☾ Mikadzuki-ko von Mimiteh (Fortsetzung zu "☾ Mikadzuki") ================================================================================ Kapitel 1: Ankunft ------------------ Die Sonne brannte heiß auf eine weite, begrünte Ebene hinab. An den Fuß einer Hügelkette schmiegte sich ein kleines Dorf aus wenigen Hütten, die aussahen, wie dem Mittelalter entsprungen. Jetzt, im Hochsommer, am Mittag, wenn die Temperaturen fast unerträglich waren, herrschte nicht gerade reges Treiben. Auch das etwas angedorrt wirkende Kräuterfeld hinter der Siedlung lag verlassen da. Auf einer, aus einem Baumstamm geschnittenen, Bank, vor einer der Hütten, saß eine junge Frau in der traditionellen Chihaya der japanischen Miko. Geschickt sortierte sie die schadhaften Stücke aus dem Korb voller Gemüse, der zu ihren Füßen stand. Hinter ihr hörte man jemanden im Haus werkeln. Die Miko lächelte in sich hinein. Manchmal könnte man meinen, ihre Tochter habe ihre Namensgeberin gekannt, so ernst und pflichtbewusst, wie sie sein konnte. Während ihre Hände weiter sortierten, glitten ihre Gedanken zurück in eine Zeit, an die ein Mensch sich eigentlich nicht erinnern können sollte. Aber die Umstände der Vergangenheit hatten es so gefügt, dass sie es vermochte, lebte sie doch schon um ein Vielfaches so lange wie ein normaler Mensch. Über fünfhundert Jahre waren für sie ein Nichts. So wie für jene Wesen, die man Yôkai nannte. Für einen Moment unterbrach sie ihre Arbeit und ihre Finger umfassten die feine, silbrige Kette, die um ihren Hals hing, gerade lang genug, dass der Anhänger in ihrem Ausschnitt verschwand und nicht für jedermann sichtbar war. Denn es war jener Anhänger, der ihr all das ermöglichte. All das, was ihr Leben war. Und insbesondere, dass sie an der Seite desjenigen sein konnte, der ihr mehr bedeutete, als alles andere auf dieser Erde. InuYasha… Sie lächelte wieder und das spiegelte sich auch in dem herzlichen, warmen Blick ihrer tiefbraunen Augen wieder. Dabei hatte man oft genug versucht, sie auseinanderzubringen. Yôkai hatten es versucht, Menschen – und das Schicksal. Der Grund, dass sie sich einst trafen, wäre beinahe auch der Grund gewesen, dass sie wieder getrennt worden wären. Aber sie hatten sich behauptet. Und wenn sie darüber nachdachte, wer daran nun wieder Anteil hatte, stimmte es sie fröhlich und traurig zugleich. Denn nicht alle dieser so wichtigen Personen lebten noch. Aber ihr blieben die Erinnerungen aus jenen Zeiten. Und jene, die sie die ganze Zeit über begleitet hatten. So wie ihre Tochter, die hinter ihr unermüdlich arbeitete. Kikyô… Auch die Namenspatronin ihrer Tochter hatte in ihrem Leben eine große Rolle gespielt – die größte vielleicht. Nicht immer hatte sie auf ihrer Seite gestanden. Eigentlich schon verstorben, zurück ins Leben gerufen und von dort an als verbitterte Untote herumwandelnd, war sie lange ihre Konkurrentin gewesen – um das Gelingen ihrer Mission und um InuYashas Herz. Beide Seiten hatte viel lernen müssen, ehe alle auf den richtigen Weg gefunden hatten. Von da an hatte Kikyô dahin zurückgefunden, wie sie einmal gewesen war, freundlich, warmherzig, wenn auch etwas exzentrisch. Endlich hatte sie ihren Frieden gefunden und ihnen doch auch noch im Nachhinein geholfen. Es war immer deutlich gewesen, wie gerne Kikyôs Seele endgültig zur Ruhe gekommen wäre, für immer und ewig, nicht mehr in der Gefahr, erneut in einen Körper gezwungen zu werden. Kurz unterbrach Kagome ihre Arbeit während sie zurückdachte, an jenen Tag kurz vor der Geburt ihrer Tochter. Da hatte jene so bedeutsame Kikyô ihr ein letztes Mal gegenübergestanden. Kagome wusste bis heute nicht, ob es eine Art Traum oder eher eine Vision gewesen war, aber sie wusste noch ganz genau, wie es sich zugetragen hatte. InuYasha und sie waren rund um das Dorf spazieren. Die Aufbauarbeiten waren erst seit wenigen Tagen abgeschlossen, denn trotz aller dämonischen Hilfe brauchte es nun einmal eine gewisse Zeit, bis so eine ganze Siedlung stand. E s war Abend, ein überraschend milder Tag, obgleich es mitten im Winter war. Der Jahreswechsel war gerade erst ein paar Tage her. Wortlos hatte InuYasha ihr das Oberteil seines Suikans über die Schultern gehängt, als sie dennoch leicht fröstelte. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, zumal sie ahnte, dass er sich sowieso nicht davon hätte abhalten lassen. Es war wirklich amüsant, wie fürsorglich er sein konnte, seit er wusste, dass sie schwanger war. Doch dann war es plötzlich geschehen. Von einem Moment auf den anderen, war vor ihren Augen die Umgebung anders. Hatte zuvor das einzig Weiße in Sichtweite aus vereinzelten Schneeflecken bestanden, war nun alles in ein blendend weißes Licht getaucht. Und plötzlich stand sie ihr gegenüber. Jene Miko, der sie selbst so ähnlich sah. Kikyôs lange, glatte Haare waren offen, nicht wie üblich im Nacken zusammengefasst und anstatt dass ihre Hakama, wie beim traditionellen Mikogewand üblich, rot gewesen wäre, war sie nun ebenso weiß wie das Kimonohemd. Kikyô wirkte seltsam befreit– und sie lächelte. Ein seltener Anblick, solange Kagome sie kannte. »Ich bin froh, dass ich es endlich geschafft habe, zu dir durchzudringen… ein Besuch aus dem Totenreich ist nicht einfach, und du bist stärker geworden, deine Kräfte schirmen dich fast automatisch ab…« Kagome blinzelte etwas perplex. Sie verstand noch nicht ganz, was vor sich ging. »Und auch dein Kind hat beachtliche Kräfte geerbt… es würde mich wenig wundern, wenn es uns beide eines Tages an Stärke übertreffen würde. Kein Wunder, sein größter Blutanteil ist der einer mächtigen Miko…«, fuhr Kikyô fort und langsam verstand Kagome die Welt nicht mehr. Aber sie schwieg. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es nicht gut wäre, ihr Gegenüber zu unterbrechen. Kikyô nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis, ehe sie ein paar Schritte näher kam, bis sie direkt vor Kagome stand. Erst dann sprach sie weiter. »Du als meine Reinkarnation hast deinen Weg gefunden… und die Sekai no Tía gäbe dir die Möglichkeit, InuYasha noch lange auf seinem Weg zu begleiten…«, ein etwas trauriges Lächeln, »Dir ist gelungen, was mir verwehrt blieb. Ihn glücklich zu machen. Ich habe zu spät verstanden, dass selbst ohne Naraku… InuYasha und ich, das wäre nicht gutgegangen. Wir hatten vom Leben beide zu große Bürden aufgegeben bekommen und das Shikon no tama wäre nicht verschwunden, selbst wenn er durch es zum Menschen geworden wäre. Aber auch ich weiß erst heute, wie die Frage an das Shikon no Tama gelautet hat – du hast sie herausgefunden… nein, Kagome, wiedersprich‘ mir nicht. Ich bin auch aus anderem Grunde hier. Denn es gibt etwas, dass die Tía davon abhält, deine Lebenszeit auf die Stufe einer Yôkai zu heben« Erschrocken war Kagome zusammengezuckt. Augenblicklich war eine kalte Angst in ihr erwacht. Sollte alles Träumen umsonst gewesen sein? Sollte etwa doch nicht endlich alles gut geworden sein… „Aber, Kirin sagte doch…“, begann sie, konnte aber nicht weitersprechen, weil sich ein Kloß in ihrer Kehle gebildet hatte. Kikyô schlug halb die Lider nieder. »Ein Wesen wie Kirin würde niemals lügen. Er hat vollkommen Recht, dass es in der Macht der Tía liegt, dir die lange Lebenszeit zu ermöglichen und dass die Tía dich anerkannt hat, dazu bereit wäre. Sie ist es nicht, die dazwischensteht. Das bin ich« Es herrschte Stille, nach diesen Worten der toten Miko. Sichtlich fiel es Kikyô schwer, weiterzusprechen. Aber es schien Schuldgefühl zu sein, welches sie belastete. Dabei konnte sie eigentlich nichts dafür, das zeigten ihre nächsten Worte: »Als Urasue mich wiedererweckte, entzog sie dir deine Seele. Es gelang ihr nicht ganz, aber das sei dahingestellt. Als ich InuYasha angriff und er mich fast besiegt hätte, kehrte deine Seele zu dir zurück. Aber… ich weiß nicht, ob es dir je aufgefallen ist, aber ein ganz kleiner Teil blieb bei mir zurück. Sonst wäre mein untoter Körper trotz aller fremden Seelen niemals in der Lage gewesen, sich zu bewegen, sogar zu reisen, zu kämpfen. Auch bei meinem endgültigen Tod verharrte er bei mir und kehrte nie zu dir zurück. Würde es dabei bleiben, würden nicht wieder klare Verhältnisse geschaffen, dann würde alles durcheinandergeraten. Du würdest in ein paar Jahrhunderten niemals geboren werden und der ganze Kreislauf würde zerbrechen, wenn du bis dahin noch lebst. Das steht der Tía im Weg. Nur ist es mir nicht möglich, dir deinen letzten Rest Seele einfach so zurückzugeben…« Kikyô hob den Blick wieder und in ihren Augen glomm eine Art von Hoffnung, die Kagome nie bei ihr gesehen hatte. Sie wirkte… entrückt. Und ihr Gegenüber stellte auch sofort klar, woran das lag. »Nun ist da aber deine ungeborene Tochter. Ihr Leben ist noch nicht eigenständig. Ich könnte ihr meinen Teil deiner Seele übergeben – und damit meinen Geist für immer auch aus dem Totenreich tilgen« Kagome keuchte auf. „Aber…“ Kikyô schüttelte den Kopf. »Nicht doch, Kagome. Dazu wäre ich bereit, im Gegenteil, es käme mir sehr entgegen. Urasue ist nicht die Einzige, die die Kunst des Wiederbelebens beherrscht und nur so kann ich endgültig das Risiko ausschalten, jemals wieder auf Erden wandeln zu müssen. Ich würde endlich meinen Frieden finden…« Unwillkürlich legte Kagome eine Hand auf ihren Bauch, spürte die Bewegungen ihres ungeborenen Kindes in sich. „Würde es dadurch… verändert werden?“, fragte sie schließlich zögerlich. Sie konnte spüren, wie gerne Kikyô ihren Plan einfach umgesetzt hätte, wie viel es der toten Miko bedeuten würde, endlich ruhen zu können. Aber um ihres Kindes Willen musste Kagome das wissen. Und wie sie schon geahnt hatte, was genau da der Schwachpunkt. »Ja«, kam Kikyô sofort auf den Punkt und sah ihre Reinkarnation geradeheraus an, »Dieser Seelenteil ist sowohl schon in deinem, als auch in meinem, untoten Körper gewandelt. Er ist mit uns beiden verbunden gewesen, besonders und zuletzt aber mit mir. Es kann passieren, dass deine Tochter deswegen Wissen und Erinnerungen besitzt, die nicht die Ihren sind« Nachdenklich runzelte Kagome die Stirn. „Aber das hatte ich doch auch nicht. Und ich bin deine komplette Reinkarnation“ »Genau deswegen ist es auch so. Deine Tochter wird besagten Seelenteil direkt übertragen bekommen, er wird nicht in ihr wiedergeboren, sondern einfach ihrer eigenen Seele zugefügt. Das ist der Unterschied«, erklärte Kikyô gelassen und in diesem Moment wurde Kagome klar, dass die tote Miko diese Idee schon eine ganze Weile zu hegen schien. Wäre diese ‚Nebenwirkung‘ nicht gewesen, Kikyô hätte ihren Plan vermutlich einfach durchgeführt, ohne zu fragen. Noch einmal horchte Kagome in sich hinein, dachte nach. Konnte sie es ihrem Kind zumuten? Gut, ein paar fremde Erinnerungen, das hörte sich nicht schlimm an, aber gerade für ein Kind könnte das verwirrend sein. „Wird sie… wissen, dass es nicht ihre eigenen Erinnerungen sind?“, fragte sie dann doch noch nach. Kikyô schien selbst überlegen zu müssen. »Ich nehme an, sie wird es fühlen. Aber ob sie es in ihren frühen Kinderjahren schon verstehen wird, bleibt abzuwarten. Ich glaube, es gab nie eine vergleichbare Situation…«, gab sie dann langsam zurück. So sorgfältig sie ihre Worte wählte, so sehr wurde Kagome in ihrer Einschätzung bestätigt, dass es Kikyô unheimlich viel bedeuten würde, wenn sie zusagte. Und auch ihr würde das viel Positives bringen. Aber war es nicht egoistisch, ihr Glück über das ihres Kindes zu stellen, bevor das überhaupt geboren war? Etwas in ihr zögerte noch immer. Andererseits… wenn Kikyô Recht behielt und ihr Kind es ab einem bestimmten Alter spüren konnte, sprachen sie hier von wenigen Jahren der Verwirrung. Kagome schloss die Augen und atmete tief durch. „Also gut, Kikyô. Ich bin einverstanden“ Kikyôs Lächeln wurde deutlicher, richtig glücklich sah sie aus. »Ich weiß immer noch nicht, wie du es geschafft hast, dich mir gegenüber immer so herzlich zu verhalten. Du hast oft genug zugelassen, dass InuYasha sich mit mir traf, du hast mich geheilt, als Naraku mich mit seinem Miasma durchbohrte, du hast so oft Rücksicht genommen. Als ich in InuYashas Arm starb, hast du sogar um mich getrauert.« Die Frage in Kikyôs Worten war kaum zu überhören. Kagome sah sie offen, aber ernst an. „Wenn ich ehrlich bin, habe ich oft nur um InuYashas Willen Rücksicht genommen. Und oft genug hat es mich sehr geschmerzt, wenn er dich wieder einmal aufgesucht hat. Ich habe erst sehr spät kapiert, dass ihr beide die Treffen zu dieser Zeit noch gebraucht habt um durchzuhalten. Und dass du eigentlich nur deine Ruhe haben wolltest. Aber wenn du es nicht aufgegeben hättest, InuYasha mit in den Tod reißen zu wollen… ich hätte wohl noch am Ende ganz anders reagiert“ Kikyô nickte etwas, dann kam sie noch einen Schritt näher. »Ich bin froh, dass sich endlich alles zum Guten gewendet hat. Ich wünsche dir, dass es für immer dabei bleibt. Und… ich muss es dir sicher nicht auftragen, aber dennoch möchte ich dich darum bitten, Kagome. Achte mir gut auf InuYasha, ja?« Kagome antwortete nicht, sondern lächelte nur, blieb ganz ruhig stehen, als Kikyôs eine Hand sich sanft auf ihren Bauch legte. Sie hatte längst keine Probleme mehr damit, Kikyô zu vertrauen. Kikyôs andere Hand hob sich, legte sich auf Kagomes Stirn, nur um ihr sacht über die Augen zu streichen, die Lider zu schließen. Dann trat Stille ein. Kagome hörte nur ihre und Kikyôs Atemzüge, dann spürte sie plötzlich Kikyôs Mikokraft erwachen. Sie wunderte sich schon, dass sie die so genau zuordnen konnte, ehe ihr klar wurde, dass das vermutlich daran lag, dass sie sich in einer Zwischenwelt aufhielten. Hier war die Wahrnehmung anders. Immer mehr steigerte die reine Aura um sie herum sich, bis sie nichts anderes mehr wahrnahm als das feine Prickeln, der fremden und doch so bekannten Magie. Nach einem Zeitraum, den Kagome nicht einzuschätzen vermochte, wurde die Kraft wieder schwächer, allmählich nur. Einer plötzlichen Eingebung folgend, öffnete sie die Augen wieder, erkannte, dass Kikyô einen Schritt zurückgetreten war. Noch immer schlangen sich Spuren purer Mikoenergie um ihren Körper, spielten wie fliegende Schlangen um sie herum, wie die Seelenfänger, die Kikyôs untoten Körper stets begleitet hatten, während Kikyô selbst immer durchscheinender wurde. Zum ersten Mal würde Kagome wirklich bewusst, dass sie die ganze Zeit über mit einem Geist geredet hatte. Und Kikyô lächelte frei und glücklich, endlich im Reinen mit sich selbst. Kagome erwiderte das Lächeln herzlich, eine Hand auf ihren Bauch gelegt, hob sie die anderen Hand zu einem leichten Winken. „Sayonara, Kikyô…“ Und auch Kikyô hob eine Hand etwas. »Danke für alles… Kagome …«, flüsterte sie noch, dann verblasste ihr Umriss endgültig und Kagome spürte zugleich, dass sich auch die Zwischenwelt um sie herum aufzulösen begann. Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich am Boden wieder – und in InuYashas Armen. Der Hanyô hatte sie an sich gezogen und sah sie so angestrengt an, dass er sicherlich schon eine ganze Weile auf ein Lebenszeichen gewartet hatte. Kagome blinzelte etwas, als InuYasha zusammenzuckte. „Ein Glück, Kagome. Ich dachte schon, du wärst ganz weggetreten“ Seine Stimme war leise und rau, Kagome konnte nur zu deutlich die Sorge heraushören. „Gomen, InuYasha… was genau ist eigentlich passiert?“ „Keine Ahnung. Du bist plötzlich zusammengesackt. Ich konnte dich gerade noch auffangen“, gab InuYasha zurück und sah sie mit seinen golden schimmernden Augen prüfend an. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ Kagome lächelte etwas. „Ja, alles gut. – Ich… ich glaube, ich erzähle dir besser später, was das genau war. So ganz verstehe ich es selbst noch nicht“, antwortete sie mit beruhigender Stimme, noch ehe ihr richtig bewusst wurde, dass ihre Augenlider bleischwer waren. Am liebsten wäre sie auf der Stelle eingeschlafen. Der Aufenthalt in der Zwischenwelt und Kikyôs Seelenübertragung musste sie mehr erschöpft haben, als ihr im ersten Moment klar gewesen war. Sie unterdrückte ein unwillkürliches Gähnen, konnte ihre Müdigkeit aber natürlich trotzdem nicht vor InuYasha verbergen. Er war viel zu sensibel dazu – zu mindestens wenn er es darauf anlegte. Und im Moment tat er das. Wortlos stand er auf, ohne sie aus seinen Armen zu entlassen. Kagome schmunzelte, ehe sie die Arme um seinen Nacken schlang, um besseren Halt zu haben. So trug InuYasha sie zurück in ihre Hütte, setzte sie sacht auf das Lager und kauerte sich in der ihm üblichen Haltung daneben. Mit langsamen Bewegungen streifte Kagome ihre Chihaya ab und legte sich dann hin. „Ich würde trotzdem gerne wissen, was da los war“, beharrte der Hanyô schließlich, eine seiner Hände lag dabei noch immer auf ihrem Bauch. Kagome winkte allerdings mit einer leichten Handbewegung ab. Sie war zwar schon halb eingeschlafen, aber trotzdem blieb sie dabei, das Ganze erst einmal für sich sortieren zu wollen. Zu viel auf einmal war das gewesen. „Später, InuYasha. Nur so viel… es hatte mit unserer Tochter zu tun“ InuYasha nahm den Kopf etwas hoch. „Tochter? Woher weißt du…“ Kagome lächelte müde. „Später, sagte ich…“, murmelte sie und drehte sich auf die Seite. Hinter sich hörte sie, dass InuYasha seine eigenen Kleider ablegte und sich neben ihr ausstreckte, gleich darauf wurde sie von zwei starken Armen umfasst. Schläfrig kuschelte sie sich an ihn. Da fiel ihr etwas ein. „Sag, InuYasha, was hältst du davon, wenn wir die Kleine ‚Kikyô‘ nennen?“ Ruckartig richtete InuYasha sich wieder halb auf. Sie brauchte den Kopf nicht zu drehen, um zu wissen, dass seine Ohren verständnislos zuckten. „Meinst du das ernst? Ich meine, ausgerechnet… würde das für dich nicht bedeuten, dass du immer wieder zurückerinnert wirst?“ „Meinst du, ich hätte das vorgeschlagen, wenn es mich quälen würde, InuYasha? Es ist für mich längst nicht mehr bitter, über Kikyô nachzudenken. Ich habe gelernt sie und auch dein Verhalten zu verstehen. Und daher…“ »Außerdem hat die Kikyô, die wir kannten, nun endgültig ihren Frieden gefunden«, fügte sie in Gedanken hinzu, sprach es aber nicht aus. Davon würde sie InuYasha morgen erzählen. Da spürte sie auf einmal InuYashas Lippen an ihrer Schläfe, ein kurzer, sanfter Kuss nur und dennoch verstand sie, was er damit sagen wollte. Aber sie erwiderte nichts mehr, sondern war fast sofort eingeschlafen. InuYasha betrachtete sie noch einen Moment, ehe er die Decke über sie beiden zog und sich selbst wieder hinlegte. Er konnte nur hoffen, dass die Erklärung für Kagomes Idee möglichst rasch folgen würde, denn seine Neugier brachte ihn schon jetzt fast um. Während sie zurückdachte, hatte Kagome die Arbeit ruhen lassen und sich stattdessen zurückgelehnt. Mit geschlossenen Augen genoss sie die Sonne auf dem Gesicht. Wie lange war das her. Gut und gerne fünfhundert Jahre jetzt. Inzwischen hatte sie vier Kinder; Bekannte und Freunde waren gekommen und gegangen und vieles hatte sich entwickelt. Das, was ihre Familie geworden war, hatte mehr Mitglieder gewonnen und war zu einer verschworenen Gemeinschaft herangewachsen. Auch wenn der eine oder andere zu gerne einen anderen Eindruck erwecken würde. Das leuchtende Beispiel dafür waren InuYasha und Sesshômaru, die sich immer noch gegenseitig zur Weißglut treiben konnten. In Wahrheit aber schätzten und vertrauten sie einander, nur würde ein Außenstehender einem das niemals glauben. Kagome wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie jemanden näher kommen fühlte. Eine dämonische Aura, durchaus stark aber soweit unterdrückt, dass sie keineswegs drohend war. „Miko-san?“ Noch ehe Kagome die Augen öffnete, wusste sie, wer das war. Es gab nur einen, der sich in all den Jahren noch immer nicht angewöhnt hatte, sie mit Namen anzureden. „Was ist, Yutaka-san?“, fragte sie, während sie die Lider aufschlug, sich blinzelnd an das helle Sonnenlicht anpasste. Langsam erkannte sie aus dem unförmigen Schatten vor sich den Pferdedämon mit den dunkelroten Haaren heraus. Er nickte ihr grüßend zu, woraufhin sie die Geste erwiderte und sich erhob. Dabei fiel ihr auf, dass der Yôkai etwas im Arm hielt. Ein Kind, ein kleines Mädchen von höchstens fünf, sechs Jahren. Überrascht schaute sie ein zweites Mal hin und erkannte die schwarzen Ohren auf dem Kopf des Kindes. „Eine Hanyô? Wo hast du die denn eingesammelt?“, wollte sie überrascht wissen. Die Ohrenform sprach für Ookami-, Inu- oder Kitsune-, vielleicht aber auch Néko-Blut. Aber obwohl jene Hanyô, die hier lebten, sich alle einen gewissen Respekt erarbeitet hatten und wenigstens geduldet, wenn nicht sogar geschätzt wurden, war es selten, dass man einem Unbekannten begegnete. Und dann auch noch einem Kind. Da erst fiel ihr das Kleidchen auf, das die Kleine trug. Kein Kimono, ein neuzeitliches Kinderkleid, hell mit buntem Blumenmuster, bedruckter Stoff, Baumwolle vermutlich. So etwas gab es unter dem Bannkreis nicht. Kagome war endgültig baff. Yutaka hatte derweil gewartet, bis sie ihre Musterung abgeschlossen hatte, ehe er antwortete. „Einer der Grenzgänger hat sie mir übergeben. Wie du sicher gesehen hast, stammt sie von außerhalb des Bannkreises. Der Menschenmann, der sie brachte, hat gesagt, er habe sie vor fünf Jahren gefunden, da sei sie ein Baby gewesen – und habe wie ein Mensch ausgesehen. Jener Mann wusste wohl von dem Bannkreis, aber nicht viel mehr. Er bat nur, die Kleine aufzunehmen, weil sie Angst und Schrecken verbreite, seit sie nicht mehr menschlich aussieht. Das sei erst vor zwei Tagen passiert, sagte er. So hat es mir der Grenzgänger erzählt. Es war einer der Tori – ach, und er sagte, er habe die Kleine in Schlaf versetzt, damit er sie tragen konnte, denn sie habe sich heftig gewehrt, wollte bei ihrem ‚Vater‘ bleiben. Anscheinend hat der Menschenmann sich gut um sie gekümmert, in den vergangenen Jahren“ Nachdenklich hatte Kagome dem Bericht zugehört, nun streckte sie die Arme aus, worauf Yutaka ihr das Mädchen gab. „Damals sah sie also wie ein Mensch aus… das ist seltsam. Myôga erzählte mal, InuYasha habe schon als Neugeborenes Hundeohren und all das gehabt. Und bei Rins Kindern war das genauso, auch sie haben als Babies nicht wie Menschen ausgesehen“ Yutaka zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was bei ihr anders ist… es sei denn…“, er griff in seinen Haoriärmel und holte etwas heraus, das sich als Armband aus flachen, blutroten Plättchen entpuppte, „… das gab mit der Grenzgänger noch. Der Menschenmann hat es ihm in die Hand gedrückt, mit dem Hinweis, dass die Kleine es trug, als er sie fand“ Das Kind noch immer auf dem Arm, besah Kagome sich das Armband genauer. Als sie die Lider halb schloss, spürte sie die schwache Magie, die von den Kettengliedern ausstrahlte. Und sie erkannte sie. Das war dämonische Bannmagie, wurde gerne in Fesseln, aber auch von Schamanen benutzt. Sie war nicht nur in der Lage, den Einsatz von Yôki zu unterdrücken, sondern es gänzlich zu neutralisieren, sodass dem Betroffenen nicht einmal mehr die Lebensweise eines dämonenblütigen Wesens möglich war. Lebenszeit, Kraft, Sinne, Wundheilung, alles wurde auf menschliches Niveau herabgesetzt. Da fiel ihr auch die Bruchstelle an einem der Kettenglieder auf. Das Armband musste gerissen sein und erst dann hatte sich die wahre Gestalt dieses kleinen Hanyômädchens offenbart. Langsam begann Kagome zu dämmern, was da geschehen sein musste. Offenbar hatte es der dämonische Elternteil des Mädchens für besser gehalten, es in der Welt außerhalb des Bannkreises zu lassen, mit unterdrückter Kraft, verstand sich. Warum auch immer. Und sie verstand auch, dass die Kleine dort nicht mehr bleiben konnte. Jetzt wo man wusste, dass sie kein Mensch war, würde auch ein erneuerter Bann nicht mehr helfen, ihr ein normales Leben zu ermöglichen. Sie musste so oder so hierbleiben, unter dem Bannkreis. Sie ahnte, warum Yutaka zu ihr gekommen war. Ihre Jüngste war in etwa im gleichen Alter, nun etwas älter als diese Kleine hier wohl. Außerdem waren Kagome und ihr Umfeld wohl die beste Möglichkeit, der Kleinen ein Leben ohne Missgunst zu ermöglichen. Immerhin gehörten zur Fürstenfamilie der Hunde drei Hanyô. Sie sah in das kindliche Gesicht des Mädchens. Es war umrahmt von schwarzen Haaren, nur im Nacken waren sie heller, silbrig sogar. Ihre Augen waren, soweit Kagome bei geschlossenen Lidern erkennen konnte, groß und etwas geschwungen. Später musste sie einmal wunderschön werden. Doch auf einmal erkannte sie, dass die Kleine sich in ihren Armen ein wenig verkrampfte. Erschrocken musterte sie das schlafende Mädchen, erkannte die leicht geröteten Wangen. Vorsichtig versuchte sie die Stirn der Kleinen zu fühlen, soweit es ihr möglich war, ohne das Mädchen loszulassen. Aber schon die Berührung mit den Fingerspitzen reichte. „Oh Gami, die Kleine glüht ja vor Fieber!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)