zu lassen. „Ich sag es dir noch ein Mal“, sagte sie und griff nun ihrerseits an. Unzählige Schläge prasselten auf Liam nieder, die er allesamt parieren konnte, aber es war unglaublich zu sehen, was für eine verbissene und vor allem erfahrene Kämpferin Eva eigentlich war, denn so etwas hätte man ihr gewiss nicht zugetraut. Das Klirren der Schwertklingen klang wie ein Trommelfeuer, denn jeder Angriff war so schnell, dass man kaum mit dem Auge zu folgen vermochte. „Ich lasse nicht zu, dass du auf eigene Faust nach Jeremiel und dem Alpha-Proxy suchst. Ich werde das ganz alleine machen und du hältst dich gefälligst da raus.“ „Den Teufel werde ich tun.“ Der Kampf der beiden ungleichen Geschwister wurde immer heftiger und keiner traute sich noch so wirklich, sich da einzumischen oder zu versuchen, die beiden auseinander zu bringen. Wenn zwei Parteien so verbissen gegeneinander kämpften, war es vollkommen leichtsinnig, einfach so dazwischen zu gehen. „Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich einfach tatenlos da sitze, während Jeremiel sich in der Gewalt dieser Dreckskerle befindet, die solch grausame Experimente machen. Ich habe geschworen, dass ich ihn und seine Familie beschützen werde und davon wird mich niemand abhalten, nicht einmal du. Ich schwör dir eines, Eva: wenn du nicht sofort damit aufhörst, dann werde ich für rein gar nichts mehr garantieren.“ Doch Eva schien tatsächlich bereit zu sein, dieses Risiko einzugehen. Aus irgendeinem Grund wollte sie ihren Bruder unbedingt aufhalten und ihn daran hindern, Jeremiel zu retten und das sah ihr doch gar nicht ähnlich. Normalerweise war sie doch bereit, wirklich alles zu tun, um ihre Familie zu beschützen und nun das… L sah sich diese heftige Auseinandersetzung zusammen mit Dathan und Beyond aus sicherer Distanz an und dachte nach. Irgendetwas musste Eva wissen, das sie mit aller Macht verschweigen wollte. Konnte es vielleicht sein, dass Jeremiels Entführung vielleicht eine Falle war und Eva davon wusste und deshalb versuchte, Liam aufzuhalten, weil sie ihn genau davor schützen wollte? Wenn dem so war, dann schien sie tatsächlich mehr über das alles zu wissen. Aber wieso sagte sie nicht einfach die Wahrheit? Was war es denn, wovor sie so große Angst hatte, dass sie sogar ihren eigenen Bruder attackierte, um ihn aufzuhalten? Tatsache war, es war ihr absolut todernst, ihn unter keinen Umständen gehen zu lassen. Und sie würde auch bereitwillig in Kauf nehmen, von ihrem Bruder schwer verletzt oder schlimmstenfalls sogar getötet zu werden. „Wieso tust du das alles überhaupt? Warum hast du mich all die Jahre belogen und mich glauben lassen, wir beiden wären die Einzigen?“ rief Liam und versuchte, sein Schwert in Evas Herz zu stoßen, doch sie konnte noch rechtzeitig ausweichen und ging dann zum Gegenangriff über. „Weil ich dich beschützen wollte. Du hast doch keine Ahnung, was damals alles passiert hat. Dass du dich an nichts erinnern kannst, das war zu deinem eigenen Besten.“ „Red keinen Quatsch. Und überhaupt: ich bin hier der Ältere von uns beiden, ich brauch deine Hilfe und deinen Schutz ganz sicher nicht!“ Liam schaffte es fast, Eva am Arm zu treffen, doch erneut wurde sein Angriff pariert und so langsam zeigte sich, dass zwischen den beiden kräftemäßig Gleichstand herrschte. Beide gingen absolut gnadenlos und aggressiv vor und schenkten sich nichts. Man hätte wirklich meinen können, dass sie vorhatten, sich gegenseitig umzubringen. „Glaub mir Liam, du willst dich nicht an die Vergangenheit erinnern. Es ist das Beste für uns alle, wenn du dich nicht erinnerst und der bleibst, der du jetzt bist. Auch für dich. Du hast doch keine Ahnung!“ „Wie denn auch, wenn du mir alles verheimlichst. Warum kann ich mich denn an gar nichts erinnern? Erklär mir das mal.“ „Weil ich damals deine Erinnerungen gelöscht habe, nachdem ich dir einen Teil meines Lichts überlassen habe, damit du fähig bist, überhaupt so etwas wie Liebe oder Mitgefühl zu empfinden.“ Das war nun endgültig der Tropfen, der bei Liam das Fass zum Überlaufen brachte. Dass seine Schwester seine Erinnerungen löschte und ihn dann auch noch die ganze Zeit zum Narren hielt, war einfach zu viel für ihn. Es war mit Eva doch jedes Mal das Gleiche. Ständig machte sie nur ihr eigenes Ding, ohne Rücksicht auf Verluste und sie stieß andere einfach so ins Unglück, weil sie ihre eigenen Interessen verfolgte. Und dass sie ihn die ganze Zeit zum Narren gehalten hatte, ging nun endgültig zu weit. Eva machte wirklich nur Ärger, egal ob sie da war oder nicht. Wegen ihr gab es erst diese ganzen Probleme mit den Projekten, weil sie sich den Menschen ja unbedingt offenbaren musste, um ihre Familie zusammenzubringen. Sie hatte Frederica ins Unglück gestürzt und sie diesen Qualen ausgesetzt und sie hatte zugelassen, dass Jeremiel 25 Jahre lang als Serienmörder Sam Leens sein Unwesen trieb. Wegen ihr waren die Kinder im Norington Waisenhaus gestorben und Henry Lawliet und Nastasja. Und nun hieß es auch noch, sie habe seine Erinnerungen gelöscht und ihn all die Jahre belogen, was seine Vergangenheit und ihre Herkunft betraf. Und warum nur? Nur, damit sie einfach ihre eigenen Pläne verfolgen konnte. In seinen Augen war sie einfach nur selbstsüchtig und unverantwortlich. Ja, sie war schon immer unverantwortlich gewesen. „Weißt du was, Eva? Ich frage mich ernsthaft bis heute noch, wie wir beide nur Geschwister sein können. Ich habe dir so einiges nachgesehen, deine ganzen Aktionen und sogar diesen einen Vorfall, als du die ganze Welt unvergänglich machen und damit alles ins Chaos stürzen wolltest, nur weil es dir gerade in den Kram passte. Ich war sogar bereit, mit dir Frieden zu schließen und dir auch das mit Nikolajs Tod zu verzeihen, ebenso wie die Tatsache, dass du Jeremiel die Wahrheit über sein altes Leben gesagt hast. Aber das hier ist nun endgültig zu viel des Guten. Ich habe ehrlich gesagt überhaupt keine Lust mehr, mich von dir für dumm verkaufen und mich für deine Pläne benutzen zu lassen. Du kannst dir einen anderen Depp suchen, aber ich mache da nicht mit. Ernsthaft, die Welt wird so viel besser dran sein, wenn du für immer verschwindest. Deine ganzen Aktionen gehen langsam wirklich zu weit und ich denke es wäre das Beste für alle Beteiligten, wenn es dich nicht mehr gibt. Ich weiß echt nicht, warum ich mit so einer Schwester wie dir gestraft worden bin.“ Der Kampf artete immer weiter aus und schließlich gelang es Liam, Evas Hand zu streifen, woraufhin die Bandagen zerschnitten wurden und sich lösten. Und was darunter zu sehen war, waren dunkle fast schwarze Geschwüre, die sich wie Adern über die Haut zogen und ihrer sonst so blassen und makellosen Hand einen schrecklichen Anblick verlieh. Eva geriet kurz ins Straucheln, fing sich aber wieder und versuchte die Entstellung zu verbergen. Obwohl ihr Bruder harte Worte sprach und es sie mit Sicherheit ziemlich verletzt hatte, blieb sie standhaft und wirkte immer noch sehr entschlossen. „Dann versuch doch, mich zu töten. Das wirst du eh nicht schaffen. Ich war schon immer die Stärkere von uns beiden. Du hattest noch nie eine Chance gegen mich, Araphel.“ „Du sollst aufhören, mich ständig bei diesem Namen zu nennen!“ Ja, er hasste seinen Namen genauso sehr, wie er Eva hasste. Araphel. Das bedeutete „tiefe Finsternis“ oder „dunkle Wolke“. Es war ein Name, der nichts Gutes in sich trug, kein Licht und keine Wärme. Es war ein Name, der von einem kalten Charakter zeugte und nichts als Dunkelheit und Kälte in sich trug. Aus diesem Grund hatte er angefangen, sich selbst Liam zu nennen. Denn dieser Name bedeutete „Beschützer“. Er wusste, dass er die Finsternis verkörperte und nichts daran ändern konnte. Das war ja auch nicht schlimm, denn ohne die Dunkelheit gäbe es kein Licht. Aber er wollte nicht bloß jemand sein, der die Dunkelheit verkörperte und vor dem wirklich alle Angst haben mussten. Er wollte jene beschützen, die ihm wichtig waren und das galt sowohl für seine Familie, als auch für Jeremiel. Und er war bereit, auch für Jeremiels Familie sein Leben aufs Spiel zu setzen, um sein Versprechen zu halten. Er war ein Krimineller und auch gefährlich, aber er war auch stolz darauf, als Chirurg den Mittellosen zu helfen und seine Macht auszunutzen, um auch zum Beispiel Menschen wie Ezra zu helfen, wenn diese nicht alleine gegen die Mafia ankamen. Deshalb reagierte er auch jedes Mal aggressiv, wenn er bei seinem richtigen Namen angesprochen wurde. Blitzschnell griff er wieder an, konnte ein Täuschungsmanöver durchführen und wollte sie in den Rücken treffen, doch Eva durchschaute diese Taktik, duckte sich und stieß ihr Schwert nach hinten. Sie traf Liam direkt in den Bauch und während er von dem Treffer noch benommen war, drehte sie sich um und schlug dabei erneut zu. Das Schwert riss eine tiefe Wunde in die Brust des Unvergänglichen und Blut floss. Doch anstatt, dass Eva aufhörte, griff sie einfach weiter an und es sah wirklich danach aus, als wollte sie ihrem Bruder ernsthaft Schaden zufügen. In diesem Moment aber reagierte Dathan. Er konnte einfach nicht mehr ruhig dastehen und diesen brutalen Geschwisterkampf mit ansehen. Zudem fürchtete er auch um Liam und dass Eva vielleicht zu weit gehen würde. Er rannte einfach los und stellte sich dazwischen, woraufhin Eva den Schlag nicht mehr rechtzeitig aufhalten konnte und die Klinge ihn unbeabsichtigt traf. Ein tiefer Schnitt zog sich diagonal über seinen Oberkörper und riss eine tiefe Wunde. Schwer verletzt stürzte Dathan zu Boden und blieb liegen. „Dathan!“ Beyond und L eilten zu ihm hin und befürchteten schon das Schlimmste. Doch zum Glück lebte er noch, aber die Wunde war dennoch sehr tief und musste dringend ärztlich versorgt werden. Für einen Moment sah Eva erschrocken aus und schien selbst noch gar nicht realisiert zu haben, was da gerade passiert war. Doch dann hob sie Liams Schwert auf und nahm es an sich. Dieser hatte sich selbst noch nicht wirklich erholt und sogleich richtete sie die Klinge ihres Schwertes auf ihn. „Ich habe dich gewarnt, Bruder. Ob es dir nun passt oder nicht, ich bin hier die Stärkere von uns beiden. Du hältst dich da raus und ihr hört auch auf, euch da noch weiter einzumischen. Ich werde Jeremiel alleine befreien und den Alpha-Proxy aufhalten. Das ist nicht euer Kampf.“ „Nicht unser Kampf?“ rief Beyond und baute sich vor ihr auf. „Das war schon unser Kampf, als wir geboren wurden. Die Proxys haben es auf uns abgesehen und sie haben auch den klaren Befehl, uns zuerst zu töten. Sie haben L’s Bruder entführt, ihm seine Familie genommen und dieser Drecksarsch James Brown hat Frederica und Andrew genug Leid angetan. Mag sein, dass ich nur ein Mensch bin, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nur mit Wattebällchen schieße, um mich zu wehren. Ich kann a…“ Bevor er weiterreden konnte, hatte Eva ihm auch schon niedergeschlagen und den Serienmörder mit einem einzigen Schlag K.O. gehauen. Schließlich wandte sie sich L zu, packte ihn am Kragen und sah ihn ernst in die Augen. „Ich sage es euch noch ein allerletztes Mal: haltet euch da raus! Ich werde mich um alles kümmern. Und wenn ihr es wagen solltet, nicht auf mich zu hören, dann werde ich nicht mehr so rücksichtsvoll sein.“ Und danach raubte ein heftiger Schlag in die Magengrube L endgültig das Bewusstsein. Kapitel 5: Bei Samajim ---------------------- „Nabi, mach bitte den Tee fertig. Ich glaube, unsere Gäste kommen langsam wieder zu sich.“ „Ist gut, Meister. Aber vorher nehmt Ihr endlich diese verdammte Zigarette aus dem Mund! Ich bin gerade erst mit dem Hausputz fertig und Ihr verteilt mal wieder überall die Asche und es stinkt nach Nikotin hier drin. Woher habt Ihr die überhaupt?“ „Gekauft.“ „Ich hab Euch doch schon gefühlte zweihunderttausend Mal gesagt, Ihr sollt mit dem Rauchen aufhören. Das ist nicht gesund und zudem eine schlechte Gewohnheit. Genauso wie es im Übrigen auch eine schlechte Angewohnheit ist, Euch den ganzen Tag auf die faule Haut zu legen, während ich mal wieder alles alleine machen muss. Ich bin Euer Diener und nicht Euer persönliches Kindermädchen. Also her mit der Zigarette, oder es gibt die nächsten drei Wochen nur Kohlsuppe.“ „Ist ja schon gut. Echt Mann, ich glaube du brauchst eine Frau. Oder einen Mann… bei dir bin ich mir bis heute noch nicht ganz sicher, ob dein Körper der eines Mannes oder der einer Frau ist.“ L öffnete die Augen und hörte ganz eindeutig zwei Männer miteinander reden. Und offenbar stritten sich diese gerade ein wenig. Na super, dachte sich der Detektiv. Vom einen Streit gleich zum nächsten. „Ihr seid doch auch nicht besser. Glaubt Ihr etwa, ich hätte Eure Schmuddelhefte nicht entdeckt? Und so etwas schimpft sich Pfarrer. Ihr seid ein alter Perversling und ein Sklaventreiber, Meister. Außerdem habe ich sowieso noch ein Hühnchen mit Euch zu rupfen. Wie oft habe ich Euch eigentlich schon gesagt, Ihr sollt damit aufhören, mit einem Sturmgewehr auf die Tauben im Dachgebälk zu schießen? Ich hab erst vor drei Tagen das Dach repariert nach Eurer letzten Schießerei.“ „Irgendwie muss ich doch diese verdammten Flugratten loswerden.“ „Ich hab gesagt, ich kümmere mich darum. Aber es stimmt wohl, was man sagt: einem alten Hund kann man keine neuen Tricks beibringen.“ „Und doch versuchst du es immer wieder…“ L sah sich um und bemerkte, dass er auf einer Couch lag. Liam lag auf einer Pritsche und trug Bandagen. Er war noch nicht bei Bewusstsein und auch Dathan war verarztet worden. An den Wänden hingen Bilder von Heiligen und Kruzifixe, außerdem roch es hier drin nach Zigaretten. Schließlich aber regte sich etwas, als nämlich Beyond zu sich kam und auch Liam und Dathan öffneten die Augen. Die erste Frage der anderen war natürlich „Wo… wo sind wir?“ „Im Pfarrhaus der St. Michael Kirche“, antwortete eine Stimme und sogleich betrat ein androgyn aussehender junger Mann mit schwarzen Haaren und türkisfarbenen Augen mit einem Tablett das Zimmer und stellte es auf dem Tisch ab. „Keine Sorge. Es ist alles in Ordnung und wir haben eure Verletzungen bereits verarztet. Aber ihr solltet euch vielleicht noch etwas schonen.“ Als Beyond ihn kurz angesehen hatte und sein Hirn wieder auf Hochtouren lief, erkannte er den jungen Mann und stellte fest „Du bist doch dieser Küster, oder?“ „Ja, das stimmt. Mein Meister kommt sofort und wird euch alles erklären. Ich…“ „Nabi!“ kam es aus einem anderen Raum und genervt verdrehte der Küster die Augen und wandte sich um. „Was ist, Meister?“ „Wir haben keine Twinkies mehr!“ „Ich weiß. Die waren ausverkauft. Ich geh morgen noch mal los. Und überhaupt: es gibt erst was Süßes, wenn Ihr endlich mal Eurer Pflicht als Pfarrer nachgeht!“ L und Beyond tauschten einander zweifelnde Blicke aus und fragten sich ernsthaft, was hier gerade vor sich ging und was das alles zu bedeuten hatte. Dann aber betrat ein groß gewachsener Mann mit langen goldblonden Haaren und strahlend blauen Augen den Raum, der etwas sehr Erhabenes ausstrahlte und überhaupt nicht zu der Person passte, die sie gerade gehört hatten. „So, das wäre alles“, sagte er zu dem jungen Mann und hatte ein amüsiertes und auch sehr schadenfrohes Lächeln auf den Lippen. „Da das ja geklärt ist, kannst du ja das Loch im Dach reparieren gehen.“ „Es gewittert aber draußen und beim letzten Mal, als ich das bei so einem Sauwetter gemacht habe, wurde ich zwei Mal vom Blitz getroffen!“ „Ach so ein kleiner Blitzschlag wird dich schon nicht umbringen. Und danach kannst du die Bücher zurück in die Bücherei bringen. Den Rest des Tages kannst du dir dann ausnahmsweise mal freinehmen.“ Wortlos verschwand der Küster und der Pfarrer setzte sich auf ein Sofa und goss sich eine Tasse Tee ein. „Reverend Kings“, sagte Dathan schließlich und schaffte es mit etwas Mühe, sich aufzusetzen, wobei er das Gesicht ein wenig vor Schmerz verzog und eine Hand auf den Verband presste, wo Evas Schwert ihn erwischt hatte. „Was hat das alles zu bedeuten?“ „Nun, wir waren von dem lauten Geschrei aufmerksam geworden und da hab ich eben erfahren, dass zwei Dauerstreithähne auf Kill Bill machen und für mächtig Durcheinander sorgen. Und da ihr beide ganz schön übel zugerichtet worden seid, haben wir euch hergebracht und verarztet. Ihr habt ganz schön was abgekriegt. Hätte Eva wirklich Ernst gemacht, wäre von euch nicht mehr viel übrig geblieben. Besonders von dir nicht, mein lieber Araphel. Aber sie hat dich schon immer ordentlich vermöbelt.“ Als Liam den Namen hörte, der ihm so verhasst war, da verfinsterte sich sein Blick und er sah mehr als schlecht gelaunt aus. „Woher kennen Sie meinen richtigen Namen?“ fragte er misstrauisch und seine roten Augen funkelten gefährlich. Er sah aus, als wollte er ihm am liebsten den Hals umdrehen, aber nach der heftigen Abreibung brachte er ganz sicher nicht die Kraft dazu auf. Der Pfarrer ließ sich davon überhaupt nicht verunsichern und gab in aller Seelenruhe etwas Zucker in seinen Tee. „Nun, wir kennen uns schon seit sehr langer Zeit. Immerhin kenne ich dich und deine Schwester schon seit eurer Geburt.“ „Dann sind Sie…“ „Ein Sefira. Hier für die Menschen heiße ich Samuel Kings, aber mein richtiger Name ist Samajim. Einige nennen mich auch Samajim den Alten.“ Samajim… bei diesem Namen klingelte doch was. Hatte Frederica nicht irgendwie erwähnt, dass hier in London ein Sefira mit diesem Namen lebte, der eine Art Asylheim für verfolgte Unvergängliche eingerichtet hatte und diese beschützte? Beyond war vollkommen irritiert und verstand gar nichts mehr, denn nun konnte er weder von diesem Küster, noch von diesem falschen Pfarrer den Namen und die Lebenszeit erkennen. Stimmte da etwas nicht mit seinem Augenlicht, oder hatten die beiden ihn irgendwie ausgetrickst? Auch Dathan war ziemlich verwirrt und stammelte „I-ich verstehe nicht ganz…“ „Die Sache ist auch ein klein wenig verworren und so wie ich Eva kenne, hat sie auch niemandem ein Sterbenswörtchen gesagt, sondern hat schön dichtgehalten, wie sonst auch.“ „Dann wissen Sie also alle Antworten“, kombinierte L sogleich und warf Liam einen kurzen Blick zu. „Sie wissen also, wer Dathan ist und was es mit Liams fehlenden Erinnerungen auf sich hat.“ „Selbstverständlich“, antwortete der Pfarrer und lehnte sich zurück, wobei diese erhabene Ausstrahlung die ganze Zeit unverändert blieb. Es war irgendwie merkwürdig. Als wäre er mit einem Male eine ganz andere Person als gerade eben noch, wo er mit dem Küster geredet hatte. „Und ehrlich gesagt war schon längst eingeplant gewesen, dass ihr hierher kommt. Ihr wollt Antworten haben, nicht wahr? Antworten, warum sich Eva so verhalten hat, warum Liam sich an nichts erinnert und was das alles mit dem Alpha-Proxy zu tun hat.“ „Das deckt es so ungefähr ab“, bestätigte der Serienmörder knapp und nickte. „Aber vorher würde ich gerne wissen, wieso ich auf einmal Namen und Lebenszeit nicht mehr sehen kann.“ „Es ist leicht, ein Shinigami-Augenlicht auszutricksen, wenn man weiß wie. Es war noch etwas zu früh für euch, auf meine Spur zu kommen weil ich wollte, dass Dathan die Chance bekommt zu erkennen, wer er wirklich ist und wie er seine Fähigkeiten einsetzen kann. Jede Errungenschaft ist eben größer, wenn man sie selbst erlangt und nicht, wenn man dorthin geschoben wird.“ Der Pfarrer bot ihnen Tee an, doch sie zögerten noch, weil sie nicht wussten, wie sie diesen Samajim einzuordnen hatten. Aber andererseits hatte er ihnen geholfen und konnte ihnen die gewünschten Informationen geben. Also nahmen sie das Angebot an und nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, fragte L „Sie wussten, dass wir zu Ihnen kommen würden und haben Beyond absichtlich getäuscht, weil es sonst zu früh gewesen wäre, auf Ihre Spur zu stoßen, weil wir uns erst um Dathan kümmern sollten. Sehe ich das richtig? Wenn dem so ist, dann war alles geplant gewesen.“ Auch das bestätigte Samajim und das sorgte nicht direkt dafür, dass er vertrauenswürdiger wurde. „Wisst ihr, es gibt einen guten Grund für alles, was momentan geschieht. Denn ihr seid alle Figuren in einem Spiel, welches jederzeit aus den Fugen geraten könnte, wenn es nicht nach strengen Vorgaben verläuft. Es mag für euch nicht sonderlich angenehm klingen, aber streng genommen seid ihr alle Teil eines Plans und befindet euch bereits in einem Krieg, der schon andauerte, bevor es überhaupt die menschliche Rasse gab. Im Grunde gibt es in diesem Spiel zwei Spieler, die ihre Figuren ausspielen und versuchen, den Gegner zu schlagen. Auf der einen Seite ist der so genannte Unborn, der den Alpha-Proxy und dessen Untergebenen aufs Feld schickt, um euch zu töten. Und ich sorge dafür, dass ihr alle sicher übers Feld gelenkt werdet, um auf die andere Seite des Feldes zu gelangen, um den Feind zu besiegen.“ „Dann ging Jeremiels Entführung also auch auf Ihr Konto?“ Liam wurde mit jeder weiteren Sekunde immer ungehaltener, denn es war nicht gerade schön für ihn zu hören, dass er nichts Weiteres als eine Schachfigur für diesen zwielichtigen Pfarrer war und auch die anderen waren nicht sonderlich begeistert. Samajim nickte schließlich und sagte „Ja.“ Nun stand Liam auf und ging direkt auf den Pfarrer zu. Er sah wirklich danach aus, als wolle er ihm eine Abreibung verpassen und als er ihn am Kragen packen wollte, da ergriff Samajim lässig mit einer Hand Liams Handgelenk, verdrehte seinen Arm und zwang ihn zu Boden, ohne sich großartig anstrengen zu müssen. „Jetzt mach mal halblang, Junge. Ich bin zwar ein friedfertiger Zeitgenosse, aber ich lass mich definitiv nicht so behandeln, klar? Du solltest mal langsam etwas mehr Respekt vor Älteren haben. Wenn du Antworten auf deine Fragen haben willst, solltest du dein Gemüt etwas abkühlen und vernünftig nachfragen, bevor du dich wie ein Rüpel aufführst.“ Es war merkwürdig zu sehen, wie ein einfacher Pfarrer es schaffte, einen so furchteinflößenden und gut durchtrainierten Riesen wie Liam so mühelos in die Knie zwingen zu können. Dies musste für eine unglaubliche Kraft sprechen, die da in ihm schlummerte. Und dieser strenge Blick zeugte von großer Weisheit und Autorität. Liam sah ein, dass er keine Chancen gegen diesen Mann hatte und schaltete sogleich einen Gang runter und beruhigte sich. „Warum haben Sie zugelassen, dass sie Jeremiel entführen?“ „Weil mir Informationen fehlten. Ich weiß zwar, was das Ziel des Feindes ist, aber mir war nicht klar, was für eine Rolle Jeremiel dabei spielt und wozu er ihn unbedingt braucht. Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe alles so weit durchgeplant, dass weder euch noch Jeremiel ernsthaft etwas zustoßen wird. Wir verfolgen dieselben Interessen und es liegt auch mir sehr am Herzen, euch zu schützen. Insbesondere dich, Araphel.“ „Ich heiße Liam“, gab der Mafiaboss mit bedrohlichem Unterton zu verstehen, was der Sefira ihm aber nachsah. „Nun gut, Liam“, korrigierte sich dieser und lächelte mild, wobei er einen Schluck Tee trank. „Die ganze Sache ist etwas kompliziert und nicht einfach zu überschauen. Am besten ist, wenn ich euch etwas zu unserem wahren Feind erzähle und wie die ganze Sache angefangen hat. Der Name des Unvergänglichen, der hinter all dem steckt und gemeinsame Sache mit dem Alpha-Proxy macht, heißt Elohim. Er ist anders als alle anderen Sefirot, weil er streng genommen kein Sefira ist. Denn als Sefira bezeichnet man ein Fragment von Ain Soph. Der Name ist euch ja inzwischen ein Begriff. Elohim ist aber kein solches Fragment so wie ich, Eva oder du, Liam. Er ist von Ain Soph selbst erschaffen worden und ist so mächtig, dass kaum ein Sefira gegen ihn ankommen kann. Selbst die großen Alten fürchten sich vor ihm, weil er so mächtig ist und haben schon damals versucht, ihn loszuwerden, weil sie verhindern wollten, dass er ihnen ihre Position streitig machen könnte. Es gab aber auch einige von uns, mit denen er sich gut verstanden hatte, denn eigentlich war er ein freundlicher und friedfertiger Geselle, der kein Interesse daran hatte, Macht über andere auszuüben. Alles, was er je wollte, war ein friedliches Leben ohne Gewalt. Er war ein sehr enger Freund von mir, genauso wie Hajjim. Oft kam Elohim zu mir, um zu reden und wir verstanden uns gut. Aber dann wurden die Anfeindungen der anderen großen Alten immer schlimmer und endeten schließlich in einem Attentatsversuch. Sie wollten ihn und seine Abkömmlinge ausrotten, um damit die größte Gefahrenquelle zu beseitigen. Elohim überlebte, fühlte sich aber von uns allen verraten und schwor uns Rache. Er würde nicht aufhören, ehe er jeden von uns vernichtet hat und alles, was wir aufgebaut haben. Sein erstes Opfer von ihm war sein bester Freund Hajjim und er tötete ihn ohne zu zögern. Im Augenblick seines Todes gelang es Hajjim jedoch, sich aufzuspalten und somit wurden zwei neue Sefirot erschaffen. Hajjims Ermordung war damit der Auftakt eines Krieges gewesen. Von Hass erfüllt begann Elohim eine Armee aufzustellen, um Krieg gegen uns zu führen. Wir rüsteten ebenfalls für den Krieg, aber es wurde zu einem einzigen grausamen Gemetzel. Elohim war zu stark und er hatte einen mächtigen Verbündeten. Man nannte ihn Araphel den Schlächter.“ Alle Augenpaare hafteten an Liam und dieser hatte seine bedrohliche Ausstrahlung verloren und wirkte fassungslos und verstand offenbar nicht, was das zu bedeuten hatte. Er hatte damals an Elohims Seite gekämpft, um die Unvergänglichen zu vernichten? Das konnte doch nicht sein. „Das… das ist völlig unmöglich.“ Doch Samajim ging nicht mal näher auf seine Worte ein, sondern erzählte weiter. „Ich selbst habe unsere Armee angeführt, zusammen mit Ahava der Barmherzigen. Doch leider hatte Elohim einen sehr mächtigen Diener, der über eine äußerst gefährliche Gabe verfügte. Dieser war Nabi, der auch von einigen „Nabi der Prophet“ genannt wurde, weil er damals auch als Botschafter Elohims fungierte. Er ist übrigens der recht zierliche junge Mann von vorhin, der gerade noch hier war. Als der Krieg immer grausamere Züge annahm und Elohim seinen Zorn sogar gegen seine eigenen Leute richtete, wechselte Nabi die Seiten und unterstützte uns, um seinen eigenen Schöpfer aufzuhalten. Mit seiner Hilfe gelang es uns, den Krieg für unsere Seite zu entscheiden und Elohim zu schlagen. Daraufhin wurde ihm und seinen Gefolgsleuten der Prozess gemacht. Und wie damals schon für euch Menschen, steht auf Hochverrat der Tod. Es hagelte an Todesurteilen, wo es nur ging und Ahava erkannte, dass dies nur ein letzter Vergeltungsschlag der großen Alten war, um ihre Feinde restlos zu vernichten. Ich teilte mit ihr diese Ansichten und so wollten wir dem ein Ende bereiten, als wir Ajin Gamur sprachen und ihm die Sache anders darlegten. Es war Tatsache, dass viele aus Angst Elohim gedient hatten und von ihm unter Druck gesetzt wurden. Auch Nabi fürchtete um sein Leben und hatte auch dieses riskiert, weil er das Richtige tun wollte. Dennoch wollten sie ihn hinrichten, weil es unverzeihlich war, sich gegen die großen Alten zu stellen. Als Berater konnte ich Ajin Gamur davon überzeugen, dass es ungerechtfertigt war, all diese Kriegsgefangenen der Reihe nach hinzurichten, ganz gleich ob sie tatsächlich gekämpft hatten oder nicht. Also wurde ihnen Asyl gewährt. Solange sie auf meinem Grund lebten, dürfe ihnen kein Leid zugefügt werden. Bei Nabi hingegen sah es anders aus. Durch seine Hilfe konnte Elohim viele unserer Leute töten und es klebte also trotz allem Blut an seinen Händen. Sein Todesurteil wäre also dennoch erfolgt, da machte ich ihn zu meinem Diener, um ihn vor der Hinrichtung zu retten. Nun war da noch Araphel der Schlächter, der wohl zu den Schlimmsten zählte. Seine Hinrichtung war schon beschlossen worden, bevor seine Gerichtsverhandlung überhaupt begonnen hatte.“ Beyond und L tauschten kurze Blicke aus und sahen zu Liam, der einfach nicht begreifen konnte, was er da hörte. Er war ein Kriegsverbrecher gewesen und hatte unzählige Unvergängliche grausam abgeschlachtet? Er hatte für denselben Kerl gearbeitet, der nun für die Proxy-Experimente verantwortlich war und hinter Jeremiels Entführung steckte? Das konnte doch nicht wahr sein. Dathan war ebenfalls beunruhigt und fragte „Und wie ging es weiter?“ „Ahava wollte ihn unter allen Umständen vor diesem Schicksal bewahren und gemeinsam gelang es uns, sein Leben zu retten. Sie bürgte für ihn und erklärte ihm, dass er nur deshalb so grausam sei, weil er nicht imstande war, so etwas wie Liebe oder Mitgefühl zu empfinden. Sie versprach, dass er sich bessern könnte, wenn er wenigstens einen Funken Licht in sich hätte. Es gelang ihr, Ajin Gamur zu überzeugen, das Todesurteil abzuwenden, allerdings geschah dies nur unter gewissen Bedingungen. Wenn Araphel es wagen sollte, sich jemals wieder gegen die großen Alten zu wenden, sich Elohim anzuschließen oder erneut versuchen sollte, Chaos und Zerstörung anzurichten, würde er sofort getötet werden und das Gleiche galt auch für seine Abkömmlinge, sollte er je welche erschaffen. Und auch Ahava würde hingerichtet werden. Zudem verlangte Ajin, dass Araphel unter Beobachtung stehen sollte, als Sicherheitsmaßnahme. Des Weiteren wurde auch Ahava bestraft, weil sie sich für einen Kriegsverbrecher einsetzte. Als sie nämlich einen Teil ihres Lichts Araphel überließ, fraß sich die Finsternis in ihr Herz und aus Liebe wurde Verzweiflung. Um zu gewährleisten, dass er keine Gefahr mehr darstellen oder den großen Alten einen Grund liefern konnte, ihn zu töten, löschte sie seine Erinnerungen und ließ ihn in den Glauben, er sei allein. Und als Ahavas reines Herz zusehends von Finsternis befallen wurde, „starb“ sie und wurde zu Eva. Durch das Licht, welches Araphel lernte, andere zu lieben und auch Gutes tun zu wollen, „starb“ sein altes Ich damit ebenso und wurde zu Liam. Ich wurde als Bewacher festgelegt. Meine Aufgabe bestand darin, Araphel zu bewachen und sicherzustellen, dass von ihm keine ernsthafte Gefahr mehr ausging. Und wenn, dann wäre ich autorisiert gewesen, ihn sofort zu töten. Ehrlich gesagt war ich sehr skeptisch, ob Ahavas Plan wirklich gelingen würde, aber zu meiner eigenen Überraschung stellte ich schnell fest, dass Araphel sich stark verändert hatte. Nachdem er eine Familie hatte, wurde er deutlich ruhiger und sozialer. Zwar steckte immer noch unglaublich viel Finsternis in seinem Herzen, aber es existierte dennoch genug Licht, welches ihm die Kraft gab, auch Gutes zu tun und sich um andere zu sorgen. Ja er verliebte sich sogar, was damals überhaupt nicht vorstellbar gewesen war. Bevor Ahava ihm einen Teil ihres Lichts gegeben hatte, war er ein grausames Monster gewesen, absolut blutrünstig und erbarmungslos. Er tötete die Männer genauso wie Frauen und Kinder und wurde von allen gehasst und gefürchtet. Ehrlich gesagt hatte ich leise Zweifel, dass aus dieser Bestie je etwas anderes werden könnte und ich gab ihm allerhöchstens hundert bis zweihundert Jahre, bis er wieder der Alte sein würde, wenn nicht sogar schon viel früher. Doch zu meiner Überraschung war dem nicht so. Dieser eiskalte Schlächter, den Ahava und ich vor der Hinrichtung bewahrt hatten, entwickelte ein großes Verantwortungsbewusstsein und er wurde zu einem Beschützer für jene, die ihm wichtig waren. Zum ersten Mal war ihm jemand auch wirklich wichtig. Er entwickelte Gefühle für andere und war mit einem Male wie verändert. Das war auch der Grund, warum die anderen Sefirot von ihren Vergeltungsplänen abgelassen haben, denn wäre er noch der Alte gewesen, dann hätten sie mit Sicherheit versucht, ihn zu töten.“ Liam sagte nichts, sondern starrte schweigend ins Leere. Er konnte einfach nicht fassen, dass er wirklich mal so ein grausames Monster gewesen war. Er war ein Kriegsverbrecher und hatte Unschuldige abgeschlachtet. Und doch hatte Eva ihn nicht aufgegeben. Sie hatte alles riskiert, jede Bestrafung auf sich genommen, ihm einen Teil ihres Lichts überlassen und seine Erinnerungen gelöscht, weil sie ihn beschützen wollte… Eva hatte die Wahrheit gesagt… Kapitel 6: Elohim ----------------- Sie alle mussten diese neuen Erkenntnisse erst mal sacken lassen und konnten zum Teil nicht wirklich glauben, was sie da hörten. Liam war ein Kriegsverbrecher und der Unborn ein Unvergänglicher, der schon vor langer Zeit einen Krieg gegen die Sefirot geführt hatte? „Irgendwie verstehe ich das nicht so wirklich“, sagte Beyond schließlich, als er versuchte, das Ganze für sich irgendwie sortiert zu bekommen. „Was genau ist dieser Elohim dann, wenn er keiner von euresgleichen ist?“ „Nun, ihr Menschen benutzt für gewöhnlich den Sammelbegriff „Unvergängliche“, aber wir differenzieren da schon deutlich genauer. Ich erkläre es euch. Ain Soph und Ajin Gamur werden als die höchsten Wesen eingestuft, weil sie die Quelle der Schöpfung und der Ewigkeit sind. Sie werden die „großen Entitäten“ genannt. Elohim ist als direkte Schöpfung Ain Sophs eine niedere Entität. Die Fragmente Ain Sophs bezeichnen wir als Sefirot und deren Abkömmlinge sind die so genannten Seraphim, was also auf Kazab, Mammon und Asmodeus alias Johnny, Marcel und Delta zutrifft. Bei dir und Eva handelt es sich nach wie vor um Sefirot, weil der Ring euch als „direkte Fragmente“ von Hajjim auszeichnet. Das ist auch der Grund, warum eure Abkömmlinge diesen Ring in der Iris haben. Alle anderen Schöpfungen der Sefirot, die über dieselben Kräfte verfügen, sind die Seraphim, weil sie nicht direkt aus ihnen selbst erschaffen wurden. Ist ziemlich kompliziert, aber da achtet kaum einer drauf, außer jenen großen Alten, die Wert auf die Rangordnung legen. Also eigentlich fast alle.“ „Also um es zusammenzufassen“, sagte L schließlich, der so langsam hinter das System blickte. „An oberster Stelle stehen die drei Entitäten: zuallererst Ajin Gamur, dann folgt Ain Soph und dann dessen Schöpfung Elohim. Danach folgen die Sefirot, die ebenfalls ihre Rangordnung haben: nämlich die großen Alten, die wahrscheinlich auch jeweils ihren eigenen Rang haben. Dann folgen die unteren Sefirot, dann deren Abkömmlinge die Seraphim und schließlich alles, was vergänglich ist.“ „So in etwa deckt es das ab“, bestätigte Samajim und trank den letzten Schluck Tee, bevor er die Tasse wieder abstellte. „Früher wurden die Seraphim als Diener und Sklaven erschaffen, die nur dazu da waren, um ihren Schöpfern bedingungslos zu gehorchen und für sie zu sterben. Als solche hatten sie eben auch keine Rechte und wenn sie nicht mehr gebraucht wurden, tötete man sie einfach.“ „Wie bitte?“ rief Liam, als er das hörte, denn er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass solche Zustände geherrscht hatten. Marcel, Johnny und Delta waren für ihn nie Sklaven gewesen, sondern seine Familie und auch wenn sie ihm hin und wieder auf der Nase herumtanzten, respektierte er sie als selbstständige Wesen, die auch ihre eigenen Entscheidungen treffen konnten. Und das wusste auch Samajim und er erklärte „Nun, Ahava machte sich damals für die Rechte der Seraphim stark und es kam auch zu einigen Aufständen, die sie selbst angeführt hat. Es gelang mir damals, die Situation zu entschärfen und zu erwirken, dass die Seraphim mehr Rechte bekamen und auch wenn sich in vielen Fällen nichts an diesem Dienerverhältnis geändert hat, so respektieren inzwischen viele der Sefirot die Seraphim als Teil der Familie.“ „Und was ist mit mir?“ fragte Dathan nach einigem Zögern und wirkte ziemlich verunsichert durch die ganze Geschichte. „Wer oder was genau bin ich denn bitte? Wenn ich wirklich eine Schöpfung dieses Elohim bin, dann… dann habe ich doch auch im Krieg mitgewirkt, oder?“ Doch Samajim konnte ihn da beruhigen und wirkte auch sonst nicht wirklich so, als würde die ganze Geschichte ihn sonderlich beschäftigen. War es nun Selbstsicherheit oder pure Sorglosigkeit? „Du hast nicht im Krieg mitgewirkt, Dathan. In der Hinsicht kann ich dich beruhigen. Und was deine Abstammung betrifft, so handelt es sich bei dir um eine Entität vierter Ordnung. Damit stehst du sogar über den Sefirot und damit auch über meine Person.“ „Wie jetzt?“ fragte Beyond und war nun irritiert. „Das müssen Sie mal genauer erklären.“ „Dathan oder besser gesagt Nivkha ist nicht bloß irgendeine Schöpfung Elohims so wie Nabi. Er ist sein Sohn.“ Diese Nachricht war nun zu viel für Dathan. Er verlor jegliche Farbe im Gesicht und wirkte fassungslos und entsetzt. Kein Wunder. Denn er erfuhr erst vor kurzem, dass er kein Mensch war und nun hieß es, sein Vater wäre ausgerechnet derjenige, der damals diesen Krieg angezettelt hatte. Das hörte niemand wirklich gerne und war natürlich ein absoluter Schock für ihn. „Das kann nicht sein“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Sie müssen sich irren!“ „Ich war selbst dabei“, erklärte Samajim und blieb immer noch so selbstsicher und ruhig, dass es fast schon verdächtig wirkte. „Als das Attentat auf deinen Vater stattfand, hatte er dich versteckt und ich habe dich schließlich gefunden. Da ich wusste, dass die großen Alten dich sofort töten würden, wenn sie von deiner Existenz wüssten, habe ich gegen Ende des Krieges die Gelegenheit genutzt und dich als einfachen Asylanten ausgegeben. So wusste niemand von deiner wahren Identität und dein Leben war gerettet. Ahava und ich haben deine Erinnerungen gelöscht und dich in dem Glauben gelassen, du wärst ein Mensch. Und um das zu gewährleisten, hast du jedes Mal deine Erinnerungen verloren, wenn du gestorben bist oder schwer verletzt wurdest. Während all dieser Zeit hatte ich immer ein Auge auf dich, um auf dich aufzupassen, genauso wie auf die anderen Asylanten. Wir wollten einfach verhindern, dass die großen Alten auf den Trichter kommen, dich ebenfalls zu verfolgen und zu töten. Es ist leider so, dass viele von ihnen unbedingt ihre Machtposition beibehalten wollen und wenn eine untere Entität ihnen den Rang streitig machen könnte, würden sie alles verlieren.“ „Das ist doch grausam“, rief Dathan, als er das hörte und war immer noch fassungslos über die ganze Geschichte. „Was diese großen Alten betreiben, ist doch nichts anderes als eine Diktatur! Man kann doch nicht einfach so andere umbringen, nur weil sie stärker sind.“ „Wieso nicht?“ fragte Samajim rhetorisch und wurde nun etwas ernster. „Die Menschen machen seit Bestehen ihrer Rasse auch nichts anderes, genauso wie Rudeltiere. Es gibt immer eine feste Rangordnung, die eingehalten wird. Und wer es wagt, die Anführer herauszufordern, der muss damit rechnen, verstoßen oder getötet zu werden. Das ist die Realität, die seit dem Bestehen der Sefirot existiert. Mir gefällt das ja auch nicht wirklich, aber eine bestehende Rangordnung verhindert auch einen Zusammenbruch der ganzen Ordnung. Zugegeben, es gefällt mir auch nicht wirklich, was die anderen großen Alten veranstalten und ich bemühe mich da auch, etwas mehr Ruhe reinzubringen. Aber es ist nun mal Tatsache, dass du als Entität die Macht besitzt, die großen Alten zu töten und damit auch mich und das macht dich eben sehr gefährlich. Allein das würde schon als Grund genügen, dich auf der Stelle zu töten. Aber ich mache es nicht, weil ich diese sinnlose Gewalt verabscheue.“ Dathan senkte den Kopf und sagte nichts. Er konnte einfach nicht glauben, dass er die ganze Zeit in dem Glauben gelassen wurde, er sei ein Mensch, weil er sonst Gefahr gelaufen wäre, umgebracht zu werden. Und dann war der Unborn… die dritte Entität… sein Vater. Irgendwie drehte sich alles gerade in ihm und ihm wurde schlecht. Das war alles einfach zu viel für ihn und außerdem schmerzte die Wunde, die Eva ihm zugefügt hatte. „Wieso will er uns töten?“ fragte Beyond schließlich. „Wir haben diesem Elohim doch nichts getan.“ „Weil sein Zorn sich gegen die Sefirot richtet. Sie haben ihm alles genommen und nun fordert er Gerechtigkeit ein, indem er uns das nimmt, was uns wichtig ist. Und das sind unser Leben, unsere Familien und unsere Schöpfungen. Er wird nicht eher Ruhe geben, bis er sein Ziel erreicht hat.“ „Warum habt ihr ihn dann nicht getötet?“ „Weil es sich bei Entitäten nicht so einfach verhält wie mit den Sefirot. Ihr müsst wissen, dass alles, was stirbt, ins Nichts geht und damit wieder zu einem Teil von Ajin Gamur wird. Das ist ein unumstößliches Gesetz, welches sowohl für die Sefirot, als auch für die Menschen und Tiere gilt. Aber bei Entitäten liegt der Sachverhalt leider etwas anders. Tatsache ist, dass sie so mächtig sind, dass sie nicht so einfach auszulöschen sind. Existiert auch nur ein winziges Fragment von ihnen weiter, können sie wieder erstarken und dann ist es so, als wären sie nie gestorben. Sie kehren einfach wieder zurück, als wäre nichts gewesen. Wir haben versucht, ihn zu töten, doch es gelang ihm immer wieder, Fragmente abzuspalten um auf die Weise wieder zurückzukehren. Also versiegelten wir diese Fragmente und viele wurden zerstört. Aber nun ist eines dieser Fragmente wieder zurück und hat Besitz von einem Unborn ergriffen. Und dieser nistet im Körper eures Alpha-Proxys und hat mit seiner Hilfe neue Abkömmlinge erschaffen, nämlich die Proxys. Und euer Freund Elion ist etwas ganz Besonderes.“ „Inwiefern?“ „Er wurde schon während seiner Zeugung von Elohim beeinflusst und es scheint so, als würde mehr von Elohim in ihm stecken als gedacht. Sein Charakter entspricht nämlich genau der meines alten Freundes, bevor das Attentat stattfand.“ Etwas ungläubig sahen sie alle den Pfarrer an und konnten nicht so wirklich glauben, was sie da hörten. Elohim war wie Elion? Das konnten sie sich einfach nicht vorstellen, denn das passte doch gar nicht. Oder etwa doch? L erinnerte sich daran, was seine Mutter erzählt hatte. Elion war für gewöhnlich ein sehr friedfertiger Zeitgenosse, der Gewalt verabscheute. Aber sobald jemand in ernsthafte Gefahr geriet, der ihm nahe stand, wurde selbst er zum Mörder. „Soll das etwa heißen, Elohim hat sich erst nach dem Attentat so verändert?“ „Ja“, bestätigte Samajim und faltete nachdenklich die Hände. „Er war wirklich ein guter Freund gewesen. Aufmerksam, hilfsbereit, sanftmütig. Da er bereits vor uns gelebt hat, kannte er so etwas wie Neid, Zwietracht oder Machthunger nicht. Er hatte an Macht und Ansehen überhaupt kein Interesse und war die wohl umgänglichste Person von allen gewesen. Wer einen Rat gebraucht hat, dem hat er geholfen, ganz gleich wer es war. Aber nach dem Attentat war er nicht mehr derselbe. Es war einfach der Punkt gewesen, an dem endgültig Schluss für ihn war und er empfand nichts mehr als Zorn und Hass. Hajjim und ich hatten noch versucht gehabt, mit ihm zu reden. Aber er fühlte sich von uns verraten und hat Hajjim getötet, mich wollte er gar nicht erst sprechen. Er ließ niemanden mehr an sich heran und blockte jeden Versöhnungsversuch ab.“ „Wer kann ihm das auch verübeln“, sagte Beyond schließlich, wobei niemandem entging, dass er Samajim mit einem sehr misstrauischen Blick musterte. „Er hat niemandem was getan und trotzdem wollen sie ihn umbringen. Wenn ich er wäre, dann würde ich auch mit niemandem mehr reden wollen. Wenn ich es mal so betrachte, dann sind doch die wahren Verursacher für dieses Problem die großen Alten, weil diese versucht haben, ihn umzubringen, nur weil er zu stark für sie war.“ „Aus diesem Blickwinkel kann man das durchaus betrachten.“ „Und warum kümmern Sie sich denn nicht selbst um diesen Elohim, wenn der doch so stark ist?“ „Weil wir uns momentan in einer sehr prekären Situation befinden“, erklärte der Sefira und goss sich noch etwas Tee nach. „Momentan sind die großen Alten viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und so soll es vorerst auch bleiben. Zwar sind bereits Gerüchte im Umlauf, aber solange sich Menschen darum kümmern, besteht für sie noch kein Handlungsbedarf. Wenn ich aber persönlich vorgehen würde, dann würden das alle anderen mitkriegen und das bedeutet, dass die großen Alten in höchster Alarmbereitschaft wären. Sie würden alle in diese Welt kommen, um Elohim aufzuhalten und es würde in einen Krieg ausarten, den die Welt nicht überstehen würde. Es würde das Ende bedeuten. Versteht ihr? Wenn sich die großen Alten einmischen, wird es zwar für die einen Sieg geben, aber ihr Menschen würdet in jedem Fall als Verlierer die Leidtragenden sein. Ihr wärt dieser Übermacht hilflos ausgeliefert. Das heißt also: wenn ihr zusammenhaltet und meine Hilfe annehmt, würden wir nicht nur Elohim und den Alpha-Proxy aufhalten, sondern auch einen Krieg verhindern, der noch mehr Opfer einfordern würde, als wenn ihr euch darum kümmert.“ Nun, das klang schon recht nachvollziehbar, aber trotzdem waren sie sich noch nicht zu hundert Prozent sicher, ob sie Samajim wirklich vertrauen sollten. Denn irgendwie ließ sie das Gefühl nicht los, als hätte der Kerl noch einiges zu verschweigen. Und schließlich fragte auch Liam „Und wieso sollten wir dir vertrauen?“ „Na weil ich Elohim genauso aufhalten will wie ihr alle und irgendwie finde ich die menschliche Rasse doch ganz interessant. Es wäre äußerst schade, wenn diese Welt nicht mehr existiert und da ich einen Krieg verhindern will, möchte ich euch helfen. Ich kann euch auf die Spur der Proxys bringen und euch Schritt für Schritt in die richtige Richtung bringen.“ „Ich weiß nicht, ob ich so jemandem vertrauen kann“, sagte Liam und stand schließlich auf. Es sah ganz stark danach aus, als wollte er gehen und auf eigene Faust weitersuchen. „Die ganze Zeit wurde ich nur getäuscht und überwacht. Alles, was ich die ganze Zeit geglaubt habe, war nur eine Lüge und woher soll ich bitteschön wissen, dass ihr mich keiner Gehirnwäsche unterzogen habt, als ihr meine Erinnerungen gelöscht habt? Ich brauch keine Hilfe von irgendeinem Kerl, dem ich nicht vertrauen kann.“ Damit wollte er tatsächlich gehen und Samajim blieb seelenruhig sitzen. Als er dann aber sagte „Wenn du das tust, dann werden Eva und Jeremiel garantiert sterben, das kann ich dir versichern.“, blieb Liam stehen. Aber man merkte ihm an, dass diese Worte ihn fast zur Weißglut brachten, denn so wie sich das anhörte, schien dieser Samajim ihn unter Druck zu setzen. „Ob du deiner Schwester helfen willst oder nicht, ist deine Sache. Aber Fakt ist, dass Eva es sich in den Kopf gesetzt hat, Elohim im Alleingang aufzuhalten und ihr Leben zu opfern, um ihren Bruder und ihre Familie zu beschützen. Sie hat Ahavas Schwert wieder an sich genommen, aber in ihrer jetzigen Lage, kann sie es nicht richtig führen. Denn ein Sefira-Schwert ist nicht bloß irgendeine x-beliebige Waffe. Sie ist auf ihn abgestimmt und bildet mit ihm eine Einheit. Es ist ein Spiegel seines Innersten und da Eva die Finsternis in ihr Herz gelassen hat, wird das Schwert noch ihr Tod sein. Die Finsternis wird sie zerfressen und dann töten. Und wenn ihr planlos losgeht, werdet ihr keine Chance haben, um Jeremiel zu befreien. Eva genauso wenig. Was wollt ihr denn tun, um euren Freund zu retten? Auf gut Glück nach den Proxys suchen und mit viel Glück hoffen, dass es irgendwie funktioniert? Ich sag euch nur so viel: es wird nichts bringen. Ihr werdet nur kostbare Zeit verlieren. Liam, ich weiß ja, dass du und deine Schwester ziemlich viele Konflikte habt, weil ihr es beim besten Willen nicht fertig bringt, vernünftig miteinander zu reden. Aber eines kann ich dir sagen: deine Schwester hat wirklich alles damals aufs Spiel gesetzt, um dein Leben zu retten, obwohl du sie fast umgebracht hattest. Mag sein, dass sie vielleicht einiges hätte anders machen können, aber sie hat immer alles getan, damit du in Sicherheit warst und dein Leben leben konntest. Und als sie nach der Ermordung ihrer Familie „verschwunden“ ist, hat sie in Wahrheit die ganze Zeit als Ajin Gamurs persönliches Spielzeug hergehalten, damit er ihre Bitte erfüllt und Nikolaj und die anderen als Menschen wieder zurückholt. Dass sie nicht ehrlich zu dir war, ist eine Sache. Aber sie hat verdammt noch mal ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um deines zu schützen und sie tut es jetzt auch noch, weil sie Angst um dich hat. Sie fürchtet, dass Elohim versuchen wird, dich wieder für sich zu gewinnen und dann wieder einen Krieg beginnt. Es ist deine Entscheidung, was du tust. Mein Angebot steht und wenn ihr euch helfen lasst, finde ich einen Weg, um Jeremiel und Eva zu retten und Elohim ein für alle Mal aufzuhalten. Die Entscheidung liegt ganz bei euch.“ Samajims klare Worte hatten sie zum Nachdenken angeregt und während der Pfarrer kurz den Raum verließ, um etwas zu erledigen, saßen sie zusammen und überlegten, was sie nun tun sollten. Liam traute dem Kerl immer noch nicht über den Weg, aber Dathan sah die Sache wiederum ganz anders. „Mag ja sein, dass er etwas seltsam ist. Aber er hat sich für dich eingesetzt, um dein Leben zu retten und obwohl er dich bewachen sollte, hat er dir doch jeden erdenklichen Freiraum gelassen. Und mich hat er ebenfalls gerettet, obwohl Elohim mein Vater ist. Außerdem hat er doch nicht ganz Unrecht: alleine werden wir es vielleicht nicht schaffen und außerdem werden wir nur wertvolle Zeit verlieren. Zeit, die wir brauchen, um Jeremiel zu retten.“ „Ich muss ihm da zustimmen“, sagte L schließlich und nickte. „Dieser Samajim hat schon mal gegen Elohim gekämpft und verfügt über das nötige Wissen, das wir brauchen, um ihn und den Alpha-Proxy aufzuhalten. Zwar durchschaue ich sein merkwürdiges Spiel noch nicht, aber es scheint in seinem Interesse zu liegen, uns zu helfen und alleine werden wir es nicht schaffen. Das hat man ja schon daran gesehen, wie der Kampf zwischen dir und Eva ausgegangen ist.“ Dieser kleine Seitenhieb von L stieß bei Liam sauer auf und er hätte vielleicht etwas dazu gesagt, aber er schwieg dann doch lieber und seine Miene verfinsterte sich. Es war also beschlossene Sache, dass sie Samajims Hilfe annehmen würden, in der Hoffnung, auf diese Weise Elohim aufhalten zu können und damit auch Jeremiel zu retten. Nur eine Frage stellte sich Ihnen nach wie vor: wieso ausgerechnet Jeremiel? Als Samajim schließlich zurückkam und die vier ihm ihren Entschluss mitgeteilt hatten, fragten sie ihn natürlich und selbst darauf schien er bereits die Antwort zu haben. „Nun, Jeremiels Entführung hat wahrscheinlich mehrere Gründe. Der offensichtlichste von allen ist, dass es eine Falle ist, weil Elohim seinen alten Verbündeten zurückholen will. Denn tatsächlich war Araphel damals auf dem Schachbrett die Dame und damit die Stärkste Figur im Spiel. Für ihn wäre es absolut von Vorteil, wenn er Jeremiel als Köder benutzt. Der Alpha-Proxy würde ihn überwältigen und dann mit seinem Blut infizieren, sodass Elohim ihn manipulieren kann. Es gibt aber noch eine andere Theorie, die meiner Meinung nach wohl am meisten zutreffen würde: Elohim will Jeremiels Körper als Gefäß benutzen, um so wieder zurückkehren zu können. Elion hat eine viel zu starke Persönlichkeit, als dass es Elohim in seiner jetzigen Lage gelingen würde, seinen Willen zu brechen. Und da Jeremiel in seinem Proxy-Zustand eine innerlich vollkommen leere Person ist, dürfte es für Elohim kein Problem darstellen, seinen Körper zu übernehmen. Und zugleich wäre es der beste Schild gegen euch. Immerhin ist Jeremiel ein fester Teil eurer Familie und der Mensch, den du am meisten liebst, Liam. Es wäre strategisch von Vorteil, eure Gefühle auszunutzen, um euch auf diese Weise zu schlagen. Genau das gefällt mir nicht. Und solange die beiden anderen Proxys unterwegs sind, besteht Gefahr, dass sie die Schwachen aus eurer Gruppe herauspicken und sie angreifen. Das Beste wird sein, wenn wir ihnen zuvorkommen und sie vorher aufspüren.“ „Und wie sollen wir das anstellen?“ „Ganz einfach“, erklärte Samajim und lächelte selbstsicher. „Ihr nehmt Elion dafür.“ „Wie bitte?“ rief Beyond als er das hörte und stand auf. „Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein! Wir haben doch noch gar nicht die Frequenz entschlüsselt. Wenn wir Elion mitnehmen, wird das nach hinten losgehen.“ „Nicht, wenn ihr Ezra mitnehmt. Glaubt mir, es wird funktionieren. Ihr müsst nur Vertrauen haben.“ „In Sie?“ „Nein, in den Willen eures Freundes.“ Kapitel 7: Unruhige Wartezeit ----------------------------- Es war recht dunkel in dem alten Keller und überall standen große Regale mit diversen Büchern. Obwohl es hier drin gut geheizt war, verspürte er dennoch eine gewisse Kälte und er fror auch innerlich. Elion war seit Liams Ankunft hier in diesem Raum eingesperrt. Er trug sowohl Fußfesseln, als auch Handschellen und war zusätzlich an der Wand festgekettet. Die Ketten selbst waren ziemlich stark und würden wahrscheinlich standhalten, wenn er versuchte, sich loszureißen und dabei seine physischen Kräfte enorm verstärkte. Es war für ihn auch nicht sonderlich schlimm, hier unten eingesperrt zu sein, denn er war es ja durch sein Leben im Institut gewohnt, in einem fensterlosen Raum zu leben und es war auch schon vorgekommen, dass er gefesselt war. Es war tröstlich, dass er zumindest nicht befürchten musste, dass James und seine Leute reinkommen und über ihn herfallen würden. Trotzdem litt er unter dieser Situation. Er musste immer wieder daran denken, dass er Ezra beinahe getötet hätte. Und das nur, weil er nicht in der Lage war, sich dem Einfluss des Alpha-Proxys zu entziehen. Er war eine Gefahr für die anderen… Ob es wohl Ezra gut ging? Oh Mann, er wird mich mit Sicherheit dafür hassen, was ich getan habe. Wie kann ich ihm das auch verübeln? Ich hätte ihn beinahe umgebracht, obwohl ich doch versprochen hatte, ihn zu beschützen. Ich bin echt das Letzte. Niedergeschlagen ließ Elion den Kopf sinken und fühlte sich elend. „Hey Elion, nur nicht aufgeben“, hörte er die Stimme aus dem Laptop sprechen, der direkt vor ihm stand. Schon seit geschlagenen zwei Stunden unterhielt er sich bereits mit Rumiko über die Webcam, die immer noch versuchte, die Frequenz zu finden, mit der die Alpha-Proxys in der Lage waren, die anderen zu steuern. Bis jetzt hatte sich noch nicht viel getan und das frustrierte insbesondere ihn, denn er wollte so gerne den anderen helfen. Aber das würde nicht gehen, solange er eine Gefahr für sie alle war. „So schnell gebe ich mich nicht geschlagen und das solltest du genauso wenig tun. Wir finden schon noch die Frequenz und dann werden wir auch eine Möglichkeit finden, dir zu helfen. Was wir auf jeden Fall brauchen, ist Geduld und Ausdauer.“ „Schon verstanden. Ich gebe mein Bestes.“ „Das wollte ich von dir hören!“ Doch da hörte er plötzlich ein Geräusch und sah zur Tür. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können, als er Ezra sah, der tatsächlich die verriegelte Tür mit Sheols Hilfe geöffnet hatte und nun hereinkam. Er schloss die Tür hinter sich und ging direkt zu dem Proxy hin. „Ezra, was… was machst du hier?“ Der 16-jährige sagte nichts, sondern wirkte erst noch ziemlich geschockt über den Anblick, der sich ihm bot. Elion gefesselt da in der Ecke kauern zu sehen, war für ihn kaum zu ertragen und so umarmte er ihn und drückte ihn fest dabei an sich, bevor er sagte „Na was denn wohl, du Vollidiot? Ich wollte dich sehen.“ „Aber Ezra, du solltest nicht hier sein. Das… das ist gefährlich. Wenn ich wieder die Kontrolle verliere, könnte ich dich wieder…“ „Scheiß drauf“, rief der 16-jährige und klammerte sich regelrecht an Elion fest. Dabei spürte der Proxy die tiefen Emotionen des Kleingeratenen, der genauso unter der Situation litt wie sein großer Freund. Und er war ihm nicht böse wegen dieser einen Nacht. Er liebte ihn immer noch und als Elion das erkannte, kamen ihm die Tränen und am liebsten hätte er Ezra ebenfalls umarmt, wenn ihn nicht die Fesseln daran gehindert hätten. „Verdammt noch mal“, rief der High School Schüler und küsste ihn. „Das Ganze ist doch nicht deine Schuld. Das ist so unfair! Dich sperren sie ein wie ein Tier und ich kann nichts ausrichten, weil ich einfach nicht das Zeug dazu habe. Das ist so beschissen.“ „Das geschah doch auch auf meinem Wunsch hin, dass ich eingesperrt wurde“, erklärte Elion und sah in Ezras dunkelbraune Augen, die so unglücklich wirkten. „Es ist das Beste für alle Beteiligten, wenn ich vorerst im Keller lebe. Und Rumiko gibt doch schon ihr Bestes, um eine Möglichkeit zu finden, mir zu helfen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir die Frequenz gefunden haben und dann findet sich auch eine Möglichkeit, wie ich mich gegen Simrahs und Mutters Einfluss wehren kann.“ „Und wenn schon!“ rief Ezra und gab ihm eine Kopfnuss. „Ich finde es trotzdem beschissen, dass du hier unten versauerst und ich nichts tun kann, verdammt! Glaubst du etwa, du wärst der Einzige, dem es beschissen geht? Mensch ich wünschte mir echt, ich wäre so intelligent wie die anderen und könnte dir wenigstens helfen. Dann wärst du vielleicht schon längst hier raus und wir könnten den Rest unseres Urlaubs etwas Zeit für uns haben.“ „Du hilfst mir doch schon“, erklärte Elion und legte seinen Kopf auf Ezras Schulter ab. „Ich bin schon froh genug, dass du mich nicht hasst für das, was passiert ist. Ich hätte dich fast umgebracht und ich würde dir nicht verübeln, dass du mich jetzt nicht mehr sehen willst. Diese Seite wollte ich dir niemals zeigen.“ „Du kannst doch nichts dafür, verdammt“, rief Ezra energisch. „Daran sind nur diese durchgeknallten Proxy-Schwestern schuld. Die haben dich und Jeremiel manipuliert und du wolltest das doch nicht tun. Warum sollte ich dich denn hassen? Ich sag dir eines: wenn das vorbei ist, dann werden wir definitiv die Zeit nachholen, die wir beide verloren haben, klar?“ Damit küsste Ezra ihn und nahm ihn noch mal in den Arm. „Ich muss jetzt wieder gehen, bevor es noch richtig Ärger gibt. Und wehe, du wirfst jetzt das Handtuch! Sonst komm ich runter und werde noch richtig ungemütlich!“ Damit verschwand der 16-jährige wieder und schloss die Tür hinter sich. Elion konnte nicht anders, als zu schmunzeln und fühlte sich nun deutlich besser. So ein Glück… Ezra hasste ihn nicht und er hatte ihm verziehen. Vor Erleichterungen kamen ihm sogar die Tränen und sogleich hörte er Rumiko schwärmerisch seufzen. „Ach Mensch, ihr beiden seid so ein süßes Paar. Siehst du, Elion? Ezra glaubt an dich genauso wie wir alle! Also lass nicht den Kopf hängen, wir schaffen das schon.“ „Ja, das glaube ich auch. Aber sag, hast du jetzt die ganze Zeit zugesehen?“ „Sorry“, sagte die Halbjapanerin und machte entschuldigende Gesten. „Ich konnte einfach nicht anders. Es kann ja nicht jeder Glück haben und als Junge geboren werden. Wenn ich ein Mann wäre, dann wäre ich auch gerne schwul.“ Das war mal wieder typisch Rumiko. Aber so war sie eben und in der Richtung würde sie sich auch niemals ändern. „Sag mal, musst du dich nicht um deine Kinder kümmern?“ „Nein, Andrew und Oliver sind mit den beiden unterwegs und machen einen Ausflug. Ich hab denen die beiden aufs Auge gedrückt, damit sie so langsam ein Feeling fürs Elternsein kriegen.“ „Und wie schlagen sie sich?“ „Ganz hervorragend. Ehrlich gesagt hätte ich Oliver so viel Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit gar nicht zugetraut. Aus den beiden werden noch richtig gute Eltern, da bin ich mir sicher. Und der kleinen Charity geht es auch wunderbar. Zum Glück spielen meine Hormone nicht ganz so verrückt wie bei meiner ersten Geburt. Ich gehe alles ganz ruhig und entspannt an und danach sorg ich erst mal dafür, dass ich nach der Geburt meine alte Figur wiederkriege. Aber nun wollen wir mal schauen, dass wir endlich diese Frequenz finden. Je schneller wir einen Weg finden, um dir zu helfen, desto schneller kommst du auch wieder raus. Also lass uns nicht verzagen, sondern weiterarbeiten. Nur Mut!“ Ja, sie hatte vollkommen Recht und wenn sie weiter dranblieben, dann würden sie es mit Sicherheit schaffen. Frederica und Nastasja hatten schon längst mitgekriegt, was Ezra und Sheol gemacht hatten und sogleich knöpfte sich die Humanbiologin ihren älteren Adoptivsohn vor und gab ihm eine saftige Kopfnuss. „Sag mal, spinnst du eigentlich völlig? Ich habe euch doch klar und deutlich gesagt, dass ihr nicht alleine zu Elion gehen dürft, solange wir keine Möglichkeit gefunden haben, um ihn gegen den Einfluss des Alpha-Proxys zu schützen. Hörst du eigentlich überhaupt mal zu, wenn ich dir etwas sage?“ „Ja Mum“, antwortete der Rothaarige und rieb sich die Stelle, wo Nastasja ihm eins übergebraten hatte. Zuerst befürchtete er noch, dass sie ihm noch eine geben würde, doch da beruhigte sie sich auch schon wieder und atmete tief durch. „Bozheh moy“, sagte sie schließlich. „Ich frage mich echt, ob du dir überhaupt im Klaren ist, wie riskant das war. Was, wenn die Alphas in der Nähe gewesen wären und die Fesseln Elion nicht aufgehalten hätten? Das war sehr gefährlich von euch und ich mach mir Sorgen um euch.“ „Sorry, aber Ezra wollte ihn unbedingt besuchen und ich wollte nur helfen.“ Nun, da konnte Nastasja auch nicht allzu böse sein und sah von einer Strafe ab. Es reichte ja schon, wenn dieser Satansbraten noch seine Strafe für die Piercings abarbeiten musste. Da Frederica gerade mit Watari telefonierte, ging Nastasja in die Küche um was zu kochen, doch wenig später hörte Sheol sie auch schon „Poshyol ty’! Idi na xuy husesos!!!“ wettern, was er zwar nicht verstand, aber es klang irgendwie nach einem heftigen Herumgefluche. Ob das jetzt wegen ihm oder wegen irgendetwas anderes war, konnte er gerade nicht sagen. Schon seit Jeremiels Entführung war sie extrem reizbar, aber das konnte ihr niemand verübeln. Immerhin machte sie sich große Sorgen um ihren Sohn und hatte Angst, ihn zu verlieren. „Morgaly vikalyu, padla!!!“ Ezra und Sheol zogen sich ins Wohnzimmer zurück, da die Gegend um die Küche herum ziemlich gefährlich war, wenn Nastasja in Rage war. Ein Mal war es sogar vorgekommen, dass sie mit den Küchenmessern geworfen hatte. Der Tag verging allmählich und keiner von ihnen hörte auch nur ein Zeichen von Liam und den anderen, was sie schon sehr verwunderte. Denn eigentlich hätten sie sich doch schon längst melden können. Ob da was passiert war? Frederica schaffte es, die ziemlich gereizte Nastasja zu beruhigen und etwas mehr Ruhe ins Haus zu bringen. Gerade wollte sie in der Küche nachschauen und sehen, ob Nastasja vielleicht Hilfe brauchte, da klingelte es an der Tür und so ging sie hin. Sie rechnete erst mit Liam und den anderen, aber seltsamerweise konnte sie niemanden an der Tür wahrnehmen. Und als sie nachsehen ging, war sie umso überraschter, als sie Eva sah. Diese sah ziemlich mitgenommen aus. Ihre Hände waren genauso bandagiert wie ihr Hals und sie sah aus, als würde sie starke Schmerzen haben. „Eva“, sagte Frederica und zunächst blieb es auch das Einzige, was sie sagen konnte, denn vor Überraschung blieben ihr erst mal die Worte im Hals stecken. „Was willst du hier? Kann ich dir irgendwie helfen?“ „Ja, das kannst du“, sagte die Unvergängliche mit gedämpfter Stimme und man sah, dass Schweißperlen auf ihrer Stirn glänzten. Irgendetwas stimmte da nicht mit ihr. „Ich will, dass du den anderen klar machst, dass sie sich raushalten und aufhören sollen, nach Jeremiel und dem Alpha-Proxy zu suchen.“ „Wie bitte?“ „Du hast mich schon verstanden. Ich will, dass ihr euch da raushaltet und euch nicht länger mit den Proxys befasst. Ich werde mich der Sache alleine annehmen und ihr würdet da nur stören.“ „Ja aber…“ Frederica wusste nicht, was sie dazu sagen sollte und war verunsichert. Wollte Eva tatsächlich, dass sie aufhörten, nach Jeremiel zu suchen? Wenn ja, was sollte sie dann tun? Jeremiel war ein Freund, genauso wie die anderen und sie wollte für ihre Freunde da sein und sie unterstützen. Sie hatte versprochen, für sie alle da zu sein und zu helfen, wenn sie gebraucht wurde. Sie wollte Evas Familie beschützen und nun verlangte Eva selbst von ihr, dass sie die anderen aufhielt? Was sollte sie tun? Noch nie hatte sie sich Evas Willen widersetzt, sondern ihr immer gehorcht. Sie hatte so viel auf sich genommen, um Evas Wunsch zu erfüllen und nun… nun stand sie vor der Wahl. Was sollte sie tun? „Eva, das sind meine Freunde. Meine Familie. Ich kann sie doch nicht im Stich lassen.“ „Es ist auch meine Familie“, erklärte die Sefira und presste die Zähne zusammen, da die Schmerzen in ihrem Körper fast schon unerträglich wurden. „Ich weiß, was ich tue. Wenn die anderen gehen, werden sie noch in eine Falle laufen und sterben. Das kann ich nicht zulassen und du genauso wenig. Ich bitte dich darum.“ „Eva, was ist mit dir? Du… du kannst dich ja kaum noch auf den Beinen halten. Was hast du denn? Bist du verletzt?“ Frederica wollte schon nachsehen, was da unter dem Verband war, aber Eva schlug ihre Hand weg und machte einen Schritt zurück. „Mir geht es gut, mach dir da mal keine Sorgen. Versprich mir nur, dass du die anderen daran hindern wirst, nach Jeremiel und den Proxys zu suchen.“ Frederica senkte den Blick und fühlte sich elend, dass sie diese Entscheidung treffen musste. Sie wollte Eva nicht in den Rücken fallen, immerhin hatte diese sie erschaffen. Aber sie wollte auch ihre Familie nicht im Stich lassen. „Ich werde mein Bestes geben, versprochen.“ Damit gab sich Eva zufrieden und wandte sich ab. „Ich verlasse mich auf dich, Frederica.“ Damit ging sie wieder und Frederica sah ihr noch nach. Irgendetwas stimmte da überhaupt nicht mit Eva, das wusste sie. Sie war kreidebleich gewesen und hatte Schmerzen gehabt. Ob sie vielleicht eine Auseinandersetzung mit ihrem Bruder hatte? Nun, bei Liam würde sie nichts dergleichen wundern, immerhin hatte er einen ziemlichen Hass auf Eva und wenn bei denen die Fetzen flogen, da blieb kein Stein auf dem anderen. Ob er es übertrieben und sie so schlimm zugerichtet hatte? Nun, zuzutrauen wäre es ihm jedenfalls bei seinem Hass auf seine eigene Schwester. Doch was sollte sie nun tun? Sie musste zu Nastasja und ihr erzählen, was passiert war. Also ging sie in die Küche, wo die Russin noch dabei war, das Essen zu kochen. „Nastasja, ich muss mit dir sprechen.“ „Was gibt es denn und wer war denn da an der Tür?“ „Eva.“ Als die Humanbiologin das hörte, wären ihr beinahe die Sachen runtergefallen, denn mit so etwas hätte sie jetzt nicht gerechnet. „Wie bitte? Eva? Was wollte sie denn?“ Frederica erzählte ihr nach kurzem Zögern von Evas Bitte und wie befürchtet, war Nastasjas Reaktion alles andere als positiv. Sie reagierte fast schon aggressiv und warf wütend ein Geschirrtuch in die Spüle. „Das kann sie doch nicht allen Ernstes verlangen. Jeremiel ist mein Sohn und ich soll einfach so herumsitzen, während er in Gefahr ist? Also wirklich in aller Liebe, aber Eva hat sie doch nicht alle! Und was hast du gesagt?“ Schuldbewusst senkte Frederica den Kopf und seufzte niedergeschlagen. „Was sollte ich denn sagen?“ fragte sie hilflos und wich Nastasjas Blick aus. „Eva hat mich erschaffen und sie sagte, dass sie es alleine schaffen kann und wir uns nur unnötig in Gefahr bringen. Natürlich weiß ich doch, wie es euch dabei geht. Ich weiß doch auch nicht, was ich machen soll. Auf der einen Seite will ich Eva nicht in den Rücken fallen, aber ich will euch auch nicht im Stich lassen. Ihr seid doch meine Familie. Es tut mir Leid, Nastasja. Ich weiß ja, dass ich zu euch halten sollte. Du hast mich damals aufgenommen und L ist wie ein kleiner Bruder für mich. Aus diesem Grund ist Jeremiel eben auch mein Bruder und Liam ist ein sehr guter Freund. Ich weiß doch auch nicht, was ich tun soll. Es tut mir Leid.“ Doch ihre alte Freundin reagierte mit Nachsicht und legte einen Arm um Frederica, welche den Eindruck erweckte, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, weil das schlechte Gewissen sie plagte. „Du musst dich doch nicht entschuldigen. Ich verstehe ja, dass das nicht einfach ist und du beiden Seiten gerecht werden willst. Ich mache dir da auch keine Vorwürfe. Aber… Eva kann einfach nicht von mir erwarten, dass ich tatenlos herumsitze, während mein Kind in Lebensgefahr schwebt.“ Das Albinomädchen nickte verständnisvoll und sah auch ein, dass es keinen Sinn haben würde, ihre Freundin davon abzuhalten. Das brachte sie auch nicht wirklich übers Herz. „Ich werde aber mit Liam und den anderen darüber sprechen. Es wäre das Beste, wenn sie auch darüber Bescheid wissen. Soll ich hier noch irgendwie helfen?“ „Ja, du könntest Elion gleich sein Essen bringen. Er und Ezra bekommen die vegetarische Variante und Sheol die doppelte Portion mit extra viel Fleisch. Der Junge braucht mehr Energie als alle anderen, weil sein Gehirn deutlich mehr Energie verbraucht als ein normaler Mensch.“ „Hast du schon eine Möglichkeit gefunden, den Fehler zu beheben?“ „Ich arbeite noch an einer Therapiemöglichkeit, aber ich komme leider nicht allzu gut voran. Und ich versuche ja auch noch, eine Möglichkeit zu finden, um Elion zu heilen, aber leider gelingt mir das nicht wirklich. Ich fürchte, Elion wird für den Rest seines Lebens ein Proxy bleiben und Sheol wird auch nicht mehr vollständig menschlich werden. Aber er kommt gut damit zurecht und solange er glücklich ist, bin ich es auch. Ich hab ja auch sonst recht viel zu tun. Nicht nur, dass mich die Arbeit an der Uni in Anspruch nimmt, ich muss ja auch Sheol und Ezra bei den Hausaufgaben helfen und da bin ich auch dankbar, wenn Elion mir zur Hand geht, wenn er von der Uni zurück ist. Aber einfach ist es trotzdem nicht.“ „Kann ich mir gut vorstellen. Mit L und Beyond ist es manchmal auch etwas schwierig, wenn sie sich mal wieder zanken. Oder sie arbeiten gemeinsam so lang, dass sie durch den massiven Schlafmangel etwas „sonderbar“ werden. Nicht selten endet es damit, dass ich sie von den verrücktesten Sachen abhalten muss. Die beiden können einen schon sehr fordern, wenn sie wollen, aber ansonsten macht die Arbeit mit ihnen auch wirklich Spaß. Die beiden sind ja auch ein wunderbares Paar.“ „Ja, das sind sie…“, murmelte Nastasja und man sah ihr an, dass sie irgendetwas beschäftigte. Ob es um die Beziehung der beiden ging? Als sie diesbezüglich nachfragte, wirkte die Russin sehr nachdenklich und überlegte sich die passenden Worte. „Es ist nicht so, dass ich etwas gegen ihre Beziehung hätte. Ich bin ja ein sehr toleranter und aufgeschlossener Mensch und ich glaube fest daran, dass der Herr die Homosexuellen genauso liebt wie die Heterosexuellen. Aber trotzdem mache ich mir Sorgen. Ich meine, wer wird für sie Sorgen, wenn sie alt sind? Normalerweise übernehmen das die Kinder und sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit nie welche haben.“ „Darum mach dir mal keine Sorgen. Ich werde mich um die beiden kümmern und für sie sorgen.“ „Das ist schön und gut, aber was machst du, wenn du eines Tages eine eigene Familie haben wirst? Diese wird dich dann auch brauchen. Ich weiß ja, dass sich irgendwie eine Lösung finden wird, aber ich mache mir einfach Gedanken, dass die Beziehung der beiden vielleicht nicht für immer besteht. Was wollen sie dann machen? So oft wie sich die beiden immer streiten, denke ich, dass das nicht gesund ist für die Beziehung.“ Doch da konnte Frederica sie beruhigen. „Glaub mir, die beiden haben wirklich alle Krisen gemeistert. Und diese Streitereien sind für sie nicht schlimm. Es ist… ihre etwas seltsame Art, ihre Liebe zu zeigen. Keine Beziehung war einfach, aber wie du selbst sagtest: an Hindernissen wächst man. Man muss nur Vertrauen in seine eigenen Stärken haben. Und ich glaube, dass die ganze Familie an all ihren Problemen gewachsen ist, die sie in all den Jahren hatte. Auch ich selbst. Und deshalb werde ich euch so gut es geht helfen und euch beschützen.“ Kapitel 8: Wie soll es weitergehen? ----------------------------------- Es war später Abend, als Liam und die anderen zurückkehrten und sogleich, als sie wieder da waren, merkte man sofort, dass etwas passiert sein musste. Liam stand neben der Spur und auch Dathan sah nicht gerade gut aus. Sheol und Ezra hatten sich längst schlafen gelegt und auch Nastasja war fast auf dem Sofa eingenickt, nachdem sie noch selbst an einer Möglichkeit geforscht hatte, um Elion zu helfen. Müde rieb sie sich die Augen, als sie die Ankömmlinge bemerkte und fragte sofort „Wo ward ihr denn so lange? Ich dachte schon, ihr würdet gar nicht mehr zurückkommen.“ Frederica kam schließlich hinzu, nachdem sie sich um Elion gekümmert hatte und sah ebenfalls, was los war. Sie erfuhren von der Auseinandersetzung mit Eva und was sie von Samajim erfahren hatten. Zu hören, dass Liam in seinem Leben vor seiner Amnesie ein gefährlicher Massenmörder war, der selbst vor Kindern nicht Halt gemacht hatte, schockierte selbst Frederica und Nastasja und sie blieben erst einmal sprachlos. Insbesondere als Dathan erzählte, dass er Elohims Sohn sei, der gemeinsame Sache mit den Alpha-Proxys machte. Wirklich alle Fragen wurden soweit beantwortet, bis Frederica schließlich feststellte „Aber wir kennen immer noch nicht die Identität des Alpha-Proxys.“ „Samajim meinte, es wäre noch zu früh. Wir haben uns entschlossen, mit ihm zusammenzuarbeiten, weil er offenbar einen Weg kennt, wie wir Jeremiel retten und Elohim aufhalten können. Eva ihrerseits will ganz alleine gegen Elohim kämpfen und ist dabei, ihr Leben zu opfern. Und das wollen wir ebenfalls verhindern.“ „Ach ja… was das betrifft…“, begann Frederica zögerlich und senkte den Blick. „Sie war vor einer Weile hier und bat mich darum, euch daran zu hindern, weiter nach Jeremiel und dem Alpha-Proxy zu suchen. Sie sagte, dass ihr nur dabei draufgehen werdet, weil das alles eine Falle ist.“ Zu ihrer Überraschung reagierte Liam gar nicht gereizt darauf oder wirkte sonst in irgendeiner Art und Weise wütend und das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Was war nur mit ihm geschehen, dass er gar nicht wütend war, dass Eva so etwas verlangte? Zur Sicherheit fragte sie nach und war umso erstaunter, als er sagte „Es gibt da einige Dinge, über die ich nachdenken muss und die Eva und mich betreffen.“ Und das klang irgendwie ganz deutlich danach, als spiele er ernsthaft mit dem Gedanken, seine Dauerfehde mit ihr zu beenden. Und das sah ihm überhaupt nicht ähnlich und machte sie vollkommen sprachlos. „Wie meinst du das?“ „Eva hat mir damals das Leben gerettet, obwohl ich ein brutaler Massenmörder war und Hochverrat begangen habe. Sie hat Ajin Gamur über 400 Jahre lang gedient, um ihre Familie zurückholen zu können und sie bürgt bis heute noch für mich. Ohne sie wäre ich hingerichtet worden und wäre auch nicht derjenige, der ich jetzt bin. Ich habe einfach eingesehen, dass ich viele Dinge ernsthaft überdenken muss. Insbesondere, was meine Konflikte mit Eva betrifft.“ Das hieß also, er war dabei, den Streit endgültig beizulegen? Das waren ja ganz neue Töne von ihm. Nachdem sie die restlichen Informationen ausgetauscht hatten, fragte Frederica direkt „Und was sollen wir nun machen? Ich kann Eva nicht verraten. Ich habe ihr versprochen, euch daran zu hindern, nach Jeremiel und dem Alpha-Proxy zu suchen und ich halte meine Versprechen.“ „Mag sein“, sagte L und hatte sich schon was überlegt. „Aber dein Versprechen galt weder für die beiden Proxy-Schwestern, noch für Elohim.“ Ja, das stimmte auch wieder. Eva hatte darüber nichts gesagt, also geriet sie auch nicht in einen Gewissenskonflikt. So könnte sie den anderen tatsächlich helfen, ohne dabei ihr Versprechen zu brechen. „Ja, so könnte es klappen. Und was genau sollen wir jetzt tun?“ „Samajim sagte, wir sollten Elion aus dem Keller holen und mit seiner Hilfe die Proxy-Schwestern aufspüren. Und… er sagte auch, wir sollen Ezra mitnehmen.“ Die Reaktion fiel nicht gerade positiv aus. Insbesondere nicht bei Nastasja, die ihre Jungs wie eine Löwin verteidigte. Zu hören, dass L und die anderen tatsächlich vorhatten, Elion trotz der bestehenden Gefahr mitzunehmen und dann auch noch Ezra mit reinzuziehen, war für sie absolut daneben und sofort sagte sie auch „Das könnt ihr doch nicht allen Ernstes vorhaben. Wir haben die Frequenz noch gar nicht entschlüsselt und obwohl ihr genau wisst, dass Elion machtlos gegen die Alphas ist, wollt ihr ihn mitnehmen? Ihr seid verrückt.“ „Mum“, sagte L beschwichtigend. „Dieser Samajim sagte, dass es funktionieren wird, wenn wir auf Elions Willensstärke vertrauen. Er hat schon ein Mal gegen diesen Elohim gekämpft und weiß, wie wir vorgehen müssen. Und eine bessere Alternative haben wir leider im Moment nicht und auch wenn mir der Gedanke auch nicht ganz behagt, dass wir so ein hohes Risiko eingehen, so scheint Samajim ein mächtiger Verbündeter zu sein. Welche Gründe sollte er haben, uns in den Rücken zu fallen? Elohim will alle Unvergänglichen auslöschen und Samajim würde davon ebenfalls betroffen sein. Er kennt Elohims Ziel und hat alles bereits in Planung. Strategisch ist es sinnvoll, wenn wir zuerst die Proxys in Gewahrsam nehmen und durch sie herausfinden, wo wir den Alpha-Proxy finden können und wo sich Jeremiel aufhält. Problematisch ist, dass nicht nur Eva und Samajim, sondern auch der Alpha-Proxy weiß, wie er seine Präsenz verbergen kann, sodass selbst Liam ihn nicht aufspüren kann.“ Ja, das stimmte auch wieder und so blieb ihnen tatsächlich kaum eine andere Alternative, als Samajims Plan zuzustimmen und einfach darauf zu vertrauen, dass sie es auf diese Weise schaffen konnten, Jeremiel zu finden. „Na hoffentlich kommt Eva nicht dazwischen und bringt alles durcheinander.“ „Selbst das hat Samajim längst einkalkuliert und er meinte, dass Eva sehr berechenbar sei und es deshalb ein leichtes für ihn sei, ihre nächsten Schritte vorherzusehen. Wir müssen uns einfach nur an das halten, was er uns als Hinweis zukommen lässt und Stück für Stück den richtigen Weg finden. Solange wir uns darum kümmern und die großen Alten keinen Handlungsbedarf sehen, besteht noch Hoffnung, dass diese Welt heil aus der Sache rauskommt. Ansonsten wird es zu einem Krieg kommen.“ „Der’mo“, sagte Nastasja und zustimmend nickte Liam, die anderen verstanden leider nicht, was sie sagte. „Also dann bleibt uns kaum eine Wahl. Wir müssen das Risiko eingehen und Elion mitnehmen. Und Ezra auch. Trotzdem gefällt mir das überhaupt nicht.“ „Mach dir keine Sorgen“, sagte Liam und sah entschlossen aus. Seine dunkle Ausstrahlung hatte er längst wiedergewonnen. „Ich werde nicht zulassen, dass euch etwas passiert und wenn dieser Samajim uns hintergehen sollte, werde ich ihn töten, ganz gleich, wie mächtig er ist. Es ist mir egal, wie stark oder gefährlich die großen Alten sind. Wer jene bedroht, die unter meinem persönlichen Schutz stehen, der wird sein blaues Wunder erleben. Und wenn ich mich mit Ajin Gamur persönlich anlegen muss…“ Da es spät war, beschlossen sie, sich erst einmal schlafen zu legen und morgen damit zu beginnen, die Proxys zu suchen. L und Beyond hatten von Dathan das alte Schlafzimmer als Nachtlager bekommen, Liam schlief nur äußerst selten und brauchte deshalb keinen Schlafplatz und der Rest hatte sich in der Villa verteilt. Die beiden lagen nun da und sahen einander nachdenklich an. Dann aber strich Beyond über L’s Wange und betrachtete seine dunklen Augen. „L, glaubst du, dass es so glatt gehen wird, wie dieser Samajim gesagt hat?“ „Das weiß ich nicht“, gab L zu und wirkte recht bedrückt. „Aber ich hoffe es. Allein schon, weil ich mir Sorgen um die anderen mache. Um unsere Familie. Es war nicht gerade hilfreich zu hören, wie das alles angefangen hat und dieses Kapitel mit Liam beschäftigt mich auch. Ich mache mir zudem ernsthaft Sorgen um meinen Bruder. Wenn es wirklich stimmt und Elohim will seinen Körper übernehmen, dann heißt das, dass Jeremiel für immer aufhören wird zu existieren. Dann wird es zu spät sein, um ihn zu retten.“ „Das glaube ich nicht“, sagte Beyond schließlich und nahm L’s Hand und hielt sie fest. „Deine Mutter hat doch das Serum hergestellt, mit dem sie Elion hat retten können, genauso wie Sheol. Vielleicht funktioniert es dann ja auch bei Jeremiel, wenn dieser Elohim in seinem Körper ist. Noch dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben. Zwar traue ich diesem Samajim nicht so wirklich, aber er scheint sich sehr sicher zu sein, dass es einen Weg gibt, um Jeremiel zu retten. Und wir haben schon so viel geschafft, da werden wir auch ganz sicher deinen Bruder zurückholen können.“ „Schon verrückt“, murmelte L und sah in Beyonds rot leuchtende Shinigami-Augen. „Am Anfang wolltest du ihn am liebsten loswerden und ihm den Hals umdrehen. Und jetzt…“ „Na er gehört doch zur Familie und er ist auch echt in Ordnung. Okay, er kann manchmal ganz schön hinterhältig sein…“ „Aber auch nur deshalb, weil du ihn provozierst. Da brauchst du dich nicht wundern, wenn es dafür direkt eine Retourkutsche gibt.“ „Wie dem auch sei“, seufzte Beyond und sah erst danach aus, als würde er schmollen, aber dem war doch nicht so. „Ich finde deinen Bruder echt in Ordnung und ich weiß ja, wie nah ihr euch inzwischen steht. Immerhin ist er ja inzwischen auch schon ein echt guter Detektiv und macht seine Arbeit gut. Und er weiß sich auch ganz gut durchzusetzen und vor allem dir klar zu machen, dass du sein jüngerer Bruder bist. Er lässt sich ja auch nicht die Butter vom Brot nehmen und auch wenn er aussieht, als käme er unmöglich allein zurecht, hat er sich ja echt gut gemacht. Vor allem lässt er sich nicht so einfach reinreden. Insbesondere nicht in seine Beziehung.“ „Streu noch Salz in die Wunde“, brummte L und sah deutlich verstimmt aus. Wahrscheinlich war er jetzt noch weniger begeistert als ohnehin schon, dass Jeremiel mit Liam zusammen war. Vor allem, weil dieser früher ein gefährlicher Massenmörder war. Das war eine ganz andere Liga als Beyond! Und dass er sich da eben Sorgen machte, war ja auch verständlich. Vielleicht ist das ja einer von Evas Charakterzügen, dachte sich Beyond als er sich zurückerinnerte, wie besorgt L manchmal um seine Familie war. Insbesondere, wenn es um deren Umfeld ging. Immerhin ist er ja ihre menschliche Wiedergeburt und Eva selbst sorgt sich ja auch ständig um ihre Familie. Sonst hätte er nicht noch versucht, Nastasjas noch sehr frische Beziehung mit Dathan auszureden. Schließlich stand L auf und sagte bloß „Ich muss noch kurz was mit meiner Mutter wegen morgen besprechen“, dann verließ er das Zimmer. Beyond zuckte nur gleichgültig mit den Achseln und legte sich dann hin. Kurz darauf kam aber L wieder zurück und sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Als der Serienmörder das sah, runzelte er verwundert die Stirn und fragte „Was ist denn mit dir los?“ „…frag nicht…“ Das war die einzige Antwort, die der Detektiv von sich gab und legte sich dann ins Bett, wobei er nicht eine Sekunde lang diesen Blick verlor. Nun war der BB-Mörder natürlich neugierig geworden und fragte „Nun sag schon, was ist los?“ „Schwarz…“, sagte der Detektiv tonlos und klang immer noch, als wäre er komplett neben der Spur. „Sie hat schwarz getragen…“ So langsam kam Beyond dahinter, was L so verstört hatte und konnte nicht anders als zu lachen, wobei er ihm auf die Schulter klopfte und sich dann an ihn herankuschelte. „Jetzt stell dich mal nicht so an. Du bist schon 26 Jahre alt. Hey, ich hab meine Eltern im Bett gesehen, als ich erst fünf war. Und da haben sie mir auch nichts schöngeredet, sondern mir gleich die jugendfreie Version erzählt.“ Trotzdem war für L der Rest des Abends endgültig gelaufen. Und ihm graute vor dem nächsten Morgen, wenn er seiner Mutter gegenüberstand. Hoffentlich riss sie ihm nicht noch den Kopf ab… „Hey L“, flüsterte Beyond und stupste ihn an. „Sie es doch mal positiv. So schlecht sieht deine Mutter doch gar nicht aus.“ „Halt die Klappe…“ „Und wie steht’s mit Dathan? Hatte er denn tatsächlich so eine Modelfigur?“ „Halt endlich die Klappe und hör auf, es nur noch schlimmer zu machen.“ „Kopfkino?“ L sagte nichts dazu, drehte sich nur um und klatschte Beyond das Kissen ins Gesicht. Diese eine Frage ließ er unbeantwortet aber so wie der Serienmörder aus den Reaktionen schließen konnte, musste dieser Dathan schon ganz ansehnlich sein. „Tja, deine Mutter hat eben Geschmack.“ Und zur Strafe für diesen Kommentar durfte er in dieser Nacht auf der Couch schlafen. Am nächsten Morgen wurden sie von Frederica geweckt, die gerade dabei war, das Frühstück zu machen. Liam hatte sich zurückgezogen, um ungestört mit seinen Leuten telefonieren zu können. Sheol war schon längst auf den Beinen und machte etwas Frühsport, wobei er von Nastasja begleitet wurde, die sich ebenfalls fit halten wollte. Dathan ging Frederica ein wenig zur Hand und unterhielt sich ein wenig mit ihr, während L und Beyond schon mal Platz nahmen und versuchten, irgendwie wach zu werden, denn das ganze Durcheinander hatte ihnen schon eine schlaflose Nacht bereitet. Und als sich auch noch Dathan schließlich dazusetzte, da verging L der Appetit und er wurde wieder ganz bleich im Gesicht. Beyond konnte sich natürlich den Spaß nicht nehmen und musste beide in Verlegenheit bringen, indem er ganz unverblümt fragte „Na, seid ihr euch inzwischen näher gekommen, du und Nastasja?“ Dathan sah fast genauso geschockt aus wie L, lief rot im Gesicht an und senkte beschämt den Blick, während L erst einen Moment lang erstarrt war, dann aber aufstand und Beyond eins mit der Zeitung überbriet. Schließlich kam Frederica und setzte sich dazu, kurz darauf kam auch Liam, der inzwischen Elion aus dem Keller geholt hatte. Dieser wirkte ziemlich nervös und verstand auch nicht wirklich, warum er denn jetzt wieder rausgeholt wurde, obwohl Rumiko noch nicht fertig mit der Arbeit war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wäre er lieber freiwillig im Keller geblieben, weil er große Angst davor hatte, dass er die anderen gefährden könnte. Insbesondere als Ezra als Spätaufsteher dazu kam, wollte er aufstehen und wieder in den sicheren Keller flüchten, doch da hielt Liam ihn am Arm fest und sagte mit ruhiger und tiefer Stimme, die fast schon drohend klang „Du bleibst hier!“ und daraufhin traute sich der Proxy auch nicht mehr, irgendwelche Widerworte zu geben. Dennoch wirkte er am Tisch ziemlich verkrampft. Und Dathan genauso. Schließlich stieß Beyond seinen Sitznachbarn an und flüsterte „Ich kann mir nicht helfen, aber die beiden könnten Brüder sein, so wie die wirken.“ Und da konnte selbst L in dem Moment nicht widersprechen. Wenig später kamen Nastasja und Sheol vom Joggen zurück und setzten sich dazu. Der Rothaarige belud seinen Teller, als müsste er eine ganze Kompanie versorgen und genauso aß er auch. Es blieb nicht unbemerkt, dass Nastasja Dathan immer wieder unauffällige Blicke zuwarf, während dieser immer wieder sehr verlegen zur Seite blickte. Er war einfach zu schüchtern, um ihrem Blick nach der gestrigen Nacht standzuhalten. Schließlich fragte Frederica „Also wie wollen wir heute vorgehen?“ Und damit kamen sie auch endlich auf das Wichtigste zu sprechen, nämlich ihrem Plan, die Proxys zu konfrontieren und sie in Gewahrsam zu nehmen. „Wir müssen uns gut überlegen, wer mitkommt. Denn wenn zu viele mitgehen, verlieren wir die Übersicht und dann könnte es außer Kontrolle geraten.“ Dem konnten L und die anderen nur zustimmen. „Wir müssen die Kräfte gut verteilen, denn es kann gut sein, dass der Alpha-Proxy versuchen könnte, jene anzugreifen, die nicht mitgehen. Also Elion und Ezra sind auf jeden Fall mit von der Partie. Liam ist unsere stärkste Figur im Spiel und kommt ebenfalls mit.“ „Dathan sollten wir auch mitnehmen.“ „Wir?“ fragte L und sah Beyond mit einem verdächtigen Blick an. „Du bleibst dieses Mal hier. Nachdem du bei den letzten Aktionen fast draufgegangen wärst, hätte ich es lieber, wenn du hier bleibst.“ „Das kann doch nicht dein Ernst sein, L. Ich bin kein Kleinkind und ich weiß mich auf jeden Fall besser zu wehren als du. Und als wir gegen Elion und den Knirps gekämpft haben, da ist mir ja auch nichts passiert.“ „Und was war das noch letztens, als du leichtsinnig einfach losgerannt bist, obwohl Schüsse zu hören waren? Nein, ich will einfach nicht, dass du schon wieder in Lebensgefahr gerätst. Es reicht, wenn wir auf Ezra aufpassen müssen.“ „Du kannst mich doch nicht mit dem Kleinen vergleichen.“ „Hey! Ich bin nicht klein, ich wachse noch!“ Eine Diskussion entstand und wäre beinahe im Streit ausgeartet, doch da ging ganz überraschend Liam dazwischen und was er sagte, machte sogar L sprachlos, denn er ergriff tatsächlich Partei für ihn. „Beyond, L liegt es einfach am Herzen, dass dir nichts passiert. Du an seiner Stelle würdest doch auch wollen, dass er lieber in Sicherheit wäre, wenn er schon so oft in Lebensgefahr geraten wäre so wie du. Also respektiere seinen Wunsch auch mal.“ Wahrscheinlich konnte er ihn deshalb so gut verstehen, weil es ihm mit Jeremiel genauso ging. Und da selbst Beyond es nicht so wirklich wagte, sich mit dem Mafiaboss anzulegen (denn er hatte zwar keine Angst, aber dennoch sehr großen Respekt vor ihm), gab er mit vielem Murren klein bei. Als Sheol hörte, dass er auch da bleiben musste, war er mehr als sauer und rief „Hey, wieso darf ich denn nicht mitgehen und dafür Ezra? Das ist unfair, ich bin wesentlich älter als er.“ „Das hat damit nichts zu tun“, erklärte L. „Er muss aus strategischen Gründen mitkommen. Das gehört zu Samajims Plan.“ „Dann will ich auch mit!“ „Nein. Es reicht schon, wenn wir auf Ezra aufpassen müssen. Ganz zu schweigen davon, dass du nicht viel ausrichten kannst. Ich habe mir das so vorgestellt: Frederica und Liam kommen mit uns, da sie kräftemäßig mit den Proxys mithalten können. Da Dathan noch nicht über die nötige Kampferfahrung verfügt und eventuell ein Risiko besteht, dass er als Elohims Sohn in ihr Visier geraten könnte, wird er zusammen mit Mum, Beyond und Sheol hier bleiben.“ Damit war es entschieden und alle zeigten sich einverstanden. Nur Beyond und Sheol waren verstimmt, Elion hielt die Aktion immer noch nicht für eine gute Idee und ihn plagte immer noch die Angst, dass Ezra seinetwegen verletzt werden könnte. Doch Ezra selbst schien da nicht ganz so viel Sorgen zu haben. Entweder hatte er verdammt großes Vertrauen in Elion und die anderen, oder er war sich noch nicht so wirklich der Gefahr bewusst, in die er sich begab. Nach dem Frühstück machten sie sich bereit und trafen die letzten Vorbereitungen. Dathan, der immer noch sehr nachdenklich gestimmt war, zog sich in sein Zimmer zurück, setzte sich auf sein Bett und betrachtete das Schwert, welches er von Lacie bekommen hatte. Schließlich öffnete sich die Tür und Nastasja kam herein. „Was ist los? Ist irgendetwas wegen letzter Nacht? Wenn es um L geht, dann mach dir mal keine Gedanken. Der Junge muss noch erst mal erwachsen werden, was manche Dinge betrifft.“ „Nein, es ist diese andere Sache. Ich meine… ich bin Elohims Sohn. Ich bin der Sohn jenes Mannes, der für all das hier verantwortlich ist. Irgendwie fühl ich mich mitschuldig für das Ganze.“ Als die Russin das hörte, legte sie einen Arm um ihn und sprach ein kleines Machtwort. „Jetzt hör mal gut zu. Es gibt da eine großartige Weisheit, die Liam immer in solchen Momenten anwendet: es kommt nicht darauf an, wer oder was du bist oder woher du kommst. Es zählen einzig und allein die Entscheidungen, die du triffst. Und du kannst nichts dafür, was dein Vater getan hat, also solltest du dir auch keine Vorwürfe machen, oder dich in irgendeiner Art und Weise mitverantwortlich fühlen für die Dinge, die passiert sind.“ Doch er wirkte trotzdem sehr unglücklich und senkte den Kopf. „Ich würde so gerne verstehen, warum er das alles tut und wieso er auch noch die Menschen mit reinziehen will. Sein Hass sollte doch allein denen gelten, die ihn umbringen wollten. Und nun liegt es auch an mir, ihn aufzuhalten.“ Dass die ganze Situation für ihn nicht einfach war, konnte Nastasja gut verstehen. Immerhin würde es wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass Dathan seinen Vater schlimmstenfalls töten musste. Schließlich aber fiel ihr Blick auf das Schwert und die transparente Klinge, die aussah wie Glas. „Es heißt doch, dass die Waffen der Unvergänglichen eine Einheit mit ihnen bilden und ihr Selbst widerspiegeln. Ich glaube, dass du, Elion und dein Vater euch in gewisser Hinsicht vielleicht nicht mal so verschieden seid. Denn was euch verbindet, das ist ein Herz aus Glas.“ „Wie meinst du das?“ „Nun, ihr tragt eure Gefühle offen nach außen, ohne etwas zu verbergen. Man kann leicht in eure Herzen hineinschauen und euch verstehen. Ihr seid empfindsam und auf der einen Seite stark, aber auf der anderen Seite sehr fragile Wesen. Ein Herz aus Glas ist schnell zu durchschauen und es ist in gewisser Hinsicht rein. Frei von Bosheit und negativen Gedanken wie Neid, Habsucht oder Machthunger. Aber… ein Herz wie Glas kann leider auch sehr schnell zerbrechen. Viel schneller sogar als ein normales Herz. Und wahrscheinlich ist das mit deinem Vater passiert. Etwas hat sein Herz endgültig gebrochen und was von ihm übrig blieb, waren Scherben, die nichts als Schmerz verursachen. Menschen oder Unvergängliche mit einem solchen Herzen haben einen wunderbaren Charakter und auch du darfst darauf stolz sein. Aber wer kein starkes Herz besitzt, der kann irgendwann nichts mehr fühlen als Schmerz. Vielleicht musst du deinen Vater ja nicht töten. Du hast es schon geschafft, Elion, Ezra und Frederica zu helfen und ihnen neue Kraft zu geben. Vielleicht kannst du deinem Vater helfen, ohne dass noch mehr Blut vergossen wird.“ Ja, dachte Dathan und nickte schweigend. Vielleicht findet sich ein Weg, ohne dass ich meinen Vater wirklich töten muss. Wenn er wirklich mal so gutherzig und sanftmütig war, dann steckt vielleicht noch irgendetwas Gutes in ihm. Schließlich legte Dathan das Schwert beiseite und ergriff Nastasjas Hand, wobei er aber schüchtern den Blick abwandte. „Nastasja, ich… ich weiß nicht, ob das mit uns gut gehen kann. Ich meine… ich bin…“ „Eine ganz liebenswerte Person“, ergänzte Nastasja und ließ ihn auch nicht mehr zu Wort kommen. „Es spielt für mich keine Rolle, ob du ein Mensch bist oder nicht. Elion ist auch kein vollwertiger Mensch und ich liebe ihn nicht weniger als meinen Sohn wie meine beiden leiblichen Söhne. Jetzt hör gut zu: ich liebe dich so wie du bist und daran wird auch die Tatsache nichts ändern, dass du kein Mensch bist, oder was für eine Person dein Vater ist. Das sagt nichts über deinen Charakter aus.“ „Ja aber… was habe ich denn schon für einen Charakter? Ich gerate schon ins Stottern, wenn ich angesprochen werde, ich kann nicht sonderlich gut mit Menschen umgehen, weil ich eben verdammt schüchtern und unsicher bin, ich habe kaum Selbstvertrauen und viel bieten kann ich dir und deiner Familie auch nicht.“ „Als ob es mir darauf ankommt“, erklärte die Russin mit deutlichem Ton in der Stimme. „Ich bin doch auch nicht gerade die absolute Traumfrau. Ich arbeite viel, ich fluche auf Russisch wie ein Bierkutscher, ich betreibe zig Kampfsportarten und habe bereits mit 10 Jahren Männer auf die Matte geschickt, die 20 Jahre älter waren als ich. Wer mich nicht gerade als durchgeknallt bezeichnet, der läuft vor mir weg, weil er nicht mit meinem russisch-italienischen Temperament zurecht. Als Russin bin ich herzlich, aber ich sage immer direkt, was mir auf dem Herzen liegt. Damit bin ich aufgewachsen. Und als Italienerin werde ich schnell heißblütig, aufbrausend und vor allem laut. Manchmal bin ich wirklich eine Zumutung für andere, das gebe ich offen zu. Aber was mich eben so fasziniert, das sind Leute, die selbst dann noch diese Ruhe ausstrahlen und durch die ich mich irgendwie wieder einkriegen kann. Wie du aussiehst, ist mir egal. Ich hätte dich auch mit den Brandnarben geliebt und es spielt für mich keine Rolle, ob du nun für mich sorgen kannst, oder nicht. Ich bin emanzipiert genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Aber ich brauche einfach jemanden, der es schafft, mein ruhiger Fels in der Brandung zu bleiben, wenn mein Temperament wieder so hohe Wellen schlägt. Deshalb habe ich mich für dich entschieden. Und was deine Schüchternheit oder deine Vergangenheit betrifft: Mne do lampochki!“ Dathan schmunzelte, als er das hörte. „Du hast schon ein sehr… buntes Vokabular, oder?“ „Sag bloß du verstehst, was ich sage.“ „Nun, wenn du gerade eben das ist mir scheißegal gesagt hast, dann ja.“ „Oh Mann…“, murmelte Nastasja und ließ den Kopf hängen. „Dann sollte ich wohl in Zukunft mehr auf meine Wortwahl achten, oder?“ „Musst du nicht“, beruhigte er sie mit einem schüchternen Lächeln. „Irgendwie finde ich es ganz süß, wenn du fluchst.“ Nun war Nastasja absolut perplex. Selbst Henry hatte so etwas nie gesagt. Aber andererseits machte sie das auch wirklich froh, dass Dathan nicht schlecht von ihr dachte, wenn sie in ihrer Muttersprache Wörter benutzte, die besser zensiert werden sollten. Und dafür gab sie ihm einen liebevollen Kuss. Kapitel 9: Simrah ----------------- Nachdem alle Vorbereitungen abgeschlossen waren und sie sich auf den Weg machen wollten, da nahm Beyond Frederica noch mal zur Seite und sah sie eindringlich an. „Versprich mir bitte, dass du gut auf die anderen aufpasst, klar? Wenn L noch etwas zustoßen sollte, dann kann ich für nichts mehr garantieren.“ Doch das Albinomädchen war zuversichtlich und lächelte fröhlich wie sonst auch immer. „Keine Sorge, das schaffen wir schon. Liam ist ein hervorragender Kämpfer und ich weiß mich auch zu wehren. Ich gebe dir mein Wort, dass L nichts passiert, ebenso wenig wie Ezra und Elion.“ Trotzdem war Beyond unruhig und wäre am liebsten mitgekommen. Und da L seinen Pappenheimer inzwischen schon knapp eineinhalb Jahre kannte, nahm er seinerseits seine Mutter beiseite, um ein Wort mit ihr unter vier Augen zu sprechen. „Hab bitte ein Auge auf Beyond, ja? So wie ich ihn kenne, wird der sicherlich keine Ruhe geben und dann wieder ausbüchsen und nach uns suchen. Und genau das soll er nicht tun, aber er ist gerissener, als er eh schon aussieht. Könntest du da ein wenig aufpassen?“ „L“, sagte seine Mutter ruhig und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich bin mit einem fünfjährigen Quälgeist fertig geworden, der sich bei jeder Gelegenheit heimlich im Supermarkt abgesetzt hat, um die Süßwarenabteilung zu plündern. Ich kriege das schon hin, keine Sorge. An der Eisenfaust von Tscheljabinsk kommt er nicht so leicht vorbei.“ Nun, da war auf seine Mutter wirklich Verlass und so konnte er wenigstens mit der Gewissheit gehen, dass Beyond außer Gefahr war. Noch einmal wollte er nicht riskieren, dass dieser sich in Lebensgefahr begab und dann vielleicht sogar noch draufging. Das konnte und wollte er einfach nicht zulassen, dafür liebte er ihn einfach zu sehr. Schließlich machten sie sich auf den Weg und überließen Elion die Führung. Dieser hatte die Spur der Proxy-Schwestern aufgenommen, war aber immer noch sehr skeptisch, was den Plan betraf. Er konnte sich nicht helfen, aber er hatte wirklich ernsthafte Sorge, dass das alles nicht funktionieren würde. Warum denn auch? Bis jetzt hatte er sich noch nie gegen den Einfluss des Alpha-Proxys… seiner leiblichen Mutter… wehren können. Er hatte wirklich Angst davor, den Proxys gegenüberzustehen und die Kontrolle verlieren. Wenn das geschah, dann würde er die anderen in Gefahr bringen, insbesondere Ezra. Und das durfte er nicht zulassen. Als würde der 16-jährige spüren, was in seinem älteren Freund vor sich ging, ergriff er dessen Arm und hakte sich bei ihm ein. „Ezra…“ „Hör endlich auf so ein Gesicht zu ziehen, als würden wir alle gleich über den Jordan gehen. Glaubst du ich hab keinen Schiss? Aber ich vertraue dir und ich weiß, dass du uns nichts tun willst. Und wenn diese Hexen versuchen sollten, dir wieder so eine Gehirnwäsche zu verpassen, dann sorg ich höchstpersönlich dafür, dass du wieder zur Vernunft kommst. Und wenn ich dir sogar an den Haaren ziehen muss.“ „Danke Ezra. Aber… wenn ich es nicht schaffen sollte, musst du dich bitte von mir fernhalten und hinter Liam und Frederica bleiben. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich dir etwas antun könnte.“ „Du musst nur auf deine eigene Stärke vertrauen“, erklärte Liam und ihm war nichts anzumerken. Wahrscheinlich machte er sich nicht einmal ernsthaft Sorgen, weil er ja um seine Stärken wusste und wild entschlossen war. So entschlossen, dass er sich sogar mit Ajin Gamur, dem höchsten und mächtigsten aller Wesen angelegt hätte. Ob es nun Mut oder Verrücktheit war, ließ sich nur schwer sagen, aber je mehr L diese Seite von ihm sah und hörte, wie weit Liam für Jeremiel gehen würde, desto mehr wuchs auch irgendwie die Anerkennung. Zwar war er nach wie vor der Meinung, dass Liam nicht der richtige Partner für Jeremiel war, weil dieser ein extrem gefährlicher Mafiaboss war, aber eines zeichnete ihn aus: seine bedingungslose Liebe und Treue. Und ihm war wirklich zuzutrauen, dass er sich mit wirklich jedem angelegt hätte, der sich ihm in den Weg stellte. Und das machte es ihm leichter, sich mit der Tatsache abzufinden, dass Liam der Partner seines Bruders war. „Wie weit sind wir von den Proxys entfernt?“ Elion hob kurz den Kopf, als versuchte er, ein Geräusch zu orten. „Nicht mehr weit. Sie bewegen sich langsam in unsere Richtung, aber ich kann Mutter oder Jeremiel nicht wahrnehmen. Wahrscheinlich halten sie sich fürs Erste versteckt. Ich hoffe nur, dass es auch wirklich funktioniert.“ Sie kamen in eine etwas abgelegene Gegend im East End und betraten eine stillgelegte Fabrik. Schließlich blieb Elion stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Dann aber hörten sie Schritte und der Proxy. Elion riss vor Entsetzen weit die Augen auf, ging ein paar Schritte zurück und presste eine Hand gegen seine Stirn. „B-bleibt weg von mir…“, rief er mit zitternder Stimme. Sofort reagierte Frederica und zog L und Ezra beiseite, während Liam sich bereit zum Angriff machte. Man konnte förmlich beobachten, wie Elion sich veränderte und vollkommen apathisch wurde. Er stand völlig neben der Spur und sah aus, als wäre er in einer Art Trance. Und dann hörten sie ein leises Kichern. Hinter den alten Maschinen tauchte ein Mädchen auf, welches knapp 16 Jahre alt zu sein schien. Sie hatte langes blondes Haar, welches sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte und sie trug dieselbe Kleidung wie die Proxys bei ihren Außeneinsätzen, nur hatte sie keinen Helm auf. Sie hatte dieselbe Augenfarbe wie Elion und wirkte recht zierlich, doch etwas absolut Gefährliches ging von ihr aus und so wie sie aussah, konnte sie es kaum erwarten, sie alle umzubringen. „Ihr seid ja verrückt, mit 01 hier aufzutauchen nach der Abreibung letztens. Aber das macht es mir ja eigentlich auch umso leichter, euch zu töten.“ „Wo ist die andere?“ fragte Liam direkt in einem barschen Ton, ohne großartig auf die Worte des Mädchens einzugehen. Doch dieses lächelte nur verschlagen und zog sogleich zwei Schwerter. „Auf den Weg zu den anderen. Mit euch werde ich problemlos allein zurechtkommen, da kann sich Samsara ja um die Luschen kümmern, die ihr zurückgelassen habt. Mal sehen wie es euch gefallen wird, wenn ihr das verliert, was euch am allerwichtigsten ist. Der geliebte Mensch an eurer Seite, eure Freunde, deine Mutter…“ „Warum ausgerechnet wir?“ „Weil ihr die Erben Hajjims seid. Mutter will, dass wir ausnahmslos jeden Abkömmling töten, egal ob er ein Mensch ist oder nicht. Und diesem Befehl werden wir als Proxys nachkommen. Nicht wahr, 01?“ „Ja…“, sagte dieser tonlos und ging zu Simrah hin und bekam eine Waffe von ihr in die Hand gedrückt. Zufrieden grinste das Mädchen und klopfte ihm auf die Schulter, wobei sie insbesondere Liam und Frederica ansah. „Seht ihr? Er kann sich nicht dem Willen eines Alphas widersetzen, das liegt in seiner DNA. Oder habt ihr echt geglaubt, er würde seinen eigenen Willen durchsetzen und damit gegen seine eigene Natur ankämpfen können? Wie naiv seid ihr eigentlich? Nur weil ihr sein kleines Betthäschen mitgebracht habt, könnt ihr rein gar nichts ändern. 01 gehört mir und wenn ihr ihn nicht tötet, wird er euch töten. So einfach ist die Sache. Na los 01, zeig ihm was es heißt, ein Proxy zu sein.“ Elion blieb einen Augenblick lang regungslos stehen und sagte nichts. Er war vollkommen apathisch und es war unmöglich zu erkennen, was in seinen Kopf vorging. Aber dann griff er blitzschnell an und wollte L attackieren, doch da ging Frederica dazwischen und machte sich bereit. Als Elion nahe genug war, drehte sie sich zur Seite und verpasste ihm einen gewaltigen Tritt in den Brustkorb und riss ihn erst einmal von den Füßen. In dem Moment griff Simrah selbst an und sie war noch schneller als Elion. Ein normaler Mensch hätte wahrscheinlich nicht schnell genug reagieren können, als sie mit ihrer Klinge zustieß, um Liam zu erwischen, doch dieser parierte den Schlag und die nächsten auch. Elion rappelte sich wieder auf und startete den nächsten Angriff. Unerbittlich schlug er auf Frederica ein und es zeigte sich, dass er ein wirklich ernstzunehmender Gegner war. Das Albinomädchen hatte sichtlich Mühe, ihren Angreifer vom Hals zu halten, da rutschte sie auf dem etwas feuchten Boden aus und stürzte, in dem Moment bekam Elion sie an den Haaren zu fassen. Die Schmerzen waren unerträglich für Frederica und sie schrie auf. Da sie in diesem Zustand so gut wie wehrlos war, nutzte der grauhaarige Proxy diesen Zustand und wollte ihr das Genick brechen, doch da riss sich Ezra von L los und stürzte sich kurzerhand auf den außer Kontrolle geratenen Proxy. Er rang ihn zu Boden und hielt ihn am Kragen fest, dann schlug er ihm ins Gesicht. „Hör verdammt noch mal auf damit und komm wieder zu dir, Mann. Lass dir doch nicht von der Tussi da vorschreiben, was du zu tun hast. Ich weiß, dass du noch irgendwo da drin bist und ich schwöre dir, wenn du jetzt nicht wieder vernünftig wirst, reiß ich dir die Haare aus!“ Doch da verpasste Elion ihm eine Kopfnuss, stieß ihn von sich und als er wieder auf den Beinen war, riss er Ezra von den Füßen hoch und stieß ihn gegen die Wand. Simrah lachte amüsiert, als sie diese Szene beobachtete während des Kampfes beobachtete. „Glaubst du etwa im Ernst, dass das funktioniert, du Zwerg? 01 kann dich nicht hören, er ist vollständig unter meiner Kontrolle und tut nur das, was ich sage. Er ist quasi darauf programmiert, den Alphas bedingungslos zu gehorchen und alles zu tun, was sie ihm sagen.“ „Fahr doch zur Hölle, du Psychotante. Und überhaupt: sein Name ist Elion und nicht 01, merk dir das mal“, rief der 16-jährige und versuchte sich irgendwie zu befreien, doch Elion hielt ihn fest und dann schleuderte er Ezra zu Boden, trat ihm in den Bauch und als Frederica wieder aufstehen wollte, packte er sie an den Haaren und rammte ihre Stirn mit aller Kraft gegen die Wand. Es gab ein hässliches knirschendes Geräusch und es gelang ihr noch, trotz der höllischen Schmerzen ihre Kraft einzusetzen um ihre Verletzung zurückzusetzen und dann ihrerseits Elion anzugreifen. Liam war mit Simrah genug beschäftigt, die wirklich talentiert darin war, mit zwei Schwertern gleichzeitig zu kämpfen und wie eine Berserkerin angriff, ohne überhaupt kurz innezuhalten. Sie griff erbarmungslos an und lachte wie eine Wahnsinnige. Der Mafiaboss konnte zwar ganz gut mithalten und ihr die Stirn bieten, aber er konnte sie einfach nicht abschütteln, um zu helfen. L seinerseits eilte Ezra zu Hilfe, der von dem Tritt noch ziemlich benommen war. Er half ihm auf und fragte auch direkt „Was hast du dir bei der Aktion nur gedacht? Ist dir klar, wie gefährlich das war?“ „Ich musste doch etwas tun, sonst hätte er noch Frederica umgebracht.“ „Du hältst dich zurück und…“ L schaffte es nicht, den Satz zu beenden, denn da griff Elion an, der Frederica kurz abschütteln konnte. In dem Moment duckte sich der Detektiv und verpasste ihm einen heftigen Tritt ins Gesicht. Benommen taumelte der Proxy zurück, fing sich aber schnell wieder und griff erneut an. Nun war aber Frederica wieder zur Stelle und konnte Elions Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken. Ezra sah diesen Kampf und fühlte sich vollkommen hilflos. „Wie sollen wir denn Elion zur Vernunft bringen, wenn er mich nicht hört? Was sollen wir denn tun?“ „Erst mal dafür sorgen, dass Simrah sich nicht mehr auf ihn konzentrieren kann. Vielleicht hilft das ja, dass Elion wieder genug Kraft aufbringen kann, um wieder zu Verstand zu kommen.“ Doch L hatte noch andere Sorgen. Eine der Proxy-Schwestern war auf dem Weg zu Beyond und den anderen und er musste sie warnen. Er holte sein Handy hervor und wählte die Nummer seiner Mutter. Doch ausgerechnet in diesem Moment musste der Empfang wegfallen. Er bekam einfach kein Netz. Also gab er Ezra das Handy. „Ezra, du rufst Mum oder Beyond an und warnst sie. Ich gebe dir Rückendeckung.“ Damit lief der 16-jährige los und seine Flucht blieb nicht unbemerkt. Simrah gelang es, Liam abzuschütteln und sie eilte dem Flüchtigen hinterher. „Glaubt ihr Pfeifen etwa, ich lasse euch einfach so abhauen? Na wartet, euch kriege ich gleich noch.“ Damit wollte sie L angreifen und ihm ihre Klingen ins Herz rammten, doch da warf sich im letzten Moment Liam dazwischen und fing den Angriff ab. Blut spritzte, als sich die Klingen tief in seine Brust bohrten und L kam diese Szene irgendwie vertraut vor, als er das sah. Seine Mutter… Elion… Sie hatte auch so einen Angriff abgefangen, um Andrew zu beschützen. Der Unvergängliche keuchte und Blut lief seine Mundwinkel herunter. Und doch blieb er stehen und verpasste Simrah einen verheerenden Schlag ins Gesicht, der sie fast durch die ganze Halle schleuderte. Er wankte ein wenig und presste eine Hand auf die Wunde. Die Verletzung war bedrohlich und blutete stark, doch er lächelte nur verächtlich. „Da braucht es schon mehr als zwei Zahnstocher, um mich umzubringen.“ Doch Simrah, die sich allmählich von dem Schlag erholt hatte, grinste nur und sah ihn herausfordernd an. „So, du willst also ernst machen? Nun gut, dann werde ich mal ernst machen.“ Damit griff das blonde Mädchen wieder an und zugleich kam auch Elion dazu, um Liam von hinten mit dem Schwert zu erstechen. Beide attackierten gnadenlos den Unvergänglichen, der nun langsam richtig sauer wurde. Frederica eilte herbei, um ihm zu helfen und L hielt inzwischen nach Ezra Ausschau. Dieser kam mit dem Handy zurück und gab es L wieder. „So wie es aussieht, ist diese Samsara schon längst bei Beyond und den anderen. Nastasja und Dathan sind gerade dabei, sie irgendwie zu überwältigen. Beyond meinte, dass sie ganz gut zurechtko…“ „Vorsicht!“ Im allerletzten Moment warf sich L auf Ezra und riss ihn zu Boden, als ein Messer in ihre Richtung flog und den 16-jährigen beinahe ins Herz getroffen hätte. Doch kaum, dass sie am Boden lagen, spürte Ezra einen stechenden Schmerz in seinem Kopf und ein heftiges Dröhnen. Sein Sichtfeld verschwamm und der Schmerz breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Es fühlte sich an, als würden seine Knochen vibrieren, genauso wie seine inneren Organe und dabei langsam aber sicher zerrissen werden. Er schrie vor Schmerz und L versuchte, ihn ruhig zu halten und zu erkennen, was mit ihm los war. „Ezra, was ist mit dir?“ Doch der 16-jährige war nicht imstande zu antworten. Sein Körper verkrampfte sich, Blut lief ihm aus dem Ohr und er rang nach Luft. Simrah kicherte amüsiert bei diesem Bild, wobei sie sich dann an Liam wandte mit den Worten „Siehst du? Wir können auch auf diesem Level weiterspielen. Aber keine Sorge. Ich quäl ihn erst mal noch ein paar Minuten, solange ich mit euch beiden spiele. Na Kleiner? Was willst du jetzt machen? Am besten lehnst du dich zurück und genießt noch ein wenig die Show.“ „E… Elion…“ Trotz der unsagbaren Schmerzen schaffte es Ezra, noch genügend Kraft zu sammeln und mit Mühe Worte hervorzubringen. „Du hast… hast doch gesagt… du wirst mich be… beschützen. Du hast versprochen, immer für mich da zu sein.“ „Oh, wie rührend“, rief Simrah höhnisch und amüsierte sich köstlich darüber, während sie dem angeschlagenen Liam weiter zusetzte. „Mir kommen gleich die Tränen. Hey du Pimpf, nur damit du es endlich mal checkst: 01 wird dich nicht hören, da kannst du dich noch so querstellen.“ „Das ist nicht wahr!“ rief Ezra und dann geschah etwas, was selbst das Proxy-Mädchen sprachlos werden ließ. Obwohl der 16-jährige vor Schmerzen kaum noch Kraft in seinem Körper hatte, stand er auf und schaffte es tatsächlich mit unglaublich viel Willenskraft, stehen zu bleiben. Langsam und wankend ging er auf Elion zu, der seinerseits reglos da stand und nichts tat. Schließlich hatte sich der 16-jährige mit enormer Anstrengung zu ihm hingeschleppt und hielt sich an ihm fest. Tränen flossen seine Wangen hinunter und sein Atem ging nun unregelmäßig. „Elion, bitte… ich brauche dich doch… du hast doch versprochen, für immer bei mir zu bleiben.“ „Im Ernst, du gehst mir langsam auf die Nerven du Kröte!“ rief Simrah und schaffte es, Liam abzuschütteln und wandte sich an Elion. „Na los doch. Töte ihn endlich, damit ich mir sein Gejammer nicht mehr anhören muss. Los, tu es!“ Als Frederica das hörte, wollte sie schon einschreiten, doch Simrah konnte sowohl sie als auch Liam locker im Schach halten und Ezra war nicht in der Lage, vernünftig zu reagieren. Er war ja schon halb ohnmächtig. „Elion…“, brachte er unter Schmerzen und Tränen hervor. „Bitte…“ Einen Moment lang schwieg Elion und tat nichts. Aber dann schien sich etwas in ihm zu regen. Ehe sich die anderen versahen, hatte er einen Arm um Ezra gelegt und dann mit dem Schwert zum Schlag ausgeholt. Es riss eine tiefe Wunde quer über Simrahs Körper und prallte schließlich am Knochen ab. Das blonde Proxy-Mädchen schrie auf, als das Schwert sich tief in ihren Rücken grub und verlor dabei auch die Kontrolle über ihre Kräfte, woraufhin auch die Schmerzen in Ezras Körper augenblicklich verschwanden. Erschöpft sank der 16-jährige zusammen und sogleich war L bei ihm, um sich um den Bewusstlosen zu kümmern. Sie konnten es nicht glauben. Elion hatte es tatsächlich geschafft, sich Simrahs Einfluss zu entziehen und die Kontrolle über seinen Verstand zurückzubekommen. Mit dem blutgetränkten Schwert in der Hand ging er auf Simrah zu und sie wusste gar nicht, wie ihr geschah. Mit einem fremdartigen Blick sah Elion sie an und eine gewaltige Energie ging von ihm aus. Sie erfüllte die gesamte Halle und ihnen war, als würde sogar der Boden erzittern. Selbst Liam hatte noch nie eine so immense Kraft gespürt und dabei ahnte er, dass das nicht einmal ein Bruchteil der Kraft war, die da in Elions Körper schlummerte. Sie war bei weitem stärker als seine eigene… um Dimensionen stärker. Und auch der Glanz in Elions Augen war ganz anders als sonst. Strahlten sie sonst immer Sanftmut, Freundlichkeit und Ruhe aus, so war etwas Erhabenes in ihnen zu erkennen und er bewegte sich auch mit einem Male ganz anders. Es war so, als wäre stünde mit einem Mal eine vollkommen andere Person vor ihnen. Simrah ihrerseits verstand nun gar nichts mehr und war auch ein Stück weit entsetzt. „Wie… wie kann das sein?“ fragte sie und hatte nun richtig Angst. „Kein niederer Proxy kann sich dem Einfluss eines Alphas widersetzen. Das ist völlig unmöglich. Hey, was stehst du da rum? Na los doch, töte sie endlich. Ich befehle es dir!“ Doch Elion hob nur seine Hand, hielt sie direkt auf Simrahs Gesicht gerichtet und sagte nur „Nein“, dann setzte er eine so unfassbar starke Energie frei, dass die dabei entstandene Druckwelle Simrah von den Füßen riss und quer durch die Halle schleuderte. Sie prallte gegen die Wand, welche durch die immense Wucht einfach zerfetzt wurde, als wäre sie aus Papier. Die ganze Fabrik erzitterte und zuerst befürchteten die anderen, dass das Gebäude zusammenstürzen konnte, doch es hielt glücklicherweise stand. Simrah, die unter Unmengen von Ziegelsteinen begraben war, brauchte einen Moment, um wieder zu Bewusstsein zu kommen. Sie war völlig benommen und wehrlos, doch ehe sie sich versah, stand Elion da auch schon wieder direkt vor ihr. Im Bruchteil eines Augenblicks stand er plötzlich vor ihr und immer noch strahlte er eine so unfassbare Kraft aus, dass sie einen Menschen in den Wahnsinn treiben konnte. Nun hatte sie es richtig mit der Angst zu tun, denn das da vor ihr war nie und nimmer ein Proxy. Kein Proxy war jemals so stark, nicht einmal ein Seraph oder sogar ein Sephira. Sie hatte solche Angst, dass sie nicht einmal ein Wort hervorbringen konnte. Elion seinerseits blieb ruhig und es war weder Abscheu, noch Hass oder Zorn zu sehen. Aber es war auch nicht Sanftmut oder Freundlichkeit, so wie sonst auch. Es war einfach nur Ruhe und Erhabenheit, die er ausstrahlte und das Gleiche war auch in seiner Stimme zuhören. „Wag es nie wieder, meiner Familie etwas anzutun.“ Simrah, der das alles überhaupt nicht geheuer war, stand hastig auf und rannte davon. Liam nahm die Verfolgung auf, L blieb bei Ezra und Frederica ging zu Elion hin, der immer noch wie verändert war. Zögernd blieb sie ein paar Schritte entfernt stehen und war unsicher, was sie tun sollte. „E-Elion?“ Ohne auf ihre Worte eine Reaktion zu geben, hob der Proxy den Blick, so als würde er etwas wahrnehmen. Seine Augen weiteten sich, in seinen Augen sammelten sich Tränen und er wirkte fassungslos, aber dennoch irgendwie… erleichtert. „Nivkha…“, sagte er leise und lächelte. „Ich glaube es nicht. Du bist noch am Leben… ein Glück.“ Und bevor Frederica Fragen stellen konnte, da spürte sie, wie diese gewaltige Kraft wieder wich. Sie verschwand einfach, als würde sie sich auflösen und dann brach Elion zusammen, als er das Bewusstsein verlor. Kapitel 10: Samsaras Tod ------------------------ Beyond hatte wirklich mit dem Gedanken gespielt, den anderen heimlich zu folgen, weil er sich trotz allem Sorgen um L machte. Außerdem passte es ihm überhaupt nicht, dass er zuhause bleiben musste, während L den ganzen Spaß hatten. Doch dazu ließ es Nastasja nicht kommen. Als Beyond sich nämlich absetzen wollte, hatte Nastasja ihn auch schon erwischt und zerrte ihn am Ohr wieder ins Haus zurück. „Glaub mir mein Lieber, ich als Mutter kenne alle Tricks. Ich hab L damals wiedergefunden, wenn er sich abgesetzt hat, genauso wie ich heute Sheol zu fassen kriege, wenn er trotz Hausarrest ausbüchsen will, oder wenn Ezra vor seinem Termin beim Zahnarzt zu flüchten versucht. Du bleibst schön hier!“ „Sag bloß, L hat dich als meinen persönlichen Babysitter angeheuert…“ „Bist wohl ein echter Blitzmerker mein Lieber. Und jetzt komm wieder rein. Es gibt gleich Mittagessen und Sheol geht mir auch schon genug auf den Geist.“ Damit gingen sie wieder zurück ins Haus und Beyond musste wohl einsehen, dass er einer erfahrenen Mutter wohl nicht so leicht entkommen konnte. Dathan sah das Ganze sehr entspannt und deckte den Tisch, während Sheol auf der Couch saß und an seinem Nintendo spielte. Sogleich rief Nastasja auch „Hey, du könntest wenigstens mal helfen, junger Mann!“ „Es ist schon gut“, beruhigte Dathan sie. „Es ist doch eh nicht viel Arbeit und ihr seid Gäste.“ „Mag sein, aber er soll bloß nicht auf den Trichter kommen, dass er sich hier breit machen kann und nichts tun muss. Ich muss ihn sowieso bis zu fünf Mal dran erinnern, seine Aufgaben zu erledigen und sein Zimmer aufzuräumen. Aber in der Hinsicht ist er manchmal wirklich faul.“ Sheol tat gekonnt so, als hätte er nichts gehört und spielte seelenruhig weiter. Schließlich saßen sie alle zusammen am Tisch und es war eigentlich eine ganz entspannte Runde. Sheol spachtelte mal wieder für eine komplette Fußballmannschaft und machte mit seinem enormen Appetit selbst Dathan komplett sprachlos. „Wie kann ein Mensch nur so viel essen?“ „Er muss sehr viele Kohlenhydrate zu sich nehmen, da seine Hirnleistung mindestens drei Mal so hoch ist, wie bei einem normalen Menschen“, erklärte die Russin, die der Anblick schon längst nicht mehr erstaunte. „Elion und die anderen haben aufgrund ihrer Hirnmutationen einen ausgeglichenen Stoffwechsel, weshalb der Energieverbrauch deutlich reguliert werden kann. Aber Sheol hat diese Mutationen nicht mehr und dennoch arbeitet sein Hirn deutlich mehr als unseres. Das ist auch der Grund, warum er sehr sportlich ist.“ „Yo“, rief Sheol und hatte dabei noch nicht mal sein Essen runtergeschluckt. „Und wenn ich mit der Schule bin, werde ich auf jeden Fall Profisportler. Am besten Basketballspieler.“ „Dafür bist du nun etwas zu klein.“ „Größe wird doch eh überbewertet. Und wenn das nicht funktioniert, such ich mir eine andere Sportart. Hey, ich könnte MMA-Profi werden. Kampfsport beherrsche ich eh, ich brauch nur noch etwas Training. Hey Mum, würdest du mich trainieren? Du als zweimalige Weltmeisterin müsstest doch ein paar gute Tricks wissen.“ „Das schon, aber jetzt haben wir erst mal genug andere Sorgen. Und außerdem: schluck erst mal runter bevor du sprichst. Wie alt bist du? Drei?“ Tja, die beiden waren wirklich das perfekte Beispiel für Mutter und Sohn. Sheol als wahrer Rebell drückte sich vor seinen Aufgaben, machte sein eigenes Ding, überging Verbote einfach und ließ sich so gut wie gar nichts sagen. Und ständig heckte er irgendwelchen Blödsinn aus. Inzwischen überraschte Beyond bei dem gar nichts mehr. Kaum zu glauben, dass Sheol eventuell sogar noch älter war als er. Sie saßen noch eine Weile zusammen und unterhielten sich, bis plötzlich Dathan verstummte, ein ernstes Gesicht machte und sich dann von seinem Platz erhob. Fragend blickte Nastasja ihn an, ahnte aber nichts Gutes, als sie den ernsten Blick bei ihm sah. „Ist irgendetwas?“ „Ich habe irgendein ganz komisches Gefühl. Ich weiß auch nicht was es ist.“ „Fühlt es sich an, als wäre da eine Art unnatürliche Präsenz, die näher kommt?“ erkundigte sich Sheol sogleich, der offenbar schon irgendetwas zu ahnen schien. Unsicher zuckte der Unvergängliche mit den Achseln und murmelte „Ich weiß es nicht. Kann gut möglich sein.“ „Dann ist Ärger im Anmarsch. Mum, die Proxys kommen.“ Sofort waren alle in Alarmbereitschaft und erhoben sich. Beyond ging in die Küche und schnappte sich eines der Fleischermesser, Sheol blieb auf Nastasjas Anweisung hin bei Beyond. Sie selbst band sich ihre Haare zu einem Zopf und wickelte sich Bandagen um ihre Handgelenke. Sie sah aus wie eine Boxerin, die bereit war, jeden Augenblick zuzuschlagen. Schließlich fragte sie „Ist sie alleine?“ Unsicher zuckte Dathan mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Ich kann das nicht so genau erkennen.“ „Wahrscheinlich nur eine von beiden, sonst wären die anderen längst wieder hier. Vielleicht haben wir ja Glück und wir erwischen noch den Alpha-Proxy.“ „Darüber macht man keine Witze.“ Sheol wollte dazu etwas sagen, doch da zerbrach das Fenster des Wohnzimmers und ein schwarzer Schatten griff blitzschnell Sheol an, woraufhin Beyond im letzten Moment mit dem Küchenmesser den Schwertangriff blocken konnte. Doch die dabei freigesetzte Kraft war so gewaltig, dass er kaum gegenhalten konnte. Sofort war Nastasja zur Stelle und verpasste dem Proxy-Mädchen ein paar saftige Schläge und konnte sie somit von Beyond trennen. Es handelte sich um ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren. Ihre Augen waren genauso eisblau wie Jeremiel, nur was auffiel war, dass sie gar keine Pupillen zu haben schien. Das verlieh ihren Augen etwas sehr Unnatürliches. Sie hatte einen genauso nichts sagenden und emotionslosen Gesichtsausdruck wie Sam Leens und wirkte irgendwie, als wäre sie nicht ganz bei der Sache oder als wäre sie irgendwie apathisch. „Hey“, rief Beyond, als er sie wiedererkannte. „Du bist doch Samsara. Deine Schwester Simrah ist doch diese Alpha, oder?“ „Ja“, antwortete sie tonlos und stand wieder auf, wobei sie ihr Schwert wieder in die Hand nahm. „Sie befahl mir, euch zu töten und Nivkha mitzunehmen.“ „Eh?“ fragte Dathan verwundert, als er das hörte. „Wieso soll ich mitkommen?“ „Mensch, das erklärt sich doch von selbst“, kam es von Beyond. „Du bist Elohims Sohn, schon vergessen? Wahrscheinlich will dein werter Vater dich zu sich holen und dich dann genauso für irgendwelche Experimente benutzen, um dich hinterher zu seiner Trumpfkarte zu machen.“ „Dathan geht nirgendwohin, kapiert? Ich lasse ganz sicher nicht zu, dass ihr ihn mitnehmt und ihn für eure Zwecke benutzt. Nur über meine Leiche!“ Und damit schaffte es Nastasja, dem Proxy-Mädchen das Schwert aus der Hand zu drehen und wollte sie schon niederringen, doch da bekam sie einen Schlag gegen den Unterkiefer und einen Tritt in die Magengrube und daraufhin packte Samsara sie am Genick und stieß ihren Kopf gegen die Wand. Der Schlag setzte Nastasja kurz außer Gefecht und das nutzte das schwarzhaarige Mädchen und wollte sie mit einem Messer töten, da warf sich Sheol auf sie, um sie daran zu hindern. „Nimm deine verdammten Griffel von meiner Mum, oder ich mach Hackfleisch aus dir!“ Es gelang ihm auch tatsächlich, Samsara die Stirn zu bieten, denn obwohl er jetzt mehr Mensch als Proxy war, so beherrschte er immer noch die Kampftechniken, die er im Institut beigebracht bekommen hatte. Doch als es dem Mädchen gelang, ihm das Messer in den Bauch zu rammen und damit schwer zu verletzen, da war für die anderen endgültig Schluss. Nastasja sah komplett rot und attackierte ihre Gegnerin ohne zu zögern, während sich Dathan um den schwerverletzten Sheol kümmerte, dessen Verletzung ziemlich tief war und stark blutete. Der Rothaarige biss sich auf die Unterlippe und wurde blass im Gesicht. „Keine Sorge, ich… ich mach das schon.“ Doch er hegte insgeheim Zweifel, ob er das wirklich schaffen konnte. Immerhin hatte er schon bei Beyond absoluten Mist gebaut, als er seine Verletzungen zurücksetzen wollte. Was sollte er denn tun, wenn es dieses Mal nicht klappen würde. „Hey Mann“, sprach Sheol mit gedämpfter Stimme und ergriff seinen Arm. „Jetzt hör auf, dich verrückt zu machen, sondern atme tief durch und konzentrier dich. Das klappt schon. Wenn du selbst daran glaubst, dass du es schaffen kannst, dann wird es auch funktionieren.“ Dathan nickte und versuchte sich zu konzentrieren. Sheol hatte Recht. Es brachte rein gar nichts, wenn er sich jetzt verrückt machte und sich fragte, ob er das schaffen konnte. Er konnte das schaffen, immerhin besaß er die dazu notwendigen Fähigkeiten. Also sammelte er sich und erinnerte sich daran, was Frederica und Elion ihm beigebracht hatten. Und tatsächlich gelang es ihm, die tiefe Stichverletzung zurückzusetzen, ohne dass etwas schief ging. Beyond schnappte sich den angeschlagenen Rotschopf und brachte ihn erst einmal aus der Gefahrenzone, während Dathan Nastasja zur Hilfe eilte. „…ka…“ Was? Was war das gerade? Hatte er da gerade etwas gehört Merkwürdig… ihm war so, als würde da eine Stimme in seinem Kopf erklingen. „Ni… ka…“ War das etwa dieses Mädchen? Ja aber was wollte sie von ihm? Gerade wollte er sich an Beyond wenden und ihn fragen, doch dieser bekam ausgerechnet in diesem Moment einen Anruf und war nicht ansprechbar. Anscheinend war es Ezra. Tja, offenbar schien nur er diese Stimme zu hören. Und offenbar wollte Samsara ihn sprechen. Zögerlich stand er auf und ging zu den beiden Kämpfenden hin. Nastasja war wirklich eine gnadenlose Kämpferin und konnte Samsara ganz schön zusetzen. Doch dann gelang es dem Proxy-Mädchen, sich unter einem Schlag wegzuducken und ihr gegen die Beine zu treten, woraufhin Nastasja stürzte. In dem Moment kam Samsara direkt auf Dathan zugelaufen. Bevor dieser reagieren konnte, hatte sie ihre Stirn auf die seine gelegt und ihm wurde schwarz vor Augen. Ihm war, als würde irgendeine Kraft ihn unwiderstehlich fortziehen wie einen Sog. Dieses Gefühl hatte er schon mal gehabt, nämlich als er sich mit Fredericas Seele verbunden hatte. Kurz darauf fand er sich an einem fremdartigen Ort wieder. Der Himmel war pechschwarz, Schnee fiel herunter und überall ragten riesige Kristalle aus dem Boden. Es war eiskalt und so langsam dämmerte dem Unvergänglichen, dass diese Samsara offenbar wirklich eine mentale Verbindung zu ihm aufgebaut hatte. „Samsara?“ rief er und sah sich um. „Bist du hier irgendwo?“ „Hinter dir.“ Sofort drehte sich Dathan um und sah tatsächlich Samsara. Nur sah sie irgendwie verändert aus. Ihre Haut war schneeweiß, die bläulichen Adern traten regelrecht hervor und entstellten dieses ganze Bild. Sie sah wie eine Leiche aus, anders konnte Dathan es nicht beschreiben. Auch jetzt sah sie sehr teilnahmslos und apathisch aus. Er wich sicherheitshalber einen Schritt vor ihr zurück und fragte „Was willst du von mir und wieso bin ich hier?“ „Weil das der einzige Weg ist, um mit dir zu sprechen. Ich habe nicht viel Zeit und es wird nicht mehr lange dauern, bis der letzte Rest meines Willens für immer verschwindet. Hör also gut zu: um Mutter und Elohim aufzuhalten, müsst ihr zusammenfügen, was einst getrennt wurde. Und ihr müsst Lacie unbedingt beschützen, genauso wie Elion. Und bitte… tötet mich. Ihr müsst mich und meine Schwester töten, damit es endlich aufhört.“ „Was?“ Dathan wich noch einen Schritt zurück und konnte nicht fassen, was er da hörte. Samsara wollte tatsächlich, dass er sie tötete? „Das… das kann ich nicht tun“, stammelte er und hatte wirklich Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. „Ich will niemanden töten. Nicht einmal einen Proxy. Es muss einen anderen Weg geben.“ „Den gibt es nicht“, erklärte Samsara und senkte den Blick. „Meine Schwester ist bedingungslos loyal und bösartig. Sie terrorisiert mich und die Leute im Institut und sie tötet allein zum Vergnügen, weil es für sie ein Spiel ist. Und ich kann nichts ausrichten und bin im Grunde nur ein Kriegswerkzeug und sonst nichts. Was du hier siehst, ist ein letzter kläglicher Rest meiner Persönlichkeit, den ich mir bewahren konnte für den Tag, an dem irgendjemand kommen würde, der in der Lage ist, Mutter aufzuhalten. Schon erbärmlich, dass ich mir nicht mehr bewahren konnte als das hier… Aber leider wird auch dieser winzige Teil meiner verbliebenen Persönlichkeit gleich verschwinden und ich habe eigentlich nur so lange durchhalten können, weil ich daran glaube, dass ihr es schaffen könnt. Bitte, ihr müsst mich und Simrah töten und Elion und Lacie unbedingt beschützen. Ihr werdet schon bald verstehen wieso.“ Damit begann die Welt um ihn herum zu verschwinden und sich in tiefe Dunkelheit aufzulösen. Und dann fand er sich wieder im eigentlichen Geschehen wieder. Er sah, wie Nastasja gerade dabei war, Samsara auf den Boden zu drücken und sie festzuhalten. Doch das Mädchen konnte sich dennoch befreien und er hörte nur noch „töte… mich…“ in seinem Kopf, als er plötzlich etwas spürte. Eine merkwürdige Kraft ging von dem Mädchen aus und dann, aus heiterem Himmel, schrie Nastasja auf und brach zusammen. Blut lief ihr aus der Nase und den Ohren, sie zuckte in Krämpfen und Dathan wurde klar, dass dies auf den Einfluss dieses Mädchens zurückzuführen war. Sie verstärkte langsam die Eigenresonanz von Nastasjas Körper, um sie zu töten. Er war sofort bei ihr und grübelte, wie er denn helfen konnte. Wenn er nichts tat, dann würden Nastasjas Organe regelrecht zerrissen werden. Sheol, der sich wieder halbwegs berappelt hatte, schien nun selber eine Idee zu haben und hatte sich unbemerkt abgesetzt. Schließlich kam er mit dem Schwert wieder, welches Dathan von Lacie bekommen hatte und gab es ihm. „Vielleicht können wir damit den Proxy fertig machen.“ Samsara, die sich wie in Trance befand, griff ohne zu zögern an und wollte sich Sheol vorknöpfen, doch Beyond konnte ihr das Messer in die Seite stoßen und sie davon abhalten. „Hey, such dir gefälligst jemanden in deiner Größe.“ Doch den Schmerz nahm das Mädchen gar nicht mal wahr. Sie schlug mit dem Schwert nach ihm und riss eine tiefe Wunde über seinen Oberkörper. Nachdem sie das Messer aus ihrer Seite gezogen hatte, wollte sie Beyond erstechen. In dem Moment reagierte Dathan schneller. Ohne zu zögern stellte er sich dazwischen, hielt das Schwert bereit zum Angriff und wollte Samsaras Angriff abwehren. Doch es kam anders als beabsichtigt, denn da stürzte Samsara in das Schwert und tief bohrte sich die durchsichtige Klinge durch ihre Brust und durchbohrte ihr Herz. Fassungslos stand Dathan da und konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Er… er hatte sie doch nicht umbringen wollen. Er wollte doch nur Beyond und Nastasja beschützen, aber nie und nimmer wollte er jemanden töten! Ich… ich habe jemanden umgebracht. Dieser Gedanke grub sich tief in sein Innerstes und Fassungslosigkeit und Schuld überkamen ihn. In diesem Moment hätte er am liebsten die Zeit zurückgedreht und es ungeschehen gemacht. Und doch… als sich sein Blick mit Samsaras traf und er in ihre leeren und unmenschlichen Augen sah, da konnte er so etwas wie Dankbarkeit erkennen. Und tatsächlich zeichnete sich noch ein schwaches Lächeln auf ihre Lippen ab, bevor sie starb. Dathan war wie erstarrt und er sah das Blut an der Klinge. Schließlich brach die tote Samsara zusammen und dem Unvergänglichen fiel das Schwert aus der Hand. Er stand da, als wäre er zur Salzsäule erstarrt und stand unter Schock. Doch dann fing er sich wieder soweit, dass er sich um die beiden Verletzten kümmern konnte. Und doch konnte er nicht verhindern, dass seine Hände zitterten und ihm die Tränen kamen. Der Gedanke, einen Menschen getötet zu haben, war für ihn unerträglich und auch wenn er wusste, dass es keine Absicht war und es nur passiert war, weil sonst Beyond getötet worden wäre, fühlte er sich schrecklich. Ja, er hatte eigentlich keine andere Wahl gehabt, weil die anderen sonst getötet worden wären. Und doch kam er sich wie ein dreckiger Mörder vor. Denn Samsara hatte das doch selbst nicht gewollt. Sie war dazu gezwungen worden und hatte keine Möglichkeit gehabt, sich zu wehren. Ob sie… ob sie vielleicht ihren Tod gewollt hatte und deshalb nicht stehen geblieben war? Hatte sie noch genügend Willenskraft besessen, sich in sein Schwert zu stürzen, um so zu sterben, damit sie niemandem mehr wehtun konnte? Tja, das würde er wohl nicht erfahren. Aber wieso sonst sollte sie dann gelächelt haben, wenn es ein Unfall war? Diese Gedanken kreisten immer und immer wieder in seinem Kopf, während er sein Bestes gab, um Nastasja und Beyond zu helfen. Nachdem sich die Russin einigermaßen erholt hatte, versuchte sie ihn zu beruhigen. „Hey, es ist alles gut.“ Sie nahm ihn in den Arm, als sie sah, wie sehr er noch zitterte und wie blass er im Gesicht war. „Ich wollte sie nicht umbringen“, beteuerte Dathan immer und immer wieder. „Es war ein Unfall, das müsst ihr mir glauben.“ Beyond glaubte ihm sofort denn so aufgewühlt, wie der Kerl war, schien er tatsächlich nicht vorgehabt zu haben, Samsara umzubringen. Er hatte ja gesehen gehabt, wie der Unvergängliche sich dazwischengestellt hatte, um ihn zu beschützen und da war das Mädchen einfach in die Klinge reingelaufen. Wahrscheinlich hatte sie einfach nicht schnell genug reagieren können, um abzubremsen. Oder aber, was zwar unwahrscheinlich war aber dennoch stark danach ausgesehen hatte: sie war mit Absicht in die Klinge reingelaufen, um sich umzubringen. Mit Mühe konnte er wieder aufstehen und ging zu Dathan hin, woraufhin er ihm auf die Schulter klopfte. „Danke. Wenn du nicht gewesen wärst, dann wären wir jetzt tot. Und mach dir keine Vorwürfe, ja? Sie ist mit Absicht in dein Schwert reingelaufen. Wir alle wissen, dass du sie nicht töten wolltest.“ Schließlich machte sich Beyond an die Arbeit, um das tote Mädchen wegzubringen, denn im Wohnzimmer konnte sie nicht bleiben. Fürs Erste wurde sie in den Keller gebracht und so begann der Serienmörder mit der Beseitigung der ganzen Blutspuren, was ja sowieso seine Spezialität war. Nastasja versuchte sich in der Zwischenzeit um Dathan zu kümmern, der immer noch durcheinander war und unter Schock stand. Er war gar nicht ansprechbar und so wollte die 30-jährige ihm erst mal etwas zur Beruhigung geben, da glaubte er, wieder eine Stimme zu hören. Sie klang ganz anders als Samsaras, aber dennoch sehr vertraut und sie schien wieder aus seinem Kopf zu kommen. Er kannte sie und ihm war, als würden in diesem Moment Erinnerungen wach werden. Erinnerungen an eine Zeit, die so lange zurücklag, dass kein Mensch sie in Worte zu fassen mochte und in einer Welt, die weit außerhalb des menschlichen Begreifens lag. Die Stimme einer Person, die er nur kurz gehört hatte, bevor sie aus seinem Leben verschwunden war. Und sie rief nun nach ihm. „Nivkha…“ Mit einem Male war der Schreck vergessen und ihm war, als würde eine seltsame Wärme sein Herz erfüllen. Eine gewaltige Kraft war auf einmal zu spüren, die selbst bis hierhin reichte und so deutlich zu spüren war, als würde sie wie eine Flut über ihn kommen. Und es fühlte sich so wunderbar an, dass er einen Moment lang alles um sich herum vergaß und sich so warm und geborgen fühlte, als bestünde diese immense Kraft, die er wahrnahm, aus reinem Licht. Nein, es war nicht einmal Licht. Wenn Dathan es mit Bildern hätte beschreiben sollen, dann hätte er es als einen Kristall beschrieben, in dessen Inneren sich das Licht in unzählige Strahlen brach und ein einzigartiges und unbeschreibliches Farbenspiel erzeugte. Es war so viel facettenreicher als das Licht selbst und viel reiner. „Nivkha…“ Dathan hob den Blick und sah zum Fenster hinaus. Draußen klärte sich langsam der Himmel und die Sonne schien wieder durch. Und langsam wich diese Kraft wieder, als würde sie sich auflösen. Tränen liefen Dathans Wangen hinunter, als er sich wieder erinnerte. „Dad…“, das war das Einzige, was über seine Lippen kam. Kapitel 11: Licht und Dunkelheit -------------------------------- Liam hatte die Verfolgung der flüchtigen Simrah aufgenommen und war ihr dicht auf den Fersen. Was da gerade in der alten Fabrik mit Elion passiert war, konnte er sich nicht erklären und so ganz begriff er es auch noch nicht. Aber jetzt war auch nicht der richtige Zeitpunkt dafür, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Jetzt galt es erst einmal, Simrah festzunehmen und aus ihr herauszubekommen, wo Jeremiel versteckt wurde. Und wenn er sie dafür foltern musste. Er besaß genug Möglichkeiten und vor allem Erfahrung, wie er seine Vögelchen zum Singen bringen konnte. Na warte, weit würde die Kleine sowieso nicht kommen. Liam beschleunigte sein Tempo noch und holte langsam aber sicher zu Simrah auf. Diese war eine verdammt schnelle Läuferin und flink vor allem. Über jedes Hindernis sprang sie einfach drüber, aber für Liam war das kein Problem. Oft genug war er schon Johnny hinterher gerannt, wenn dieser mal wieder irgendetwas ausgefressen hatte. Und so schnell würde er sie nicht entkommen lassen. Nicht wenn er auf diese Weise Jeremiel retten konnte. Er beobachtete, wie Simrah über eine Mauer kletterte und über diese verschwand. Sogleich setzte er hinterher, doch kaum, dass er über der Mauer war, sah er nur noch, wie eine weißgoldene Klinge Simrah traf und sie erschlug. Blut spritzte und das Proxy-Mädchen brach tot zusammen. Neben ihr stand Eva mit der blutigen Waffe in der Hand. Sie atmete schwer, Teile ihres Gesichts waren inzwischen bandagiert und dass es ihr nicht gut ging, sah man ihr auch an. „Eva“, rief Liam und wollte schon zu ihr, doch da richtete sie ihr Schwert auf ihn und wich einen Schritt zurück. „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich da raushalten? Verschwinde von hier, aber sofort!“ Doch Liam blieb stehen und konnte nicht fassen, wie sehr sich seine Schwester inzwischen verändert hatte. Sie war gar nicht mehr wiederzuerkennen. War sie sonst immer so herzlich, schüchtern und still gewesen, war sie auf einmal aggressiv und gewaltbereit. Was passierte da nur mit ihr? In diesem Moment musste er sich an Samajims Worte erinnern. Die Finsternis begann sie zu zerfressen und würde sie früher oder später töten. Die Verzweiflung übermannte sie und aus Verzweiflung wurde Wut und Hass. Eva war dabei, sich selbst endgültig zu verlieren und das nur, weil sie ihre Familie beschützen wollte… und ihren Bruder. „Eva“, begann er wieder, nur war er dieses Mal ruhiger als vorher. „Du musst das nicht tun. Hör mal, ich weiß über alles Bescheid. Dieser Samajim hat mir alles erzählt und was ich getan habe, genauso was du für mich getan hast. Können wir nicht mal vernünftig miteinander reden und uns gemeinsam eine Möglichkeit überlegen, wie wir Elohim aufhalten können?“ „Nein!“ rief Eva und es sah wirklich danach aus, als würde sie ihn gleich angreifen. „Ich werde das alleine tun und du verschwindest wieder zurück nach Boston. Wenn du also vernünftig bist, dann gehst du besser.“ „Ich und vernünftig? Hörst du dich mal selbst reden? Wie willst du diesen Elohim in solch einer Verfassung besiegen, Eva? Komm doch selber erst mal zur Vernunft. Du kannst vor Schmerzen nicht mal mehr vernünftig stehen und wenn du weiter so machst, dann wirst du sterben und das völlig unnötig. Verdammt noch mal, das lasse ich nicht auf mir sitzen. All die Jahre hast du mich einfach in dem Glauben gelassen, dass ich alles Unglück dir zu verdanken habe und dass du an allem Schuld wärst, obwohl ich das eigentlich bin. Weißt du eigentlich wie unfair das ist? Die ganze Zeit warst du hinter meinem Rücken die aufopfernde Schwester gewesen, die ihr eigenes Glück opfert, um ihren älteren Bruder zu beschützen. Und mir verwehrst du damit einfach die Chance, dir wenigstens ein Mal ein guter Bruder zu sein. Aber damit ist jetzt Schluss. Mag sein, dass du stärker bist als ich, aber du kannst mich nicht aufhalten.“ Eva war verunsichert und konnte selbst nicht glauben, was sie da hörte. Normalerweise war sie es gewohnt, dass Liam ganz anders mit ihr redete und auch gleich mit Vorwürfen kam, ihr den Tod an den Hals wünschte und sie als Hexe beschimpfte. Aber nun redete er auf einmal ganz anders und das konnte nur bedeuten, dass Samajim ausnahmslos alles gesagt hatte und Liam das akzeptiert hatte. Zugegeben, es regte sie schon zum Nachdenken an, aber sie wollte dennoch an ihrem Vorhaben festhalten, die Sache ganz alleine durchzuziehen. Und da würde selbst ihr eigener Bruder sie nicht aufhalten können. „Du kannst mich nicht umstimmen, Liam. Ich werde Elohim stoppen und nicht zulassen, dass er noch versuchen wird, dich wieder auf deine Seite zu ziehen. Was glaubst du wohl, warum er ausgerechnet Jeremiel ausgesucht hat? Er war nicht nur der einzige Proxy, dessen Körper zu 100% kompatibel war, er wird ihn als Druckmittel gegen dich einsetzen. Er will dich und mich vernichten und uns alles nehmen, was uns lieb ist, weil er einen abgrundtiefen Hass auf Hajjim hat. Was glaubst du wohl, warum die Opritschnina damals ausgerechnet meine Familie abgeschlachtet hat? Elohims Fragmente wurden auf der ganzen Welt verstreut und beeinflussen die Menschen bis heute noch, um sie dazu zu bringen, sich gegenseitig zu massakrieren, nur weil er so einen Hass auf uns hat und sich rächen will. Ebenso hat er Iwan und seine Leute so weit beeinflusst, dass diese meine Familie getötet haben, weil es ein persönlicher Rachefeldzug war. Genauso verhält es sich mit dem Norington Massaker. Was glaubst du wohl, warum Jeremiel als Sam Leens Leute getötet hat? Sam Leens ist der Proxy in Jeremiel und dieser ist darauf „programmiert“, zu töten. Wirklich alles gehört zu Elohims Rache, weil er uns brechen und vernichten will. Er will uns beide auseinanderbringen, dich gegen mich aufhetzen und mir meine Familie ein zweites Mal nehmen.“ „Warum ausgerechnet du?“ „Na weil ich ihn damals zusammen mit Samajim getötet habe. Und deshalb will er versuchen, dich wieder auf seine Seite zu bringen, damit dich die großen Alten endgültig hinrichten und mir das nehmen, wofür ich so verzweifelt gekämpft habe. Nämlich dafür, dass du in Sicherheit bist. Deshalb werde ich dich notfalls sogar mit Gewalt aufhalten.“ Eva stürmte nach vorne und schlug mit dem Schwert zu, doch Liam wich aus und sogleich blockte er den nächsten Schlag mit seinem Messer ab und beschloss dieses Mal, eine andere Taktik anzuwenden wie sonst. Denn nachdem er darüber nachgedacht hatte, verstand er nun auch, wie Eva es schaffte, ihn jedes Mal zu besiegen. Sie lenkte die Energie seiner Angriffe jedes Mal zurück und konnte somit einen defensiven Angriff ausführen. Er hingegen griff immer offensiv an und seine Wut auf Eva machte ihn jedes Mal verwundbar und das wusste sie. Das machte es ihr leichter, ihn zu besiegen. Nur dieses Mal würde es anders herum laufen. Er würde ihren Zustand nutzen, um sie mit ihrer eigenen Technik zu schlagen. Also begann er sich zu konzentrieren und blockte jeden Angriff ab, parierte und passte sich jeder ihrer Bewegung an. Es wirkte schon fast wie ein einstudierter Tanz und ihr angeschlagener Zustand machte es ihm auch einfacher, aufzuholen und ihr die Stirn zu bieten. „Nein, Eva“, sagte er und sah sie fest entschlossen an. Schließlich ergriff er ihren Arm und verpasste ihr einen Schlag auf den Unterarm. „Dieses Mal werde ich dich beschützen. Glaub bloß nicht, dass ich zulassen werde, dass du dich von der Finsternis in deinem Herzen zerfressen lässt und mir dann einfach wegstirbst. Und wenn ich dich mit Gewalt daran hindern muss! Ich bin genauso ein Sturkopf wie du und ich werde nicht weiter hinnehmen, dass du hier die Märtyrerin spielst, während ich immer der Bruder sein werde, der dir noch Steine auf den Rücken lädt, während du schon bereits mit nackten Füßen über Glasscherben läufst.“ Erneut entstand ein heftiger Kampf der Geschwister, dieses Mal aber teilweise aus anderen Motiven. Und es zeichnete sich deutlich ab, dass dieses Mal die Kräfte anders verteilt waren. Denn nun war es Eva, die in blinder Verzweiflung angriff und unvorsichtig wurde, während Liam die Kontrolle über seine Gefühle bewahren und die Oberhand behalten konnte. Jede Attacke wurde abgeblockt und gekontert und selbst als Eva noch sein Schwert hinzunahm, um mit zwei Schwertern zu kämpfen, da zeigte er sich nicht sonderlich beeindruckt und konnte dagegenhalten. Eva wechselte daraufhin zu einer anderen Taktik. Sie setzte einfach mehr Kraft ein, um so ihren Bruder niederzustrecken und abzuhauen. Wenn sie sein Messer zerschnitt, war er so gut wie wehrlos und dann konnte sie ihn außer Gefecht setzen und dann abhauen. Ansonsten würde er sie nicht gehen lassen, das wusste sie. Doch selbst als sie ihre Kraft erhöhte, schaffte sie es nicht, ihn zurückzuschlagen, stattdessen war sie nun diejenige, die immer mehr einstecken musste. Sie war auch kaum noch imstande, sich so agil zu bewegen wie vorher. Ihr ganzer Körper wurde von entsetzlichen Schmerzen gepeinigt und es war hauptsächlich ihr ungebrochener und eiserner Wille, der sie noch auf den Beinen hielt. Schließlich aber, als ein brennender Stich ihren Brustkorb verkrampfen ließ und sich wie ein Feuer durch ihre Adern ausbreitete, da verlor sie endgültig die Kontrolle über sich selbst. Die Kraft wich aus ihrem linken Arm und sie ließ sein Schwert fallen, dann verlor sie den Halt und brach zusammen. „Eva!“ Liam kniete sich neben ihr hin und sah, dass sie dabei war, das Bewusstsein zu verlieren. „Verdammt noch mal, Eva. Jetzt reiß dich zusammen!“ Schnell nahm er ihr das andere Schwert aus der Hand und legte es beiseite, dann begann er vorsichtig die Bandagen in ihrem Gesicht zu lösen und erschrak fast. Dunkle schon fast schwärzliche pulsierende Adern zogen sich über ihre schneeweiße Haut wie hässliche Geschwüre und entstellten ihr so schönes Gesicht. Es sah aus, als würde sich die Finsternis tatsächlich direkt in ihrem Körper ausbreiten und sie zerstören. Und als er ihre Bluse aufknöpfte, da sah er, dass sich in ihre Brust ein pechschwarzes Loch gefressen hatte, und wahrscheinlich die Quelle des ganzen Übels war. Es sah wirklich schlimm aus und er konnte sich nicht vorstellen, wie unendlich schmerzhaft es war, so etwas zu ertragen. Wie um alles in der Welt hatte seine Schwester das nur aushalten können? „Eva…“ Sie reagierte nicht mehr und kam auch nicht mehr zu sich. Zwar atmete sie noch, doch für wie lange, das konnte er nicht sagen. Das alles hatte eine Wendung genommen, die er gewiss nicht gewollt hatte. Die ganze Zeit hatte Eva diese schwere Bürde mit sich getragen. Sie hatte sich für ihn eingesetzt und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, weil sie ihn liebte. Sie hatte still schweigend all seine Vorwürfe ertragen und beharrlich vor ihm die Wahrheit verschwiegen. Ihm zuliebe hatte sie die Rolle als Sündenbock angenommen und es erduldet, solange sie nur sicher gehen konnte, dass er in Sicherheit war und es ihm gut ging. Und er war die ganze Zeit so blind gewesen und hatte nicht gesehen, was sie für ihn getan hatte. Sie hatte ihm das Leben gerettet und ihn beschützt. Dank ihm war er überhaupt erst imstande, so etwas wie Liebe zu empfinden und nun… nun lag sie da und würde wahrscheinlich sterben. „Eva, das… das kannst du mir doch nicht antun. Verdammt noch mal, du kannst doch jetzt nicht einfach so sterben, jetzt wo ich die Wahrheit kenne! Hörst du mich? Ich lasse nicht zu, dass du stirbst!“ Er wusste, dass es nur einen Weg gab, um ihr Leben zu retten. Und dafür musste er ein Opfer bringen. Ein sehr großes sogar. Er musste die Finsternis, die er ihr einst überließ, wieder zurücknehmen und ihr das Licht zurückgeben, das sie ihm einst gegeben hatte. Wenn dies reichte, um ihr Leben zu retten, dann würde er es tun. Selbst wenn dies dann bedeutete, dass er wieder zu einem Monster wurde, welches man besser töten sollte. Ja, er würde wieder zu Araphel dem Schlächter werden, wenn er seiner Schwester ihr Licht zurückgab und genau davor hatte er entsetzliche Angst. Er wäre nicht mehr imstande, Jeremiel zu lieben oder überhaupt irgendjemand anderen. Wahrscheinlich würde er Delta, Johnny und Marcel quälen, wie seine Sklaven behandeln oder ihnen sonst was antun, genauso wie L und seiner Familie. Er würde zu einem Wesen werden, welches niemand auf der Welt lieben konnte und auch nicht lieben wollte. Und er würde selbst niemanden lieben können. Er würde das Allerwichtigste verlieren, was er besaß, aber er wusste, dass er es tun musste. Denn er konnte einfach nicht zulassen, dass Eva seinetwegen so leiden und sogar noch wegen seiner Fehler sterben musste. Trotzdem hatte er entsetzliche Angst davor. Er wollte kein solches Monster werden, genauso wenig, wie er seine Schwester jetzt sterben lassen wollte. Vorsichtig hob er sie hoch und nahm sie in den Arm. Und während er sie so hielt, da kamen ihm die Tränen der Verzweiflung und hätte er an so etwas wie einen Gott geglaubt, dann hätte er womöglich noch ein Gebet gesprochen und gefleht, dass es einen winzigen Hoffnungsschimmer gab. Die Hoffnung darauf, dass er vielleicht doch nicht zu einem grausamen Monster wurde und er aus eigener Kraft imstande war, so etwas wie Liebe zu empfinden. Doch es gab keinen Gott, zumindest nicht in seinen Augen. Nachdem er all diese Finsternis in sich aufgenommen hatte, folgte nun der Teil, vor dem er am meisten Angst hatte und der dennoch unvermeidlich war. Er gab Eva ihr Licht zurück und damit die Liebe und das Mitgefühl, was sie ihm geschenkt hatte. Und als dieser Prozess abgeschlossen war, da wurde er mit einem Male sehr schläfrig und verlor das Bewusstsein. Inzwischen hatten Beyond und die anderen alles in Ordnung gebracht und kurz darauf kamen auch schon Frederica, Ezra und L zurück, die den bewusstlosen Elion bei sich hatten. Gleich schon, als Nastasja den bewusstlosen Proxy sah, bekam sie einen gehörigen Schreck und wollte sofort wissen, wo denn Liam war und wieso er nicht da war. „Er hat die Verfolgung von Simrah aufgenommen. Die konnte leider abhauen. Was Elion betrifft, so haben wir selber noch keine Ahnung, was mit ihm passiert ist. Als Ezra starken Schmerzen ausgesetzt war und versucht hat, zu ihm durchzudringen, da war Elion wie verändert, als wäre er in diesem Moment eine ganz andere Person. Es gelang ihm, Simrah mühelos mit einer Art Energiewelle wegzuschleudern und die ganze Wand der alten Fabrik einzureißen. Danach ist er aber auch schon zusammengebrochen und ist seitdem nicht mehr ansprechbar.“ „Okay, dann legen wir ihn erst mal ins Bett. Ezra, wie geht es dir?“ Dem 16-jährigen schien es ganz gut zu gehen. Zumindest machte er sich mehr Sorgen um Elion, anstatt um sich selbst. Und auch sonst schien er unverletzt zu sein. Als Beyond aus dem Keller zurückkam, schloss er erst mal L in die Arme und rief mit übertrieben säuselnder Stimme „Da bist du ja wieder, Pandabärchen. Mensch, ich ha…“ Und schon gab der Detektiv ihm eine Kopfnuss als Strafe für diesen peinlichen Kosenamen vor versammelter Mannschaft. Mit Sicherheit war das die Racheaktion, weil er diesen Knallkopf zurückgelassen hatte. Mit sarkastischem Ton antwortete er darauf „Oh ja, ich freu mich auch, dich zu sehen… Und? Wie lief es mit Samsara?“ „Sie ist tot. Näher gesagt ist sie in Dathans Schwert reingelaufen und gestorben. Wir haben zwar einiges abgekriegt, aber so langsam kann der Kerl seine Fähigkeiten immer besser einsetzen und hat uns echt den Arsch gerettet, genauso wie der Zwerg. Dathan selbst ist noch ein bisschen neben der Spur nach der ganzen Sache. Ich hab die Leiche erst mal eingetütet und im Keller zwischengelagert, bis wir entschieden haben, was wir mit ihr machen sollen.“ Da das Wohnzimmer noch ein wenig unaufgeräumt war, gingen sie in den Salon und tauschten alles aus, was sie an Informationen sammeln konnten. Wenig später kam Dathan und hatte seinen Mantel angezogen. Verwundert sahen ihn die anderen an und fragten natürlich, wo er denn hingehen wollte. „Ich gehe nach Liam suchen. Irgendwie habe ich da ein ganz merkwürdiges Gefühl und ich will lieber mal selbst nach dem Rechten sehen.“ Und damit erhob sich schließlich auch Nastasja. „Ich komme mit. Beyond, du klärst sie in der Zwischenzeit über alles auf.“ „Ja Ma’am“, antwortete er brav und hob die Hand zum Abschied. Während sich die beiden auf den Weg machten, um Liam zu suchen, blieben die anderen im Haus und jede Gruppe erzählte, was passiert war. L erzählte von ihrem Kampf gegen Simrah und was alles mit Elion passiert war, ebenso wie er sich verändert hatte. Schließlich fügte Frederica seinem Bericht noch hinzu „Was ich sehr merkwürdig fand, waren seine letzten Worte, bevor er ohnmächtig wurde. Er hat gesagt „Nivkha… Ich glaube es nicht. Du bist noch am Leben… ein Glück.“ und dabei hat er sogar geweint. Danach ist seine ganze Kraft verschwunden und er ist zusammengebrochen.“ „Merkwürdig…“, murmelte Beyond und begann auf seiner Daumenkuppe zu kauen, genauso wie L. „Bei uns war so etwas Ähnliches. Als Samsara nämlich gestorben ist, war Dathan erst mal total fertig und stand unter Schock. Mich und Nastasja hat er nur mit Mühe heilen können und hatte schon Tränen in den Augen. Aber dann war er auf einmal fast wie weggetreten und hat zum Fenster raustgestarrt. Er war sich felsenfest sicher, dass sein Vater nach ihm gerufen hat und er sagte auch, dass er sich wieder an wenige Kleinigkeiten aus seiner Vergangenheit erinnern kann. Zumindest an wenige Augenblicke mit seinem Vater und an die Zeit, wo er bei Samajim aufgewachsen ist. Sag mal L, glaubst du, da besteht ein Zusammenhang zwischen dem, was bei euch und was bei uns passiert ist?“ Nun, oberflächlich betrachtet deutete wirklich alles darauf hin, dass es einen Zusammenhang gab. Aber auch L konnte noch nicht wirklich erkennen, was da jetzt genau passiert war und was das alles zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn sie Samajim dazu befragten. Wahrscheinlich hatte er genau so etwas geplant gehabt und wusste schon längst sämtliche Antworten. „Wenn ich eine vorläufige Analyse durchführen würde, dann würde ich sagen, dass Elion vielleicht so etwas wie eine Persönlichkeitsspaltung hat. Und erinnerst du dich an das, was Samajim gesagt hat? Elion habe die gleichen Charakterzüge wie Elohim, bevor das Attentat stattfand. Und da Elion ein Proxy ist, muss er wahrscheinlich so einiges von ihm haben. Es kann gut möglich sein, dass ein Teil von Elohims Bewusstsein auf ihn übergegangen ist und in dieser Notsituation, wo Ezra gelitten hat und in Gefahr war, hat dieses Bewusstsein die Kontrolle über Elion übernommen und Simrah angegriffen, um Ezra zu beschützen.“ „Ja aber ich dachte, Elohim würde im Körper des Alpha-Proxys leben. Wieso steckt er denn jetzt in Elions Körper? Moment mal… willst du damit etwa sagen, dass es sich mit den Proxys so verhält wie mit uns, dass sie alle abgespaltene Fragmente von Elohim sind?“ Nun, diese Theorie war eigentlich gar nicht mal so verkehrt, denn sowohl Eva als auch Liam hatten aus einzelnen Fragmenten ihres Bewusstseins ihre Familien erschaffen. Die so genannten Seraphim. Also warum sollte es da bei Elohim und den Proxys anders sein? Das würde sogar Sinn machen, denn immerhin waren die Seraphim ursprünglich erschaffen worden, um ihren Schöpfern zu dienen. Nichts anderes taten die Proxys. Sie erfüllten den Willen ihres Schöpfers, ganz gleich wie der Befehl auch lautete. Dafür waren sie erschaffen worden. Zusätzlich hatte der Unborn oder besser gesagt Elohim versucht, ihre Körper zu übernehmen, um selbst die Kontrolle über einen Körper zu haben. Doch bislang schien keiner der Proxys kompatibel genug gewesen zu sein, nicht einmal Elion, der ja der Hoffnungsträger des Projekts gewesen war. Nur Jeremiel, der achte Proxy, erfüllte alle Voraussetzungen und so hatte man einfach abgewartet, bis Frederica ihre Zeitschleife auflösen würde. Und dann entführten sie ihn und wollten ihn nun zum Hauptträger von Elohim machen. Aber wieso hatten sie trotzdem knapp ein Jahr gewartet? Sie hätten Jeremiel doch haben können, als dieser von Dr. Brown erschossen worden war, oder als er abgehauen war. Irgendwie fehlte da wohl noch etwas. Und außerdem störte ihn ein wenig diese eine Tatsache: Elion war der Sohn des Alpha-Proxys und beide trugen Fragmente von Elohim in sich. Der Alpha-Proxy wollte die Zerstörung der Welt und Elion hingegen wollte keine Gewalt und stattdessen seine Familie beschützen. Und schließlich kam ihm ein Gedanke. „Jekyll und Hyde…“, murmelte er nachdenklich und sogleich fragte L „Wie meinst du das?“ „Na erinnere dich doch mal daran, was Dathan mal erzählt hat: Lacie hat ihm nahe gelegt, die Novelle von Dr. Jekyll und Mr. Hyde zu lesen. Die kennen wir doch alle: Dr. Jekyll gelingt es einen Trank zu mischen, mit dem er Gutes von Bösem trennen kann. Er trinkt es und wird zu dem Monster Mr. Hyde. Lacie Dravis wusste, was es mit Elion und dem Alpha-Proxy auf sich hat und hat uns kleine Hinweise zugespielt, damit wir irgendwann auf die Lösung kommen. Nicht anders hatte es sich mit dem verhalten, was sie mit Watari im Krankenhaus besprochen hat. Ihre merkwürdige Frage: „Warum hasst Gott uns so sehr?“ war nichts anderes als eine Anspielung auf Elohim. Dieser Name bedeutet nämlich „Gott“ und ihre Kommentare zu „Michael Kohlhaas“ und „der Graf von Monte Christo“ deutete auf das Motiv von Elohim an: Rache für das Attentat. Und gehen wir mal davon aus, dass Joseph Brown und der Alpha-Proxy von der Existenz Elohims gewusst haben und ihm helfen wollten. Ein Teil von Elohim ging auf den Alpha-Proxy über und ein anderer Teil auf Elion, weil er ja schon während seiner Zeugung infiziert wurde. Das würde bedeuten, dass dabei die Spaltung Elohims in „Dr. Jekyll“ und „Mr. Hyde“ stattgefunden hat.“ „Das hieße dann, wir hätten es mit einem guten und einem bösen Elohim zu tun?“ fragte Frederica, die dem ganzen Gespräch aufmerksam gefolgt war. „Das wäre eine plausible Erklärung für alles. Ich meine, bei Liam und Eva hat doch ein ähnlicher Prozess stattgefunden, als Hajjim gestorben ist: er spaltete sich selbst in Gut und Böse auf und so entstanden die beiden. Aber um ganz sicherzugehen, müssten wir Samajim noch mal fragen. Ich verwette mein Shinigami-Augenlicht darauf, dass er das schon längst gewusst hat, oder aber er hat es zumindest geahnt und wollte das überprüfen. Am besten rufen wir den Kerl gleich mal an.“ Da die Nummer zum Glück im Telefonbuch eingespeichert war, rief Beyond direkt an, bekam aber nur Nabi an den Hörer, der sie leider vertrösten musste. „Meister Samajim hat ein paar wichtige Angelegenheiten in der Shinigami-Welt zu klären und es kann noch ein oder zwei Tage dauern, bis er wieder zurück ist.“ „Was will er denn dort?“ „Ajin Gamur ist nicht nur der Herr des Nichts, sondern auch der König der Shinigami. Deshalb kann man ihn für gewöhnlich nur dort sprechen, weil für gewöhnlich nur dort eine körperliche Gestalt annimmt.“ „Ach so. Würdest du zurückrufen, wenn er wieder da ist? Wir hätten da noch ein paar Dinge mit ihm zu klären.“ „Okay, werde ich machen.“ Tja, damit hieß es wohl erst einmal, auf Samajims Rückkehr zu warten. Und außerdem waren sie gespannt zu hören, woran sich Dathan inzwischen wieder erinnern konnte. Kapitel 12: Ein kleines Licht inmitten einer tiefen Finsternis -------------------------------------------------------------- Dathan war seinem Gefühl gefolgt und hatte schließlich einen kleinen Park erreicht, wo er tatsächlich Liam und Eva fand. Beide waren bewusstlos und er merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. „Ach du Scheiße“, rief Nastasja und lief direkt zu Eva hin, als sie diese schwarzen Geschwüre und Vernarbungen sah, die sich auf ihrem Körper abzeichneten. Doch seltsamerweise bildeten sich diese langsam aber sicher zurück und ihre Haut sah wieder so blass und schön aus wie vorher. „Dathan, kannst du mir das mal erklären?“ Der Unvergängliche versuchte sich zu konzentrieren und zu erkennen, was für ein Prozess da gerade stattfand, aber das war für ihn nicht ganz so einfach, denn noch fehlte ihm ein wenig die Übung mit seinen Kräften und es fiel ihm schwer, genau zu erkennen, was hier vor sich ging. Doch als er eine Hand auf Evas Stirn legte, da konnte er eine langsam schleichende Veränderung feststellen. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass sich die immer schwächer gewordene positive Kraft wieder regenerierte und Evas Körper wiederherstellte. Als er aber bei Liam nachsehen wollte, da merkte er, dass das Licht, das er vorher in sich gehabt hatte, deutlich schwächer geworden war. Es war so schwach, dass es dabei war, von der Finsternis verschluckt zu werden. Und so langsam dämmerte ihm, was passiert war. „Liam hat Eva ihr Licht wieder zurückgegeben, um ihr Leben zu retten.“ „Heißt das etwa, er besitzt jetzt keines mehr?“ „Doch schon. Seltsamerweise hat er selbst noch eines. Vermutlich hat er mit der Zeit ein eigenes entwickeln können, aber es ist ziemlich schwach. Nastasja, bringst du schon mal Eva zum Wagen? Ich werde versuchen, Liam zu helfen. Vielleicht kann ich ja etwas ausrichten.“ „Okay. Viel Glück.“ Und damit hob Nastasja die bewusstlose Sefira hoch und schleppte sie zum Wagen. Dathan seinerseits schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Versuchte sich auf Liam einzulassen und sich mit ihm zu verbinden. Doch irgendwie wollte es noch nicht so ganz funktionieren, wie er sich das vorstellte, denn es gelang ihm nicht so wirklich. Tief atmete er durch und versuchte sich daran zu erinnern, was Sheol ihm gesagt hatte und wie er am besten eine Verbindung aufbauen konnte. Was fühlte Liam in diesem Moment? War es Hass oder Groll? Nein… es war… Angst. Ja, Liam hatte Angst. Aber wovor? Als er näher nachzuforschen versuchte, spürte er, wie irgendetwas ihn fortzog und kaum, dass er die Augen wieder öffnete, fand er sich in einer riesigen Großstadt wieder. Es war dunkel und ungemütlich und überall auf den Straßen trieben sich zwielichtige Gestalten herum. Dealer, Mörder, Gangmitglieder und seltsame fremdartige Kreaturen. Kein Ort, wo irgendjemand freiwillig geblieben wäre. Unsicher sah sich Dathan um, denn es war das allererste Mal, dass er sich ganz alleine und ohne Führung hierher begab, denn bei seinem letzten Mal (was ja auch sein erstes Mal gewesen war), da hatte Sheol ihn wenigstens begleitet. „Liam?“ Es begann zu regnen und er war genauso schwarz wie der Himmel. Selbst die Häuser, die Autos… alles war schwarz und dunkel und man konnte kaum etwas sehen. Von überall her hörte er unheimliche Geräusche und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Und als ihn jemand an der Schulter berührte und er in das Gesicht einer Kreatur blickte, die nicht mal annähernd menschlich war und deren Anblick so abstoßend war, da schrie er auf und wich entsetzt zurück. Das Monster grinste breit und entblößte dabei eine ganze Reihe von rasiermesserscharfen Zähnen. „Hast du dich verlaufen, Kleiner?“ Sofort ergriff Dathan die Flucht und rannte los. Er bog mehrmals ab und blieb schließlich keuchend stehen. Auf der anderen Seite der Straße sah er eine Person stehen, die ihm bekannt vorkam. Es war ein junger Mann mit blonden Haaren und eisblauen Augen. Jeremiel… Ja aber was machte er denn hier? Schweigend sah dieser ihn an und schien wohl auf ihn gewartet zu haben. „Jeremiel, was… was machst du hier und wie kommst du hierher?“ Keine Antwort. So langsam dämmerte es Dathan, dass das nicht der richtige Jeremiel war, sondern ein Teil von Liams Welt. Ja genau, Jeremiel war ja die allerwichtigste Person in Liams Leben. Seine große Liebe… sein Licht. Dann war also das der kleine Lichtfunken gewesen, den er gespürt hatte? „Jeremiel, ich will Liam helfen, dass du nicht verschwindest und er wieder zu Araphel wird. Kannst du mich zu ihm hinbringen?“ Ohne ein Wort zu sagen wandte sich der Blondschopf ab und lief los, Dathan folgte ihm. Es ging durch mehrere Gassen und Hinterhöfe. Teilweise war es so dunkel, dass der Unvergängliche fürchtete, er könnte Jeremiel aus den Augen verlieren und sich in dieser so kalten und beklemmenden Finsternis verirren. Aber wie durch ein Wunder gelang es ihm, die Spur nicht zu verlieren und schließlich erreichten sie eine Treppe, die aussah, als würde sie direkt zu den Metros führen. Doch da unten brannte nicht ein einziges Licht und es war so finster, dass man rein gar nichts sehen konnte. Dennoch ging Jeremiel runter und Dathan folgte ihm. Gleich schon, als sie die ersten Stufen hinabgestiegen waren, wurde es pechschwarz und sie wurden vollständig von der Finsternis verschluckt. Unheimliche Geräusche waren zu hören. Mal glaubte er ein leises Kichern zu hören, das Rasseln von Ketten und dann wiederum ein tiefes Grollen. Überall waren Geräusche zu hören und ihm wurde mulmig zumute. Er hatte Angst vor diesem Ort und fragte sich, was in Gottes Namen das nur für ein Ort war. Aber was hatte er denn auch anderes erwartet? Liam war die Verkörperung der Finsternis und alles Schlechte in der Welt. Er war Evas dunkler Bruder. Also war es auch kein Wunder, dass es hier so aussah. Nur beschlich ihn das Gefühl, als wäre dieser Ort bis vor kurzem nicht ganz so finster gewesen wie jetzt. Im Grunde war Jeremiel das einzige Licht, was ihm noch geblieben war. Und dieser schaffte es momentan nicht, zu Liam durchzudringen, weil dieser Angst hatte. Angst davor, wieder zu Araphel zu werden und dann nicht mehr in der Lage sein zu können, Jeremiel zu lieben. Na hoffentlich konnte er mit ihm reden und ihn zur Vernunft bringen. Er musste ihm klar machen, dass er allein die Kraft hatte, sich diesen letzten Rest Licht zu bewahren. Es war ja ohnehin schon unglaublich, dass Liam aus eigener Kraft geschafft hatte, etwas Gutes in seinem Herzen zu entwickeln, ohne dass er dafür Evas Hilfe brauchte. Und wahrscheinlich musste ihm das erst mal klar werden. Na hoffentlich fand er sich in der Dunkelheit auch zurecht, denn er sah nicht mal die Hand vor Augen. Da ihm nichts anderes übrig blieb, ließ er sich von seinem Gefühl leiten und folgte Jeremiel, der zielsicher vorausging und ihn, ohne auch nur ein einziges Mal etwas zu sagen, durch die Tunnel führte. Schließlich aber erreichten sie einen Raum, der nur sehr schwach erleuchtet war. Es war ein Folterkeller und sogleich entdeckte Dathan auch Liam, der an die Wand gekettet war und aussah, als wäre er am Ende seiner Kräfte. Die Ketten waren so massiv, dass sie ihn festhielten und so wie Dathan die Sache einschätzte, hatte er sie sich selbst angelegt aus Angst, er könnte außer Kontrolle geraten. „Liam, darf ich näher kommen?“ „Verschwindet“, kam es von ihm, doch es klang nicht nach Liam. Es klang viel tiefer, bedrohlicher und monströser. Und als Liam zu ihnen sah, da erkannte Dathan, wie stark er sich verändert hatte. Sein Haar war länger als sonst, zerzauster und seine Augen sahen aus wie die eines mordlüsternen Dämons. Er wirkte wie eine wilde Bestie, die sie am liebsten in Stücke reißen würde. Das war also Araphel, Liams altes Ich… oder zumindest würde er es bald werden, wenn er länger in diesem Zustand hier blieb. „Tut mir leid, aber es geht nicht. Ich gehe nicht ohne dich weg. Siehst du? Jeremiel ist extra hergekommen, weil er dir helfen will.“ Damit kam er näher und sofort schrie Liam wütend „Bleibt weg!“, wobei er sich vergebens gegen die Ketten stemmte. Doch Dathan hörte nicht auf ihn. Der Anblick dieses in Ketten gelegten Monsters hätte einige zur Umkehr bewegt und mit Sicherheit hätte niemand auch nur einen Gedanken daran verschwendet, die Fesseln abzunehmen. Der Anblick dieses Ortes, der unzählige blutige Folterinstrumente beherbergte, war verstörend und an den hohen Decken hingen sogar Leichen herunter. Aber Dathan sah nicht näher hin, sondern konzentrierte sich allein auf das, weshalb er hergekommen war. „Haut ab“, rief das Monster und stemmte sich erneut gegen seine Fesseln. „Verschwindet!“ „Liam, wir gehen nicht weg. Wir wollen dir helfen.“ „Nein, ihr müsst gehen. Sonst… sonst werde ich euch noch töten…“ Dathan blieb direkt vor ihm stehen und Jeremiel stand direkt neben ihm. „Jetzt hör mal gut zu, Liam. Du musst nicht wieder zu Araphel werden. Es steckt immer noch etwas Gutes in dir und das ist deine Liebe zu Jeremiel. Ich kann dir helfen, aber dazu musst du auch dir selbst vertrauen können.“ „Es geht nicht“, erklärte Liam und schien sich wieder etwas zu beruhigen. Er senkte den Kopf und sah unglücklich aus. „Ohne Evas Licht werde ich wieder zu Araphel werden. Einem Monster, das nichts als Leid und Zerstörung bringt. Und dies will ich euch allen lieber ersparen.“ Nun hatte Dathan langsam genug. Er begann nun damit, die Ketten zu lösen, die Liam fesselten, trotz Proteste. „Hörst du dich selbst noch reden? Waren es nicht deine Worte, dass es nicht darauf ankommt, wer oder was man ist oder wo man herkommt und welche Fähigkeiten man hat? Es kommt allein auf die Entscheidungen an, die man trifft. Du allein entscheidest, wer du sein willst. Entweder Liam oder Araphel. Ich kann dir helfen, aber dazu musst du auch bereit sein, diese Hilfe anzunehmen. Du willst doch glücklich werden, zusammen mit Jeremiel. Also dann gib dich nicht selbst auf.“ Als Liam von seinen Ketten befreit war, beugte sich Dathan zu ihm herunter und legte seine Stirn auf Liams und schloss die Augen. Immer noch war da Angst zu spüren. Angst vor dem eigenen Selbst… Es gelang ihm, diese Angst zu vertreiben und mehr Ruhe in sein Innerstes zu bringen. Es war nicht viel, aber so konnte er Liam beruhigen und ihm wieder die Kraft geben, auf seine eigenen Stärken zu vertrauen. Schließlich wandte er sich an Jeremiel. „Ich denke, ab jetzt braucht er dich mehr als mich.“ Und damit wollte er wieder gehen, da hörte er noch, wie Jeremiel „Danke“ sagte. Dann verschwand alles um ihn herum und er kehrte wieder zurück. Er fand sich im Park wieder und inzwischen war Nastasja wieder zurück. „Und?“ fragte sie und legte eine Hand auf seine Schulter. Diese plötzliche Berührung ließ ihn wieder erschrocken zusammenzucken und er lief rot im Gesicht an. „E-e-es g-geht ihm wi-wieder besser. Ich… äh…“ Schon merkwürdig. Während der mentalen Verbindung war er doch deutlich selbstbewusster und mutiger gewesen. Ob es vielleicht daran lag, weil er dann das Gefühl hatte, dass alles so viel vertrauter war und als wäre er da wirklich er selbst? Nicht der scheue Dathan, der ständig irgendwelche Berührungsängste hatte, sondern Nivkha… sein wahres Ich. Um sicherzugehen, dass auch alles geklappt hatte, legte er eine Hand auf Liams Stirn und spürte tatsächlich, dass dieses kleine und schwache Licht viel stärker geworden war. „Liam hat einfach nur eine Bestätigung gebraucht, dass er nicht Araphel ist. Mehr nicht.“ Da Liam ziemlich groß war und es für Nastasja eine Heidenanstrengung gewesen wäre, brachten sie beide ihn gemeinsam zum Wagen und fuhren wieder zurück nach Hause. Nachdenklich sah die Russin zu den beiden Geschwistern und fragte „Wie kann es eigentlich sein, dass Liam immer noch etwas Gutes in sich trug, obwohl er ohne Evas Licht doch gar nicht imstande war, Liebe oder Mitgefühl zu empfinden?“ Unsicher zuckte Dathan mit den Achseln. „Ich denke… nun, vielleicht war Evas Licht ja nur der Anstoß gewesen und so hat sich alles andere selbst entwickelt. Und seine Liebe zu Jeremiel war so stark, dass er sich diese dennoch bewahren konnte. A-a-aber er war so von Angst zerfressen, dass er wieder zu Araphel werden könnte, dass diese Liebe nicht stark genug war. Ich hab ihm erst mal die Angst genommen, mehr war da eigentlich nicht nötig.“ „Und glaubst du, er wird es schaffen, nicht in sein altes Ich zu verfallen?“ „Ich denke schon, denn der Wille ist ja da. Allein schon, weil er diese Gefühle für Jeremiel nicht verlieren will. Im Grunde braucht er Evas Licht gar nicht mehr, weil er sein eigenes hat.“ Als Nastasja nach einer Weile eine Hand auf seinen Oberschenkel legte, zuckte er wieder zusammen und hätte vor Schreck beinahe die Spur gewechselt, doch er konnte das Steuer wieder rumreißen und sofort nahm Nastasja ihre Hand wieder weg. „Sag mal Dathan, kann es vielleicht sein, dass du ein klein wenig unter Haphephobie leidest?“ „W-was?“ „Schon seit wir uns begegnet sind, erschreckst du dich jedes Mal, wenn jemand dich anfasst. Da kann es doch sein, dass du unter Berührungsangst leidest, oder?“ „K-k-kann sein“, stammelte er und senkte den Blick. Er sah beschämt aus und wahrscheinlich tat es ihm auch selbst leid, dass er jedes Mal so reagierte, wenn Nastasja ihn berührte. Dabei wollte sie ihm doch nichts. „Andere zu berühren, um meine Kraft einzusetzen, fällt mir seltsamerweise nicht schwer. Aber bei allem anderen erschrecke ich jedes Mal und kriege Herzrasen. Und ich werde furchtbar nervös. Wahrscheinlich liegt es daran, weil ich damals ziemlich oft von den anderen Sefirot und den Seraphim geschlagen und schikaniert worden bin. Mein Vater hat ja immer versucht, mich zu beschützen… aber es hat auch nicht immer was gebracht. Vielleicht kommt es ja daher.“ „Möglich wäre es. Tut mir leid, wenn ich dich zu sehr bedränge.“ „Schon gut. Das Problem liegt ja nicht bei dir, sondern bei mir. Ich glaube, ich brauche noch eine ganze Weile, um mich daran zu gewöhnen. Die ganze Situation ist ja nicht einfach, auch für dich nicht. Dein Sohn ist entführt worden und obwohl die Proxys tot sind, haben wir immer noch keine Spur. Das muss dich doch verrückt machen.“ „Zugegeben, ich habe schon große Angst um mein Kind. Aber wenn ich mich verrückt machen lasse, werde ich keine große Hilfe sein. Und ich glaube fest daran, dass es für Jeremiel Hoffnung gibt. Zwar kenne ich diesen Samajim nicht, aber er scheint fest davon überzeugt zu sein, dass es einen Weg gibt, ihn zu retten. Deshalb werde ich ihm vertrauen. Und außerdem bin ich ja nicht alleine. Mit so vielen Freunden an meiner Seite wird es sicherlich gut gehen. Ich glaube fest daran, dass es einen Gott gibt, der uns liebt und der nicht zulassen wird, dass der Alpha-Proxy damit durchkommt.“ Nachdenklich nickte Dathan und man sah ihm an, dass ihn so einiges beschäftigte. Nastasja wusste, dass das alles auch für ihn nicht einfach war. Immerhin war ihr schlimmster Feind sein Vater. Ein absolutes Dilemma und die Frage war auch, was sie tun sollten. „Was willst du tun, Dathan? Du musst nicht glauben, dass wir dich zwingen wollen, gegen deinen eigenen Vater zu kämpfen. Keiner würde so etwas erwarten.“ „Nein, das ist es nicht. Ich weiß ja auch, dass das, was mein Vater da tut, nicht in Ordnung ist und ich will doch auch nicht zulassen, dass er noch mehr Leid und Zerstörung anrichtet. Ich kann mir auch einfach nicht vorstellen, dass das wirklich er ist. Er war früher ganz anders gewesen.“ Nun war Nastasja überrascht, das zu hören. „Du… du erinnerst dich wieder an alles?“ „Nicht an alles, nur an ganz wenige Dinge. Ich war damals noch ganz klein gewesen, als ich von Samajim mitgenommen wurde. Ich weiß nicht wie alt, aber in Menschenjahre gerechnet müssten das ungefähr vier Jahre gewesen sein. Ich weiß, dass mich die anderen Sefirot immer gejagt und verprügelt haben, weil ich Elohims Sohn war. Deshalb wollte mein Vater auch nicht, dass ich mich zu weit vom Haus entferne und in seiner Nähe bleibe. Er war ein sehr liebevoller Vater gewesen und er hat niemals einem anderen was getan. Er hätte sich nie gewehrt, wenn jemand ihn beleidigt oder geschlagen hätte, weil er keine Gewalt anwenden wollte. Obwohl sie alle so grausam zu uns waren, hat er den anderen immer geholfen, war aufmerksam und hat fest an eine Welt geglaubt, in der alle in Frieden miteinander leben können. Ich glaube einfach nicht, dass der Angriff auf ihn persönlich wirklich der Auslöser war, dass er sich so verändert hat. Irgendetwas muss da noch passiert sein, aber ich kann mich daran nicht erinnern.“ „Vielleicht kommen die Erinnerungen ja noch. Und womöglich kann es auch sein, dass damals irgendetwas Traumatisches passiert ist und du dich deshalb auch noch nicht erinnern kannst. Das ist ja auch möglich. Aber wir finden schon noch die ganze Wahrheit heraus und vielleicht kennt Samajim ja ein paar Antworten.“ Doch Dathan war immer noch etwas unsicher und fühlte sich auch ein Stück weit hilflos. Er konnte einfach nicht glauben, dass sein Vater hinter all dem steckte und so viele unverzeihliche Dinge getan hatte, obwohl er doch immer so friedfertig und sanftmütig war. Er hatte ihn als einen sehr aufmerksamen und liebevollen Vater in Erinnerung, der oft mit seinen beiden Freunden gelacht hatte und nie jemandem wirklich böse war. Nun gut, sie hatten in Isolation gelebt, weil die Sefirot sie gehasst hatten, aber sie waren trotzdem sehr glücklich. Sie hatten ein wunderschönes Haus gehabt, hatten alles was sie brauchten und waren glücklich und zufrieden. Und dann erinnerte er sich noch, wie sein Vater ihm sein Schwert gezeigt hatte. Jenes mit der transparenten Klinge. Er erinnerte sich noch sehr gut, wie Elohim ihm erzählt hatte, warum das so war. „…das kommt daher, weil mein Herz wie Glas ist. Ich trage meine Gefühle offen nach außen und lasse andere daran teilhaben. Ich lasse sie in mein Herz sehen, damit sie erkennen, wer ich wirklich bin. Und mit dieser Eigenschaft wurdest auch du geboren. Deshalb wird dieses Schwert auch eines Tages dir gehören. Weißt du eigentlich, was dein Name bedeutet?“ Dathan hatte damals den Kopf geschüttelt und nicht gewusst, was sein Name nun bedeutete. Natürlich hatte er gewusst, dass jeder Unvergängliche einen Namen hatte, der eine ganz bestimmte Bedeutung hatte. Sein Vater hatte daraufhin erklärt „Nivkha bedeutet „auserwählt“. Natürlich bist du jetzt noch zu klein, aber in unserer Brust schlägt dasselbe Herz. Wenn du deinen Willen bewahren und trotz Schicksalsschläge immer noch aufrecht stehen kannst und deine Gefühle klar sind wie deine Gedanken, dann wirst du es vielleicht eines Tages schaffen, dass die Sefirot, die Entitäten und die Seraphim eines Tages in Frieden miteinander leben können, ohne dass der eine den anderen unterdrückt.“ Sein Vater war zwar nicht gerade der absolute Idealist gewesen, der aktiv für Frieden gekämpft hatte, weil er gewusst hatte, dass die anderen ihn hassten und verachteten. Aber er hatte dennoch einen absoluten Sinn für Gerechtigkeit besessen und war der Ansicht gewesen, dass sie alle als Kinder von Ajin Gamur untereinander gleichberechtigt waren. Er hatte sich einfach damit zufrieden gegeben, dass wenigstens seine Freunde diese Ansicht mit ihm teilten. Stellte sich nun die Frage, was er tun sollte. Seinen Vater… töten? Nein, es musste doch noch einen anderen Weg geben, um ihn aufzuhalten. Es konnte doch nicht sein, dass es die einzige Möglichkeit war, um das alles zu beenden. War es denn wirklich die einzige Lösung, seinen Vater zu töten? Er hatte doch ganz deutlich gespürt, dass sein Vater existierte. Nicht der rachsüchtige Mann, der eine blutige Vendetta geschworen hatte, sondern sein Vater, so wie er wirklich war. „Vielleicht finden wir ja eine Möglichkeit, ihn dazu zu bewegen, endlich damit aufzuhören. Womöglich kann ich ja vernünftig mit ihm reden und ihn überzeugen.“ „Das kannst du gerne versuchen. Aber erwarte nicht allzu viel, ja? Wir reden zusammen mit den anderen über alles und außerdem können wir ja auch Samajim fragen, ob es noch Chancen gibt. Einen gesunden Optimismus sollte man sich ja schon bewahren.“ Ja, da hatte Nastasja Recht. Und so schnell wollte er die Hoffnung nicht aufgeben, dass er seinen Vater wieder zur Vernunft bringen konnte. Hosted by Animexx e.V. 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